LONDINIUM
251 n. Chr.
DIE ZWEI MÄNNER saßen sich gegenüber an einem Tisch. Beide
waren schweigend in ihre gefährliche Arbeit vertieft. Es war ein
bedrückend heißer Sommernachmittag in den Iden des Juni, wie es der
römische Kalender besagte. Wie die meisten gewöhnlichen Leute
trugen die beiden Männer nicht die lästige römische Toga, sondern
ein einfaches, knielanges Gewand aus weißem Wollstoff, das mit
Spangen an den Schultern zusammengehalten und an der Taille mit
einem Gürtel geschnürt wurde. Der größere Mann trug noch einen
kurzen Umhang aus demselben Material. Beide hatten lederne Sandalen
an den Füßen.
Der bescheidene Raum war typisch für dieses Viertel, in dem
sich strohgedeckte Holzhütten und Werkstätten um die Innenhöfe der
kleinen Straßen drängten. Die Lehm- und Strohwände waren weiß
verputzt; in einer Ecke wies eine Werkbank mit verschiedenen
Meißeln und einer Axt darauf hin, daß der Bewohner ein Zimmermann
war.
Es war ruhig bis auf das sanfte Schleifgeräusch, das die
Metallfeile in der Hand des größeren Mannes verursachte. Draußen am
Ende der schmalen Gasse stand ein Wachposten, eine sinnvolle
Vorsichtsmaßnahme, denn auf ihr Tun stand die Todesstrafe.
Auf den beiden Kieshügeln am Flußufer befand sich nun eine
große, von einer Mauer umgebene Stadt. Londinium war ein hübscher
Ort. Die beiden Hügel waren in sanft abfallende Terrassen
verwandelt worden. Am Gipfel des einen stand ein stattliches Forum.
Von dort aus ging eine breite Straße hinunter zu einer stabilen
Holzbrücke, die über den Fluß führte. Auf dem westlichen Hügel
dominierte ein riesiges, ovales Amphitheater, und dahinter lag das
Hauptquartier der militärischen Garnison. Am Flußufer gab es
hölzerne Anlegestellen und Lagerhäuser, am Ostufer des Bächleins,
das zwischen den beiden Hügeln floß, lagen die prächtigen Gärten
des Statthalterpalastes. Und die ganze Anlage – die Tempel und
Theater, die stuckverzierten Villen und die einfachen Häuser, die
ziegelgedeckten Dächer und Gärten – war auf der landeinwärts
gelegenen Seite von einer hohen Mauer umschlossen. Zwei große
Straßen durchquerten die Stadt von Westen nach Osten. Eine der
beiden nahm am oberen der beiden Tore in der westlichen Mauer ihren
Anfang, führte über die Gipfel der beiden Hügel und verließ die
Stadt durch ein Tor im Osten. Die andere führte durch das unterhalb
gelegene Tor im Westen in die Stadt, lief am oberen Teil des
westlichen Hügels entlang und dann den Hang hinunter, überquerte
den Bach und kam am Palast des Statthalters vorbei. Der Uferbereich
war etwa eine Meile lang; es lebten um die fünfundzwanzigtausend
Menschen in der Stadt, die bereits seit etwa zweihundert Jahren an
diesem Fleck stand.
Die Römer hatten sich Zeit gelassen, Britannien zu besetzen.
Nach der Schlacht am Fluß war Cäsar kein drittes Mal gekommen. Zehn
Jahre später war der große Eroberer im Senat in Rom erdolcht
worden. Ein weiteres Jahrhundert war vergangen, bevor 43 n. Chr.
Kaiser Claudius über den schmalen Seeweg gekommen war, um die Insel
zu zivilisieren. Die Besetzung war rasch und gründlich erfolgt.
Sofort wurden militärische Stützpunkte in den wichtigsten
Stammeszentren gegründet. Bald interessierten sich die gewitzten
Römer für den Ort, der unter dem keltischen Namen Londinos bekannt
war. Es war kein Stammeshauptsitz, doch es war nach wie vor der
erste Ort, an dem man den Fluß gut überqueren konnte, und deshalb
besonders geeignet, um hier einen Verkehrsknotenpunkt
anzulegen.
Doch die Römer interessierten sich nicht so sehr für die Furt,
sondern eher für einen anderen Ort in der Nähe. Als die römischen
Planer die beiden Kieshügel am Nordufer und die auf der
gegenüberliegenden Seite in den Strom hineinragende Kieslandzunge
sahen, erkannten sie sofort, daß dies die perfekte Stelle für eine
Brücke war. »An dieser Stelle ist der Fluß etwas schmaler«,
berichteten sie, »und das Kiesbett liefert einen festen
Untergrund.« Die Gezeitenströmung reichte noch über diesen Punkt
hinaus, so daß Schiffe je nach dem Stand der Gezeiten leicht
flußauf- oder flußabwärts gelangen konnten; die Stelle zwischen den
beiden Hügeln, an denen der kleine Bach in den Fluß mündete, war
ein idealer natürlicher Hafen für kleinere Schiffe. Die römischen
Bauplaner nannten den Fluß Tamesis und den Hafen Londinium, eine
latinisierte Form des bisherigen Namens.
Mit der Zeit wurde dieser Ort zu einem Handelszentrum, und von
der Brücke aus führten Straßen in alle Himmelsrichtungen.
Die römischen Straßen hatten eine Schlüsselstellung. Bei ihrer
Errichtung achtete man nicht auf das uralte System prähistorischer
Wege; die schnurgeraden römischen Schotterstraßen führten über die
ganze Insel und verbanden die Stammeszentren mit den
Verwaltungsstützpunkten. Von den weißen Klippen in Dover auf der
südöstlichen Halbinsel Kent hinauf durch Canterbury und Rochester
verlief die Watling Street. Ostwärts führte eine Straße nach
Colchester. Richtung Norden führte eine große Straße nach Lincoln
und York; im Westen, hinter Winchester, verband ein Straßennetz
Gloucester mit dem römischen Heilbad Bath mit seinen heilkräftigen
Quellen und den hübschen Marktstädten im warmen Südwesten.
Im Sommer 251 war es ruhig in der Provinz Britannien, so, wie
es in den letzten zweihundert Jahren meist gewesen war. In der
Anfangszeit der römischen Besatzung hatte ein kurzer, heftiger
Aufstand unter der Führung der britannischen Königin Boudicca die
Provinz erschüttert, und lange hatte das stolze Volk von Wales im
Westen der Insel Unruhen angezettelt, während im Norden die wilden
Pikten und Schotten sich niemals völlig unterwarfen. Kaiser Hadrian
hatte sogar einen großen Wall von Küste zu Küste errichten lassen,
um sie in ihren Mooren und Hochlandburgen einzuschließen. In
letzter Zeit war es auch notwendig gewesen, zwei starke
Seefestungen zu errichten, um die lästigen germanischen Piraten
abzuwehren. Doch in dem ausgedehnten Reich, in dem Barbaren immer
wieder die Grenzen in Osteuropa durchbrachen, in dem es permanente
politische Auseinandersetzungen gab und in dem in eben diesem Jahr
nicht weniger als fünf Kaiser sich an den verschiedensten Orten
hatten ausrufen lassen, war Britannien ein Hort des Friedens und
des bescheidenen Wohlstands.
Julius vergaß fast die Gefahren ihres Tuns,
als er darüber nachdachte, was der Mann mit der Feile eben zu ihm
gesagt hatte. Sextus war zwar sein Partner und Freund, doch er
konnte auch ziemlich gefährlich sein.
Sextus war ein dunkelhäutiger Mann Ende Zwanzig mit einem sehr
markanten Unterkiefer. Sein dunkles Haupthaar begann bereits
schütter zu werden. Er war glattrasiert, oder vielmehr hatte er
sich die Barthaare ausgezupft, wie es die Römer taten, bis auf
seine dichten, lockigen Koteletten, auf die er stolz war und die
manche Frauen sehr attraktiv fanden. Sein gutes Aussehen wurde nur
dadurch beeinträchtigt, daß die Mitte seines Gesichtes irgendwie
zusammengequetscht wirkte, so daß seine dunkelbraunen Augen wie
unter einem Vorsprung hervorblickten. Seine schweren Schultern
ließen ihn beim Laufen leicht schwanken.
»Das Mädchen gehört mir! Laß deine Finger davon!« Diese
Warnung war völlig unvermittelt gekommen. In Sextus' Stimme lag
etwas Endgültiges, das Julius zeigte, daß er vorsichtig sein mußte.
Doch es überraschte ihn auch. Wie konnte Sextus es nur ahnen?
Sextus nahm Julius oft auf einen Umtrunk mit und stellte ihm
Frauen vor, er war ihm immer ein Mentor, nie ein Rivale gewesen.
Dies war etwas Neues und barg eine Menge Risiken. Seine
Partnerschaft mit Sextus bei ihrem illegalen Geschäft war die
einzige Möglichkeit, wie Julius an das zusätzliche Geld kommen
konnte, das er haben wollte. Dennoch war er sich nicht sicher, ob
er dem Befehl gehorchen würde. Außerdem hatte er den Brief bereits
abgeschickt.
Julius war zwanzig und nicht besonders groß, doch seine
ärmellose Tunika ließ einen gestählten Brustkorb erkennen. Julius
war sehr stolz auf seinen Körper. Unten am Hafen, wo er die Boote
auslud, hatte er sich den Ruf eines vielversprechenden Boxers
erworben. Doch Julius wies auch noch zwei auffälligere
Besonderheiten auf. Die erste hatte er mit seinem Vater gemeinsam;
in seinen dichten schwarzen Stirnlocken gab es eine weiße
Haarsträhne. Die zweite bestand darin, daß seine Finger mit
Schwimmhäuten verbunden waren. Dies störte ihn jedoch nicht weiter,
auch wenn sie ihm am Hafen den Spitznamen »Ente« gegeben hatten.
Die Frauen mochten ihn, er hatte etwas erfrischend Unschuldiges an
sich, und seine blauen Augen strahlten Heiterkeit und Lebensfreude
aus.
Im Hafen von Londinium, in dem Schiffe mit Olivenöl aus
Spanien, mit Wein aus Gallien, Glasprodukten vom Rhein und
Bernstein aus den germanischen Ländern an der Ostsee anlegten,
tummelten sich die verschiedensten Menschen. Es gab alle möglichen
Arten von Kelten, blonde Germanen, Latiner, Griechen, Juden und
olivenhäutige Männer von den südlichen Küsten des Mittelmeers sowie
Sklaven, die von irgendwoher stammten. Die römische Toga tauchte
neben einem farbenprächtigen afrikanischen Gewand auf oder neben
einem, das ägyptische Verzierungen aufwies. Das römische Reich war
kosmopolitisch.
Dennoch war die junge Frau ungewöhnlich. Vor zwei Monaten
hatten er und Sextus sie zum erstenmal gesehen. Und wenn man erst
einmal einen Blick auf sie geworfen hatte, konnte man sie nicht
mehr so leicht vergessen. Sie war zwei Jahre älter als Julius und
beinahe ebenso groß wie er. Sie hatte eine helle Haut und blondes
Haar, das sie in krausen, enganliegenden, kurzen Locken trug. Dies
und ihre etwas breite Nase wiesen auf ihre dunkelhäutigen Vorfahren
hin. Ihre Großmutter war als Sklavin aus der afrikanischen Provinz
Numidia nach Gallien gelangt. Ihre blauen Augen hatten die Form von
großen Mandeln und wirkten sonderbar verschleiert. Wenn sie sich
bewegte, strahlte ihr schlanker Körper eine wundervolle,
rhythmische Anmut aus. Böse Zungen behaupteten, ihr Mann habe sie
in Gallien gekauft, aber niemand wußte es genau. Sie hieß Martina.
Als sie sechzehn war, hatte der Kapitän eines Handelsschiffes
beschlossen, sie zu heiraten. Er war damals fünfzig gewesen, ein
Witwer mit erwachsenen Kindern. Im letzten Jahr war er von Gallien
nach Londinium gekommen.
