DIE SUFFRAGETTE
1908
DER KLEINE HENRY MEREDITH WEINTE. Gerade war er ordentlich
verdroschen worden. Die Tatsache, daß Mr. Silversleeves,
Housemaster in seinem Internatsgebäude und Mathematiklehrer, mit
ihm verwandt war, hatte keinerlei Unterschied gemacht; zudem war
diese Bestrafung nichts Ungewöhnliches. Rohrstock, Rute und Riemen
wurden in England, Amerika und vielen anderen Ländern ausgiebig
angewandt. Während Eton und ein oder zwei andere Schulen ein
individualistischeres Ethos pflegen mochten, gehörte Charterhouse
zu den Privatschulen, deren erster Zweck darin bestand, ihren
Zöglingen die Frechheit auszuprügeln. Silversleeves tat nur seine
Pflicht, wie er und der kleine Meredith wohl wußten.
Es gab noch einen Grund für das Elend des Jungen – er war
furchtbar hungrig. Die Schule im Charterhouse bestand seit 1614.
Sie war siebzig Jahre, nachdem Heinrich VIII. die letzten Mönche
verjagt hatte, gegründet worden. Vor kurzem war die Schule in ein
neues Gebäude dreißig Meilen südwestlich von London umgezogen –
eine berühmte alte Schule, und die Eltern bezahlten gutes Geld, um
ihre Söhne hierher zu schicken.
Doch entweder wußten sie es nicht oder hielten es nicht für
wichtig, daß ihre Kinder hier kaum etwas zu essen bekamen.
Brotscheiben, nur dünn mit Butter bestrichen, Eintopf oder
Schleimsuppe in winzigen Mengen, Kohl, dafür Unmengen eines kaum
eßbaren süßen Brotpuddings – das war das Essen privilegierter
Schuljungen, die streng erzogen werden sollten. Wer das überstand,
sollte das Empire regieren. Ohne die Pakete seiner Mutter hätte
Meredith Hunger gelitten.
Aber als er zu seiner harten Bank in dem Klassenzimmer
zurückschlich, zu dem Pult, in dem die Namen früherer Leidtragender
tief eingeritzt waren, mußte Henry Meredith seine Tränen nicht
wegen des Schmerzes oder des Hungers hinunterschlucken, sondern
wegen eines Zeitungsartikels, den ein älterer Junge ihm an diesem
Morgen gezeigt hatte.
Als der Einspänner an diesem Herbsttag
durch das Parktor von Bocton fuhr, konnte Violet immer noch nicht
begreifen, daß ihre Mutter nicht dasein würde. Mary Anne war im
Jahr zuvor gestorben; von den vier Schwestern Dogget lebte nur noch
Esther Silversleeves.
Es war eine lange Auffahrt, und Violet umklammerte nervös die
Hand ihrer sechsjährigen Tochter. Es gab jetzt kein Zurück mehr.
Ich werde mich nicht unterkriegen lassen, redete sie sich selbst
gut zu, als sie ihren Vater erblickte, der vor dem Haus auf sie
wartete.
Kompliziert wurde die Situation, weil Edward Bull so gut zu
ihnen war. Da Meredith so kräftig und schlank geblieben war, hatte
Violet gedacht, er würde sehr alt werden. Sie hatte zwei Söhne
bekommen, und dann noch ihre kleine Tochter Helen, als Meredith
schon über siebzig war. Es hatte sie sehr getroffen, als er vor
drei Jahren plötzlich einem Herzanfall erlegen war und weniger Geld
hinterlassen hatte als erwartet. Sie waren nicht arm, aber um einen
angemessenen Haushalt aufrechtzuerhalten und die Schulen der Kinder
zu finanzieren, nahm sie dankbar die Hilfe ihres Vaters an.
Zwei Stunden lang, während sie durch den Wildpark spazierten
und Edward Bull in dem alten ummauerten Garten mit seiner Enkelin
spielte, sagte er nichts. Erst als die Haushälterin Helen in ihr
Zimmer brachte und sie allein in der Bibliothek blieben, nahm er
die Zeitung und legte sie neben Violet auf das Sofa. »Ich sehe, du
hast mit dem Premierminister gesprochen.«
Es war kein neues Thema, mit dem sie an den großen Mann
herangetreten war. Seit der großen Wahlreform von 1832 war die
Demokratie immer weiter vorangeschritten. Zwei weitere Gesetze
hatten zuerst der Mittelschicht und dann den bessergestellten
Arbeitern das Wahlrecht verliehen. Etwa zwei Drittel der
volljährigen Männer in England konnten nun wählen – aber keine
Frauen. Schon seit vierzig Jahren hatte eine Gruppe ehrbarer Ladys
als sogenannte Stimmrechtlerinnen gegen diese Ungerechtigkeit
protestiert, aber nichts erreicht. Vor fünf Jahren war nun eine
neue Vereinigung aufgetaucht, angeführt von der leidenschaftlichen
Mrs. Pankhurst. Bald waren die Ladys als »Suffragetten« bekannt.
