LONDINIUM

251 n. Chr.

DIE ZWEI MÄNNER saßen sich gegenüber an einem Tisch. Beide waren schweigend in ihre gefährliche Arbeit vertieft. Es war ein bedrückend heißer Sommernachmittag in den Iden des Juni, wie es der römische Kalender besagte. Wie die meisten gewöhnlichen Leute trugen die beiden Männer nicht die lästige römische Toga, sondern ein einfaches, knielanges Gewand aus weißem Wollstoff, das mit Spangen an den Schultern zusammengehalten und an der Taille mit einem Gürtel geschnürt wurde. Der größere Mann trug noch einen kurzen Umhang aus demselben Material. Beide hatten lederne Sandalen an den Füßen.
Der bescheidene Raum war typisch für dieses Viertel, in dem sich strohgedeckte Holzhütten und Werkstätten um die Innenhöfe der kleinen Straßen drängten. Die Lehm- und Strohwände waren weiß verputzt; in einer Ecke wies eine Werkbank mit verschiedenen Meißeln und einer Axt darauf hin, daß der Bewohner ein Zimmermann war.
Es war ruhig bis auf das sanfte Schleifgeräusch, das die Metallfeile in der Hand des größeren Mannes verursachte. Draußen am Ende der schmalen Gasse stand ein Wachposten, eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme, denn auf ihr Tun stand die Todesstrafe.
Auf den beiden Kieshügeln am Flußufer befand sich nun eine große, von einer Mauer umgebene Stadt. Londinium war ein hübscher Ort. Die beiden Hügel waren in sanft abfallende Terrassen verwandelt worden. Am Gipfel des einen stand ein stattliches Forum. Von dort aus ging eine breite Straße hinunter zu einer stabilen Holzbrücke, die über den Fluß führte. Auf dem westlichen Hügel dominierte ein riesiges, ovales Amphitheater, und dahinter lag das Hauptquartier der militärischen Garnison. Am Flußufer gab es hölzerne Anlegestellen und Lagerhäuser, am Ostufer des Bächleins, das zwischen den beiden Hügeln floß, lagen die prächtigen Gärten des Statthalterpalastes. Und die ganze Anlage – die Tempel und Theater, die stuckverzierten Villen und die einfachen Häuser, die ziegelgedeckten Dächer und Gärten – war auf der landeinwärts gelegenen Seite von einer hohen Mauer umschlossen. Zwei große Straßen durchquerten die Stadt von Westen nach Osten. Eine der beiden nahm am oberen der beiden Tore in der westlichen Mauer ihren Anfang, führte über die Gipfel der beiden Hügel und verließ die Stadt durch ein Tor im Osten. Die andere führte durch das unterhalb gelegene Tor im Westen in die Stadt, lief am oberen Teil des westlichen Hügels entlang und dann den Hang hinunter, überquerte den Bach und kam am Palast des Statthalters vorbei. Der Uferbereich war etwa eine Meile lang; es lebten um die fünfundzwanzigtausend Menschen in der Stadt, die bereits seit etwa zweihundert Jahren an diesem Fleck stand.
Die Römer hatten sich Zeit gelassen, Britannien zu besetzen. Nach der Schlacht am Fluß war Cäsar kein drittes Mal gekommen. Zehn Jahre später war der große Eroberer im Senat in Rom erdolcht worden. Ein weiteres Jahrhundert war vergangen, bevor 43 n. Chr. Kaiser Claudius über den schmalen Seeweg gekommen war, um die Insel zu zivilisieren. Die Besetzung war rasch und gründlich erfolgt. Sofort wurden militärische Stützpunkte in den wichtigsten Stammeszentren gegründet. Bald interessierten sich die gewitzten Römer für den Ort, der unter dem keltischen Namen Londinos bekannt war. Es war kein Stammeshauptsitz, doch es war nach wie vor der erste Ort, an dem man den Fluß gut überqueren konnte, und deshalb besonders geeignet, um hier einen Verkehrsknotenpunkt anzulegen.
Doch die Römer interessierten sich nicht so sehr für die Furt, sondern eher für einen anderen Ort in der Nähe. Als die römischen Planer die beiden Kieshügel am Nordufer und die auf der gegenüberliegenden Seite in den Strom hineinragende Kieslandzunge sahen, erkannten sie sofort, daß dies die perfekte Stelle für eine Brücke war. »An dieser Stelle ist der Fluß etwas schmaler«, berichteten sie, »und das Kiesbett liefert einen festen Untergrund.« Die Gezeitenströmung reichte noch über diesen Punkt hinaus, so daß Schiffe je nach dem Stand der Gezeiten leicht flußauf- oder flußabwärts gelangen konnten; die Stelle zwischen den beiden Hügeln, an denen der kleine Bach in den Fluß mündete, war ein idealer natürlicher Hafen für kleinere Schiffe. Die römischen Bauplaner nannten den Fluß Tamesis und den Hafen Londinium, eine latinisierte Form des bisherigen Namens.
Mit der Zeit wurde dieser Ort zu einem Handelszentrum, und von der Brücke aus führten Straßen in alle Himmelsrichtungen.
Die römischen Straßen hatten eine Schlüsselstellung. Bei ihrer Errichtung achtete man nicht auf das uralte System prähistorischer Wege; die schnurgeraden römischen Schotterstraßen führten über die ganze Insel und verbanden die Stammeszentren mit den Verwaltungsstützpunkten. Von den weißen Klippen in Dover auf der südöstlichen Halbinsel Kent hinauf durch Canterbury und Rochester verlief die Watling Street. Ostwärts führte eine Straße nach Colchester. Richtung Norden führte eine große Straße nach Lincoln und York; im Westen, hinter Winchester, verband ein Straßennetz Gloucester mit dem römischen Heilbad Bath mit seinen heilkräftigen Quellen und den hübschen Marktstädten im warmen Südwesten.
Im Sommer 251 war es ruhig in der Provinz Britannien, so, wie es in den letzten zweihundert Jahren meist gewesen war. In der Anfangszeit der römischen Besatzung hatte ein kurzer, heftiger Aufstand unter der Führung der britannischen Königin Boudicca die Provinz erschüttert, und lange hatte das stolze Volk von Wales im Westen der Insel Unruhen angezettelt, während im Norden die wilden Pikten und Schotten sich niemals völlig unterwarfen. Kaiser Hadrian hatte sogar einen großen Wall von Küste zu Küste errichten lassen, um sie in ihren Mooren und Hochlandburgen einzuschließen. In letzter Zeit war es auch notwendig gewesen, zwei starke Seefestungen zu errichten, um die lästigen germanischen Piraten abzuwehren. Doch in dem ausgedehnten Reich, in dem Barbaren immer wieder die Grenzen in Osteuropa durchbrachen, in dem es permanente politische Auseinandersetzungen gab und in dem in eben diesem Jahr nicht weniger als fünf Kaiser sich an den verschiedensten Orten hatten ausrufen lassen, war Britannien ein Hort des Friedens und des bescheidenen Wohlstands.
Julius vergaß fast die Gefahren ihres Tuns, als er darüber nachdachte, was der Mann mit der Feile eben zu ihm gesagt hatte. Sextus war zwar sein Partner und Freund, doch er konnte auch ziemlich gefährlich sein.
Sextus war ein dunkelhäutiger Mann Ende Zwanzig mit einem sehr markanten Unterkiefer. Sein dunkles Haupthaar begann bereits schütter zu werden. Er war glattrasiert, oder vielmehr hatte er sich die Barthaare ausgezupft, wie es die Römer taten, bis auf seine dichten, lockigen Koteletten, auf die er stolz war und die manche Frauen sehr attraktiv fanden. Sein gutes Aussehen wurde nur dadurch beeinträchtigt, daß die Mitte seines Gesichtes irgendwie zusammengequetscht wirkte, so daß seine dunkelbraunen Augen wie unter einem Vorsprung hervorblickten. Seine schweren Schultern ließen ihn beim Laufen leicht schwanken.
»Das Mädchen gehört mir! Laß deine Finger davon!« Diese Warnung war völlig unvermittelt gekommen. In Sextus' Stimme lag etwas Endgültiges, das Julius zeigte, daß er vorsichtig sein mußte. Doch es überraschte ihn auch. Wie konnte Sextus es nur ahnen?
Sextus nahm Julius oft auf einen Umtrunk mit und stellte ihm Frauen vor, er war ihm immer ein Mentor, nie ein Rivale gewesen. Dies war etwas Neues und barg eine Menge Risiken. Seine Partnerschaft mit Sextus bei ihrem illegalen Geschäft war die einzige Möglichkeit, wie Julius an das zusätzliche Geld kommen konnte, das er haben wollte. Dennoch war er sich nicht sicher, ob er dem Befehl gehorchen würde. Außerdem hatte er den Brief bereits abgeschickt.
Julius war zwanzig und nicht besonders groß, doch seine ärmellose Tunika ließ einen gestählten Brustkorb erkennen. Julius war sehr stolz auf seinen Körper. Unten am Hafen, wo er die Boote auslud, hatte er sich den Ruf eines vielversprechenden Boxers erworben. Doch Julius wies auch noch zwei auffälligere Besonderheiten auf. Die erste hatte er mit seinem Vater gemeinsam; in seinen dichten schwarzen Stirnlocken gab es eine weiße Haarsträhne. Die zweite bestand darin, daß seine Finger mit Schwimmhäuten verbunden waren. Dies störte ihn jedoch nicht weiter, auch wenn sie ihm am Hafen den Spitznamen »Ente« gegeben hatten. Die Frauen mochten ihn, er hatte etwas erfrischend Unschuldiges an sich, und seine blauen Augen strahlten Heiterkeit und Lebensfreude aus.
Im Hafen von Londinium, in dem Schiffe mit Olivenöl aus Spanien, mit Wein aus Gallien, Glasprodukten vom Rhein und Bernstein aus den germanischen Ländern an der Ostsee anlegten, tummelten sich die verschiedensten Menschen. Es gab alle möglichen Arten von Kelten, blonde Germanen, Latiner, Griechen, Juden und olivenhäutige Männer von den südlichen Küsten des Mittelmeers sowie Sklaven, die von irgendwoher stammten. Die römische Toga tauchte neben einem farbenprächtigen afrikanischen Gewand auf oder neben einem, das ägyptische Verzierungen aufwies. Das römische Reich war kosmopolitisch.
Dennoch war die junge Frau ungewöhnlich. Vor zwei Monaten hatten er und Sextus sie zum erstenmal gesehen. Und wenn man erst einmal einen Blick auf sie geworfen hatte, konnte man sie nicht mehr so leicht vergessen. Sie war zwei Jahre älter als Julius und beinahe ebenso groß wie er. Sie hatte eine helle Haut und blondes Haar, das sie in krausen, enganliegenden, kurzen Locken trug. Dies und ihre etwas breite Nase wiesen auf ihre dunkelhäutigen Vorfahren hin. Ihre Großmutter war als Sklavin aus der afrikanischen Provinz Numidia nach Gallien gelangt. Ihre blauen Augen hatten die Form von großen Mandeln und wirkten sonderbar verschleiert. Wenn sie sich bewegte, strahlte ihr schlanker Körper eine wundervolle, rhythmische Anmut aus. Böse Zungen behaupteten, ihr Mann habe sie in Gallien gekauft, aber niemand wußte es genau. Sie hieß Martina. Als sie sechzehn war, hatte der Kapitän eines Handelsschiffes beschlossen, sie zu heiraten. Er war damals fünfzig gewesen, ein Witwer mit erwachsenen Kindern. Im letzten Jahr war er von Gallien nach Londinium gekommen.