Julius kannte den Kapitän vom Sehen. Er war ein großer,
kräftiger Mann; sein Kopf war völlig kahl; ein Netz von winzigen
zerplatzten Adern auf seinem ganzen Körper und dem Gesicht ließ
seine Haut blau wirken. Er lebte mit der jungen Frau in einem
kleinen Haus am Südufer des Flusses.
Im Hafen war immer viel los. Trotz seines Alters war der
Kapitän noch sehr aktiv und weilte oft in Gallien. Momentan war er
nicht da. Julius hatte guten Grund, sich Hoffnungen zu
machen.
Auch Sextus kam bei Frauen ziemlich gut an. Er war verheiratet
gewesen, doch seine Frau war gestorben, und nun schien er keine
große Eile zu haben, wieder zu heiraten. Er hatte Julius gesagt,
daß er es auf die junge Frau des Kapitäns abgesehen habe; er hatte
herausgefunden, daß der Kapitän oft auf See weilte und wie er
nachts unbeobachtet ins Haus gelangen konnte. Doch die junge Frau
zögerte noch.
Julius war sehr überrascht gewesen, als Martina eines Tages,
als sie sich von ihm und Sextus an der Brücke verabschiedete, seine
Hand fest drückte. Am nächsten Tag hatte sie unten am Kai ganz
nebenbei bemerkt: »Frauen mögen Geschenke!« Obwohl sie dies zu
Sextus sagte, blickte sie dabei Julius an.
Von dem Moment an begann er, ständig an sie zu denken. Wenn er
die Boote entlud, schienen ihre rauchblauen Augen in der Takelage
herumzuschweifen. Er stellte sich ihren rhythmischen Gang vor, der
ihm unendlich verführerisch vorkam. Er wußte, daß Sextus seinem
Ziel immer näher kam, doch der Kapitän war bis vor kurzem zu Hause
gewesen, und Julius war sich sicher, daß sein Freund sie noch nicht
erobert hatte. Und je mehr er über sie nachgrübelte, desto heftiger
wurde seine Verliebtheit. Dieser wunderbare Moschusduft – war das
etwas, mit dem sie sich besprühte, oder entströmte er ihrem Körper?
Er sehnte sich danach, ihr kurzes Haar zu berühren, er dachte
unentwegt an ihren schlanken, biegsamen Körper.
Und Sextus' Warnung? Es war nicht Julius' Art, kühle
Berechnungen anzustellen. Er war zu lebensfroh, um die Risiken
aller seiner Taten abzuwägen. Außerdem war er ein unverbesserlicher
Optimist.
Das dicke Mädchen saß an der Straßenecke. Es wollte nicht dort
sitzen, doch man hatte es ihm befohlen. Es hatte zwei Stühle
mitgebracht, auf die es sich langsam niedergelassen hatte. Sie
hatten ihm einen Laib Brot, ein Stück Käse und eine Tüte Feigen
mitgegeben. Nun saß es letztlich doch ganz zufrieden in der warmen
Sonne. Die Brotkrümel und Feigenschalen zu seinen Füßen ließen
darauf schließen, daß es schon das Brot, den Käse und einige Feigen
verzehrt hatte.
Obwohl das Mädchen erst achtzehn war, hatte es einen
Leibesumfang, der auch bei einer älteren Frau noch beeindruckend
gewesen wäre. Seine ersten zwei Kinne waren ziemlich ausgeprägt,
ein drittes bahnte sich unter ihnen einen Platz. Es saß breitbeinig
auf den Stühlen; sein Kleid fiel locker über seine Brüste.
War dieses dicke Mädchen tatsächlich Julius' Schwester? Ja,
sie war es. Mit etwa neun Jahren hatte sie angefangen, immer dicker
zu werden und sich aus der Welt des Sportes und der Spiele
zurückzuziehen, die Julius und seinen Freunden großen Spaß machte.
»Ich verstehe nicht, wie sie so werden konnte«, sagte der Vater
immer wieder verwundert. Zwar war er selbst inzwischen eher
rundlich, doch er war nie dick gewesen, ebensowenig wie Julius oder
die Mutter. Seine Schwester und Julius hatten sich im Lauf der
Jahre immer weniger zu sagen. Sie sprach selten mit irgendwem, auch
wenn sie so entgegenkommend war, Dinge zu tun wie etwa Wache zu
schieben, ohne Fragen zu stellen, solange man ihr nur etwas zu
essen gab.
Nun saß sie also da, blickte auf die leere Straße und holte
sich ab und zu eine Feige aus der Tüte.
Alles war ruhig. Eine halbe Meile entfernt ertönte ab und zu
ein schläfriges Grunzen. Es stammte von den Löwen, die aus fernen
Ländern hierhergebracht worden waren. Morgen würden die Spiele
stattfinden – eine aufregende Sache. Es würde Gladiatoren und
Kämpfe mit den Bären aus den Bergen von Wales und mit den
Wildschweinen aus der Umgebung geben. Nahezu alle Bewohner
Londiniums würden sich in die große Arena drängen, um dieses
phantastische Spektakel mitzuerleben.
An der Straßenecke war es sehr warm. Das dicke Mädchen ordnete
lässig sein Kleid neu, um seine Brüste zu bedecken. Ihm war
langweilig, denn es hatte nichts mehr zu essen. Gar niemand kam
vorbei. Die meisten Leute machten um diese Zeit einen
Mittagsschlaf. Es schloß ebenfalls die Augen.
Fünf Soldaten eilten durch die Straßen, begleitet von einem
Zenturio, einem großen, korpulenten Mann mit krausem Haar. Eine
Verletzung, die er sich vor Jahren bei einer Messerstecherei
zugezogen hatte, hatte eine Narbe auf seiner rechten Wange
hinterlassen, die ihm die Aura eines Veteranen verlieh und bei
seinen Leuten einen gewissen Respekt einbrachte.
Es war Julius' Schuld. Wenn ihn jemand bei einem Boxkampf zu
Boden schlug, stand er gleich wieder auf, um unverdrossen
weiterzukämpfen. Es kam ihm nie in den Sinn, nachtragend zu sein.
Da Boshaftigkeit nicht in seinem Wesen lag, versäumte er es
einfach, diesen Zug bei anderen zu erkennen. Und deshalb hatte er
auch nicht den Ausdruck in den Augen des Burschen bemerkt, den er
vor zehn Tagen besiegt hatte. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen,
daß sein Gegner den Beutel öffnen könnte, den er an jenem Tag
sorglos beiseite gelegt hatte, und darin eine bestimmte Silbermünze
bemerken würde.
»Julius, der Sohn von Rufus, der im Hafen arbeitet, hat einen
silbernen Denarius. Wie ist er dazu gekommen? Der Zimmerer Sextus
ist sein Freund.« Dieses anonyme Schreiben hatten die Behörden
erhalten. Nun hatten sie sich auf den Weg gemacht, um der Sache
nachzugehen.
Julius grinste still vor sich hin. Sein Lohn am Hafen war
bescheiden. Wenn es denn etwas gab, was er dringend brauchte, dann
war es Geld. Und in diesem Moment machten Sextus und er auf die
einfachste Weise Geld, die man sich vorstellen konnte: Sie
fälschten es.
Es war keine große Kunst, Münzen zu fälschen; man mußte nur
ziemlich sorgfältig arbeiten. Offizielle Münzen waren geprägt. Eine
blanke Metallscheibe wurde zwischen zwei Stempel gelegt – der eine
für die Oberseite, der andere für die untere. Das auf den Stempeln
befindliche Bild wurde auf die Metallscheibe geprägt. Julius hatte
von Fälschern gehört, die tatsächlich diese Prozedur auf sich
nahmen und damit Fälschungen von höchster Qualität erzielten, doch
dafür mußte man die Stempel selbst herstellen, was über seine und
Sextus' Fähigkeiten weit hinausging. Die meisten Fälscher nahmen
einfach eine Münze zur Hand, preßten jede Seite dieser Münze in
feuchten Ton und stellten damit zwei Gußformen her, die sie dann
übereinanderlegten, wobei sie in der Seite ein kleines Loch ließen.
Wenn dann der Ton getrocknet und hart war, konnte man flüssiges
Metall durch das Loch in die Form gießen. Nach dem Abkühlen wurde
die Gußform aufgebrochen, und schon hatte man eine ziemlich
passable gefälschte Münze.
»Nur, daß man natürlich nicht immer nur eine Münze herstellt«,
hatte Sextus erklärt. »Man macht es anders.« Er nahm drei Gußformen
und ordnete sie in einem Dreieck an, wobei die Löcher in den Formen
sich alle in der Mitte des Dreiecks befanden. »Dann legt man auf
diese drei Formen eine weitere Formenschicht, und dann noch eine
auf diese.« Er zeigte Julius, wie sich die Gußformen alle
aufeinanderstapeln ließen und schließlich eine hohe, dreieckige
Säule bildeten. »Jetzt muß man nur noch Ton um das ganze Gebilde
herum verstreichen und das geschmolzene Metall in die Mitte gießen,
das dann in alle Gußformen fließt.«
Als Sextus seinem jungen Freund dieses illegale Geschäft zum
erstenmal vorschlug, zögerte Julius. »Ist das nicht ziemlich
riskant?« wollte er wissen. Doch Sextus hatte nur erwidert: »Viele
Leute tun es. Und weißt du warum? Es gibt einfach nicht genug
Münzen.«
Und das war tatsächlich so. Seit über hundert Jahren herrschte
im Römischen Reich eine ständig ansteigende Inflation. Als Folge
davon waren einfach nicht genug Münzen im Umlauf. Da die Leute
Münzen brauchten, gab es viele Fälscher. Die private Herstellung
von billigen Bronzemünzen war kein großes Vergehen; doch das
Fälschen von Gold- und Silbermünzen, die einen hohen Wert hatten,
war ein schweres Verbrechen. Aber auch dies schreckte die illegalen
Hersteller nicht ab, und so war wahrscheinlich die Hälfte aller
damals im Umlauf befindlichen Silbermünzen gefälscht.
Sextus besorgte das Metall und schmolz es; Julius fertigte die
Gußformen an und goß das geschmolzene Metall in die Formen. Zwar
hatte Sextus ihm gezeigt, wie es ging, aber er machte dabei ständig
Fehler. Julius hingegen gelang es trotz seiner mit Schwimmhäuten
versehenen Hände viel besser; durch seine Mithilfe hatte sich die
Qualität der Münzen erheblich verbessert.
»Aber wie schaffen wir es, daß sie so aussehen und sich so
anfühlen wie richtiges Silber?« Dies war Julius' zweite Frage
gewesen, als sie mit ihrem Geschäft anfingen.
Sextus hatte nur gekichert. »Das brauchen sie gar nicht. In
den echten Münzen ist auch kaum Silber.« Denn bei dem Versuch,
zumindest einen Teil der benötigten Münzen zu liefern, war den
staatlichen Prägeanstalten das kostbare Metall so knapp geworden,
daß sie ihre eigene Währung abwerten mußten. Der kostbare
Silberdenarius enthielt in diesen Tagen nur noch etwa vier Prozent
echtes Silber. »Ich verwende eine Mischung aus Kupfer, Blei und
Zink«, erklärte Sextus. »Das sieht gut genug aus.« Das genaue
Mischungsverhältnis wollte er seinem Freund nicht verraten.
Auf dem Tisch vor ihnen lag nun ein Haufen Münzen. Jeder
Silberdenarius bedeutete ein kleines Vermögen für Julius. Bislang
hatten sie fast nur Bronzemünzen und nur wenige Silbermünzen
hergestellt, da jede plötzliche Zurschaustellung von Reichtum
Argwohn auslösen konnte. Doch morgen bei den Spielen würden sehr
hohe Wetten abgeschlossen werden, und dann konnte man den Besitz
von ein paar Silbermünzen leichter erklären. Deshalb gingen sie
heute so wagemutig vor.