Taten, nicht Worte, war ihr Motto. Sie wählten sich ihre eigenen
Farben – Rot, Weiß und Grün –, die sie auf Schärpen, Fahnen und
Plakaten verwendeten; sie hielten öffentliche Versammlungen ab und
störten bei Parlamentswahlen. Und sie hatten sich darauf verlegt,
auf der Straße bekannte Politiker anzusprechen.
Vor einer Woche hatten zwei ehrbar aussehende Damen, die die
ausladenden, mit Federn geschmückten Hüte trugen, die in England
zur Zeit König Eduards modern waren, vor dem Amtssitz des
Premierministers, Downing Street 10, gewartet. Als Mr. Asquith
erschien, gesellten sie sich zu ihm, eine links, eine rechts, und
schritten zur Freude des Journalisten der Times und des
Photographen, dem man einen Wink gegeben hatte, den ganzen Weg
entlang Whitehall neben ihm her, wobei sie sich höflich
erkundigten, was er für das Frauenwahlrecht unternehme, bis er sich
in den Schutz der Parlamentsgebäude rettete. Eine der beiden Damen
wurde am nächsten Tag in der Zeitung als Violet
identifiziert.
»Du hast Glück, daß man dich nicht verhaftet hat«, sagte
Bull.
Edward Bull war sanfter geworden, seit er nach Bocton gezogen
war. Seine Söhne führten nun die Brauerei, und er genoß das Leben
eines Gutsherrn. In den Grundbüchern hatte er entdeckt, daß der
Besitz einmal einer Familie namens Bull gehört hatte. »Die haben
mit uns natürlich nichts zu tun«, hatte er munter bemerkt. Er wurde
nicht einmal ärgerlich, als Violet ihre Sympathien für die
Suffragetten erklärte, obwohl seine eigene Haltung unverändert
geblieben war. Frauen sollten das Haus zieren, und nicht nur die
Männer, sondern auch die meisten Frauen stimmten ihm zu. Eine
Frauenorganisation gegen das Stimmrecht war gegründet worden; die
prominente Romanschriftstellerin Mary Augusta Ward schrieb in
ähnlichem Sinn. Frauen würden durch Politik verdorben;
Ritterlichkeit würde aussterben. Es war ein merkwürdiger Zug der
spätviktorianischen Zeit und der eduardischen Herrschaft, daß sich
selbst Frauen aus der Mittelschicht – teilweise aufgrund eines
Wiederauflebens der ritterlichen Artusliteratur, teilweise aufgrund
wachsenden Wohlstandes, der einem größeren Kreis von Frauen ein
müßiges Leben ermöglichte – einbildeten, so zerbrechlich zu sein
wie eine Modedame des achtzehnten Jahrhunderts. Ihre weiblichen
Vorfahren hätten darüber nicht wenig gestaunt.
»Alles nur, weil ich dich nicht auf die Universität gehen
lassen wollte«, schloß Bull.
»Nein, Papa. Ist es richtig, daß eine Frau Bürgermeisterin,
Krankenschwester, Ärztin, Lehrerin – oder auch eine gute Mutter
sein kann, ihr aber das Wahlrecht verweigert wird? Da war es ja im
Mittelalter besser! Hast du gewußt, daß Frauen damals den Londoner
Gilden beitreten konnten?«
»Sei nicht albern, Violet.« Edward kannte die City; der
Gedanke, eine der Livreegesellschaften könnte Frauen zulassen, war
absurd. Er wäre erstaunt gewesen zu erfahren, daß seine eigene
Brauerei durch Dame Barnikel an ihn gekommen war. »Jedenfalls
unterstützt euch keine einzige politische Partei.« Das stimmte. In
jeder Partei gab es Befürworter und Gegner, aber keiner der Führer
konnte entscheiden, ob ein Frauenwahlrecht zu seinem politischen
Vorteil wäre. Selbst die Radikalsten waren weit mehr interessiert
daran, daß mehr Arbeiter wählen durften, als sich um Frauen zu
kümmern.
»Dann machen wir weiter, bis sie es tun«, konterte
Violet.
»Aber eure Kampagne gibt ein schlechtes Beispiel«, bekannte
er. »Verstehst du nicht, daß es nur die niederen Klassen ermutigt,
dasselbe zu tun, wenn Leute wie wir anfangen, öffentlich zu
agitieren? Und die Lage ist schon gefährlich genug.«
Dieser letzten Äußerung konnte Violet zustimmen. Als das
Jahrhundert dahingegangen war und Königin Viktoria mit ihm, sah
sich der neue König Eduard einer zunehmend unsicheren Welt
gegenüber. Den Krieg gegen die holländisch sprechenden Buren in
Südafrika hatte man nur mit Mühe und einigen Zweifeln an seiner
moralischen Berechtigung gewonnen. In Indien begannen die Menschen
gegen die britische Herrschaft zu murren. Obwohl der deutsche
Kaiser ein Neffe König Eduards war, erweiterte das Deutsche Reich
seine militärische und koloniale Macht auf bedrohliche Weise. Auch
der britische Handel sah sich nun heftiger Konkurrenz ausgesetzt,
so daß selbst standhafte Freihändler wie Bull sich zu fragen
begannen, ob der riesige Wirtschaftsraum des Empires nicht besser
mit Zöllen geschützt werden sollte. Die Frage, ob man den Iren die
Selbstverwaltung gewähren sollte, hatte die liberale Partei
gespalten. Doch der beunruhigendste Aspekt des neuen Zeitalters
unter Eduard lag viel näher.