Julius kannte den Kapitän vom Sehen. Er war ein großer, kräftiger Mann; sein Kopf war völlig kahl; ein Netz von winzigen zerplatzten Adern auf seinem ganzen Körper und dem Gesicht ließ seine Haut blau wirken. Er lebte mit der jungen Frau in einem kleinen Haus am Südufer des Flusses.
Im Hafen war immer viel los. Trotz seines Alters war der Kapitän noch sehr aktiv und weilte oft in Gallien. Momentan war er nicht da. Julius hatte guten Grund, sich Hoffnungen zu machen.
Auch Sextus kam bei Frauen ziemlich gut an. Er war verheiratet gewesen, doch seine Frau war gestorben, und nun schien er keine große Eile zu haben, wieder zu heiraten. Er hatte Julius gesagt, daß er es auf die junge Frau des Kapitäns abgesehen habe; er hatte herausgefunden, daß der Kapitän oft auf See weilte und wie er nachts unbeobachtet ins Haus gelangen konnte. Doch die junge Frau zögerte noch.
Julius war sehr überrascht gewesen, als Martina eines Tages, als sie sich von ihm und Sextus an der Brücke verabschiedete, seine Hand fest drückte. Am nächsten Tag hatte sie unten am Kai ganz nebenbei bemerkt: »Frauen mögen Geschenke!« Obwohl sie dies zu Sextus sagte, blickte sie dabei Julius an.
Von dem Moment an begann er, ständig an sie zu denken. Wenn er die Boote entlud, schienen ihre rauchblauen Augen in der Takelage herumzuschweifen. Er stellte sich ihren rhythmischen Gang vor, der ihm unendlich verführerisch vorkam. Er wußte, daß Sextus seinem Ziel immer näher kam, doch der Kapitän war bis vor kurzem zu Hause gewesen, und Julius war sich sicher, daß sein Freund sie noch nicht erobert hatte. Und je mehr er über sie nachgrübelte, desto heftiger wurde seine Verliebtheit. Dieser wunderbare Moschusduft – war das etwas, mit dem sie sich besprühte, oder entströmte er ihrem Körper? Er sehnte sich danach, ihr kurzes Haar zu berühren, er dachte unentwegt an ihren schlanken, biegsamen Körper.
Und Sextus' Warnung? Es war nicht Julius' Art, kühle Berechnungen anzustellen. Er war zu lebensfroh, um die Risiken aller seiner Taten abzuwägen. Außerdem war er ein unverbesserlicher Optimist.
Das dicke Mädchen saß an der Straßenecke. Es wollte nicht dort sitzen, doch man hatte es ihm befohlen. Es hatte zwei Stühle mitgebracht, auf die es sich langsam niedergelassen hatte. Sie hatten ihm einen Laib Brot, ein Stück Käse und eine Tüte Feigen mitgegeben. Nun saß es letztlich doch ganz zufrieden in der warmen Sonne. Die Brotkrümel und Feigenschalen zu seinen Füßen ließen darauf schließen, daß es schon das Brot, den Käse und einige Feigen verzehrt hatte.
Obwohl das Mädchen erst achtzehn war, hatte es einen Leibesumfang, der auch bei einer älteren Frau noch beeindruckend gewesen wäre. Seine ersten zwei Kinne waren ziemlich ausgeprägt, ein drittes bahnte sich unter ihnen einen Platz. Es saß breitbeinig auf den Stühlen; sein Kleid fiel locker über seine Brüste.
War dieses dicke Mädchen tatsächlich Julius' Schwester? Ja, sie war es. Mit etwa neun Jahren hatte sie angefangen, immer dicker zu werden und sich aus der Welt des Sportes und der Spiele zurückzuziehen, die Julius und seinen Freunden großen Spaß machte. »Ich verstehe nicht, wie sie so werden konnte«, sagte der Vater immer wieder verwundert. Zwar war er selbst inzwischen eher rundlich, doch er war nie dick gewesen, ebensowenig wie Julius oder die Mutter. Seine Schwester und Julius hatten sich im Lauf der Jahre immer weniger zu sagen. Sie sprach selten mit irgendwem, auch wenn sie so entgegenkommend war, Dinge zu tun wie etwa Wache zu schieben, ohne Fragen zu stellen, solange man ihr nur etwas zu essen gab.
Nun saß sie also da, blickte auf die leere Straße und holte sich ab und zu eine Feige aus der Tüte.
Alles war ruhig. Eine halbe Meile entfernt ertönte ab und zu ein schläfriges Grunzen. Es stammte von den Löwen, die aus fernen Ländern hierhergebracht worden waren. Morgen würden die Spiele stattfinden – eine aufregende Sache. Es würde Gladiatoren und Kämpfe mit den Bären aus den Bergen von Wales und mit den Wildschweinen aus der Umgebung geben. Nahezu alle Bewohner Londiniums würden sich in die große Arena drängen, um dieses phantastische Spektakel mitzuerleben.
An der Straßenecke war es sehr warm. Das dicke Mädchen ordnete lässig sein Kleid neu, um seine Brüste zu bedecken. Ihm war langweilig, denn es hatte nichts mehr zu essen. Gar niemand kam vorbei. Die meisten Leute machten um diese Zeit einen Mittagsschlaf. Es schloß ebenfalls die Augen.
Fünf Soldaten eilten durch die Straßen, begleitet von einem Zenturio, einem großen, korpulenten Mann mit krausem Haar. Eine Verletzung, die er sich vor Jahren bei einer Messerstecherei zugezogen hatte, hatte eine Narbe auf seiner rechten Wange hinterlassen, die ihm die Aura eines Veteranen verlieh und bei seinen Leuten einen gewissen Respekt einbrachte.
Es war Julius' Schuld. Wenn ihn jemand bei einem Boxkampf zu Boden schlug, stand er gleich wieder auf, um unverdrossen weiterzukämpfen. Es kam ihm nie in den Sinn, nachtragend zu sein. Da Boshaftigkeit nicht in seinem Wesen lag, versäumte er es einfach, diesen Zug bei anderen zu erkennen. Und deshalb hatte er auch nicht den Ausdruck in den Augen des Burschen bemerkt, den er vor zehn Tagen besiegt hatte. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daß sein Gegner den Beutel öffnen könnte, den er an jenem Tag sorglos beiseite gelegt hatte, und darin eine bestimmte Silbermünze bemerken würde.
»Julius, der Sohn von Rufus, der im Hafen arbeitet, hat einen silbernen Denarius. Wie ist er dazu gekommen? Der Zimmerer Sextus ist sein Freund.« Dieses anonyme Schreiben hatten die Behörden erhalten. Nun hatten sie sich auf den Weg gemacht, um der Sache nachzugehen.
Julius grinste still vor sich hin. Sein Lohn am Hafen war bescheiden. Wenn es denn etwas gab, was er dringend brauchte, dann war es Geld. Und in diesem Moment machten Sextus und er auf die einfachste Weise Geld, die man sich vorstellen konnte: Sie fälschten es.
Es war keine große Kunst, Münzen zu fälschen; man mußte nur ziemlich sorgfältig arbeiten. Offizielle Münzen waren geprägt. Eine blanke Metallscheibe wurde zwischen zwei Stempel gelegt – der eine für die Oberseite, der andere für die untere. Das auf den Stempeln befindliche Bild wurde auf die Metallscheibe geprägt. Julius hatte von Fälschern gehört, die tatsächlich diese Prozedur auf sich nahmen und damit Fälschungen von höchster Qualität erzielten, doch dafür mußte man die Stempel selbst herstellen, was über seine und Sextus' Fähigkeiten weit hinausging. Die meisten Fälscher nahmen einfach eine Münze zur Hand, preßten jede Seite dieser Münze in feuchten Ton und stellten damit zwei Gußformen her, die sie dann übereinanderlegten, wobei sie in der Seite ein kleines Loch ließen. Wenn dann der Ton getrocknet und hart war, konnte man flüssiges Metall durch das Loch in die Form gießen. Nach dem Abkühlen wurde die Gußform aufgebrochen, und schon hatte man eine ziemlich passable gefälschte Münze.
»Nur, daß man natürlich nicht immer nur eine Münze herstellt«, hatte Sextus erklärt. »Man macht es anders.« Er nahm drei Gußformen und ordnete sie in einem Dreieck an, wobei die Löcher in den Formen sich alle in der Mitte des Dreiecks befanden. »Dann legt man auf diese drei Formen eine weitere Formenschicht, und dann noch eine auf diese.« Er zeigte Julius, wie sich die Gußformen alle aufeinanderstapeln ließen und schließlich eine hohe, dreieckige Säule bildeten. »Jetzt muß man nur noch Ton um das ganze Gebilde herum verstreichen und das geschmolzene Metall in die Mitte gießen, das dann in alle Gußformen fließt.«
Als Sextus seinem jungen Freund dieses illegale Geschäft zum erstenmal vorschlug, zögerte Julius. »Ist das nicht ziemlich riskant?« wollte er wissen. Doch Sextus hatte nur erwidert: »Viele Leute tun es. Und weißt du warum? Es gibt einfach nicht genug Münzen.«
Und das war tatsächlich so. Seit über hundert Jahren herrschte im Römischen Reich eine ständig ansteigende Inflation. Als Folge davon waren einfach nicht genug Münzen im Umlauf. Da die Leute Münzen brauchten, gab es viele Fälscher. Die private Herstellung von billigen Bronzemünzen war kein großes Vergehen; doch das Fälschen von Gold- und Silbermünzen, die einen hohen Wert hatten, war ein schweres Verbrechen. Aber auch dies schreckte die illegalen Hersteller nicht ab, und so war wahrscheinlich die Hälfte aller damals im Umlauf befindlichen Silbermünzen gefälscht.
Sextus besorgte das Metall und schmolz es; Julius fertigte die Gußformen an und goß das geschmolzene Metall in die Formen. Zwar hatte Sextus ihm gezeigt, wie es ging, aber er machte dabei ständig Fehler. Julius hingegen gelang es trotz seiner mit Schwimmhäuten versehenen Hände viel besser; durch seine Mithilfe hatte sich die Qualität der Münzen erheblich verbessert.
»Aber wie schaffen wir es, daß sie so aussehen und sich so anfühlen wie richtiges Silber?« Dies war Julius' zweite Frage gewesen, als sie mit ihrem Geschäft anfingen.
Sextus hatte nur gekichert. »Das brauchen sie gar nicht. In den echten Münzen ist auch kaum Silber.« Denn bei dem Versuch, zumindest einen Teil der benötigten Münzen zu liefern, war den staatlichen Prägeanstalten das kostbare Metall so knapp geworden, daß sie ihre eigene Währung abwerten mußten. Der kostbare Silberdenarius enthielt in diesen Tagen nur noch etwa vier Prozent echtes Silber. »Ich verwende eine Mischung aus Kupfer, Blei und Zink«, erklärte Sextus. »Das sieht gut genug aus.« Das genaue Mischungsverhältnis wollte er seinem Freund nicht verraten.
Auf dem Tisch vor ihnen lag nun ein Haufen Münzen. Jeder Silberdenarius bedeutete ein kleines Vermögen für Julius. Bislang hatten sie fast nur Bronzemünzen und nur wenige Silbermünzen hergestellt, da jede plötzliche Zurschaustellung von Reichtum Argwohn auslösen konnte. Doch morgen bei den Spielen würden sehr hohe Wetten abgeschlossen werden, und dann konnte man den Besitz von ein paar Silbermünzen leichter erklären. Deshalb gingen sie heute so wagemutig vor.