Es gab nur ein Problem: Wie sollte er seinen Eltern das Geld
erklären? Sie trauten Sextus nicht über den Weg. Besonders die
Mutter mochte seinen Freund überhaupt nicht. Nun ja, darüber mußte
er später nachdenken. Morgen früh wollte er jedenfalls erst einmal
ein goldenes Armband für die junge Frau kaufen, noch bevor die
Spiele anfingen. Den nächsten Schritt mußte dann sie tun. Seinen
Brief hatte sie jedenfalls erhalten.
Und noch etwas mußte überlegt werden. Rufus, Julius' Vater,
war mit dieser Idee gekommen. Seit mehreren Monaten schon machte er
sich Sorgen über Julius. Anfangs hatte er gehofft, der Junge würde
wie er selbst Legionär werden. Im Römischen Reich war dies noch
immer die beste und sicherste Beschäftigung. Wenn man aus dem Heer
entlassen wurde, war man noch nicht allzu alt, man hatte eine gute
Stellung und etwas gespartes Geld, mit dem man ein Geschäft
eröffnen konnte. Doch als Julius keinerlei Neigungen dafür zeigte,
hatte er ihn nicht weiter dazu gedrängt. »Er wird in schlechte
Gesellschaft geraten, denke nur an diesen Sextus!« warnte seine
Frau. Wie dem auch sei – es war an der Zeit, daß Rufus etwas für
den Jungen tat. Er war Mitglied bei mehreren Verbindungen. Erst
neulich hatte er von einer interessanten Gelegenheit für einen
jungen Mann erfahren. »Ich kenne da zwei Leute«, sagte er zu seinem
Sohn, »die dir vielleicht bei der Gründung eines sinnvollen kleinen
Unternehmens unter die Arme greifen könnten.« Heute abend sollte
Julius die beiden treffen.
Die Soldaten kamen plötzlich und ohne
Warnung. Draußen ertönte ein Klirren und ein lauter Schrei, dann
wurde an die Tür gehämmert. Julius sah einen Helm vor dem Fenster
funkeln. Sie warteten nicht auf eine Antwort, sondern hieben
bereits mit ihren Schwertern auf die Tür ein.
Sextus sprang auf, griff eine Tasche von seiner Werkbank und
schaufelte die Dinge, die auf dem Tisch lagen, hinein – Münzen,
Gußformen, alles. Dann rannte er zu dem Schrank in der Ecke, riß
ihn auf und stopfte alles, was auf den Regalen herumlag, hinein:
weitere Gußformen, Metallstückchen und eine Sammlung von Münzen,
die Julius noch gar nicht gesehen hatte. Schließlich zerrte er
Julius, der vor Schreck wie gelähmt war, in die Küche und warf
einen Blick auf den kleinen Hinterhof. Sie hatten Glück. Die
Legionäre, denen befohlen worden war, sich die Rückseite des Hauses
vorzunehmen, waren aus Versehen in den Hinterhof der
danebenliegenden Werkstatt gestolpert. Sextus drückte Julius die
Tasche in die Hand und schubste ihn hinaus. »Geh! Renn!« zischte
er. »Und versteck das Zeug!« Julius erwachte endlich aus seiner
Erstarrung. Er machte einen großen Satz über die Mauer, gelangte in
den Hinterhof am Ende der kleinen Anlage und schlüpfte in das
Labyrinth von kleinen Gassen. Die Tasche hatte er unter seine
Tunika gestopft.
Noch bevor er die Gasse erreicht hatte, war die Tür
eingeschlagen und die Soldaten stürmten in die Hütte, wo sie auf
den Zimmerer Sextus stießen, der offenbar gerade aus seinem
Mittagsschlaf erwacht war und sie erstaunt anblinzelte. Von
Münzfälschungen war nichts zu sehen. Doch der Zenturio gab sich
nicht so leicht zufrieden. Er rannte zur Rückseite des
Hauses.
Julius war schon ein gutes Stück die Gasse entlanggerannt, als
er den tiefen, bellenden Befehl hörte. Als er sich umblickte, sah
er den großen Zenturio, der auf die Mauer geklettert war und die
Gassen durchforschte. Julius drehte sich um und hörte, wie er den
Legionären unter ihm zurief: »Dort ist er! Dort drüben.« Das durch
die Narbe entstellte Gesicht, das Julius deutlich sah, machte das
Ganze noch schrecklicher. Er floh.
Es war nicht schwer, die Legionäre in den Gassen
abzuschütteln. Er war schneller als sie. Erst etwas später fiel ihm
ein, daß er sich nicht hätte umblicken dürfen. »Wenn ich ihn
gesehen habe, dann hat er auch mich gesehen«, murmelte er. Seine
weiße Haarsträhne würde ihn leicht verraten. Die Frage war nur, was
der Zenturio gesehen hatte.
Martina stand am südlichen Ende der Brücke.
Der Sommertag neigte sich dem Ende zu. Im Westen zogen sich
violette Wolken am bernsteinfarbenen Horizont zusammen. Sie hielt
den Brief in der Hand. Ein Knabe hatte ihn ihr gebracht. Er war auf
Papier geschrieben, was teuer war, und zwar in Lateinisch und in
einer sehr ordentlichen Schrift – Julius hatte sich die größte Mühe
gegeben. Sie mußte sich eingestehen, daß sie aufgeregt war.
»Komm morgen nachmittag während der Spiele zur Brücke. Ich
habe ein Geschenk für dich. Ich denke Tag und Nacht an dich.
J.«
Obwohl er nicht mit seinem vollen Namen unterzeichnet hatte,
wußte sie, wer der Verfasser dieses Briefes war. Der junge Boxer.
Und nun fragte sie sich, was sie tun sollte.
In der Abendsonne gaben die rotgedeckten Dächer der Stadt, die
blassen Wände und die steinernen Säulen ein heiteres Bild ab. Warum
nur überkam sie plötzlich eine gewisse Schwermut? Vielleicht war es
die Brücke. Dieses hervorragende Beispiel römischer Baukunst, aus
Holz auf langen, massiven Pfosten errichtet, erstreckte sich hoch
über dem Wasser. Ihre lange, dunkle Form erinnerte Martina an ihre
eigene einsame Reise durchs Leben. Als sie den Kapitän in Gallien
kennengelernt hatte, waren ihre Eltern bereits gestorben. Er hatte
ihr ein neues Leben, Heim und Sicherheit angeboten, und sie war ihm
dafür dankbar.
Stolz hatte der Kapitän ihr die Stadt gezeigt. Sie war
besonders begeistert über die langen hölzernen Piers, die in den
Fluß hineingebaut waren. »Sie sind alle aus Eichenholz«, hatte er
gesagt, »in Britannien gibt es viele Eichen.« Sie waren die breite
Straße von der Brücke zum Forum hinaufgelaufen. Der Platz hatte sie
zwar beeindruckt, aber am stärksten imponierte ihr das
alleinstehende Gebäude, das sich über die gesamte Nordseite
erstreckte. Es war die Stadthalle – ein riesiger, aus einer Halle
und Verwaltungsräumen bestehender Komplex, in dem sich der Stadtrat
und die Richter trafen. Das langgezogene Hauptgebäude flößte ihr
immer wieder Ehrfurcht ein. Daneben gab es noch vieles andere zu
sehen in der Stadt: die Innenhöfe und die Brunnen in der Villa des
Statthalters; die vielen öffentlichen Bäder, die Tempel und das
große Amphitheater. Sie fand es aufregend, in einer solchen
Metropole leben zu dürfen. »Rom wird als die ewige Stadt
bezeichnet«, bemerkte der Kapitän, »und Londinium ist ein Teil von
Rom.«
Die junge Frau merkte, was es hieß, Teil einer großen Kultur
zu sein. Die klassische Kultur Griechenlands und Roms war führend
in der Welt, von Afrika bis nach Britannien. Die öffentlichen
Gebäude, Bögen und Giebel, Säulen und Kuppeln, Kolonnaden und
Plätze strahlten ein zutiefst befriedigendes Gefühl von Raum und
Ordnung aus. Die römischen Privathäuser mit ihren Fresken, Mosaiken
und ausgeklügelten Zentralheizungen waren komfortabel und
behaglich. Im friedlichen Schatten der Tempel traf sich die
perfekte Geometrie aus Stein mit dem innersten Mysterium des
Religiösen. Es waren Geschenke einer historischen Kultur, die die
junge Frau instinktiv erkannte, auch wenn sie sie nicht in Worte
hätte fassen können. Sie liebte die Stadt.
Oft segelte der Kapitän mit britischem Steingut nach Gallien
und kam mit roten, mit Löwenköpfen geschmückten Schüsseln von der
Insel Samos zurück, mit Zedernholzfässern voll Wein, mit großen
Amphoren voll Olivenöl oder Datteln. Solche Dinge waren natürlich
vor allem für die Haushalte der Reichen bestimmt, doch der Kapitän
behielt immer einen Teil für sich, und so lebten sie sehr gut. Wenn
er weg war, unternahm sie gerne einsame Spaziergänge. Sie ging zur
Insel an der Furt, wo einst ein Druide gelebt hatte, oder aus dem
oberen westlichen Tor hinaus zwei Meilen weit bis zu einer großen
Straßenkreuzung, an der ein schöner Marmorbogen stand.
Oft flehte sie die Götter um ein Kind an. Nahe dem Gipfel des
westlichen Hügels gab es eine römische Tempelanlage, doch die
meisten Frauen gingen zu den zahllosen Schreinen der keltischen
Muttergottheiten. Einen Schrein fand sie besonders trostspendend,
ein Quellheiligtum einer keltischen Wassergöttin. Martina kam es
vor, als erhöre sie diese Wassergöttin und sei freundlich zu ihr.
Aber ein Kind ließ dennoch auf sich warten.
Bis zu einem bestimmten Tag in diesem Frühjahr war ihr gar
nicht bewußt, daß sie unglücklich war. Das Haus, in dem sie mit
ihrem Mann lebte, befand sich in der südlichen Erweiterung der
Stadt. Es war ein angenehmer Fleck. Da die Holzbrücke auf ihren
hohen Stützpfeilern weit über die Kieslandzunge, die vom Südufer in
den Fluß hineinragte, ins Land hineinreichte, blieb sie auch dann
trocken, wenn die Flut hereinkam und die Landzunge zu einer Insel
machte. Die anschließende Straße am sumpfigen südlichen Flußufer
war auf einem Fundament von dicken, kreuzweise angeordneten
Baumstämmen errichtet, auf die man Erde und Schotter aufgeschüttet
hatte. Martina war an diesem Tag über die Brücke gegangen und hatte
über ihr Leben nachgedacht. Der Kapitän war immer sehr freundlich
zu ihr. Sie wußte, daß sie sich nicht über ihn beklagen konnte. Am
Ende der Brücke hatte sie sich nach rechts gewandt und war am Ufer
Richtung Osten gegangen, vorbei an den Lagerhäusern und den
Werften, bis sie schließlich zu der Stelle kam, an der die
Stadtmauer auf den Fluß stieß.
Hier war es sehr ruhig. Am Rand der Mauer stand eine große
Festung, die nicht mehr benutzt wurde. Darüber beschrieben die
Ausläufer des östlichen Hügels einen Bogen bis zur Stadtmauer, so
daß diese Stelle am Fluß wie ein natürliches Freilufttheater
wirkte. Auf dem Hang spazierten die Raben umher, als warteten sie
auf den Anfang einer Aufführung. Martina starrte auf die hohe
Stadtmauer vor ihr. Blasser Kieselsandstein, der von Kent den Fluß
heraufgeschifft wurde, war für die Außenseite der Mauer in akkurate
Quader geschnitten worden. Die fast neun Fuß breite Basis war mit
einer Stein- und Mörtelfüllung befestigt, zur weiteren Verstärkung
hatte man in regelmäßigen Abständen Lagen roter Ziegel durch die
gesamte Breite der Mauer eingefügt. Das Ergebnis war ein
phantastisches Bauwerk, das etwa zwanzig Fuß hoch von dünnen roten
Streifen durchzogen war, die horizontal auf der ganzen Länge der
Mauer zu sehen waren.