Die enormen Ungleichheiten und Probleme des neuen
Industriezeitalters waren nicht gelöst. Zwar amüsierte König Eduard
seine weniger puritanischen Untertanen mit seinem lebendigen Hof
und seinem prächtigen Stil, doch waren sie auch beunruhigt über die
Unsicherheit dieser ungelösten Spannungen. Die von Marx prophezeite
große sozialistische Revolution war zwar noch nicht eingetreten,
doch die Gewerkschaften um die Jahrhundertwende hatten zwei
Millionen Mitglieder und rechneten damit, bald auf vier Millionen
anzuwachsen. Bei den letzten Wahlen hatten sie ihre eigene
politische Partei aufgestellt, die sich bereits als kommende dritte
Kraft zeigte. Im Augenblick waren die Parlamentsmitglieder der
Labour Party (nur wenige davon wirkliche Sozialisten) bereit, die
liberale Regierung zu unterstützen, deren radikaler Flügel,
angeführt von dem brillanten Waliser Lloyd George, sich dazu
verpflichtete, Sozialleistungen für die Armen einzuführen. »Aber
das konservative House of Lords wird sogar das niederstimmen«,
prophezeite Bull. »Und was passiert dann? Es wird neuen Arger
geben. Und ihr heizt ihn an. Habt ihr an eure Kinder gedacht? Ist
das ein gutes Beispiel?«
»Die Kinder sind stolz auf mich!« erwiderte Violet stürmisch.
»Sie wissen, daß ich mich für eine gute und moralische Sache
einsetze. Ich zeige ihnen, wie man für das Richtige
eintritt.«
Sein Bruder war mit seinen Clownereien
manchmal wirklich albern, dachte Percy Fleming. Echt Herbert. Eine
kleine Menschengruppe war stehengeblieben und starrte zu ihm
hinauf, wie er auf der Mitte der Tower Bridge stand. »Entscheide
dich, Percy!« rief er. »So lange bleibe ich hier stehen, auch wenn
die Brücke aufgeht!«
Unter den Menschen war auch eine sehr respektabel aussehende
junge Frau – vielleicht ein oder zwei Jahre älter als er, vermutete
Percy. Er fragte sich, was sie von dem Ganzen hielt.
Percy Fleming war ein glücklicher Mann. In der vierten
Generation umfaßte die Nachkommenschaft Jeremy Flemings, des
Angestellten der Bank von England, insgesamt dreißig Menschen.
Manche hatten es zu etwas gebracht, manche nicht. Viele lebten
nicht mehr in London. Percys und Herberts Vater hatte einen
Tabakwarenladen in Soho gehabt, ein Stückchen östlich der Regent
Street. Als Percy noch ein Kind war, hatte das Straßenbauamt in
Soho zwei große Straßen gebaut – die Charing Cross Road, die vom
Trafalgar Square aus nach Norden ging, und die Shaftesbury Avenue,
die zum Piccadilly Circus führte und schon seit langem von Theatern
gesäumt wurde. Während Herbert das unkonventionelle Soho des
Theaters liebte, fühlte sich Percy mehr zu der ruhigeren Seite der
Regent Street hingezogen, die nach Westen in das gesetzte Mayfair
mündete. Hier gab es noch einige altehrwürdige Geschäfte
hugenottischer Uhrmacher und Handwerker, doch der am häufigsten
vertretene Berufsstand des Viertels, in der Savile Row hinter dem
Burlington House, waren die Londoner Schneider.
Percys Vater, obwohl Tabakhändler, hatte viele Bekannte unter
den Geschäftsleuten. »Die goldene Meile nennt man sie«, sagte er
immer. »Sobald ein Kunde durch die Tür kommt, sehe ich, ob er einen
Anzug aus dem Westend trägt. Gott hat die Menschen nicht in
Standardgrößen geschaffen. Ein gut geschnittener Anzug paßt so
perfekt, daß ein Mann nicht einmal spürt, daß er ihn anhat. Ware
von der Stange hat keinen Stil.«
Percy fand die goldene Meile wundervoll. Als Kind sah er den
Lehrlingen und Laufburschen zu, die Muster auslieferten und
Botengänge erledigten. Durch seinen Vater freundete er sich mit
manchen Zuschneidern an. Während sein Bruder Herbert nach einem
kurzen Flirt mit dem Theater einen Posten als Angestellter antrat,
wollte er die fünf oder sechs Lehrjahre als Schneider ableisten.