Es gab nur ein Problem: Wie sollte er seinen Eltern das Geld erklären? Sie trauten Sextus nicht über den Weg. Besonders die Mutter mochte seinen Freund überhaupt nicht. Nun ja, darüber mußte er später nachdenken. Morgen früh wollte er jedenfalls erst einmal ein goldenes Armband für die junge Frau kaufen, noch bevor die Spiele anfingen. Den nächsten Schritt mußte dann sie tun. Seinen Brief hatte sie jedenfalls erhalten.
Und noch etwas mußte überlegt werden. Rufus, Julius' Vater, war mit dieser Idee gekommen. Seit mehreren Monaten schon machte er sich Sorgen über Julius. Anfangs hatte er gehofft, der Junge würde wie er selbst Legionär werden. Im Römischen Reich war dies noch immer die beste und sicherste Beschäftigung. Wenn man aus dem Heer entlassen wurde, war man noch nicht allzu alt, man hatte eine gute Stellung und etwas gespartes Geld, mit dem man ein Geschäft eröffnen konnte. Doch als Julius keinerlei Neigungen dafür zeigte, hatte er ihn nicht weiter dazu gedrängt. »Er wird in schlechte Gesellschaft geraten, denke nur an diesen Sextus!« warnte seine Frau. Wie dem auch sei – es war an der Zeit, daß Rufus etwas für den Jungen tat. Er war Mitglied bei mehreren Verbindungen. Erst neulich hatte er von einer interessanten Gelegenheit für einen jungen Mann erfahren. »Ich kenne da zwei Leute«, sagte er zu seinem Sohn, »die dir vielleicht bei der Gründung eines sinnvollen kleinen Unternehmens unter die Arme greifen könnten.« Heute abend sollte Julius die beiden treffen.
Die Soldaten kamen plötzlich und ohne Warnung. Draußen ertönte ein Klirren und ein lauter Schrei, dann wurde an die Tür gehämmert. Julius sah einen Helm vor dem Fenster funkeln. Sie warteten nicht auf eine Antwort, sondern hieben bereits mit ihren Schwertern auf die Tür ein.
Sextus sprang auf, griff eine Tasche von seiner Werkbank und schaufelte die Dinge, die auf dem Tisch lagen, hinein – Münzen, Gußformen, alles. Dann rannte er zu dem Schrank in der Ecke, riß ihn auf und stopfte alles, was auf den Regalen herumlag, hinein: weitere Gußformen, Metallstückchen und eine Sammlung von Münzen, die Julius noch gar nicht gesehen hatte. Schließlich zerrte er Julius, der vor Schreck wie gelähmt war, in die Küche und warf einen Blick auf den kleinen Hinterhof. Sie hatten Glück. Die Legionäre, denen befohlen worden war, sich die Rückseite des Hauses vorzunehmen, waren aus Versehen in den Hinterhof der danebenliegenden Werkstatt gestolpert. Sextus drückte Julius die Tasche in die Hand und schubste ihn hinaus. »Geh! Renn!« zischte er. »Und versteck das Zeug!« Julius erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Er machte einen großen Satz über die Mauer, gelangte in den Hinterhof am Ende der kleinen Anlage und schlüpfte in das Labyrinth von kleinen Gassen. Die Tasche hatte er unter seine Tunika gestopft.
Noch bevor er die Gasse erreicht hatte, war die Tür eingeschlagen und die Soldaten stürmten in die Hütte, wo sie auf den Zimmerer Sextus stießen, der offenbar gerade aus seinem Mittagsschlaf erwacht war und sie erstaunt anblinzelte. Von Münzfälschungen war nichts zu sehen. Doch der Zenturio gab sich nicht so leicht zufrieden. Er rannte zur Rückseite des Hauses.
Julius war schon ein gutes Stück die Gasse entlanggerannt, als er den tiefen, bellenden Befehl hörte. Als er sich umblickte, sah er den großen Zenturio, der auf die Mauer geklettert war und die Gassen durchforschte. Julius drehte sich um und hörte, wie er den Legionären unter ihm zurief: »Dort ist er! Dort drüben.« Das durch die Narbe entstellte Gesicht, das Julius deutlich sah, machte das Ganze noch schrecklicher. Er floh.
Es war nicht schwer, die Legionäre in den Gassen abzuschütteln. Er war schneller als sie. Erst etwas später fiel ihm ein, daß er sich nicht hätte umblicken dürfen. »Wenn ich ihn gesehen habe, dann hat er auch mich gesehen«, murmelte er. Seine weiße Haarsträhne würde ihn leicht verraten. Die Frage war nur, was der Zenturio gesehen hatte.
Martina stand am südlichen Ende der Brücke. Der Sommertag neigte sich dem Ende zu. Im Westen zogen sich violette Wolken am bernsteinfarbenen Horizont zusammen. Sie hielt den Brief in der Hand. Ein Knabe hatte ihn ihr gebracht. Er war auf Papier geschrieben, was teuer war, und zwar in Lateinisch und in einer sehr ordentlichen Schrift – Julius hatte sich die größte Mühe gegeben. Sie mußte sich eingestehen, daß sie aufgeregt war.
»Komm morgen nachmittag während der Spiele zur Brücke. Ich habe ein Geschenk für dich. Ich denke Tag und Nacht an dich. J.«
Obwohl er nicht mit seinem vollen Namen unterzeichnet hatte, wußte sie, wer der Verfasser dieses Briefes war. Der junge Boxer. Und nun fragte sie sich, was sie tun sollte.
In der Abendsonne gaben die rotgedeckten Dächer der Stadt, die blassen Wände und die steinernen Säulen ein heiteres Bild ab. Warum nur überkam sie plötzlich eine gewisse Schwermut? Vielleicht war es die Brücke. Dieses hervorragende Beispiel römischer Baukunst, aus Holz auf langen, massiven Pfosten errichtet, erstreckte sich hoch über dem Wasser. Ihre lange, dunkle Form erinnerte Martina an ihre eigene einsame Reise durchs Leben. Als sie den Kapitän in Gallien kennengelernt hatte, waren ihre Eltern bereits gestorben. Er hatte ihr ein neues Leben, Heim und Sicherheit angeboten, und sie war ihm dafür dankbar.
Stolz hatte der Kapitän ihr die Stadt gezeigt. Sie war besonders begeistert über die langen hölzernen Piers, die in den Fluß hineingebaut waren. »Sie sind alle aus Eichenholz«, hatte er gesagt, »in Britannien gibt es viele Eichen.« Sie waren die breite Straße von der Brücke zum Forum hinaufgelaufen. Der Platz hatte sie zwar beeindruckt, aber am stärksten imponierte ihr das alleinstehende Gebäude, das sich über die gesamte Nordseite erstreckte. Es war die Stadthalle – ein riesiger, aus einer Halle und Verwaltungsräumen bestehender Komplex, in dem sich der Stadtrat und die Richter trafen. Das langgezogene Hauptgebäude flößte ihr immer wieder Ehrfurcht ein. Daneben gab es noch vieles andere zu sehen in der Stadt: die Innenhöfe und die Brunnen in der Villa des Statthalters; die vielen öffentlichen Bäder, die Tempel und das große Amphitheater. Sie fand es aufregend, in einer solchen Metropole leben zu dürfen. »Rom wird als die ewige Stadt bezeichnet«, bemerkte der Kapitän, »und Londinium ist ein Teil von Rom.«
Die junge Frau merkte, was es hieß, Teil einer großen Kultur zu sein. Die klassische Kultur Griechenlands und Roms war führend in der Welt, von Afrika bis nach Britannien. Die öffentlichen Gebäude, Bögen und Giebel, Säulen und Kuppeln, Kolonnaden und Plätze strahlten ein zutiefst befriedigendes Gefühl von Raum und Ordnung aus. Die römischen Privathäuser mit ihren Fresken, Mosaiken und ausgeklügelten Zentralheizungen waren komfortabel und behaglich. Im friedlichen Schatten der Tempel traf sich die perfekte Geometrie aus Stein mit dem innersten Mysterium des Religiösen. Es waren Geschenke einer historischen Kultur, die die junge Frau instinktiv erkannte, auch wenn sie sie nicht in Worte hätte fassen können. Sie liebte die Stadt.
Oft segelte der Kapitän mit britischem Steingut nach Gallien und kam mit roten, mit Löwenköpfen geschmückten Schüsseln von der Insel Samos zurück, mit Zedernholzfässern voll Wein, mit großen Amphoren voll Olivenöl oder Datteln. Solche Dinge waren natürlich vor allem für die Haushalte der Reichen bestimmt, doch der Kapitän behielt immer einen Teil für sich, und so lebten sie sehr gut. Wenn er weg war, unternahm sie gerne einsame Spaziergänge. Sie ging zur Insel an der Furt, wo einst ein Druide gelebt hatte, oder aus dem oberen westlichen Tor hinaus zwei Meilen weit bis zu einer großen Straßenkreuzung, an der ein schöner Marmorbogen stand.
Oft flehte sie die Götter um ein Kind an. Nahe dem Gipfel des westlichen Hügels gab es eine römische Tempelanlage, doch die meisten Frauen gingen zu den zahllosen Schreinen der keltischen Muttergottheiten. Einen Schrein fand sie besonders trostspendend, ein Quellheiligtum einer keltischen Wassergöttin. Martina kam es vor, als erhöre sie diese Wassergöttin und sei freundlich zu ihr. Aber ein Kind ließ dennoch auf sich warten.
Bis zu einem bestimmten Tag in diesem Frühjahr war ihr gar nicht bewußt, daß sie unglücklich war. Das Haus, in dem sie mit ihrem Mann lebte, befand sich in der südlichen Erweiterung der Stadt. Es war ein angenehmer Fleck. Da die Holzbrücke auf ihren hohen Stützpfeilern weit über die Kieslandzunge, die vom Südufer in den Fluß hineinragte, ins Land hineinreichte, blieb sie auch dann trocken, wenn die Flut hereinkam und die Landzunge zu einer Insel machte. Die anschließende Straße am sumpfigen südlichen Flußufer war auf einem Fundament von dicken, kreuzweise angeordneten Baumstämmen errichtet, auf die man Erde und Schotter aufgeschüttet hatte. Martina war an diesem Tag über die Brücke gegangen und hatte über ihr Leben nachgedacht. Der Kapitän war immer sehr freundlich zu ihr. Sie wußte, daß sie sich nicht über ihn beklagen konnte. Am Ende der Brücke hatte sie sich nach rechts gewandt und war am Ufer Richtung Osten gegangen, vorbei an den Lagerhäusern und den Werften, bis sie schließlich zu der Stelle kam, an der die Stadtmauer auf den Fluß stieß.
Hier war es sehr ruhig. Am Rand der Mauer stand eine große Festung, die nicht mehr benutzt wurde. Darüber beschrieben die Ausläufer des östlichen Hügels einen Bogen bis zur Stadtmauer, so daß diese Stelle am Fluß wie ein natürliches Freilufttheater wirkte. Auf dem Hang spazierten die Raben umher, als warteten sie auf den Anfang einer Aufführung. Martina starrte auf die hohe Stadtmauer vor ihr. Blasser Kieselsandstein, der von Kent den Fluß heraufgeschifft wurde, war für die Außenseite der Mauer in akkurate Quader geschnitten worden. Die fast neun Fuß breite Basis war mit einer Stein- und Mörtelfüllung befestigt, zur weiteren Verstärkung hatte man in regelmäßigen Abständen Lagen roter Ziegel durch die gesamte Breite der Mauer eingefügt. Das Ergebnis war ein phantastisches Bauwerk, das etwa zwanzig Fuß hoch von dünnen roten Streifen durchzogen war, die horizontal auf der ganzen Länge der Mauer zu sehen waren.