Plötzlich stellte sie mit erschreckender Klarheit fest, daß
sie nicht glücklich war, daß ihr Leben zu einem Gefängnis für sie
geworden war.
Trotzdem hätte sie vielleicht den Rest ihres Lebens so
weitergemacht, wenn sie nicht Sextus begegnet wäre. Anfangs hatte
sie seine Annäherungsversuche abgewehrt, doch sie kannte andere
junge Frauen mit älteren Ehemännern, die sich heimlich Liebhaber
nahmen. Als Sextus nicht lockerließ, begann sich etwas in ihr zu
regen, und allmählich hatte der Gedanke immer klarere Formen
angenommen. Warum sollte sie sich nicht auch einen Liebhaber
nehmen?
Dann war ihr Julius aufgefallen. Es war nicht nur sein
jungenhaftes Aussehen, seine klaren blauen Augen und seine
offensichtliche körperliche Kraft. Es war der leicht salzige Geruch
an ihm, die Art, wie seine kräftigen jungen Schultern sich bei der
Arbeit bewegten. Es überkam sie eine fast schmerzhafte Lust, sich
von ihm besitzen zu lassen. Schlau hatte sie ihn an der Nase
herumgeführt, sich erst an ihn herangemacht, dann so getan, als
ziehe sie sich zurück, und wieder mit Sextus geflirtet. Dann
erhielt sie seinen Brief. »Jetzt habe ich ihn«, hatte sie
gemurmelt. Doch nun bekam sie es auch mit der Angst zu tun. Was
wäre, wenn sie ertappt würde? Der Kapitän würde zweifellos auf
Rache sinnen. Wollte sie wirklich für diesen Jungen alles aufs
Spiel setzen? Lange blickte sie über den Fluß und dachte nach,
bevor sie schließlich zu einem Entschluß kam. Der Kapitän war weg.
Sie hatte diese Schwermut satt. Morgen würde sie zur Brücke
gehen.
»Du bist dran!«
Julius versuchte, sich auf das Brett vor ihm zu konzentrieren,
und machte zögernd seinen Zug. Er war sicher nach Hause gelangt.
Die Mutter und die Schwester bereiteten in der Küche ein Festmahl
vor, zu dem sie morgen nach den Spielen die Nachbarn einladen
wollten. Er und sein Vater saßen im Hauptraum des bescheidenen
Hauses und spielten ihr abendliches Damespiel. Doch ständig fragte
er sich, ob die Soldaten noch kommen würden. Mit seiner Schwester
hatte er noch nicht reden können. Was hatte das dicke Mädchen
gesehen?
An der Küchenwand hing eine Entenbrust. Auf dem sauber
geschrubbten Tisch lag ein Stück Rindfleisch, daneben stand eine
Schüssel mit Austern aus dem Fluß und ein Eimer mit Schnecken, die
morgen in Öl und Wein geschmort werden sollten. In einer flachen
Schüssel reifte ein Weichkäse. Daneben standen Gewürze für die
Sauce. Die Römer hatten den Speiseplan in Britannien erheblich
bereichert: mit Fasan und Damwild, Feigen und Maulbeeren, Walnüssen
und Maroni, Petersilie, Minze und Thymian, Zwiebeln, Rettichen und
Rüben, Linsen und Kohl.
Hatte seine Schwester die Soldaten gesehen? Wußte sie, was aus
Sextus geworden war? Hatte sie es den Eltern erzählt? Julius nahm
an, daß sie etwas wußte. Wann konnte er sie danach fragen? Die
letzten zwei Stunden waren eine wahre Folter gewesen. Sobald er
seinen Verfolgern ein Stück weit entkommen war, hatte er versucht,
die Situation zu überdenken. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß
er und nicht Sextus den Argwohn der Soldaten erregt hatte. War sein
Freund verhaftet worden? Hatte Sextus ihn beschuldigt? Am besten
war es wohl, den nächsten Morgen abzuwarten und Sextus unterwegs
abzupassen, der sicher auch zu den Spielen gehen würde. Aber wo
sollte er inzwischen die Tasche verstecken? An einem sicheren Ort,
wo er sie später leicht wieder an sich nehmen konnte. Er blickte um
sich, fand jedoch keine geeignete Stelle.
Dann lief er den Gipfel des westlichen Hügels ab, wo der
kleine Dianatempel stand, und blickte auf einen der Brennöfen, die
sich ebenfalls an dieser Stelle befanden. Daneben lag ein Haufen
Müll, schlecht gebrannte Topfe und anderer Abfall, der
offensichtlich schon eine Weile hier herumlag. Er schlich hinüber
zu dem Haufen, versteckte die Tasche unter dem Abfall und entfernte
sich rasch. Niemand hatte ihn gesehen. Er ging nach Hause.
Aber als er nun von dem munteren Gesicht seines Vaters auf das
Gesicht seiner Mutter blickte, verließ ihn seine Zuversicht. Rufus
war immer fröhlich, er hatte ein rosiges Gesicht und stets ein Lied
auf den Lippen; seine Frau dagegen war ganz anders. Ihr Haar, das
weder blond noch grau war, trug sie immer in einem straff
zusammengebundenen Knoten. Ihr Gesicht war leblos und fahl. Julius
nahm zwar an, daß sie ihre Familie liebte, aber sie sprach kaum,
und wenn ihr Mann einen Witz erzählte, lachte sie nie. Oft schien
es, als trage sie die Last einer düsteren Erinnerung mit sich
herum.
Keltische Erinnerungen reichten weit zurück. Es waren erst
zweihundert Jahre vergangen, seit Königin Boudicca sich gegen die
römischen Eroberer aufgelehnt hatte, und ihre Familie hatte zu
Boudiccas Stamm gehört. »Mein Großvater kam unter der Herrschaft
von Kaiser Hadrian zur Welt, der die Mauer erbaute«, sagte sie oft,
»und sein Großvater wurde im Jahr des großen Aufstandes geboren. Er
hat dabei Mutter und Vater verloren.« Sie hatte noch weit entfernte
Cousins, die abgelegen auf dem Land lebten, ihre Felder noch wie
ihre keltischen Vorfahren bebauten und kein Wort Latein sprachen.
Es verging kaum ein Tag, an dem seine Mutter nicht eine düstere
Warnung äußerte. »Diese Römer sind doch alle gleich. Am Ende zieht
man immer den kürzeren.« Solche Aussprüche begleiteten Julius seit
seiner Kindheit.
Ein Klicken am Damebrett störte Julius bei seinen Gedanken.
Eine Reihe von klappernden Geräuschen, dann ein triumphierender
Faustschlag auf den Tisch.
»Hab' ich dich mal wieder geschlagen!« Das rote Gesicht seines
Vaters grinste ihn an. »Träumst du von Frauen?« Er sammelte die
Spielsteine ein, stand auf und verschwand im Schlafzimmer.
Julius wußte, daß er versuchen mußte, die Ereignisse dieses
Tages zu verdrängen, doch es fiel ihm schwer. Vor allem die Tasche
machte ihm Sorgen. Den ganzen Abend lang war sie ihm nicht aus dem
Kopf gegangen. Zuerst hatte er soviel Angst gehabt, daß die
Soldaten noch kommen könnten, daß er froh war, daß die Tasche in
ihrem Versteck lag. Doch nun wurde er allmählich zuversichtlicher.
Zumindest diese Nacht würde er wahrscheinlich sicher sein. Wenn nur
die Tasche nicht wäre! Natürlich war sie gut versteckt. Aber wenn
man nun zufällig beschließen würde, den Müll zu beseitigen? Oder
wenn ein Streuner die Münzen entdecken und sie stehlen würde?
Also faßte er einen Entschluß. Er schlüpfte leise aus dem Haus
und eilte rasch durch die Straßen hoch zu den Brennöfen. Es war
nicht weit. Leute waren noch unterwegs, doch der Müllhaufen lag im
Dunkeln. Erst dachte er schon, die Tasche sei nicht mehr da, doch
schließlich fand er sie und verbarg sie unter seinem Umhang. Dann
eilte er wieder heim und ging in sein Zimmer. Er versteckte die
Tasche unter seinem Bett neben zwei Schachteln mit allem möglichen
Krimskrams. Dort würde sie bis zum Morgen in Sicherheit sein.
Die Nacht war sternenklar, als Julius und
sein Vater durch die Stadt zu ihrem Treffen gingen. Da ihr Haus in
der Nähe des unteren der beiden westlichen Stadttore lag, nahmen
sie die große Durchgangsstraße, die von diesem Tor aus am
westlichen Hügel entlang und dann hinunter zu dem Bächlein zwischen
den Hügeln führte.
Es kam nicht oft vor, daß Julius seinen Vater nervös erlebte,
doch heute abend war er es wohl. »Es wird schon klappen«, murmelte
Rufus mehr zu sich selbst als zu seinem Sohn. »Verhalte dich am
besten ruhig. Sag nichts, beobachte das Ganze nur.« Sie überquerten
die Brücke. Vor ihnen lag der Palast des Statthalters. Dann sahen
sie endlich ihr Ziel im Dunkeln vor sich liegen: ein
alleinstehendes Gebäude, dessen Eingangstür zu beiden Seiten von
einer brennenden Fackel erleuchtet war. Julius hörte, wie sein
Vater einen zufriedenen Zischlaut ausstieß.
Es gab zwei Dinge, auf die Rufus immens stolz war. Das eine
war die Tatsache, daß er ein römischer Bürger war. Civus Romanus
sum: Ich bin ein römischer Bürger. In den Anfangszeiten der
römischen Herrschaft wurde nur wenigen Einheimischen der
Inselprovinz die Ehre einer vollen Staatsbürgerschaft gewährt. Doch
dann ließen die Restriktionen nach, und Rufus' Großvater, der nur
ein Kelte aus der Provinz war, hatte es geschafft, den begehrten
Status zu erhalten, indem er in einem Hilfsregiment diente. Er
heiratete eine Frau aus Italien, so daß Rufus nun behaupten konnte,
daß römisches Blut in seinen Adern floß. Als Rufus noch klein war,
hatte Kaiser Caracalla dann die Tore geöffnet und die
Staatsbürgerschaft fast allen freien Bürgern im Reich gewährt, so
daß Rufus sich eigentlich durch nichts von den bescheidenen
Händlern unterschied, unter denen er lebte, aber er sagte seinem
Sohn immer wieder voller Stolz: »Wir waren schon früher
Staatsbürger als die anderen!«
Doch auf etwas ganz anderes war er noch viel stolzer, und dies
lag hinter dem Eingang mit dem flackernden Licht: Rufus war ein
Mitglied der Tempelloge.
Zwar gab es viele – auch größere – Tempel in Londinium, doch
keiner hatte mehr Macht als der Tempel von Mithras. Er lag zwischen
den beiden Hügeln am Ostufer des kleinen Baches oberhalb des
Statthalterpalastes. Es war ein solider, kleiner, rechteckiger Bau.
An der Ostseite lag der Eingang; am Westende gab es eine kleine
Apsis, in der sich das Heiligtum befand. Darin ähnelte der Tempel
christlichen Kirchen, bei denen die Altäre damals auch am
westlichen Ende lagen. Immer schon hatte es viele Religionen im
Römischen Reich gegeben, doch in den letzten zwei Jahrhunderten
erfreuten sich die geheimnisvollen Kulte und Religionen aus dem
Osten zunehmender Beliebtheit, darunter vor allem das Christentum
und der Mithraskult.
Mithras, der Stiertöter. Der persische Gott des himmlischen
Lichts, der kosmische Kämpfer für Reinheit und Aufrichtigkeit.
Julius wußte alles über diesen Kult. Mithras kämpfte um die
Wahrheit und die Gerechtigkeit in einem Universum, in dem wie in
vielen östlichen Religionen das Gute und das Böse gleich stark
waren und in einem ewigen Streit lagen. Das Blut des legendären
Stieres, den er getötet hatte, brachte der Erde Leben und
Wohlstand. Der Geburtstag dieses östlichen Gottes wurde am 25.