Als er schließlich einen Schneidermeister fand, der ihn nahm, und
seinem Vater davon erzählte, war Fleming senior wahrhaft
beeindruckt. »Tom Brown!« rief er begeistert. »Das nenne ich einen
richtigen Schneider für Gentlemen, Percy.«
Bei Tom Brown lernte Percy sechs Jahre lang, und er war so
geschickt, daß Mr. Brown ihm danach ein gutes Angebot für eine
Anstellung machte. Doch Percy hatte etwas anderes im Sinn. Es war
nicht ungewöhnlich, daß ein geschickter Schneider sich selbständig
machte. Er war sicher, daß Tom Brown ihn weiter beschäftigen würde,
und zudem konnte er Aufträge von anderen Schneidern annehmen. Wenn
man gut war und lange Arbeitszeiten akzeptierte, konnte man mehr
verdienen als ein Angestellter. Der eigentliche Anstoß aber war von
Herbert gekommen.
»Ich sehe dich so selten, Percy«, sagte er, »und du bist jetzt
alles, was ich an Familie habe.« Beide Eltern waren gestorben.
»Warum suchst du dir nicht eine Wohnung in der Nähe von mir und
Maisie? Die Luft da oben in Crystal Palace ist viel besser für
deinen Husten.«
Nachdem der Kristallpalast nach der Weltausstellung abgebaut
worden war, hatte ihn eine Unternehmensgruppe gekauft und auf dem
Hügelkamm am südlichen Rand des Londoner Beckens wieder
aufgestellt. Auf den südlichen Hängen war hinter den Häusern
offenes Land, das sich bis zu den bewaldeten Hügeln von Sussex und
Kent erstreckte. Auf dem Kamm selbst jedoch standen nun Häuser –
Herrenhäuser in großen Gärten ganz oben, weiter unten bescheidenere
Vorstadthäuser. Die Luft war ausgezeichnet weit weg vom Londoner
Smog. Crystal Palace, wie man nun sagte, war eine höchst
erstrebenswerte Wohngegend. Herbert und Maisie wohnten dort seit
ihrer Heirat.
»Der Bahnhof liegt ganz nah. Ich nehme jeden Morgen den Zug in
die City«, erklärte Herbert. »Und ein anderer fährt zur Victoria
Station. Von deiner Haustür bis zur Savile Row bräuchtest du nicht
einmal eine Stunde.«
Herbert hatte recht, was den Husten betraf. Percy hatte die
Wirkung des Londoner Nebels in letzter Zeit gespürt. Und wenn er
von Tom Brown fortging und selbständig arbeitete, müßte er gar
nicht jeden Tag nach London fahren. Trotzdem zögerte er vor diesem
großen Umzug.
Percy und Herbert trafen sich manchmal samstags, wenn Herbert
ab zwei Uhr nachmittags freihatte. Heute, an diesem schönen
Herbsttag, machten die Brüder nach einem Essen im Pub einen
Spaziergang. Als sie sich dem alten London Stone in der Cannon
Street näherten, deutete Herbert auf ein großes Gebäude gegenüber:
»Du weißt, was das ist, Percy! Der große Bahnhof Cannon Street. Da
fährt mein Zug nach Crystal Palace ab.«
Sie gingen an Billingsgate vorbei zum Tower, und den ganzen
Weg redete Herbert auf ihn ein. »Du siehst blaß aus, Percy. Du mußt
raus. Maisie hat versprochen, eine Frau für dich zu suchen. Die
will bestimmt auch da oben wohnen. Und mehr Geld verdienst du
auch!« Und schließlich, als sie über die Tower Bridge gingen, hatte
Herbert beschlossen, den Narren zu spielen.
»Oh, na gut!« gab Percy nach. »Ich ziehe um.«
»Er hat sich entschieden!« rief Herbert. »Ladys and
Gentlemen«, wandte er sich an die Umstehenden, »Sie sind alle
Zeugen. Mr. Percy Fleming hat gerade versprochen, sich selbständig
zu machen und in die gesunde Gegend von Crystal Palace zu
ziehen…«
Percy war erleichtert, als er sah, daß die Zuschauer
lächelten. Aber Herbert war noch nicht fertig. »Madam.« Er trat zu
der jungen Frau, die Percy bereits bemerkt hatte. »Wollen Sie
bezeugen, daß mein Bruder zugestimmt hat, in Crystal Palace zu
wohnen?«
Sie lächelte. »Ich denke schon«, erwiderte sie. Während
Herbert sich an einen anderen der Umstehenden wandte, blieb Percy
bei ihr stehen. »Ich hoffe, mein Bruder hat Sie nicht verärgert«,
meinte er.