Plötzlich stellte sie mit erschreckender Klarheit fest, daß sie nicht glücklich war, daß ihr Leben zu einem Gefängnis für sie geworden war.
Trotzdem hätte sie vielleicht den Rest ihres Lebens so weitergemacht, wenn sie nicht Sextus begegnet wäre. Anfangs hatte sie seine Annäherungsversuche abgewehrt, doch sie kannte andere junge Frauen mit älteren Ehemännern, die sich heimlich Liebhaber nahmen. Als Sextus nicht lockerließ, begann sich etwas in ihr zu regen, und allmählich hatte der Gedanke immer klarere Formen angenommen. Warum sollte sie sich nicht auch einen Liebhaber nehmen?
Dann war ihr Julius aufgefallen. Es war nicht nur sein jungenhaftes Aussehen, seine klaren blauen Augen und seine offensichtliche körperliche Kraft. Es war der leicht salzige Geruch an ihm, die Art, wie seine kräftigen jungen Schultern sich bei der Arbeit bewegten. Es überkam sie eine fast schmerzhafte Lust, sich von ihm besitzen zu lassen. Schlau hatte sie ihn an der Nase herumgeführt, sich erst an ihn herangemacht, dann so getan, als ziehe sie sich zurück, und wieder mit Sextus geflirtet. Dann erhielt sie seinen Brief. »Jetzt habe ich ihn«, hatte sie gemurmelt. Doch nun bekam sie es auch mit der Angst zu tun. Was wäre, wenn sie ertappt würde? Der Kapitän würde zweifellos auf Rache sinnen. Wollte sie wirklich für diesen Jungen alles aufs Spiel setzen? Lange blickte sie über den Fluß und dachte nach, bevor sie schließlich zu einem Entschluß kam. Der Kapitän war weg. Sie hatte diese Schwermut satt. Morgen würde sie zur Brücke gehen.
»Du bist dran!«
Julius versuchte, sich auf das Brett vor ihm zu konzentrieren, und machte zögernd seinen Zug. Er war sicher nach Hause gelangt. Die Mutter und die Schwester bereiteten in der Küche ein Festmahl vor, zu dem sie morgen nach den Spielen die Nachbarn einladen wollten. Er und sein Vater saßen im Hauptraum des bescheidenen Hauses und spielten ihr abendliches Damespiel. Doch ständig fragte er sich, ob die Soldaten noch kommen würden. Mit seiner Schwester hatte er noch nicht reden können. Was hatte das dicke Mädchen gesehen?
An der Küchenwand hing eine Entenbrust. Auf dem sauber geschrubbten Tisch lag ein Stück Rindfleisch, daneben stand eine Schüssel mit Austern aus dem Fluß und ein Eimer mit Schnecken, die morgen in Öl und Wein geschmort werden sollten. In einer flachen Schüssel reifte ein Weichkäse. Daneben standen Gewürze für die Sauce. Die Römer hatten den Speiseplan in Britannien erheblich bereichert: mit Fasan und Damwild, Feigen und Maulbeeren, Walnüssen und Maroni, Petersilie, Minze und Thymian, Zwiebeln, Rettichen und Rüben, Linsen und Kohl.
Hatte seine Schwester die Soldaten gesehen? Wußte sie, was aus Sextus geworden war? Hatte sie es den Eltern erzählt? Julius nahm an, daß sie etwas wußte. Wann konnte er sie danach fragen? Die letzten zwei Stunden waren eine wahre Folter gewesen. Sobald er seinen Verfolgern ein Stück weit entkommen war, hatte er versucht, die Situation zu überdenken. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß er und nicht Sextus den Argwohn der Soldaten erregt hatte. War sein Freund verhaftet worden? Hatte Sextus ihn beschuldigt? Am besten war es wohl, den nächsten Morgen abzuwarten und Sextus unterwegs abzupassen, der sicher auch zu den Spielen gehen würde. Aber wo sollte er inzwischen die Tasche verstecken? An einem sicheren Ort, wo er sie später leicht wieder an sich nehmen konnte. Er blickte um sich, fand jedoch keine geeignete Stelle.
Dann lief er den Gipfel des westlichen Hügels ab, wo der kleine Dianatempel stand, und blickte auf einen der Brennöfen, die sich ebenfalls an dieser Stelle befanden. Daneben lag ein Haufen Müll, schlecht gebrannte Topfe und anderer Abfall, der offensichtlich schon eine Weile hier herumlag. Er schlich hinüber zu dem Haufen, versteckte die Tasche unter dem Abfall und entfernte sich rasch. Niemand hatte ihn gesehen. Er ging nach Hause.
Aber als er nun von dem munteren Gesicht seines Vaters auf das Gesicht seiner Mutter blickte, verließ ihn seine Zuversicht. Rufus war immer fröhlich, er hatte ein rosiges Gesicht und stets ein Lied auf den Lippen; seine Frau dagegen war ganz anders. Ihr Haar, das weder blond noch grau war, trug sie immer in einem straff zusammengebundenen Knoten. Ihr Gesicht war leblos und fahl. Julius nahm zwar an, daß sie ihre Familie liebte, aber sie sprach kaum, und wenn ihr Mann einen Witz erzählte, lachte sie nie. Oft schien es, als trage sie die Last einer düsteren Erinnerung mit sich herum.
Keltische Erinnerungen reichten weit zurück. Es waren erst zweihundert Jahre vergangen, seit Königin Boudicca sich gegen die römischen Eroberer aufgelehnt hatte, und ihre Familie hatte zu Boudiccas Stamm gehört. »Mein Großvater kam unter der Herrschaft von Kaiser Hadrian zur Welt, der die Mauer erbaute«, sagte sie oft, »und sein Großvater wurde im Jahr des großen Aufstandes geboren. Er hat dabei Mutter und Vater verloren.« Sie hatte noch weit entfernte Cousins, die abgelegen auf dem Land lebten, ihre Felder noch wie ihre keltischen Vorfahren bebauten und kein Wort Latein sprachen. Es verging kaum ein Tag, an dem seine Mutter nicht eine düstere Warnung äußerte. »Diese Römer sind doch alle gleich. Am Ende zieht man immer den kürzeren.« Solche Aussprüche begleiteten Julius seit seiner Kindheit.
Ein Klicken am Damebrett störte Julius bei seinen Gedanken. Eine Reihe von klappernden Geräuschen, dann ein triumphierender Faustschlag auf den Tisch.
»Hab' ich dich mal wieder geschlagen!« Das rote Gesicht seines Vaters grinste ihn an. »Träumst du von Frauen?« Er sammelte die Spielsteine ein, stand auf und verschwand im Schlafzimmer.
Julius wußte, daß er versuchen mußte, die Ereignisse dieses Tages zu verdrängen, doch es fiel ihm schwer. Vor allem die Tasche machte ihm Sorgen. Den ganzen Abend lang war sie ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Zuerst hatte er soviel Angst gehabt, daß die Soldaten noch kommen könnten, daß er froh war, daß die Tasche in ihrem Versteck lag. Doch nun wurde er allmählich zuversichtlicher. Zumindest diese Nacht würde er wahrscheinlich sicher sein. Wenn nur die Tasche nicht wäre! Natürlich war sie gut versteckt. Aber wenn man nun zufällig beschließen würde, den Müll zu beseitigen? Oder wenn ein Streuner die Münzen entdecken und sie stehlen würde?
Also faßte er einen Entschluß. Er schlüpfte leise aus dem Haus und eilte rasch durch die Straßen hoch zu den Brennöfen. Es war nicht weit. Leute waren noch unterwegs, doch der Müllhaufen lag im Dunkeln. Erst dachte er schon, die Tasche sei nicht mehr da, doch schließlich fand er sie und verbarg sie unter seinem Umhang. Dann eilte er wieder heim und ging in sein Zimmer. Er versteckte die Tasche unter seinem Bett neben zwei Schachteln mit allem möglichen Krimskrams. Dort würde sie bis zum Morgen in Sicherheit sein.
Die Nacht war sternenklar, als Julius und sein Vater durch die Stadt zu ihrem Treffen gingen. Da ihr Haus in der Nähe des unteren der beiden westlichen Stadttore lag, nahmen sie die große Durchgangsstraße, die von diesem Tor aus am westlichen Hügel entlang und dann hinunter zu dem Bächlein zwischen den Hügeln führte.
Es kam nicht oft vor, daß Julius seinen Vater nervös erlebte, doch heute abend war er es wohl. »Es wird schon klappen«, murmelte Rufus mehr zu sich selbst als zu seinem Sohn. »Verhalte dich am besten ruhig. Sag nichts, beobachte das Ganze nur.« Sie überquerten die Brücke. Vor ihnen lag der Palast des Statthalters. Dann sahen sie endlich ihr Ziel im Dunkeln vor sich liegen: ein alleinstehendes Gebäude, dessen Eingangstür zu beiden Seiten von einer brennenden Fackel erleuchtet war. Julius hörte, wie sein Vater einen zufriedenen Zischlaut ausstieß.
Es gab zwei Dinge, auf die Rufus immens stolz war. Das eine war die Tatsache, daß er ein römischer Bürger war. Civus Romanus sum: Ich bin ein römischer Bürger. In den Anfangszeiten der römischen Herrschaft wurde nur wenigen Einheimischen der Inselprovinz die Ehre einer vollen Staatsbürgerschaft gewährt. Doch dann ließen die Restriktionen nach, und Rufus' Großvater, der nur ein Kelte aus der Provinz war, hatte es geschafft, den begehrten Status zu erhalten, indem er in einem Hilfsregiment diente. Er heiratete eine Frau aus Italien, so daß Rufus nun behaupten konnte, daß römisches Blut in seinen Adern floß. Als Rufus noch klein war, hatte Kaiser Caracalla dann die Tore geöffnet und die Staatsbürgerschaft fast allen freien Bürgern im Reich gewährt, so daß Rufus sich eigentlich durch nichts von den bescheidenen Händlern unterschied, unter denen er lebte, aber er sagte seinem Sohn immer wieder voller Stolz: »Wir waren schon früher Staatsbürger als die anderen!«
Doch auf etwas ganz anderes war er noch viel stolzer, und dies lag hinter dem Eingang mit dem flackernden Licht: Rufus war ein Mitglied der Tempelloge.
Zwar gab es viele – auch größere – Tempel in Londinium, doch keiner hatte mehr Macht als der Tempel von Mithras. Er lag zwischen den beiden Hügeln am Ostufer des kleinen Baches oberhalb des Statthalterpalastes. Es war ein solider, kleiner, rechteckiger Bau. An der Ostseite lag der Eingang; am Westende gab es eine kleine Apsis, in der sich das Heiligtum befand. Darin ähnelte der Tempel christlichen Kirchen, bei denen die Altäre damals auch am westlichen Ende lagen. Immer schon hatte es viele Religionen im Römischen Reich gegeben, doch in den letzten zwei Jahrhunderten erfreuten sich die geheimnisvollen Kulte und Religionen aus dem Osten zunehmender Beliebtheit, darunter vor allem das Christentum und der Mithraskult.
Mithras, der Stiertöter. Der persische Gott des himmlischen Lichts, der kosmische Kämpfer für Reinheit und Aufrichtigkeit. Julius wußte alles über diesen Kult. Mithras kämpfte um die Wahrheit und die Gerechtigkeit in einem Universum, in dem wie in vielen östlichen Religionen das Gute und das Böse gleich stark waren und in einem ewigen Streit lagen. Das Blut des legendären Stieres, den er getötet hatte, brachte der Erde Leben und Wohlstand. Der Geburtstag dieses östlichen Gottes wurde am 25. Dezember gefeiert.