Dezember gefeiert.
Die Initiationsriten dieses mysteriösen Kultes wurden streng
geheimgehalten, doch es ging auch sehr traditionell zu. Im Tempel
wurden nach alter römischer Sitte kleine Blutopfer erbracht. Die
Mithrasanhänger hielten sich an den alten Ehrenkodex der Stoiker
und verpflichteten sich zu Reinheit, Ehrlichkeit und Tapferkeit.
Die Mitgliedschaft in der Loge stand nicht jedem offen. Die
Soldaten und Händler, bei denen der Kult am weitesten verbreitet
war, sorgten für eine beschränkte Aufnahme. Nur etwa siebzig Männer
durften den Tempel in Londinium betreten. Rufus hatte also allen
Grund, auf seine Mitgliedschaft stolz zu sein.
Im Vergleich dazu waren die Christen ganz anders, auch wenn
sich die Gemeinde rapide vergrößerte. Julius kannte ein paar
Christen unten am Hafen, doch wie viele Römer hielt auch er sie für
eine Art jüdischer Sekte. Außerdem war das Christentum mit seiner
Betonung auf Demut und seiner Hoffnung auf ein glücklicheres Leben
nach dem Tod eindeutig eine Religion für die Sklaven und die
Armen.
Der Tempel bestand aus einem Hauptraum, zu beiden Seiten von
Säulen gestützt, hinter denen sich seitliche Nischen befanden. Das
eigentliche Zentrum war etwa fünfzig Fuß lang, jedoch nur zwölf Fuß
breit; es hatte einen Holzfußboden, und in den Nischen standen
Holzbänke. Rufus und Julius wurden zu einer im hinteren Teil
gelegenen Nische geführt. Als weitere Männer hereinkamen und sich
zu ihren Bänken begaben, merkte Julius, daß er immer wieder
eingehend gemustert wurde. Am anderen Ende, vor der kleinen Apsis,
stand zwischen zwei Säulen eine Statue des Mithras. Vor ihr befand
sich ein bescheidener Steinaltar, auf dem die Opfer dargebracht
wurden.
Langsam füllte sich der Tempel. Nachdem das letzte Mitglied
der Loge hereingekommen war, wurden die Tore geschlossen und
verriegelt. Dann saßen alle still. Einige Minuten verstrichen,
bevor eine Fackel am hinteren Ende des Raumes aufflackerte und mit
leisem Rascheln zwei Gestalten aus dem Schatten der Nischen
heraustraten. Beide trugen Kopfbedeckungen, die ihre Gesichter
völlig verhüllten. Der erste trug einen Löwenkopf, dessen Mähne ihm
bis zu den Schultern reichte. Der zweite Mann war größer. Was
dieser trug, war weit mehr als eine Kopfbedeckung, es reichte ihm
fast bis zu den Knien und bestand aus Hunderten von Federn in der
Form eines großen, schwarzen Vogels mit zusammengefalteten Flügeln
und einem riesigen Schnabel. Es war der Rabe. »Ist er ein
Priester?« fragte Julius flüsternd seinen Vater.
»Nein, ein ganz normales Mitglied. Aber heute abend leitet er
die Zeremonie.«
Der Rabe schritt nun die Bänke ab. Immer wieder blieb er
stehen und richtete eine Frage an eines der Mitglieder, was
offensichtlich Teil des Ritus war.
Danach schritt er zum hinteren Teil des Tempels, in dem der
Altar lag. Rufus beugte sich zu seinem Sohn hinüber und flüsterte:
»Dies ist einer der Männer, die du heute abend kennenlernen
wirst.«
Die restliche Zeremonie dauerte nicht sehr lange. Der Rabe
murmelte ein paar Beschwörungsformeln, der Löwe verkündete ein paar
Dinge zur Mitgliedschaft, dann war der offizielle Teil beendigt,
und man trat in kleinen Gruppen zusammen, um sich miteinander zu
unterhalten.
Julius und sein Vater hielten sich weiter im Hintergrund.
Rufus sprach mit den Leuten in seiner Nähe. Dann stieß er seinen
Sohn an. »Da kommt er«, murmelte er.
Der Mann, der der Rabe gewesen war, hatte sein Kostüm abgelegt
und kam nun durch den Hauptraum auf sie zu, während er den
Logenmitgliedern auf seinem Weg wohlwollend zunickte. Erst als er
ihnen nahe war, sah Julius die Narbe, die quer über die Wange des
Mannes verlief. Kaltes Entsetzen beschlich ihn, als sich die Augen
des Zenturios auf ihn richteten. Er fühlte, wie ihm das Blut aus
dem Gesicht wich. Er hat mich erkannt, dachte er, nun bin ich
erledigt. Er wagte es kaum, seinen Vater anzublicken, als dieser
ihn mit einem nervösen kleinen Lachen vorstellte.
Julius war sich nur noch bewußt, daß die Augen des Zenturios
auf ihm ruhten. Erst nach einer Weile merkte er, daß der Soldat zu
ihm sprach. Er berichtete über den Handel am Fluß und daß er einen
klugen jungen Burschen brauchte, der Töpferwaren aus dem
Landesinneren zum Hafen brachte, wofür er ihn gut bezahlen würde.
Es bestünde auch die Möglichkeit, auf eigene Verantwortung zu
arbeiten. War es möglich, daß der Zenturio ihn nicht erkannt hatte?
Julius blickte hoch.
Der Zenturio hatte etwas Merkwürdiges an sich, auch wenn
Julius nicht genau hätte sagen können, was es eigentlich war.
Während der große Mann auf ihn hinabstarrte, erkannte Julius, daß
hinter diesen harten Augen etwas verborgen lag. Es war nichts
Ungewöhnliches, daß solch ein Mann geschäftliche Interessen
verfolgte. Die Legionäre waren gut bezahlt, und zweifellos dachte
auch der Zenturio daran, nach seinem Austritt aus der Armee ein
erfolgreicher Kaufmann zu werden und Land zu erwerben. Doch während
ihrer Unterhaltung verstärkte sich bei Julius der Eindruck, daß der
Zenturio Geheimnisse hatte.
Nervös beantwortete er die Fragen, die ihm gestellt wurden. Er
bemühte sich darum, einen guten Eindruck zu machen, auch wenn er
sich noch immer unwohl fühlte. Es war ihm völlig unklar, was der
Zenturio von ihm dachte, doch schließlich nickte dieser und meinte
zu Rufus: »Er scheint in Ordnung zu sein. Ich hoffe, daß du ihn
wieder einmal zur Loge mitbringst.« Rufus errötete vor Freude. »Was
das Geschäft betrifft, bin ich ganz zuversichtlich«, fuhr der
Zenturio fort, »aber er wird mit meinem Agenten arbeiten müssen.«
Er blickte sich leicht ungeduldig um. »Wo steckt er denn? Ah ja,
dort drüben. Bleibt hier. Ich werde ihn holen.« Er ging zu einer
Gruppe von Leuten, die sich im Schatten unterhielten.
Rufus strahlte seinen Sohn an. »Gut gemacht. Du hast es
geschafft!« flüsterte er. Doch überrascht und leicht verwirrt
stellte er fest, daß das Gesicht seines Sohnes weit entfernt davon
war, Freude zu zeigen, sondern vielmehr in diesem Augenblick
Verblüffung und Schrecken widerspiegelte. Julius hatte einen Blick
auf den Agenten gerichtet, und als er nun zu ihnen trat, war jeder
Zweifel ausgeschlossen: Vor ihm stand der Kapitän, auf dessen
bläulichem Gesicht ein Lächeln lag.
Als Vater und Sohn in dieser Nacht heimkehrten, war Rufus
bester Laune. Der Zenturio hatte seinen Sohn eingestellt, nachdem
der Kapitän der Meinung war, daß er sicher gut mit ihm
zurechtkommen würde. »Das könnte eine Lebensstellung werden«,
erklärte er Julius zufrieden.
In Julius' Kopf überschlugen sich die Gedanken. Der Zenturio
hatte ihn nicht erkannt, dafür mußte er den Göttern danken. Aber
was war mit dem Kapitän? Er mußte gerade von seiner letzten
Seereise zurückgekehrt sein, aber Julius hatte es nicht gewagt, ihn
danach zu fragen. War er schon zu Hause gewesen? Hatte er womöglich
den Brief gesehen? Sollte er Martina warnen und sie bitten, den
Brief zu vernichten? Dafür war es nun wohl zu spät. Der Kapitän war
sicher schon auf dem Heimweg. Was sollte nun aus seiner Liebschaft
mit Martina werden? Konnte er denn daran denken, eine Beziehung zu
der Frau eines Mannes aufzunehmen, von dem seine berufliche
Karriere abhing? Ein absurder Gedanke.
Bei ihrer Ankunft lag das Haus im Dunkeln. Mutter und
Schwester waren schon im Bett, und auch sein Vater zog sich zurück,
nachdem er ihm herzlich eine gute Nacht gewünscht hatte. Eine Weile
saß Julius still da und ließ die Ereignisse des Tages an sich
vorüberziehen, bis er merkte, wie müde er war, und sich anschickte,
ebenfalls zu Bett zu gehen. Mit einer kleinen Öllampe ging er in
sein Zimmer und zog sich aus. Bevor er sich hinlegte, tastete er
noch einmal nach der wertvollen Tasche. Da verzog sich sein
Gesicht. Verstört kniete er sich hin und schob die Schachteln
beiseite. Dann stellte er auch noch die Lampe auf den Boden und
starrte ungläubig unter das Bett. Die Tasche war weg.
Der Mann bewegte sich leise in der
Dunkelheit. Hier am Südufer des Flusses gab es nicht viel Licht. Er
hatte die Holzbrücke überquert und setzte nun seinen Weg nach Süden
fort, an den Bädern vorbei, bevor er rechts in eine Gasse einbog
und schließlich vor dem vertrauten kleinen Haus innehielt. Die
Eingangstür, das wußte er, war verriegelt. Die Fensterläden waren
ebenfalls zu. Er schlich in den Hinterhof.
Der Hund kam aus seiner Hütte und fing zu bellen an,
verstummte jedoch rasch wieder, als er seinen Herrn erkannte. Die
verhüllte Gestalt kletterte auf ein Wasserfaß, gelangte von dort
aus auf die gekachelte Mauer an der Seite des Hofes und balancierte
auf dieser bis zur Hausecke und zu einem im Dunkeln liegenden
Fenster, dessen Holzladen offenstand. Der Kapitän kletterte leise
in sein Haus und schlich zur Tür des Zimmers, in dem Martina
schlief.
Er hegte bereits seit etwa einem Monat einen Verdacht. Etwas
bei seiner jungen Frau war anders als sonst. Ein abwesender Blick,
eine leichte Zurückhaltung, wenn er sich ihr näherte – bestimmt
nicht viel, doch genug, um ihn mißtrauisch zu machen. Er glaubte
zwar nicht, daß Martina ihn betrogen hatte. Noch nicht. Aber er
wollte einfach sichergehen und hatte deshalb den ältesten Trick
angewandt, den man als verheirateter Mann in so einer Lage anwenden
konnte – so zu tun, als sei man weg, ohne tatsächlich weg zu
sein.
Nun stieß er vorsichtig die Türe auf. Sie war allein. Das
Mondlicht fiel auf ihr Bett. Eine ihrer Brüste war unbedeckt. Er
sah sie an und lächelte zufrieden – sie betrog ihn nicht. Im Zimmer
schien nichts auf die Anwesenheit eines anderen Menschen in diesem
Haus hinzuweisen. Lautlos wie eine Katze schlich der stämmige
Kapitän durch das Zimmer. Da bemerkte er ein Stück Papier auf dem
Tisch in der Nähe des Bettes. Er hob es auf und ging damit zum
Fenster.