»Schon in Ordnung«, erklärte sie. »Er macht sich nur einen
Spaß.«
»Ja, das tut er manchmal.« Sie hat sehr hübsche braune Augen,
dachte er.
Nichts Anmaßendes an sich, sehr still. Sie sah aus, als habe
sie schon Leid erfahren. »Sie wohnen nicht hier?« fragte er.
»Nein.« Sie zögerte einen Augenblick. »Oben in Hampstead.
Ziemlich weit von Crystal Palace.«
»Ja. An schönen Samstagen komme ich oft hierher«, log er.
»Meistens allein.«
»Wie nett.«
Herbert war nun zum Weitergehen bereit. »Vielleicht sehen wir
uns einmal wieder«, wollte Percy fast sagen, aber das wäre ein
wenig dreist gewesen.
Edward Bull wußte, was die richtige
Vorgehensweise war. Ein kurzer Spaziergang mit seinem Enkel über
das Gelände von Charterhouse, dann kam alles heraus. Ständig hatte
man den Jungen gehänselt: »Hat man deine Mutter schon verhaftet?
Könnte sie auf geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren?« Einmal
hatte er über seinem Bett ein großes Transparent gefunden:
»Wahlrecht für Frauen«.
»Ziemlich übel, wie?« fragte Bull.
»Ich mußte mich mit einem der Jungen prügeln«, gab Henry zu.
Man sah deutlich, daß er der Meinung war, die Sache sei keine
Prügelei wert gewesen.
Als Bull erklärte, er werde vier Schüler zum Tee einladen, gab
es keinen Mangel an Bewerbern. Kein Junge in Charterhouse würde
sich die Chance entgehen lassen, etwas zu essen zu bekommen. In
einer Teestube bewirtete er sie großzügig.
Zwanzig Jahre als Gutsherr von Bocton hatten Edwards ohnehin
mächtiger Persönlichkeit eine festverwurzelte Autorität verliehen.
Für die Schuljungen war der Grundbesitzer aus Kent eine
ehrfurchtgebietende Gestalt. Er erzählte ein wenig, wie es in
Charterhouse gewesen war, als er dort zur Schule gegangen war;
entdeckte, daß der Vater eines der Jungen beim Jagdclub West Kent
gejagt hatte, wo sein Sohn nun einer der Master of Foxhounds war,
hob sich aber den geschicktesten Schachzug bis zum Ende des üppigen
Tees auf. Er lehnte sich zurück. »Weißt du, Henry, ich vermisse
deinen lieben Vater.« An die Jungen gewandt erklärte er: »Colonel
Meredith war ein außergewöhnlicher Sportler. Er hat wahrscheinlich
mehr Tiger erlegt als jeder andere Mann des britischen
Empires.«
Das war für die Jungen in der Tat ein Held. Bevor Bull
aufbrach, schenkte er jedem eine halbe Crown und Henry eine ganze.
Während dieses Schuljahres würde sein Enkel in der Schule keinen
Arger mehr haben, vermutete er ganz zu Recht.
Als Jenny Ducket ins Erdinnere
hinunterstieg, fragte sie sich, was sie da eigentlich tat.
Arnold Silversleeves hatte es knapp verpaßt, seinen Traum von
einem elektrischen U-Bahn-System verwirklicht zu sehen. Gorham
Doggets Schlußfolgerung, nachdem er ein Jahr lang versucht hatte,
Kapital aufzutreiben – »Wir sind um zehn Jahre zu früh dran« –,
hatte in etwa gestimmt. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hatte nun
ein anderer amerikanischer Unternehmer, ein Mr. Yerkes aus Chicago,
den größten Teil der Londoner U-Bahn entwickelt und organisiert.
Nun fuhren tief unter der Erde die elektrischen Züge.
Von Hampstead brachte Jennys Linie sie zur Euston Station,
dort stieg sie dann in eine andere Linie zur Bank von England um.
Von dort aus konnte sie gehen.
Mrs. Silversleeves ging nicht mehr sehr viel aus, aber wenn,
dann gab es zwei Orte, die sie gern besuchte. Der eine war der
Friedhof in Highgate, wo Arnold Silversleeves seinem Wunsch gemäß
unter einem selbstentworfenen gußeisernen Grabkreuz beigesetzt war.
Der zweite war die Tower Bridge, denn diese massive eiserne
Maschinerie, an deren Hubbrücke er mitgearbeitet hatte, war für
Arnold Silversleeves in seinen letzten Jahren eine solche Quelle
des Stolzes gewesen, daß Esther erklärte: »Das ist das wahre
Ehrenmal meines Mannes.« In der letzten Woche hatte sie sich jedoch
nicht gut genug gefühlt und daher zu Jenny gesagt: »Fahren Sie für
mich hin.« Und dabei hatte Jenny die Brüder Fleming
getroffen.