Die Initiationsriten dieses mysteriösen Kultes wurden streng geheimgehalten, doch es ging auch sehr traditionell zu. Im Tempel wurden nach alter römischer Sitte kleine Blutopfer erbracht. Die Mithrasanhänger hielten sich an den alten Ehrenkodex der Stoiker und verpflichteten sich zu Reinheit, Ehrlichkeit und Tapferkeit. Die Mitgliedschaft in der Loge stand nicht jedem offen. Die Soldaten und Händler, bei denen der Kult am weitesten verbreitet war, sorgten für eine beschränkte Aufnahme. Nur etwa siebzig Männer durften den Tempel in Londinium betreten. Rufus hatte also allen Grund, auf seine Mitgliedschaft stolz zu sein.
Im Vergleich dazu waren die Christen ganz anders, auch wenn sich die Gemeinde rapide vergrößerte. Julius kannte ein paar Christen unten am Hafen, doch wie viele Römer hielt auch er sie für eine Art jüdischer Sekte. Außerdem war das Christentum mit seiner Betonung auf Demut und seiner Hoffnung auf ein glücklicheres Leben nach dem Tod eindeutig eine Religion für die Sklaven und die Armen.
Der Tempel bestand aus einem Hauptraum, zu beiden Seiten von Säulen gestützt, hinter denen sich seitliche Nischen befanden. Das eigentliche Zentrum war etwa fünfzig Fuß lang, jedoch nur zwölf Fuß breit; es hatte einen Holzfußboden, und in den Nischen standen Holzbänke. Rufus und Julius wurden zu einer im hinteren Teil gelegenen Nische geführt. Als weitere Männer hereinkamen und sich zu ihren Bänken begaben, merkte Julius, daß er immer wieder eingehend gemustert wurde. Am anderen Ende, vor der kleinen Apsis, stand zwischen zwei Säulen eine Statue des Mithras. Vor ihr befand sich ein bescheidener Steinaltar, auf dem die Opfer dargebracht wurden.
Langsam füllte sich der Tempel. Nachdem das letzte Mitglied der Loge hereingekommen war, wurden die Tore geschlossen und verriegelt. Dann saßen alle still. Einige Minuten verstrichen, bevor eine Fackel am hinteren Ende des Raumes aufflackerte und mit leisem Rascheln zwei Gestalten aus dem Schatten der Nischen heraustraten. Beide trugen Kopfbedeckungen, die ihre Gesichter völlig verhüllten. Der erste trug einen Löwenkopf, dessen Mähne ihm bis zu den Schultern reichte. Der zweite Mann war größer. Was dieser trug, war weit mehr als eine Kopfbedeckung, es reichte ihm fast bis zu den Knien und bestand aus Hunderten von Federn in der Form eines großen, schwarzen Vogels mit zusammengefalteten Flügeln und einem riesigen Schnabel. Es war der Rabe. »Ist er ein Priester?« fragte Julius flüsternd seinen Vater.
»Nein, ein ganz normales Mitglied. Aber heute abend leitet er die Zeremonie.«
Der Rabe schritt nun die Bänke ab. Immer wieder blieb er stehen und richtete eine Frage an eines der Mitglieder, was offensichtlich Teil des Ritus war.
Danach schritt er zum hinteren Teil des Tempels, in dem der Altar lag. Rufus beugte sich zu seinem Sohn hinüber und flüsterte: »Dies ist einer der Männer, die du heute abend kennenlernen wirst.«
Die restliche Zeremonie dauerte nicht sehr lange. Der Rabe murmelte ein paar Beschwörungsformeln, der Löwe verkündete ein paar Dinge zur Mitgliedschaft, dann war der offizielle Teil beendigt, und man trat in kleinen Gruppen zusammen, um sich miteinander zu unterhalten.
Julius und sein Vater hielten sich weiter im Hintergrund. Rufus sprach mit den Leuten in seiner Nähe. Dann stieß er seinen Sohn an. »Da kommt er«, murmelte er.
Der Mann, der der Rabe gewesen war, hatte sein Kostüm abgelegt und kam nun durch den Hauptraum auf sie zu, während er den Logenmitgliedern auf seinem Weg wohlwollend zunickte. Erst als er ihnen nahe war, sah Julius die Narbe, die quer über die Wange des Mannes verlief. Kaltes Entsetzen beschlich ihn, als sich die Augen des Zenturios auf ihn richteten. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er hat mich erkannt, dachte er, nun bin ich erledigt. Er wagte es kaum, seinen Vater anzublicken, als dieser ihn mit einem nervösen kleinen Lachen vorstellte.
Julius war sich nur noch bewußt, daß die Augen des Zenturios auf ihm ruhten. Erst nach einer Weile merkte er, daß der Soldat zu ihm sprach. Er berichtete über den Handel am Fluß und daß er einen klugen jungen Burschen brauchte, der Töpferwaren aus dem Landesinneren zum Hafen brachte, wofür er ihn gut bezahlen würde. Es bestünde auch die Möglichkeit, auf eigene Verantwortung zu arbeiten. War es möglich, daß der Zenturio ihn nicht erkannt hatte? Julius blickte hoch.
Der Zenturio hatte etwas Merkwürdiges an sich, auch wenn Julius nicht genau hätte sagen können, was es eigentlich war. Während der große Mann auf ihn hinabstarrte, erkannte Julius, daß hinter diesen harten Augen etwas verborgen lag. Es war nichts Ungewöhnliches, daß solch ein Mann geschäftliche Interessen verfolgte. Die Legionäre waren gut bezahlt, und zweifellos dachte auch der Zenturio daran, nach seinem Austritt aus der Armee ein erfolgreicher Kaufmann zu werden und Land zu erwerben. Doch während ihrer Unterhaltung verstärkte sich bei Julius der Eindruck, daß der Zenturio Geheimnisse hatte.
Nervös beantwortete er die Fragen, die ihm gestellt wurden. Er bemühte sich darum, einen guten Eindruck zu machen, auch wenn er sich noch immer unwohl fühlte. Es war ihm völlig unklar, was der Zenturio von ihm dachte, doch schließlich nickte dieser und meinte zu Rufus: »Er scheint in Ordnung zu sein. Ich hoffe, daß du ihn wieder einmal zur Loge mitbringst.« Rufus errötete vor Freude. »Was das Geschäft betrifft, bin ich ganz zuversichtlich«, fuhr der Zenturio fort, »aber er wird mit meinem Agenten arbeiten müssen.« Er blickte sich leicht ungeduldig um. »Wo steckt er denn? Ah ja, dort drüben. Bleibt hier. Ich werde ihn holen.« Er ging zu einer Gruppe von Leuten, die sich im Schatten unterhielten.
Rufus strahlte seinen Sohn an. »Gut gemacht. Du hast es geschafft!« flüsterte er. Doch überrascht und leicht verwirrt stellte er fest, daß das Gesicht seines Sohnes weit entfernt davon war, Freude zu zeigen, sondern vielmehr in diesem Augenblick Verblüffung und Schrecken widerspiegelte. Julius hatte einen Blick auf den Agenten gerichtet, und als er nun zu ihnen trat, war jeder Zweifel ausgeschlossen: Vor ihm stand der Kapitän, auf dessen bläulichem Gesicht ein Lächeln lag.
Als Vater und Sohn in dieser Nacht heimkehrten, war Rufus bester Laune. Der Zenturio hatte seinen Sohn eingestellt, nachdem der Kapitän der Meinung war, daß er sicher gut mit ihm zurechtkommen würde. »Das könnte eine Lebensstellung werden«, erklärte er Julius zufrieden.
In Julius' Kopf überschlugen sich die Gedanken. Der Zenturio hatte ihn nicht erkannt, dafür mußte er den Göttern danken. Aber was war mit dem Kapitän? Er mußte gerade von seiner letzten Seereise zurückgekehrt sein, aber Julius hatte es nicht gewagt, ihn danach zu fragen. War er schon zu Hause gewesen? Hatte er womöglich den Brief gesehen? Sollte er Martina warnen und sie bitten, den Brief zu vernichten? Dafür war es nun wohl zu spät. Der Kapitän war sicher schon auf dem Heimweg. Was sollte nun aus seiner Liebschaft mit Martina werden? Konnte er denn daran denken, eine Beziehung zu der Frau eines Mannes aufzunehmen, von dem seine berufliche Karriere abhing? Ein absurder Gedanke.
Bei ihrer Ankunft lag das Haus im Dunkeln. Mutter und Schwester waren schon im Bett, und auch sein Vater zog sich zurück, nachdem er ihm herzlich eine gute Nacht gewünscht hatte. Eine Weile saß Julius still da und ließ die Ereignisse des Tages an sich vorüberziehen, bis er merkte, wie müde er war, und sich anschickte, ebenfalls zu Bett zu gehen. Mit einer kleinen Öllampe ging er in sein Zimmer und zog sich aus. Bevor er sich hinlegte, tastete er noch einmal nach der wertvollen Tasche. Da verzog sich sein Gesicht. Verstört kniete er sich hin und schob die Schachteln beiseite. Dann stellte er auch noch die Lampe auf den Boden und starrte ungläubig unter das Bett. Die Tasche war weg.
Der Mann bewegte sich leise in der Dunkelheit. Hier am Südufer des Flusses gab es nicht viel Licht. Er hatte die Holzbrücke überquert und setzte nun seinen Weg nach Süden fort, an den Bädern vorbei, bevor er rechts in eine Gasse einbog und schließlich vor dem vertrauten kleinen Haus innehielt. Die Eingangstür, das wußte er, war verriegelt. Die Fensterläden waren ebenfalls zu. Er schlich in den Hinterhof.
Der Hund kam aus seiner Hütte und fing zu bellen an, verstummte jedoch rasch wieder, als er seinen Herrn erkannte. Die verhüllte Gestalt kletterte auf ein Wasserfaß, gelangte von dort aus auf die gekachelte Mauer an der Seite des Hofes und balancierte auf dieser bis zur Hausecke und zu einem im Dunkeln liegenden Fenster, dessen Holzladen offenstand. Der Kapitän kletterte leise in sein Haus und schlich zur Tür des Zimmers, in dem Martina schlief.
Er hegte bereits seit etwa einem Monat einen Verdacht. Etwas bei seiner jungen Frau war anders als sonst. Ein abwesender Blick, eine leichte Zurückhaltung, wenn er sich ihr näherte – bestimmt nicht viel, doch genug, um ihn mißtrauisch zu machen. Er glaubte zwar nicht, daß Martina ihn betrogen hatte. Noch nicht. Aber er wollte einfach sichergehen und hatte deshalb den ältesten Trick angewandt, den man als verheirateter Mann in so einer Lage anwenden konnte – so zu tun, als sei man weg, ohne tatsächlich weg zu sein.
Nun stieß er vorsichtig die Türe auf. Sie war allein. Das Mondlicht fiel auf ihr Bett. Eine ihrer Brüste war unbedeckt. Er sah sie an und lächelte zufrieden – sie betrog ihn nicht. Im Zimmer schien nichts auf die Anwesenheit eines anderen Menschen in diesem Haus hinzuweisen. Lautlos wie eine Katze schlich der stämmige Kapitän durch das Zimmer. Da bemerkte er ein Stück Papier auf dem Tisch in der Nähe des Bettes. Er hob es auf und ging damit zum Fenster.