Der Mond schien so hell, daß er den Brief lesen konnte. Die
Unterschrift ließ zwar den Verfasser nicht erkennen, aber das war
dem Kapitän egal. Er hatte eine Zeit und einen Ort. Er legte den
Brief zurück und huschte wieder aus dem Haus.
Julius' Mutter hatte erstaunlich rasch gehandelt. Das dicke
Mädchen hatte die Soldaten nicht gesehen. Es hatte die ganze Zeit
geschlafen, während die Soldaten das Haus durchsuchten. Als es
schließlich in die Werkstatt ging, war niemand mehr dort, und so
hatte es sich auf den Heimweg gemacht. Seine späte Heimkehr und
etwas an dem Verhalten von Julius hatten die Mutter argwöhnisch
werden lassen. Nach eingehender Befragung gestand ihr ihre Tochter
schließlich, daß Julius und Sextus ihr befohlen hatten, auf der
Straße nach Soldaten Ausschau zu halten. Hatte dieser Sextus ihn
also doch in Schwierigkeiten gebracht!
Sobald Julius und sein Vater weg waren, hatte sie das Zimmer
durchsucht. Sie hatte die Tasche sofort gefunden, ihren Inhalt
gesehen, kurz erschrocken innegehalten und dann verkündet: »Wir
müssen das Zeug loswerden!« Doch was sollte sie bloß damit machen?
Einmal in ihrem Leben war sie froh, daß ihre Tochter so dick war.
»Steck das Ding unter deine Kleider!« befahl sie ihr. Dann legte
sie ihren Umhang an und machte sich zusammen mit ihrer Tochter auf
den Weg.
Zuerst dachte sie daran, die Tasche in den Fluß zu werfen,
doch am Ufer waren zu viele Leute. Also ging sie mit dem Mädchen
zum Tor in der westlichen Stadtmauer. Alle Stadttore sollten
eigentlich bei Dämmerung geschlossen werden, doch an warmen
Sommerabenden wurde diese Vorschrift meist nicht befolgt. Das dicke
Mädchen und die Mutter gingen durch das Tor, hielten jedoch kurz
danach an. Die Straße vor ihnen führte über eine Brücke zu dem
Quellheiligtum, aber auf diesem Weg gingen einige Leute spazieren.
Links und rechts von der Straße befand sich ein Friedhof.
»Gib mir die Tasche, und geh wieder heim!« befahl die Mutter.
»Und sag niemandem etwas, vor allem nicht Julius! Hast du mich
verstanden?« Als das Mädchen davongewatschelt war, ging die Mutter
auf den Friedhof. Sie suchte erfolglos nach einem offenen Grab. Am
anderen Ende des Friedhofs kam sie am oberen westlichen Tor vorbei
und setzte ihren Weg parallel zur Stadtmauer fort.
Hier war es sehr ruhig. Mit ihren horizontalen Streifen wirkte
die Mauer ziemlich gespenstisch. Am Fuß der Mauer war ein tiefer
Verteidigungsgraben gezogen, der in der Dunkelheit wie ein großes,
schwarzes Band auf dem Boden aussah. Auf der Mauer waren keine
Wachposten. Sie ging bis zur Ecke und schlich dann an der Nordmauer
weiter. Sie kam an einem geschlossenen Tor vorbei und lief immer
weiter. Dann sah sie endlich etwas, das ihr passend erschien.
Der kleine Bach zwischen den beiden Hügeln der Stadt hatte in
seinem Oberlauf mehrere Seitenarme. An drei oder vier Stellen
flossen diese Bächlein unter der nördlichen Stadtmauer durch
sorgfältig angelegte Rohre, vor deren Eingängen sich Gitter
befanden. Diese Gitter wurden regelmäßig gesäubert, die Kanäle mit
Schleppnetzen abgesucht. Hinter einem dieser Rohre hatte jemand
einen Müllhaufen in den Graben vor der Mauer gekippt. Im Gegensatz
zu den Kanälen wurde der Graben ihres Wissens nahezu nie gereinigt.
Sie blieb stehen und blickte sich um. Zufrieden stellte sie fest,
daß sie unbeobachtet war. Sie warf die Tasche in hohem Bogen in den
Graben. Dann ging sie weiter bis zum nördlichen Haupttor, das weit
offenstand, und schlüpfte unbemerkt wieder in die Stadt
hinein.
Julius starrte auf die lange Stadtmauer.
Hilflos ließ er die Arme sinken und schüttelte den Kopf. Seine
Suche war bislang ergebnislos verlaufen. Wo steckte nur das Geld?
Er hatte sich gleich im Morgengrauen aufgemacht und noch immer
nicht die geringste Ahnung, was seine Mutter damit angestellt
hatte. Hatte seine Schwester ihn angelogen? Wohl nicht. Als er
mitten in der Nacht an ihr Bett geschlichen war und ihr den Mund
zugehalten und ein Messer an die Kehle gedrückt hatte, war sie
verängstigt genug gewesen. Sie hatte gesagt, daß die Mutter die
Tasche irgendwo außerhalb der westlichen Stadtmauer weggeworfen
hatte, doch nun suchte er schon drei Stunden lang und hatte noch
immer nicht den kleinsten Hinweis gefunden. Er war alle möglichen
Orte abgelaufen, bevor er sich schließlich wieder auf den Heimweg
machte. Die Stadt wurde allmählich munter. Bald würden sich die
Leute ins Amphitheater drängen. Und er stand ohne Geld da. Und er
hatte doch Martina ein Geschenk versprochen! Er seufzte. Aber was
konnte er nun noch machen? Nichts. Außerdem war die ganze
Angelegenheit zu riskant. Wahrscheinlich würde sie ohnehin nicht
zur Brücke kommen. Er setzte sich auf einen Stein am Wegrand und
grübelte noch ein Weilchen vor sich hin, bis langsam ein neuer
Gedanke in seinem Kopf Gestalt anzunehmen begann.
Wenn sie doch zur Brücke kommen würde? Sehr wahrscheinlich
hatte sie den Brief versteckt. Vielleicht war der Kapitän völlig
ahnungslos. Und wenn er dann nicht da wäre, um sie zu treffen? Er
wollte sie besitzen, das war klar. Er stellte sich vor, wie sie da
ganz alleine auf der Brücke stehen würde, und plötzlich schien die
ganze Sache in ein wärmeres Licht getaucht zu sein. Er spürte, wie
sein Herz schneller zu schlagen begann. Lächelnd machte er sich auf
den Weg zum Stadttor.
An diesem Morgen stand Martina früh auf.
Sie bürstete ihr kurzes Haar, dann wusch sie sich und parfümierte
sich sorgfältig. Vor dem Anziehen betrachtete sie noch einmal
eingehend ihren Körper. Sie befühlte ihre kleinen, weichen Brüste,
ließ ihre Hände an den festen Linien ihrer Beine entlangwandern.
Dann zog sie sich zufrieden an. Sie schlüpfte in ein neues Paar
Sandalen, steckte sich noch eine kleine Bronzebrosche an jede
Schulter und bemerkte dabei, wie ihr Herz zu flattern begann. Heute
würde sie sich Julius hingeben.
Nachdem sie noch einige kleine Kuchen in ein Tuch eingewickelt
hatte, trat sie aus dem Haus und gesellte sich zu den Nachbarn, die
schon zu den Spielen unterwegs waren.
Wie sonderbar, die Stadt fast ganz für sich
allein zu haben! Am Vormittag schien es, als sei die gesamte
Bevölkerung zu den Spielen gegangen. Ab und zu hörte Julius ein
Gröhlen aus dem Amphitheater, doch abgesehen davon war es in den
Straßen so still, daß er die Vögel singen hörte.
Fröhlich streifte er mit aufmerksamem Blick durch die Gassen
und ging die Pflasterstraßen entlang, vorbei an den stattlichen
Häusern der Reichen. Er würde Martina zu Mittag treffen, und er
hatte ihr ein Geschenk versprochen. Und weil er ihr nicht mit
leeren Händen gegenübertreten wollte, mußte er etwas stehlen.
Nahezu alle Bewohner der Stadt waren im Amphitheater. Er würde
einfach rasch in ein unbewachtes Haus hineinschlüpfen und etwas
nehmen, was der jungen Frau gefallen würde. Das Stehlen behagte ihm
zwar überhaupt nicht, doch momentan schien er keine andere Wahl zu
haben.
Doch die Sache war schwieriger, als er gedacht hatte. Er drang
in ein paar einfachere Häuser ein, fand jedoch nichts, was ihm
gefiel. In den reicheren Häusern schienen sich stets ältere Diener
oder schreckliche Wachhunde herumzutreiben. Als er wieder zur
breiten Straße kam, die zum Forum führte, machte er sich allmählich
mit dem Gedanken vertraut, vielleicht doch ohne Geschenk auskommen
zu müssen. Dann ging er, ohne recht zu überlegen, zum
Statthalterpalast. Vor dem Eingang stand ein Wächter. Ansonsten war
die Straße leer.
Der Palast des Statthalters war ein öffentliches Gebäude, und
abgesehen von dem Posten am Tor hatte sich wohl die gesamte
Belegschaft zu den Spielen davongeschlichen. Wenn mich jemand dort
drinnen ertappen würde, dachte Julius, könnte ich doch einfach
sagen, ich wollte dem Statthalter ein Anliegen vortragen. Wer würde
denn schon daran denken, daß jemand den Statthalter persönlich
bestehlen wollte? Er betrat eine kleine Seitengasse, um sich das
Ganze noch einmal gründlich durch den Kopf gehen zu lassen.
Die der Straße zugewandte Fassade des Palastes bestand aus
Kieselsandstein. Dort befand sich das Eingangstor, das zu einem
großen Innenhof führte. Vor dem Tor stand auf einem Marmorsockel
ein fast mannshoher, schmaler Stein. Von diesem Stein aus wurden
die Wegstrecken in Südbritannien berechnet und auf allen
Meilensteinen eingetragen. Der Wachposten stand vor dem Stein, doch
ab und zu marschierte er langsam die leere Straße hinauf, wandte
sich um und kehrte wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück. Er ging
immer genau fünfundzwanzig Schritte in die eine Richtung, hielt
kurz inne und ging dann die fünfundzwanzig Schritte wieder zurück.
Julius beobachtete das Ganze sicherheitshalber dreimal. Er maß
sorgfältig seine eigenen Schritte ab. Er würde gerade genug Zeit
haben.
Als der Posten sich das nächste Mal in Bewegung setzte und
Julius dabei den Rücken zuwandte, sprang dieser auf und rannte
schnell und leise zu dem Stein, den er als Deckung benutzte. Kurz
bevor der Posten wieder an seinem Ausgangspunkt war, hatte Julius
sich schon in den Schatten des Eingangstors geduckt und war in den
Innenhof geschlüpft. An der gegenüberliegenden Seite befand sich
unter einem Portikus der Haupteingang zu den Wohnräumen. Er stand
offen. Julius ging kühn hinein und fand sich in einer anderen Welt
wieder.
Wohl kaum eine andere Kultur hat jemals so schöne Häuser für
ihre reichen Bürger geschaffen wie die römische. Die Villa des
Statthalters war ein herrliches Beispiel dafür. Das hohe, kühle
Atrium mit seinem Wasserbecken strahlte vornehme Beschaulichkeit
aus. Eine ausgeklügelte Fußbodenheizung – das Hypokaustum – hielt
das Haus im Winter warm. Im Sommer war es jedoch in dem aus Stein
und Marmor errichteten Gebäude kühl und luftig. Wie in vielen
besseren Häusern in Londinium waren in vielen Fußböden wunderbare
Mosaike eingelegt; das eine zeigte Bacchus, den Gott des Weines,
ein anderes einen Löwen; eine Wand war mit anmutig schwimmenden
Delphinen, eine andere mit verflochtenen geometrischen Mustern
verziert.