Liebe alte Mrs. Silversleeves. Jenny erinnerte sich noch
lebhaft daran, wie sie in das große Giebelhaus gekommen war. Sie
war so nervös gewesen, den neuen Namen Ducket und die Warnungen und
Ermahnungen ihrer Großmutter Lucy noch im Ohr. Das Leben als
Dienstmädchen war harte Arbeit. Oft verließ Jenny ihr kleines
Zimmerchen unter dem Dach schon um fünf Uhr morgens. Als jüngste
der Dienstboten hatte sie die schlechtesten Arbeiten, Kohleeimer
nach oben tragen, Kamine ausräumen, Messing polieren und Fußböden
schrubben. Abends sank sie erschöpft ins Bett. Aber verglichen mit
dem Leben im Eastend war es der Himmel. Saubere Kleider, saubere
Bettlaken, genug zu essen. Man erwartete, daß sie jeden Sonntag mit
der Familie in die Kirche ging, aber dagegen hatte sie nichts. Und
wenn sie anfangs nicht immer daran gedacht hatte, vor Mr.
Silversleeves zu knicksen, wußte sie doch, daß das nur schicklich
war. »Denn niemand von uns, Jenny«, erklärte Mrs. Silversleeves
freundlich, »darf sich über seinen Stand erheben.«
Nach und nach waren kleine Veränderungen gekommen. Zu
Weihnachten gab es immer ein Geschenk. Mr. Silversleeves zeigte
ihr, wie sie ihre kleinen Ersparnisse anlegen sollte, und vermehrte
sie manchmal um eine Guinee. Während Jenny im Laufe der Jahre zum
Hausmädchen und schließlich zur Zofe aufstieg, stellte sie fest,
daß die alte Lady sie sehr gern hatte. Oft sagte sie: »Hier ist ein
Seidenschal für Sie, Jenny, den Sie vielleicht an Ihren freien
Tagen tragen wollen.« Oder sie bekam ein Paar Handschuhe, oder
sogar einen Mantel, kaum getragen. Seit sie verwitwet war, ließ
Mrs. Silversleeves Jenny oft bei sich im Wohnzimmer sitzen, bat
sie, ihr das Kleingedruckte aus der Zeitung vorzulesen, und
unterhielt sich mit ihr. Nur ein Thema schien tabu. Wenn Jenny
zweimal im Jahr ihren Vater und ihren Bruder im Eastend besuchte,
erwähnte sie das ihrer Arbeitgeberin gegenüber nie. »Davon wollen
wir nichts hören, Jenny«, sagte die alte Lady sonst.
In ihrem Leben hatte es keine Männer gegeben. Als sie ein
Mädchen war, hatten ein paar der Lieferjungen versucht, mit ihr zu
flirten, aber sie hatte sie rasch ihrer Wege geschickt. Im Laufe
der Jahre hatte sie ein paar Freundinnen gefunden und sich
gelegentlich mit Männern getroffen. Doch sobald sie begannen, ihr
Avancen zu machen, hatte sie sie auf ihre stille Art
zurückgewiesen. Sie hatte ihre Gründe.
Warum ging sie jetzt also zur Tower Bridge? Percy mit seinem
hohlwangigen Gesicht, ein wenig traurig, aber entschlossen, hatte
etwas an sich, das ihn verläßlich wirken ließ. Am Freitag hatte sie
beschlossen, an ihrem freien Tag nur einen Spaziergang in Hampstead
Heath zu machen. Wenn sie sich nun doch auf den Weg zur Tower
Bridge machte, hatte das nichts zu bedeuten, redete sie sich ein.
»Er wird ja doch nicht da sein.« Sie war wirklich überrascht, als
sie ihn eine Stunde später mitten auf der Brücke stehen sah, und er
versuchte, ganz lässig auszusehen und zu verbergen, daß er nach der
Warterei halb erfroren war.
Es gab verschiedene Orte, zu denen Violet ihre Kinder
regelmäßig mitnahm. Im Sommer war der botanische Garten in Kew
beliebt, weil sie mit einem Boot flußaufwärts dorthin fuhren. Sehr
gefragt war auch Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Die Gemälde
in der National Gallery waren eine Pflicht, wenn sie auch gerne
draußen auf dem Trafalgar Square die Tauben fütterten. Öfter baten
sie um einen Besuch in South Kensington.
Prinz Alberts Weltausstellung im Jahr 1851 hatte große Gewinne
eingebracht, so daß die Regierung das Gelände vom Hyde Park bis
South Kensington kaufen konnte, und hier, zu beiden Seiten einer
breiten Straße, Exhibition Road genannt, lagen nun mehrere
wunderbare Museen. Ebenso wie die Albert Hall am Park war auch das
neue Victoria und Albert Museum fast fertiggestellt, und diesem
Gebäude gegenüber befand sich das Natural History Museum, in dem
Fossilien, Gesteine und wundervolle Pflanzenzeichnungen Zeugnis
ablegten von den wissenschaftlichen Entdeckungen und den Ideen
Darwins, die im Laufe der letzten beiden Generationen die
intellektuelle Welt verändert hatten. Die Kinder bewunderten vor
allem die riesigen Skelette der Dinosaurier.