Der Mond schien so hell, daß er den Brief lesen konnte. Die Unterschrift ließ zwar den Verfasser nicht erkennen, aber das war dem Kapitän egal. Er hatte eine Zeit und einen Ort. Er legte den Brief zurück und huschte wieder aus dem Haus.
Julius' Mutter hatte erstaunlich rasch gehandelt. Das dicke Mädchen hatte die Soldaten nicht gesehen. Es hatte die ganze Zeit geschlafen, während die Soldaten das Haus durchsuchten. Als es schließlich in die Werkstatt ging, war niemand mehr dort, und so hatte es sich auf den Heimweg gemacht. Seine späte Heimkehr und etwas an dem Verhalten von Julius hatten die Mutter argwöhnisch werden lassen. Nach eingehender Befragung gestand ihr ihre Tochter schließlich, daß Julius und Sextus ihr befohlen hatten, auf der Straße nach Soldaten Ausschau zu halten. Hatte dieser Sextus ihn also doch in Schwierigkeiten gebracht!
Sobald Julius und sein Vater weg waren, hatte sie das Zimmer durchsucht. Sie hatte die Tasche sofort gefunden, ihren Inhalt gesehen, kurz erschrocken innegehalten und dann verkündet: »Wir müssen das Zeug loswerden!« Doch was sollte sie bloß damit machen? Einmal in ihrem Leben war sie froh, daß ihre Tochter so dick war. »Steck das Ding unter deine Kleider!« befahl sie ihr. Dann legte sie ihren Umhang an und machte sich zusammen mit ihrer Tochter auf den Weg.
Zuerst dachte sie daran, die Tasche in den Fluß zu werfen, doch am Ufer waren zu viele Leute. Also ging sie mit dem Mädchen zum Tor in der westlichen Stadtmauer. Alle Stadttore sollten eigentlich bei Dämmerung geschlossen werden, doch an warmen Sommerabenden wurde diese Vorschrift meist nicht befolgt. Das dicke Mädchen und die Mutter gingen durch das Tor, hielten jedoch kurz danach an. Die Straße vor ihnen führte über eine Brücke zu dem Quellheiligtum, aber auf diesem Weg gingen einige Leute spazieren. Links und rechts von der Straße befand sich ein Friedhof.
»Gib mir die Tasche, und geh wieder heim!« befahl die Mutter. »Und sag niemandem etwas, vor allem nicht Julius! Hast du mich verstanden?« Als das Mädchen davongewatschelt war, ging die Mutter auf den Friedhof. Sie suchte erfolglos nach einem offenen Grab. Am anderen Ende des Friedhofs kam sie am oberen westlichen Tor vorbei und setzte ihren Weg parallel zur Stadtmauer fort.
Hier war es sehr ruhig. Mit ihren horizontalen Streifen wirkte die Mauer ziemlich gespenstisch. Am Fuß der Mauer war ein tiefer Verteidigungsgraben gezogen, der in der Dunkelheit wie ein großes, schwarzes Band auf dem Boden aussah. Auf der Mauer waren keine Wachposten. Sie ging bis zur Ecke und schlich dann an der Nordmauer weiter. Sie kam an einem geschlossenen Tor vorbei und lief immer weiter. Dann sah sie endlich etwas, das ihr passend erschien.
Der kleine Bach zwischen den beiden Hügeln der Stadt hatte in seinem Oberlauf mehrere Seitenarme. An drei oder vier Stellen flossen diese Bächlein unter der nördlichen Stadtmauer durch sorgfältig angelegte Rohre, vor deren Eingängen sich Gitter befanden. Diese Gitter wurden regelmäßig gesäubert, die Kanäle mit Schleppnetzen abgesucht. Hinter einem dieser Rohre hatte jemand einen Müllhaufen in den Graben vor der Mauer gekippt. Im Gegensatz zu den Kanälen wurde der Graben ihres Wissens nahezu nie gereinigt. Sie blieb stehen und blickte sich um. Zufrieden stellte sie fest, daß sie unbeobachtet war. Sie warf die Tasche in hohem Bogen in den Graben. Dann ging sie weiter bis zum nördlichen Haupttor, das weit offenstand, und schlüpfte unbemerkt wieder in die Stadt hinein.
Julius starrte auf die lange Stadtmauer. Hilflos ließ er die Arme sinken und schüttelte den Kopf. Seine Suche war bislang ergebnislos verlaufen. Wo steckte nur das Geld? Er hatte sich gleich im Morgengrauen aufgemacht und noch immer nicht die geringste Ahnung, was seine Mutter damit angestellt hatte. Hatte seine Schwester ihn angelogen? Wohl nicht. Als er mitten in der Nacht an ihr Bett geschlichen war und ihr den Mund zugehalten und ein Messer an die Kehle gedrückt hatte, war sie verängstigt genug gewesen. Sie hatte gesagt, daß die Mutter die Tasche irgendwo außerhalb der westlichen Stadtmauer weggeworfen hatte, doch nun suchte er schon drei Stunden lang und hatte noch immer nicht den kleinsten Hinweis gefunden. Er war alle möglichen Orte abgelaufen, bevor er sich schließlich wieder auf den Heimweg machte. Die Stadt wurde allmählich munter. Bald würden sich die Leute ins Amphitheater drängen. Und er stand ohne Geld da. Und er hatte doch Martina ein Geschenk versprochen! Er seufzte. Aber was konnte er nun noch machen? Nichts. Außerdem war die ganze Angelegenheit zu riskant. Wahrscheinlich würde sie ohnehin nicht zur Brücke kommen. Er setzte sich auf einen Stein am Wegrand und grübelte noch ein Weilchen vor sich hin, bis langsam ein neuer Gedanke in seinem Kopf Gestalt anzunehmen begann.
Wenn sie doch zur Brücke kommen würde? Sehr wahrscheinlich hatte sie den Brief versteckt. Vielleicht war der Kapitän völlig ahnungslos. Und wenn er dann nicht da wäre, um sie zu treffen? Er wollte sie besitzen, das war klar. Er stellte sich vor, wie sie da ganz alleine auf der Brücke stehen würde, und plötzlich schien die ganze Sache in ein wärmeres Licht getaucht zu sein. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Lächelnd machte er sich auf den Weg zum Stadttor.
An diesem Morgen stand Martina früh auf. Sie bürstete ihr kurzes Haar, dann wusch sie sich und parfümierte sich sorgfältig. Vor dem Anziehen betrachtete sie noch einmal eingehend ihren Körper. Sie befühlte ihre kleinen, weichen Brüste, ließ ihre Hände an den festen Linien ihrer Beine entlangwandern. Dann zog sie sich zufrieden an. Sie schlüpfte in ein neues Paar Sandalen, steckte sich noch eine kleine Bronzebrosche an jede Schulter und bemerkte dabei, wie ihr Herz zu flattern begann. Heute würde sie sich Julius hingeben.
Nachdem sie noch einige kleine Kuchen in ein Tuch eingewickelt hatte, trat sie aus dem Haus und gesellte sich zu den Nachbarn, die schon zu den Spielen unterwegs waren.
Wie sonderbar, die Stadt fast ganz für sich allein zu haben! Am Vormittag schien es, als sei die gesamte Bevölkerung zu den Spielen gegangen. Ab und zu hörte Julius ein Gröhlen aus dem Amphitheater, doch abgesehen davon war es in den Straßen so still, daß er die Vögel singen hörte.
Fröhlich streifte er mit aufmerksamem Blick durch die Gassen und ging die Pflasterstraßen entlang, vorbei an den stattlichen Häusern der Reichen. Er würde Martina zu Mittag treffen, und er hatte ihr ein Geschenk versprochen. Und weil er ihr nicht mit leeren Händen gegenübertreten wollte, mußte er etwas stehlen.
Nahezu alle Bewohner der Stadt waren im Amphitheater. Er würde einfach rasch in ein unbewachtes Haus hineinschlüpfen und etwas nehmen, was der jungen Frau gefallen würde. Das Stehlen behagte ihm zwar überhaupt nicht, doch momentan schien er keine andere Wahl zu haben.
Doch die Sache war schwieriger, als er gedacht hatte. Er drang in ein paar einfachere Häuser ein, fand jedoch nichts, was ihm gefiel. In den reicheren Häusern schienen sich stets ältere Diener oder schreckliche Wachhunde herumzutreiben. Als er wieder zur breiten Straße kam, die zum Forum führte, machte er sich allmählich mit dem Gedanken vertraut, vielleicht doch ohne Geschenk auskommen zu müssen. Dann ging er, ohne recht zu überlegen, zum Statthalterpalast. Vor dem Eingang stand ein Wächter. Ansonsten war die Straße leer.
Der Palast des Statthalters war ein öffentliches Gebäude, und abgesehen von dem Posten am Tor hatte sich wohl die gesamte Belegschaft zu den Spielen davongeschlichen. Wenn mich jemand dort drinnen ertappen würde, dachte Julius, könnte ich doch einfach sagen, ich wollte dem Statthalter ein Anliegen vortragen. Wer würde denn schon daran denken, daß jemand den Statthalter persönlich bestehlen wollte? Er betrat eine kleine Seitengasse, um sich das Ganze noch einmal gründlich durch den Kopf gehen zu lassen.
Die der Straße zugewandte Fassade des Palastes bestand aus Kieselsandstein. Dort befand sich das Eingangstor, das zu einem großen Innenhof führte. Vor dem Tor stand auf einem Marmorsockel ein fast mannshoher, schmaler Stein. Von diesem Stein aus wurden die Wegstrecken in Südbritannien berechnet und auf allen Meilensteinen eingetragen. Der Wachposten stand vor dem Stein, doch ab und zu marschierte er langsam die leere Straße hinauf, wandte sich um und kehrte wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück. Er ging immer genau fünfundzwanzig Schritte in die eine Richtung, hielt kurz inne und ging dann die fünfundzwanzig Schritte wieder zurück. Julius beobachtete das Ganze sicherheitshalber dreimal. Er maß sorgfältig seine eigenen Schritte ab. Er würde gerade genug Zeit haben.
Als der Posten sich das nächste Mal in Bewegung setzte und Julius dabei den Rücken zuwandte, sprang dieser auf und rannte schnell und leise zu dem Stein, den er als Deckung benutzte. Kurz bevor der Posten wieder an seinem Ausgangspunkt war, hatte Julius sich schon in den Schatten des Eingangstors geduckt und war in den Innenhof geschlüpft. An der gegenüberliegenden Seite befand sich unter einem Portikus der Haupteingang zu den Wohnräumen. Er stand offen. Julius ging kühn hinein und fand sich in einer anderen Welt wieder.
Wohl kaum eine andere Kultur hat jemals so schöne Häuser für ihre reichen Bürger geschaffen wie die römische. Die Villa des Statthalters war ein herrliches Beispiel dafür. Das hohe, kühle Atrium mit seinem Wasserbecken strahlte vornehme Beschaulichkeit aus. Eine ausgeklügelte Fußbodenheizung – das Hypokaustum – hielt das Haus im Winter warm. Im Sommer war es jedoch in dem aus Stein und Marmor errichteten Gebäude kühl und luftig. Wie in vielen besseren Häusern in Londinium waren in vielen Fußböden wunderbare Mosaike eingelegt; das eine zeigte Bacchus, den Gott des Weines, ein anderes einen Löwen; eine Wand war mit anmutig schwimmenden Delphinen, eine andere mit verflochtenen geometrischen Mustern verziert.