Nachdem Julius kurz die prächtigen Haupträume bewundert hatte,
ging er rasch zu den kleineren Zimmern, deren Wände überwiegend in
Ocker, Rot und Grün gehalten waren. Insgesamt zwar schlichter,
waren sie doch immer noch sehr hübsch.
Julius wußte genau, wonach er suchte. Das Geschenk mußte klein
sein. Es würde nur zu unangenehmen Fragen führen, wenn die Frau des
Kapitäns mit einem wertvollen Schmuckstück gesehen werden
würde.
In einem der Schlafzimmer sah er auf einem Tisch einen Spiegel
aus polierter Bronze, ein paar silberne Bürsten und drei mit
Edelsteinen besetzte Broschen sowie eine wunderschöne goldene
Halskette mit großen, ungeschliffenen Smaragden. Julius war kurz
versucht, die Kette zu stehlen. Die Smaragde würde er natürlich nie
loswerden können, denn sie waren viel zu auffällig, aber er könnte
das Gold schmelzen. Doch dann legte er die Kette wieder zurück. Es
wäre einfach zu schade gewesen, solch ein wunderschönes
Schmuckstück zu zerstören. Neben der Kette lag genau das, was er
suchte: ein schlichtes goldenes Armband ohne irgendwelche
Auffälligkeiten. Es mußte Tausende solcher Armbänder in Londinium
geben. Er hob es auf und schlich rasch wieder aus dem Zimmer.
Immer an der Wand entlang, huschte er zurück zum Eingang. Er
sah den Rücken des Wachpostens, der an dem Stein lehnte. Er
wartete, bis sich der Mann wieder auf seinen Weg machte, dann
flitzte er hinaus aus dem Palast, und gleich darauf war er schon
unterwegs zur Brücke, um dort mit seinem Geschenk auf Martina zu
warten. Ob sie wohl kommen würde?
Sextus ging die breite Straße hinab, die vom Forum zur Brücke
führte. Er verzog mißmutig das Gesicht, denn er hatte Julius nicht
im Amphitheater gesehen. Ging sein Freund ihm etwa aus dem Weg?
Eigentlich wäre ihm dieser Gedanke gar nicht gekommen, wenn er
nicht am vergangenen Nachmittag zufällig eine Bemerkung der
Soldaten mitbekommen hätte. Nachdem die Soldaten ins Haus
eingedrungen waren, waren sie auch in den Hinterhof gestürmt und
hatten Julius auf der Flucht entdeckt, hatten ihn aber offenbar
nicht genau erkannt. Ein paar Minuten später hörte Sextus, wie sich
zwei Soldaten unterhielten, als sie sein Bett im Nebenraum
untersuchten. »Hier ist nichts«, hatte der eine gegrunzt. »Ich
glaube, da wollte jemand diesem Burschen hier eins auswischen und
hat deshalb den Brief geschrieben.«
»Aber was ist mit dem Jüngeren? War das der, der weggerannt
ist?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jung ist er jedenfalls,
aber er kommt aus einer ehrbaren Familie. Wenn hier irgendwer Geld
fälscht, dann ist es dieser Zimmerer.«
Der Jüngere. Ehrbare Familie. Hatte Julius sie in diese
Schwierigkeiten gebracht? Sextus fluchte. Wenn sie Julius
erwischten, dann würde er sicher reden. Und dann wäre Sextus
dran.
Am gestrigen Abend hatte er es nicht gewagt, Julius zu
besuchen, doch er hatte erwartet, ihn an diesem Morgen im
Amphitheater zu sehen. Da er nicht aufgetaucht war, begann Sextus,
sich ernstlich Sorgen zu machen. Hatten ihn die Soldaten doch noch
erwischt? Schließlich schlich er doch zu Julius' Haus, aber dort
war niemand. Was hatte dies zu bedeuten? Nun wollte er als letzte
Möglichkeit den Hafen absuchen.
Plötzlich sah er Julius vor sich auf dem Weg zur Brücke.
Sextus begann zu rennen. Julius war so vertieft in seine Gedanken,
daß er Sextus erst bemerkte, als dieser direkt hinter ihm stand. Er
drehte sich um, und sein Gesicht verdunkelte sich.
Sofort war Sextus alarmiert. »Ist alles in Ordnung?« fragte
er. Julius zögerte, bevor er ihm wahrheitsgemäß alles erzählte, was
passiert war.
Sextus glaubte ihm kein Wort. Er bildete sich viel darauf ein,
kein Dummkopf zu sein. Diese Geschichte war äußerst
unwahrscheinlich, wohingegen andere Dinge sehr klar waren. Der
junge Mann ging ihm tatsächlich aus dem Weg, und das Geld war weg.
Dafür konnte es nur zwei Erklärungen geben. Entweder hatte Julius
es gestohlen, oder er hatte seinen Freund verraten, und in diesem
Fall hatten die Behörden wahrscheinlich die Tasche mit den
Gußformen und würden sie vor Gericht als Beweismittel gegen ihn
anführen. Und zweifellos würde Julius ungeschoren davonkommen, wenn
er gegen ihn aussagte. Als Julius mit seiner Geschichte fertig war,
versuchte es Sextus mit einem Frontalangriff. »Hast du geredet?«
fragte er direkt. »Den Soldaten alles erzählt?«
»Nein. Natürlich nicht.«
Sextus zog ein Messer aus seinem Gürtel und hielt es Julius
unter die Nase.
»Wenn du das Geld nicht bis Sonnenuntergang findest, dann
bringe ich dich um«, sagte er ruhig.
Kurz vor Mittag standen der Gladiator und
der Bär auf dem Programm. Der Gladiator war sehr geschickt mit dem
Netz. Die Wetten standen zwei zu eins, daß er den Bären töten
würde. Zuerst wurde der Bär durch die Arena geführt. Die Menge war
gut gelaunt. Spannung und Erregung würden erst steigen, wenn Blut
floß.
Martina stand rasch auf. Auf der anderen Seite der Arena sah
sie die wichtigen Männer der Stadt in ihren Togen und die Frauen in
ihren langen kostbaren Seidenkleidern in der Loge des Statthalters
und den angrenzenden Rängen sitzen. Sie ging zurück zur Treppe. Ein
kleiner Schauder der Vorfreude durchrieselte sie. Die dort mögen
auf den besten Plätzen sitzen, aber keiner wird das kriegen, was
ich heute nachmittag kriegen werde, dachte sie. Auf ihrem Weg zum
Forum sah sie nicht, daß hinter ihr der Kapitän leise aus einer Tür
heraustrat und ihr folgte.
Julius stand neben einem der großen Holzpfeiler am Nordende
der Brücke. Es war fast Mittag. Das Gespräch mit Sextus beunruhigte
ihn ziemlich. Wie sollte er nur die Tasche wiederfinden? Vielleicht
würde seine Mutter nachgeben, wenn er ihr von der Drohung erzählte,
aber sicher war er sich da nicht. Jedenfalls war es sinnlos, sich
jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Nun standen andere Dinge
an.
Aus dem Amphitheater vom Hügel zu seiner Linken erschallte ein
abfälliges Grummeln, woraus er schloß, daß ein Tier über einen
Menschen die Oberhand gewann. Julius blickte auf die breite Straße
Richtung Forum. Wenn Martina jetzt auftauchte, würde sie sich ihm
heute nachmittag hingeben, dessen war er sich sicher. Er zitterte
vor Erregung. Und dennoch war ein Teil in ihm sehr nervös, ja
hoffte fast, daß sie nicht kommen würde.
Mehrere Minuten waren verstrichen, da erregte etwas neben dem
Kai zu seiner Rechten seine Aufmerksamkeit. Es waren Soldaten mit
einem Esel, der einen kleinen Karren zog. Er war wohl sehr schwer
beladen, denn der Esel rutschte einmal aus und hielt an. Es waren
drei Männer. Einer führte das Tier, die anderen zwei gingen hinter
dem Karren her. Da Julius hinter dem Holzpfeiler stand, konnten sie
ihn nicht sehen, doch als sie näherkamen, konnte er ihre Gesichter
unter den Helmen erkennen. Eines davon kam ihm sehr bekannt vor.
Der Mann, der den Esel führte, war sein neuer Bekannter, der
Zenturio.
Warum, fragte sich Julius, geleitete der Zenturio gerade
während der Spiele einen Eselkarren durch die Straßen?
Die Ladung war mit einer Leinwand zugedeckt. Eine Ecke hatte
sich jedoch gelockert, und Julius sah den Hals einer Weinamphore
herausragen. Offensichtlich brachten die Soldaten Proviant vom
offiziellen Lager zum Fort. Doch als der Karren in die Gasse
hineinfuhr, holperte er mit einem Rad über einen Buckel, und ein
kleiner Gegenstand fiel auf den Boden. Einer der Soldaten beeilte
sich, ihn aufzuheben und zurück unter die Abdeckung zu legen, doch
Julius fielen zwei Sachen auf. Das Ding glitzerte in der Sonne, und
der Zenturio blickte sich rasch nach allen Seiten um, als ob er
sichergehen wollte, daß niemand sie gesehen hatte. Auf seinem
Gesicht lag ein Ausdruck von Angst und Schuld. Das Ding, das da von
dem Karren heruntergefallen war, war eine Goldmünze.
Gold. Dort auf diesem Karren lagen wahrscheinlich Säcke voll
Gold. Kein Wunder, daß der Esel strauchelte. Doch warum
transportierten die Soldaten heimlich Gold? Erst wollte Julius
keine Erklärung für diese sonderbare Tatsache einfallen,
schließlich kam er auf die wahrscheinlichste: Sie hatten das Gold
gestohlen.
Die Gedanken in Julius' Kopf überschlugen sich. Leise trat er
von der Brücke herunter und in die Gasse hinein. Vorsichtig Abstand
haltend, verfolgte er den Karren bei seiner Zickzacktour, wobei er
sich immer wieder in dunkle Ecken drückte. Es war keine Frage: Die
Soldaten wollten auf keinen Fall gesehen werden.
Mehrmals zögerte er. Wenn die Soldaten Gold stahlen und ihn
dabei ertappten, wie er sie verfolgte, dann stand außer Zweifel,
was sie mit ihm anstellen würden. Doch er hatte sich schon einen
Plan zurechtgelegt. Die Männer wollten das Gold sicher irgendwo
verstecken. Wenn er das Versteck herausfinden würde, könnte er ihm
einen Besuch abstatten. Einer dieser Säcke würde Sextus den Verlust
der Tasche vergessen lassen. Und mit all dem Geld konnte er auch
Martina kaufen, was immer sie sich wünschte.
Die Soldaten gingen am östlichen Hügel zum Forum hinauf. Hier
stießen sie auf die obere der beiden großen quer durch die Stadt
führenden Durchgangsstraßen. Sie wandten sich nach links und nahmen
eine kleinere Gasse, die parallel zu der großen Straße verlief.
Julius bog in die große Straße ein, in der Absicht, den Weg des
Karrens bei der nächsten Seitenstraße zu überprüfen. In der Senke
zwischen den beiden Hügeln sah er den Karren wieder; er überquerte
vor ihm die Hauptstraße und fuhr dann den Hang auf der anderen
Seite hinauf. Die Soldaten hatten einen Vorsprung von etwa einer
Viertelmeile. Plötzlich bogen sie in eine kleine Gasse ein und
verschwanden. Julius eilte ihnen nach, er wollte sie nicht aus den
Augen verlieren. Fast war er schon bei der kleinen Gasse angelangt,
da blickte er den Hügel hinauf und sah Martina, die ihm auf der
Straße entgegenkam.
Julius blieb stehen und starrte sie an. Also war sie doch noch
zu ihrer Verabredung unterwegs. Sein Herz machte einen Sprung. Sie
will mich, dachte er. Vielleicht liebt sie mich sogar. Eine Welle
der Freude und Erregung durchflutete ihn. Am liebsten wäre er ihr
entgegengerannt. Doch dann würde er wertvolle Zeit verlieren. Jede
Sekunde konnte der Karren im Labyrinth der Gassen verschwunden
sein. Und dann war das Gold verloren.