Für Violet selbst übertraf ein Ausflug alles andere,
vielleicht weil das Ziel in Bloomsbury lag, dem ruhigen
georgianischen Viertel mit seinen Ziegelbauten östlich der
Tottenham Court Road. Hier standen viele Gebäude der Londoner
Universität, die sie gerne besucht hätte. Die Antikensammlungen
waren auf der ganzen Welt unerreicht, und zumindest einmal in den
Ferien nahm sie ihre Kinder ins Britische Museum mit.
An diesem grauen Dezembertag, als sie die ägyptischen Mumien
betrachteten, fragte Henry beiläufig: »Mutter, du willst doch nicht
mehr länger eine Suffragette bleiben?«
Wie viele Eltern im eduardischen England meinte Violet, Kinder
blieben in einem kindlichen Stadium, ohne Fragen zu stellen, bis
sie sich plötzlich in Erwachsene verwandelten. Sie hatte nie mit
Henry über ihre Aktivitäten gesprochen, außer daß sie ihm gesagt
hatte, daß Frauen unter einer großen Ungerechtigkeit zu leiden
hätten und daß sie und andere mutige Frauen versuchten, das zu
ändern. Zwei ihrer Kinder glaubten vorbehaltlos an sie. Die kleine
Helen wollte ihre Mutter in jeder Hinsicht nachahmen. Frederick,
der für Charterhouse noch zu klein war, war im Internat einer
Preparatory School. Ihn hatte die Nachricht von der Eskapade seiner
Mutter kaum erreicht. Für den Achtjährigen war sie das kindliche
Wunschbild, von dem er träumte, wenn er einsam war. Aber er war
auch voller Heldenverehrung für seinen älteren Bruder Henry. Wenn
Henry und seine Mutter eine Auseinandersetzung hatten, kapselte er
sich ganz ab.
»Das kommt darauf an, was die Regierung tut«, erwiderte
Violet.
»Also, ich wünschte, du würdest es sein lassen«, meinte
Henry.
»Dein Vater war sehr für das Frauenwahlrecht«, erklärte
Violet.
»Aber hätte er dich auf der Straße herumrennen und den
Premierminister belästigen lassen?«
Das ging zu weit. »So redest du nicht mit mir, Henry!«
»Du solltest hören, wie sie in der Schule mit mir über dich
reden.«
»Um so schlimmer für sie. Ich hoffe, du weißt, daß es um eine
gerechte Sache geht.«
»So scheint das kein anderer zu sehen«, bemerkte Henry bitter.
»Könntest du ihnen nicht einfach helfen, ohne in die Zeitung zu
kommen?«
»Es ist meine moralische Pflicht weiterzumachen, und es tut
mir sehr leid, daß du das nicht verstehst. Vielleicht wirst du es
eines Tages.«
»Niemals, Mutter«, entgegnete er ernst. Als er sein Gesicht
abwandte, schien es Violet, als sei ein Band zwischen ihnen
plötzlich für immer zerrissen. Oh, wenn nur sein Vater da wäre, um
diese Bürde jetzt mit mir zu teilen, dachte sie.
1910
Nur wenige, die sich einen Anzug im Westend
kauften, wußten, daß die obere und die untere Hälfte in fast allen
Fällen von verschiedenen Leuten geschneidert wurden. Wenn Kunden zu
Tom Brown kamen, wurde ihr Jacket von einem Rockschneider, die
Weste von einem Westenschneider und die Hose von einem
Hosenschneider angefertigt. Percy Fleming war Hosenschneider und
mittlerweile sehr geschickt. Daher verdiente er wirklich recht gut,
glücklicherweise, da er heiraten wollte.
Er und Jenny hatten sich Zeit gelassen. Beide waren
vorsichtig. Obwohl sie sich mindestens einmal pro Woche sahen, war
er in den ersten Monaten nie sicher gewesen, ob er überhaupt ihre
Freundschaft gewonnen hatte. Aber er war hartnäckig geblieben, und
im Herbst des vorigen Jahres hatte sie sogar selbst einmal ein
Rendezvous vorgeschlagen.
Percys Wohnung war im Obergeschoß eines Hauses auf den Hängen
von Crystal Palace. Das Schlafzimmer war winzig, aber er hatte
einen großen, heilen Dachraum, den er sich als Werkstatt
hergerichtet hatte. Während er zuschnitt, nähte und bügelte, sah er
direkt über London und auf die Hügel von Highgate und Hampstead auf
der anderen Seite. Im Zuge des materiellen Fortschritts im
viktorianischen Zeitalter hatte London sich noch mehr zerteilt. Die
Trennung zwischen dem reichen Westend und dem armen Eastend ging
zurück bis zu der Zeit der Stuarts, aber erst in den letzten
Jahrzehnten hatte sich aufgrund der Brücken und Eisenbahnen die
Zersplitterung zwischen dem nördlichen und dem südlichen Ufer
entwickelt. Zuvor war der Fluß immer Londons Wasserstraße gewesen.