Nachdem Julius kurz die prächtigen Haupträume bewundert hatte, ging er rasch zu den kleineren Zimmern, deren Wände überwiegend in Ocker, Rot und Grün gehalten waren. Insgesamt zwar schlichter, waren sie doch immer noch sehr hübsch.
Julius wußte genau, wonach er suchte. Das Geschenk mußte klein sein. Es würde nur zu unangenehmen Fragen führen, wenn die Frau des Kapitäns mit einem wertvollen Schmuckstück gesehen werden würde.
In einem der Schlafzimmer sah er auf einem Tisch einen Spiegel aus polierter Bronze, ein paar silberne Bürsten und drei mit Edelsteinen besetzte Broschen sowie eine wunderschöne goldene Halskette mit großen, ungeschliffenen Smaragden. Julius war kurz versucht, die Kette zu stehlen. Die Smaragde würde er natürlich nie loswerden können, denn sie waren viel zu auffällig, aber er könnte das Gold schmelzen. Doch dann legte er die Kette wieder zurück. Es wäre einfach zu schade gewesen, solch ein wunderschönes Schmuckstück zu zerstören. Neben der Kette lag genau das, was er suchte: ein schlichtes goldenes Armband ohne irgendwelche Auffälligkeiten. Es mußte Tausende solcher Armbänder in Londinium geben. Er hob es auf und schlich rasch wieder aus dem Zimmer.
Immer an der Wand entlang, huschte er zurück zum Eingang. Er sah den Rücken des Wachpostens, der an dem Stein lehnte. Er wartete, bis sich der Mann wieder auf seinen Weg machte, dann flitzte er hinaus aus dem Palast, und gleich darauf war er schon unterwegs zur Brücke, um dort mit seinem Geschenk auf Martina zu warten. Ob sie wohl kommen würde?
Sextus ging die breite Straße hinab, die vom Forum zur Brücke führte. Er verzog mißmutig das Gesicht, denn er hatte Julius nicht im Amphitheater gesehen. Ging sein Freund ihm etwa aus dem Weg? Eigentlich wäre ihm dieser Gedanke gar nicht gekommen, wenn er nicht am vergangenen Nachmittag zufällig eine Bemerkung der Soldaten mitbekommen hätte. Nachdem die Soldaten ins Haus eingedrungen waren, waren sie auch in den Hinterhof gestürmt und hatten Julius auf der Flucht entdeckt, hatten ihn aber offenbar nicht genau erkannt. Ein paar Minuten später hörte Sextus, wie sich zwei Soldaten unterhielten, als sie sein Bett im Nebenraum untersuchten. »Hier ist nichts«, hatte der eine gegrunzt. »Ich glaube, da wollte jemand diesem Burschen hier eins auswischen und hat deshalb den Brief geschrieben.«
»Aber was ist mit dem Jüngeren? War das der, der weggerannt ist?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jung ist er jedenfalls, aber er kommt aus einer ehrbaren Familie. Wenn hier irgendwer Geld fälscht, dann ist es dieser Zimmerer.«
Der Jüngere. Ehrbare Familie. Hatte Julius sie in diese Schwierigkeiten gebracht? Sextus fluchte. Wenn sie Julius erwischten, dann würde er sicher reden. Und dann wäre Sextus dran.
Am gestrigen Abend hatte er es nicht gewagt, Julius zu besuchen, doch er hatte erwartet, ihn an diesem Morgen im Amphitheater zu sehen. Da er nicht aufgetaucht war, begann Sextus, sich ernstlich Sorgen zu machen. Hatten ihn die Soldaten doch noch erwischt? Schließlich schlich er doch zu Julius' Haus, aber dort war niemand. Was hatte dies zu bedeuten? Nun wollte er als letzte Möglichkeit den Hafen absuchen.
Plötzlich sah er Julius vor sich auf dem Weg zur Brücke. Sextus begann zu rennen. Julius war so vertieft in seine Gedanken, daß er Sextus erst bemerkte, als dieser direkt hinter ihm stand. Er drehte sich um, und sein Gesicht verdunkelte sich.
Sofort war Sextus alarmiert. »Ist alles in Ordnung?« fragte er. Julius zögerte, bevor er ihm wahrheitsgemäß alles erzählte, was passiert war.
Sextus glaubte ihm kein Wort. Er bildete sich viel darauf ein, kein Dummkopf zu sein. Diese Geschichte war äußerst unwahrscheinlich, wohingegen andere Dinge sehr klar waren. Der junge Mann ging ihm tatsächlich aus dem Weg, und das Geld war weg. Dafür konnte es nur zwei Erklärungen geben. Entweder hatte Julius es gestohlen, oder er hatte seinen Freund verraten, und in diesem Fall hatten die Behörden wahrscheinlich die Tasche mit den Gußformen und würden sie vor Gericht als Beweismittel gegen ihn anführen. Und zweifellos würde Julius ungeschoren davonkommen, wenn er gegen ihn aussagte. Als Julius mit seiner Geschichte fertig war, versuchte es Sextus mit einem Frontalangriff. »Hast du geredet?« fragte er direkt. »Den Soldaten alles erzählt?«
»Nein. Natürlich nicht.«
Sextus zog ein Messer aus seinem Gürtel und hielt es Julius unter die Nase.
»Wenn du das Geld nicht bis Sonnenuntergang findest, dann bringe ich dich um«, sagte er ruhig.
Kurz vor Mittag standen der Gladiator und der Bär auf dem Programm. Der Gladiator war sehr geschickt mit dem Netz. Die Wetten standen zwei zu eins, daß er den Bären töten würde. Zuerst wurde der Bär durch die Arena geführt. Die Menge war gut gelaunt. Spannung und Erregung würden erst steigen, wenn Blut floß.
Martina stand rasch auf. Auf der anderen Seite der Arena sah sie die wichtigen Männer der Stadt in ihren Togen und die Frauen in ihren langen kostbaren Seidenkleidern in der Loge des Statthalters und den angrenzenden Rängen sitzen. Sie ging zurück zur Treppe. Ein kleiner Schauder der Vorfreude durchrieselte sie. Die dort mögen auf den besten Plätzen sitzen, aber keiner wird das kriegen, was ich heute nachmittag kriegen werde, dachte sie. Auf ihrem Weg zum Forum sah sie nicht, daß hinter ihr der Kapitän leise aus einer Tür heraustrat und ihr folgte.
Julius stand neben einem der großen Holzpfeiler am Nordende der Brücke. Es war fast Mittag. Das Gespräch mit Sextus beunruhigte ihn ziemlich. Wie sollte er nur die Tasche wiederfinden? Vielleicht würde seine Mutter nachgeben, wenn er ihr von der Drohung erzählte, aber sicher war er sich da nicht. Jedenfalls war es sinnlos, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Nun standen andere Dinge an.
Aus dem Amphitheater vom Hügel zu seiner Linken erschallte ein abfälliges Grummeln, woraus er schloß, daß ein Tier über einen Menschen die Oberhand gewann. Julius blickte auf die breite Straße Richtung Forum. Wenn Martina jetzt auftauchte, würde sie sich ihm heute nachmittag hingeben, dessen war er sich sicher. Er zitterte vor Erregung. Und dennoch war ein Teil in ihm sehr nervös, ja hoffte fast, daß sie nicht kommen würde.
Mehrere Minuten waren verstrichen, da erregte etwas neben dem Kai zu seiner Rechten seine Aufmerksamkeit. Es waren Soldaten mit einem Esel, der einen kleinen Karren zog. Er war wohl sehr schwer beladen, denn der Esel rutschte einmal aus und hielt an. Es waren drei Männer. Einer führte das Tier, die anderen zwei gingen hinter dem Karren her. Da Julius hinter dem Holzpfeiler stand, konnten sie ihn nicht sehen, doch als sie näherkamen, konnte er ihre Gesichter unter den Helmen erkennen. Eines davon kam ihm sehr bekannt vor. Der Mann, der den Esel führte, war sein neuer Bekannter, der Zenturio.
Warum, fragte sich Julius, geleitete der Zenturio gerade während der Spiele einen Eselkarren durch die Straßen?
Die Ladung war mit einer Leinwand zugedeckt. Eine Ecke hatte sich jedoch gelockert, und Julius sah den Hals einer Weinamphore herausragen. Offensichtlich brachten die Soldaten Proviant vom offiziellen Lager zum Fort. Doch als der Karren in die Gasse hineinfuhr, holperte er mit einem Rad über einen Buckel, und ein kleiner Gegenstand fiel auf den Boden. Einer der Soldaten beeilte sich, ihn aufzuheben und zurück unter die Abdeckung zu legen, doch Julius fielen zwei Sachen auf. Das Ding glitzerte in der Sonne, und der Zenturio blickte sich rasch nach allen Seiten um, als ob er sichergehen wollte, daß niemand sie gesehen hatte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Angst und Schuld. Das Ding, das da von dem Karren heruntergefallen war, war eine Goldmünze.
Gold. Dort auf diesem Karren lagen wahrscheinlich Säcke voll Gold. Kein Wunder, daß der Esel strauchelte. Doch warum transportierten die Soldaten heimlich Gold? Erst wollte Julius keine Erklärung für diese sonderbare Tatsache einfallen, schließlich kam er auf die wahrscheinlichste: Sie hatten das Gold gestohlen.
Die Gedanken in Julius' Kopf überschlugen sich. Leise trat er von der Brücke herunter und in die Gasse hinein. Vorsichtig Abstand haltend, verfolgte er den Karren bei seiner Zickzacktour, wobei er sich immer wieder in dunkle Ecken drückte. Es war keine Frage: Die Soldaten wollten auf keinen Fall gesehen werden.
Mehrmals zögerte er. Wenn die Soldaten Gold stahlen und ihn dabei ertappten, wie er sie verfolgte, dann stand außer Zweifel, was sie mit ihm anstellen würden. Doch er hatte sich schon einen Plan zurechtgelegt. Die Männer wollten das Gold sicher irgendwo verstecken. Wenn er das Versteck herausfinden würde, könnte er ihm einen Besuch abstatten. Einer dieser Säcke würde Sextus den Verlust der Tasche vergessen lassen. Und mit all dem Geld konnte er auch Martina kaufen, was immer sie sich wünschte.
Die Soldaten gingen am östlichen Hügel zum Forum hinauf. Hier stießen sie auf die obere der beiden großen quer durch die Stadt führenden Durchgangsstraßen. Sie wandten sich nach links und nahmen eine kleinere Gasse, die parallel zu der großen Straße verlief. Julius bog in die große Straße ein, in der Absicht, den Weg des Karrens bei der nächsten Seitenstraße zu überprüfen. In der Senke zwischen den beiden Hügeln sah er den Karren wieder; er überquerte vor ihm die Hauptstraße und fuhr dann den Hang auf der anderen Seite hinauf. Die Soldaten hatten einen Vorsprung von etwa einer Viertelmeile. Plötzlich bogen sie in eine kleine Gasse ein und verschwanden. Julius eilte ihnen nach, er wollte sie nicht aus den Augen verlieren. Fast war er schon bei der kleinen Gasse angelangt, da blickte er den Hügel hinauf und sah Martina, die ihm auf der Straße entgegenkam.
Julius blieb stehen und starrte sie an. Also war sie doch noch zu ihrer Verabredung unterwegs. Sein Herz machte einen Sprung. Sie will mich, dachte er. Vielleicht liebt sie mich sogar. Eine Welle der Freude und Erregung durchflutete ihn. Am liebsten wäre er ihr entgegengerannt. Doch dann würde er wertvolle Zeit verlieren. Jede Sekunde konnte der Karren im Labyrinth der Gassen verschwunden sein. Und dann war das Gold verloren.