»Das Mädchen wird warten, das Gold nicht«, murmelte er und
duckte sich in einen Hauseingang.
Behutsam schlich er eine Gasse nach der
anderen entlang, bis er schließlich auf einem schmalen Weg in der
Nähe des Dianatempels den kleinen Karren und den Esel wieder
entdeckte. Die Soldaten waren nicht zu sehen. Julius blickte sich
um, versuchte zu erraten, wohin sie gegangen waren. Hier gab es
viele kleine Höfe, Werkstätten und Schuppen. Der Wagen war noch
immer mit der Leinwand bedeckt. Hatten sie das Gold bereits
abgeladen, oder war dies nur ein vorläufiger Haltepunkt? Julius
wollte es unbedingt wissen. Vorsichtig pirschte er sich an den
Karren heran, hob die Abdeckung hoch und blickte darunter.
Der Karren war leer bis auf drei Amphoren und ein paar
Leinenfetzen. Er tastete unter dem Stoff herum, bis seine Hand auf
etwas Hartes stieß. Er zog daran. Es war schwer. Zufrieden grinsend
nahm er auch noch die andere Hand zu Hilfe und zerrte einen Sack
voller Münzen hervor. Er war nicht sehr groß, gerade so, daß er ihn
mit zwei Händen umfassen konnte, aber selbst dies war ein Vermögen.
Ein solcher Sack reichte vollauf. Es war Zeit, sich aus dem Staub
zu machen.
Da ertönte hinter ihm ein Ruf. Er wandte sich halb um. Der
Soldat war schon fast neben ihm. Julius ließ den Sack fallen,
hechtete zur anderen Seite des Karrens und rannte los. Die Stimme
des Zenturios ertönte: »Laßt ihn nicht entkommen!«
Rein in die Gasse. Nach links. Nach rechts. Wenige Augenblicke
später war er schon bei der großen Durchgangsstraße. Er rannte über
die Straße, bog in eine kleinere Gasse ein, floh weiter.
Sie wußten, daß er das Gold gesehen hatte. Er war ein Zeuge.
Sie mußten ihn töten. Wohin sollte er gehen? Wo konnte er sich vor
ihnen verstecken? Er hörte sie noch immer rufen, sie waren ihm
dicht auf den Fersen. Dann fiel ihm etwas ein. Es war seine einzige
Hoffnung. Japsend zwang er sich dazu weiterzurennen, während er
ihre Schritte noch immer dicht hinter sich hörte.
Martina stand wütend und enttäuscht an der
Brücke. Nun wartete sie schon über eine Stunde. Keine Menschenseele
war zu sehen. Er hatte ihr einen Brief geschickt und ein Geschenk
versprochen. Sie hatte viel riskiert. Aber vielleicht war Julius ja
auch etwas zugestoßen? »Ich verzeihe ihm, wenn er sich ein Bein
gebrochen hat«, murmelte sie, »aber auch nur dann!« Da sah sie
plötzlich zu ihrer Verwunderung Sextus aus einer Seitenstraße
heraustreten und näherkommen.
Als sie den Mann sah, dem sie um des treulosen Julius willen
aus dem Weg gegangen war, kam es ihr nur natürlich vor, ihn mit
einem Kuß zu begrüßen, und sie hoffte, Julius würde dies auch
sehen, wenn er sich denn irgendwo hier in der Nähe aufhielt.
Sicherheitshalber küßte sie Sextus ein weiteres Mal.
Sextus war leicht überrascht über die plötzliche Zuneigung der
jungen Frau, der er nun schon so lange nachgestiegen war. Seine
Eitelkeit sagte ihm, daß doch nichts anderes zu erwarten war; seine
Erfahrung sagte ihm, daß er lieber nicht nach dem Grund für ihr
Verhalten fragen sollte. Er lächelte nur und fragte sie, ob sie
denn seinen Freund Julius gesehen habe. Nein, sagte sie, aber
vielleicht sei er ja bei den Spielen. »Sollen wir hingehen und ihn
suchen?« fragte sie und hakte sich bei ihm ein.
Sextus hatte mit Julius noch Geschäftliches zu regeln, aber er
wollte auch diese unvorhergesehene Gelegenheit nicht ungenutzt
verstreichen lassen. Als sie das Amphitheater vor sich liegen
sahen, verabredete er mit ihr, sie in dieser Nacht zu besuchen.
»Aber jetzt sollten wir besser nicht zusammen beim Betreten des
Amphitheaters gesehen werden«, log er schlau. »Also dann, bis heute
abend!« Und damit machte er sich davon, um auf Julius zu warten,
wobei er sich noch einmal vergewisserte, daß das Messer an seinem
Platz war.
Es war ein warmer Abend, und in der Luft hing eine angenehme
Wolke aus Schweiß und Staub, während sich das Amphitheater leerte.
Die Menge war höchst zufrieden. Die Menschen hatten gegessen und
getrunken, sie hatten Löwen, Stiere, eine Giraffe und alle
möglichen anderen wilden Tiere gesehen; sie hatten zugesehen, wie
ein Bär einen Mann zerfleischte, und außerdem waren noch zwei
weitere Gladiatoren vor ihren Augen gestorben.
Julius ließ sich von der Menge treiben. Die Menschenmassen
hatten ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Er hatte es
geschafft, seinen Verfolgern zu entkommen und durch einen engen
Durchgang auf die obere Tribüne des Amphitheaters zu schlüpfen.
Unten in der Arena kämpften gerade zwei Gladiatoren, und die Leute
waren alle aufgestanden, um den Kampf besser zu sehen. Unbemerkt
fand er einen Platz unter den Stehenden und verbrachte den
restlichen Nachmittag dort. Als er mit der Menge aus dem Theater
trat, war von seinen Verfolgern nichts mehr zu sehen.
Was sollte er nun tun? Seine Eltern würden bald das Festmahl
für die Nachbarn auftischen. Sie warteten sicher schon auf ihn. Er
mußte unbedingt mit seiner Mutter über die Tasche mit den
gefälschten Münzen reden. Sextus hatte ihm eine Frist bis
Sonnenuntergang gestellt, und nun ging die Sonne gerade unter. Er
würde wohl oder übel bis zum nächsten Morgen warten müssen. Dann
fiel Julius wieder das Gold ein. Er hatte den Sack ja schon in den
Händen gehalten! Er befand sich sicher ganz in der Nähe,
wahrscheinlich in irgendeinem Keller. Aber vielleicht würden die
Legionäre ihre Beute nicht lange in dem Versteck liegenlassen.
Vielleicht kamen sie in ein, zwei Tagen zurück und verteilten das
Gold an verschiedene Stellen. Wenn ich an dieses Gold kommen will,
dann sollte ich besser bald danach suchen, sagte sich Julius.
Er bog in eine Seitenstraße ein und kehrte an die Stelle
zurück, an der der Karren gestanden hatte. Von den Soldaten war
nichts zu sehen. Er musterte die Umgebung eingehend. Es kamen etwa
ein halbes Dutzend Stellen als Versteck in Frage. Er würde sie alle
absuchen müssen. Bald würde es dunkel sein. Er brauchte ein Licht.
Vorsichtig machte er sich wieder auf den Weg, ohne zu wissen, daß
er verfolgt wurde.
Nach Einbruch der Dunkelheit begann sich Julius' Mutter Sorgen
zu machen. Die Nachbarn genossen das üppige Mahl. Das dicke Mädchen
stopfte sich gerade sein drittes Huhn in den Mund, während Rufus
den Freunden eine lustige Geschichte erzählte. Aber wo steckte der
Junge?
»Er ist hinter einer Frau her«, hatte Rufus ihr grinsend
berichtet, als Julius zu Beginn des Festmahls nicht erschienen war.
»Mach dir keine Sorgen!«
Aber sie hatte Rufus noch nichts von den Münzen erzählt. Und
was hatte Sextus mit der Geschichte zu tun? Sie mochte diesen
Burschen mit den dichten Augenbrauen einfach nicht. Unter dem
hellen Sternenhimmel glitt das kleine Boot, getragen von der Ebbe,
leise stromabwärts. Die Luft war selbst hier auf dem Fluß noch
warm. Der Körper im Boot lag starr auf dem Rücken, das Gesicht zum
Nachthimmel gerichtet. Der Messerstich, der den Mann getötet hatte,
war so bedacht gesetzt worden, daß die Wunde kaum blutete. Nun
wurde der leblose Körper mit Steinen beschwert, damit er für immer
auf den Grund des Flusses sank.
Es erforderte einiges Geschick, einen Leichnam im Wasser
loszuwerden. Der Fluß hatte Strömungen und Strudel, einen geheimen
eigenen Willen, und eine Leiche, die an einer Stelle versenkt
wurde, konnte auf unerklärliche Weise an einer anderen Stelle
wieder auftauchen. Man mußte die Geheimnisse des Flusses kennen,
und dies tat der Kapitän.
Anfangs war er sehr überrascht, als er sah, wie seine Frau und
Sextus sich mit Küssen begrüßten. Er kannte Sextus vom Sehen und
dem Namen nach, aber er glaubte sich zu erinnern, daß der Brief mit
einem J, nicht mit einem S unterschrieben worden war. Nun,
wahrscheinlich war es doch ein schlecht geschriebenes S gewesen.
Und so hatte er Sextus getötet, während dieser seinem Freund Julius
durch die Gassen nachschlich.
Nun mußte er sich noch überlegen, was er mit Martina anstellen
sollte. Zuerst wollte er sie so bestrafen, daß sie es nie vergessen
würde, aber dann dachte er daran, daß es wahrscheinlich nicht
einfach sein würde, einen Ersatz für sie zu finden. Und er hatte
sich ja schon an ihrem Liebhaber gerächt. Also beschloß er, sie
freundlich zu behandeln und abzuwarten, was passieren würde.
Im Herbst des Jahres 251 wurde der Diebstahl einer
beträchtlichen Menge an Gold- und Silbermünzen entdeckt. Der
Zenturio, der mit den Nachforschungen beauftragt wurde, konnte
nichts herausfinden. Darauf wurden der Zenturio und eine Reihe von
Truppen aus der Garnison in Londinium überraschend nach Wales
versetzt, um dort beim Wiederaufbau der großen Festung Caerleon
mitzuhelfen. Es wurde kein Datum für ihre Rückkehr genannt.
Für Julius wandte sich alles zum besten. Seine Mutter fragte
ihn nie mehr nach der Tasche, und mit dem geheimnisvollen
Verschwinden seines Freundes Sextus schien die ganze Sache ein Ende
zu haben. Seine Geschäfte mit dem Kapitän florierten. Und das Beste
daran war, daß der Kapitän, nachdem er den Liebhaber seiner Frau
beseitigt hatte, nie mehr den leisesten Verdacht hegte, daß sich
zwischen Julius und Martina etwas entwickeln könnte. Und als der
Kapitän ein Jahr später auf hoher See ums Leben kam, übernahm
Julius sein Geschäft und heiratete seine Witwe. Nach der Geburt
seines zweiten Sohnes trat Julius zur großen Freude seines Vaters
als offizielles Mitglied in den Mithrastempel ein.
Nur eine Sache ließ Julius zeit seines Lebens keine Ruhe.
Wieder und immer wieder kehrte er an den Ort zurück und suchte ihn
ab, bei Tag und bei Nacht. Der Zenturio hatte bei seiner
überraschenden Abkommandierung den schweren Schatz bestimmt nicht
mitnehmen können. Es mußte also noch irgendwo, ganz in der Nähe der
Stelle, an der der Eselkarren gestanden hatte, ein Versteck geben,
in dem ein Schatz von schier unberechenbarem Ausmaß ruhte. Monate
vergingen, Jahre vergingen, ohne daß Julius seine Suche einstellte.
An langen Sommerabenden stand er oft am Kai oder an der großen
Mauer von Londinium, beobachtete den Sonnenuntergang und fragte
sich, wo, bei allen Göttern, das Gold versteckt sein mochte.