»Das Mädchen wird warten, das Gold nicht«, murmelte er und duckte sich in einen Hauseingang.
Behutsam schlich er eine Gasse nach der anderen entlang, bis er schließlich auf einem schmalen Weg in der Nähe des Dianatempels den kleinen Karren und den Esel wieder entdeckte. Die Soldaten waren nicht zu sehen. Julius blickte sich um, versuchte zu erraten, wohin sie gegangen waren. Hier gab es viele kleine Höfe, Werkstätten und Schuppen. Der Wagen war noch immer mit der Leinwand bedeckt. Hatten sie das Gold bereits abgeladen, oder war dies nur ein vorläufiger Haltepunkt? Julius wollte es unbedingt wissen. Vorsichtig pirschte er sich an den Karren heran, hob die Abdeckung hoch und blickte darunter.
Der Karren war leer bis auf drei Amphoren und ein paar Leinenfetzen. Er tastete unter dem Stoff herum, bis seine Hand auf etwas Hartes stieß. Er zog daran. Es war schwer. Zufrieden grinsend nahm er auch noch die andere Hand zu Hilfe und zerrte einen Sack voller Münzen hervor. Er war nicht sehr groß, gerade so, daß er ihn mit zwei Händen umfassen konnte, aber selbst dies war ein Vermögen. Ein solcher Sack reichte vollauf. Es war Zeit, sich aus dem Staub zu machen.
Da ertönte hinter ihm ein Ruf. Er wandte sich halb um. Der Soldat war schon fast neben ihm. Julius ließ den Sack fallen, hechtete zur anderen Seite des Karrens und rannte los. Die Stimme des Zenturios ertönte: »Laßt ihn nicht entkommen!«
Rein in die Gasse. Nach links. Nach rechts. Wenige Augenblicke später war er schon bei der großen Durchgangsstraße. Er rannte über die Straße, bog in eine kleinere Gasse ein, floh weiter.
Sie wußten, daß er das Gold gesehen hatte. Er war ein Zeuge. Sie mußten ihn töten. Wohin sollte er gehen? Wo konnte er sich vor ihnen verstecken? Er hörte sie noch immer rufen, sie waren ihm dicht auf den Fersen. Dann fiel ihm etwas ein. Es war seine einzige Hoffnung. Japsend zwang er sich dazu weiterzurennen, während er ihre Schritte noch immer dicht hinter sich hörte.
Martina stand wütend und enttäuscht an der Brücke. Nun wartete sie schon über eine Stunde. Keine Menschenseele war zu sehen. Er hatte ihr einen Brief geschickt und ein Geschenk versprochen. Sie hatte viel riskiert. Aber vielleicht war Julius ja auch etwas zugestoßen? »Ich verzeihe ihm, wenn er sich ein Bein gebrochen hat«, murmelte sie, »aber auch nur dann!« Da sah sie plötzlich zu ihrer Verwunderung Sextus aus einer Seitenstraße heraustreten und näherkommen.
Als sie den Mann sah, dem sie um des treulosen Julius willen aus dem Weg gegangen war, kam es ihr nur natürlich vor, ihn mit einem Kuß zu begrüßen, und sie hoffte, Julius würde dies auch sehen, wenn er sich denn irgendwo hier in der Nähe aufhielt. Sicherheitshalber küßte sie Sextus ein weiteres Mal.
Sextus war leicht überrascht über die plötzliche Zuneigung der jungen Frau, der er nun schon so lange nachgestiegen war. Seine Eitelkeit sagte ihm, daß doch nichts anderes zu erwarten war; seine Erfahrung sagte ihm, daß er lieber nicht nach dem Grund für ihr Verhalten fragen sollte. Er lächelte nur und fragte sie, ob sie denn seinen Freund Julius gesehen habe. Nein, sagte sie, aber vielleicht sei er ja bei den Spielen. »Sollen wir hingehen und ihn suchen?« fragte sie und hakte sich bei ihm ein.
Sextus hatte mit Julius noch Geschäftliches zu regeln, aber er wollte auch diese unvorhergesehene Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Als sie das Amphitheater vor sich liegen sahen, verabredete er mit ihr, sie in dieser Nacht zu besuchen. »Aber jetzt sollten wir besser nicht zusammen beim Betreten des Amphitheaters gesehen werden«, log er schlau. »Also dann, bis heute abend!« Und damit machte er sich davon, um auf Julius zu warten, wobei er sich noch einmal vergewisserte, daß das Messer an seinem Platz war.
Es war ein warmer Abend, und in der Luft hing eine angenehme Wolke aus Schweiß und Staub, während sich das Amphitheater leerte. Die Menge war höchst zufrieden. Die Menschen hatten gegessen und getrunken, sie hatten Löwen, Stiere, eine Giraffe und alle möglichen anderen wilden Tiere gesehen; sie hatten zugesehen, wie ein Bär einen Mann zerfleischte, und außerdem waren noch zwei weitere Gladiatoren vor ihren Augen gestorben.
Julius ließ sich von der Menge treiben. Die Menschenmassen hatten ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Er hatte es geschafft, seinen Verfolgern zu entkommen und durch einen engen Durchgang auf die obere Tribüne des Amphitheaters zu schlüpfen. Unten in der Arena kämpften gerade zwei Gladiatoren, und die Leute waren alle aufgestanden, um den Kampf besser zu sehen. Unbemerkt fand er einen Platz unter den Stehenden und verbrachte den restlichen Nachmittag dort. Als er mit der Menge aus dem Theater trat, war von seinen Verfolgern nichts mehr zu sehen.
Was sollte er nun tun? Seine Eltern würden bald das Festmahl für die Nachbarn auftischen. Sie warteten sicher schon auf ihn. Er mußte unbedingt mit seiner Mutter über die Tasche mit den gefälschten Münzen reden. Sextus hatte ihm eine Frist bis Sonnenuntergang gestellt, und nun ging die Sonne gerade unter. Er würde wohl oder übel bis zum nächsten Morgen warten müssen. Dann fiel Julius wieder das Gold ein. Er hatte den Sack ja schon in den Händen gehalten! Er befand sich sicher ganz in der Nähe, wahrscheinlich in irgendeinem Keller. Aber vielleicht würden die Legionäre ihre Beute nicht lange in dem Versteck liegenlassen. Vielleicht kamen sie in ein, zwei Tagen zurück und verteilten das Gold an verschiedene Stellen. Wenn ich an dieses Gold kommen will, dann sollte ich besser bald danach suchen, sagte sich Julius.
Er bog in eine Seitenstraße ein und kehrte an die Stelle zurück, an der der Karren gestanden hatte. Von den Soldaten war nichts zu sehen. Er musterte die Umgebung eingehend. Es kamen etwa ein halbes Dutzend Stellen als Versteck in Frage. Er würde sie alle absuchen müssen. Bald würde es dunkel sein. Er brauchte ein Licht. Vorsichtig machte er sich wieder auf den Weg, ohne zu wissen, daß er verfolgt wurde.
Nach Einbruch der Dunkelheit begann sich Julius' Mutter Sorgen zu machen. Die Nachbarn genossen das üppige Mahl. Das dicke Mädchen stopfte sich gerade sein drittes Huhn in den Mund, während Rufus den Freunden eine lustige Geschichte erzählte. Aber wo steckte der Junge?
»Er ist hinter einer Frau her«, hatte Rufus ihr grinsend berichtet, als Julius zu Beginn des Festmahls nicht erschienen war. »Mach dir keine Sorgen!«
Aber sie hatte Rufus noch nichts von den Münzen erzählt. Und was hatte Sextus mit der Geschichte zu tun? Sie mochte diesen Burschen mit den dichten Augenbrauen einfach nicht. Unter dem hellen Sternenhimmel glitt das kleine Boot, getragen von der Ebbe, leise stromabwärts. Die Luft war selbst hier auf dem Fluß noch warm. Der Körper im Boot lag starr auf dem Rücken, das Gesicht zum Nachthimmel gerichtet. Der Messerstich, der den Mann getötet hatte, war so bedacht gesetzt worden, daß die Wunde kaum blutete. Nun wurde der leblose Körper mit Steinen beschwert, damit er für immer auf den Grund des Flusses sank.
Es erforderte einiges Geschick, einen Leichnam im Wasser loszuwerden. Der Fluß hatte Strömungen und Strudel, einen geheimen eigenen Willen, und eine Leiche, die an einer Stelle versenkt wurde, konnte auf unerklärliche Weise an einer anderen Stelle wieder auftauchen. Man mußte die Geheimnisse des Flusses kennen, und dies tat der Kapitän.
Anfangs war er sehr überrascht, als er sah, wie seine Frau und Sextus sich mit Küssen begrüßten. Er kannte Sextus vom Sehen und dem Namen nach, aber er glaubte sich zu erinnern, daß der Brief mit einem J, nicht mit einem S unterschrieben worden war. Nun, wahrscheinlich war es doch ein schlecht geschriebenes S gewesen. Und so hatte er Sextus getötet, während dieser seinem Freund Julius durch die Gassen nachschlich.
Nun mußte er sich noch überlegen, was er mit Martina anstellen sollte. Zuerst wollte er sie so bestrafen, daß sie es nie vergessen würde, aber dann dachte er daran, daß es wahrscheinlich nicht einfach sein würde, einen Ersatz für sie zu finden. Und er hatte sich ja schon an ihrem Liebhaber gerächt. Also beschloß er, sie freundlich zu behandeln und abzuwarten, was passieren würde.
Im Herbst des Jahres 251 wurde der Diebstahl einer beträchtlichen Menge an Gold- und Silbermünzen entdeckt. Der Zenturio, der mit den Nachforschungen beauftragt wurde, konnte nichts herausfinden. Darauf wurden der Zenturio und eine Reihe von Truppen aus der Garnison in Londinium überraschend nach Wales versetzt, um dort beim Wiederaufbau der großen Festung Caerleon mitzuhelfen. Es wurde kein Datum für ihre Rückkehr genannt.
Für Julius wandte sich alles zum besten. Seine Mutter fragte ihn nie mehr nach der Tasche, und mit dem geheimnisvollen Verschwinden seines Freundes Sextus schien die ganze Sache ein Ende zu haben. Seine Geschäfte mit dem Kapitän florierten. Und das Beste daran war, daß der Kapitän, nachdem er den Liebhaber seiner Frau beseitigt hatte, nie mehr den leisesten Verdacht hegte, daß sich zwischen Julius und Martina etwas entwickeln könnte. Und als der Kapitän ein Jahr später auf hoher See ums Leben kam, übernahm Julius sein Geschäft und heiratete seine Witwe. Nach der Geburt seines zweiten Sohnes trat Julius zur großen Freude seines Vaters als offizielles Mitglied in den Mithrastempel ein.
Nur eine Sache ließ Julius zeit seines Lebens keine Ruhe. Wieder und immer wieder kehrte er an den Ort zurück und suchte ihn ab, bei Tag und bei Nacht. Der Zenturio hatte bei seiner überraschenden Abkommandierung den schweren Schatz bestimmt nicht mitnehmen können. Es mußte also noch irgendwo, ganz in der Nähe der Stelle, an der der Eselkarren gestanden hatte, ein Versteck geben, in dem ein Schatz von schier unberechenbarem Ausmaß ruhte. Monate vergingen, Jahre vergingen, ohne daß Julius seine Suche einstellte. An langen Sommerabenden stand er oft am Kai oder an der großen Mauer von Londinium, beobachtete den Sonnenuntergang und fragte sich, wo, bei allen Göttern, das Gold versteckt sein mochte.