Es hatte zwar nur eine Brücke gegeben, aber Fährmänner hatten die
Menschen zu den Theatern und anderen Vergnügungen entlang des
Südufers gerudert. Als jedoch im neunzehnten Jahrhundert immer mehr
Brücken gebaut wurden, verschwanden die Fährmänner, und der Fluß
verlor sein buntes Treiben. Dann waren die Eisenbahnen gekommen und
hatten die wachsende Bevölkerung weiter und weiter in die
nördlichen und südlichen Vorstädte gebracht. Die Bahnhöfe entlang
des Flußufers – Waterloo, Victoria, Cannon Street, London Bridge –
überzogen alte Viertel wie Bankside und Vauxhall mit
Eisenbahngleisen. Und so hatten sich die beiden Welten nach und
nach getrennt. Angehörige der Mittelschichten und des Klerus kamen
aus südlichen Vorstädten zur Arbeit in die City oder ins Westend.
Trotz billiger Fahrkarten lebten Arbeiter in der Regel in der Nähe
ihrer Arbeitsstelle, in der einen oder anderen der beiden Welten.
Und die Themse war die breite Trennlinie.
Percy und Jenny trafen sich immer irgendwo in der Stadtmitte.
Als er einmal vorgeschlagen hatte, einen Spaziergang in Hampstead
Heath zu machen, hatte sie energisch den Kopf geschüttelt. »Nein,
das ist viel zu weit nur für einen Spaziergang.« Und er verstand,
daß sie darin ein zu weites Vordringen in ihr Territorium sah, und
so hatten sie sich stets in der neutralen Zone verabredet.
Es war schwer zu sagen, wann er eine Veränderung festgestellt
hatte. Vielleicht war es der Augenblick im Hyde Park, als sie zum
erstenmal seinen Arm genommen hatte. Ihre Rendezvous hatten sie
immer untertags vereinbart – ein Spaziergang, ein Besuch im Tower,
ein Besuch in einer Teestube; doch als der Sommer begann, hatte er
beschlossen, einmal abends mit ihr auszugehen. Er hatte kaum
gewußt, was er vorschlagen sollte, bis Herbert ihm zu Hilfe kam:
»Geht ins Palladium, Percy. Das ist der letzte Schrei.«
Was für ein Abend! Das große, neue Theater am Piccadilly
Circus bot die großartigste Varieteunterhaltung in London. Percy
hatte Jenny noch nie so lebhaft gesehen. Rosig und glücklich ließ
sie sich danach in einer Droschke nach Hampstead zurückbegleiten.
Am Eingang des großen Giebelhauses hatte sie sich von ihm auf die
Wange küssen lassen. Dann ging er durch die warme Nacht den ganzen
Weg zur Victoria Station zurück, wo er aber den letzten Zug
verpaßte, so daß er sich zufrieden auf eine Bank legte und den
ersten Zug im Morgengrauen nahm.
An diesem Abend hatte er einen weiteren Meilenstein passiert.
Bevor Percy Jenny in Hampstead zurückließ, hatte er ihr das
Versprechen abgerungen, daß sie am nächsten Sonntag nach Crystal
Palace kommen würde. »Wir essen zusammen mit Herbert und Maisie zu
Mittag«, sagte er. »Ich hole dich am Bahnhof ab.«
Jenny zögerte nur einen Augenblick. »Na gut.«
Eastend. Graue, schmutzige Straßen ohne Hausnummern, die sich
unter dem trüben östlichen Himmel dahinzogen, bevor sie nach Meilen
und Meilen von Docks wie in einer Mündung
auseinanderdrifteten.
Jennys Familie lebte nun in einer kurzen, schmuddeligen
Häuserzeile, die von der Mauer eines großen Speicherhauses
abgeschnitten wurde. In den drei Zimmern im Erdgeschoß eines der
schäbigen Häuser wohnten ihr Bruder und seine Frau mitsamt den drei
Kindern sowie ihr Vater, der nicht mehr arbeiten konnte. Es war
immer dasselbe. Jenny gab ihm ein paar Shilling, ihrem Bruder mehr.
Mit der Sentimentalität des Trinkers sagte ihr Vater dann: »Siehst
du, nie vergißt sie ihre Familie.« Ihr Bruder arbeitete in den
Docks; an manchen Tagen fand er Arbeit, an manchen nicht.
Wenn die Frau ihres Bruders in ihrer derben Bluse und ihrem
verschlissenen Rock die Kleider sah, die Mrs. Silversleeves Jenny
gegeben hatte, so ordentlich gewaschen und gestärkt, und auf ihre
eigenen rauhen Hände mit den abgebrochenen Fingernägeln blickte,
wenn sie sich vorzustellen versuchte, in was für einer Art Haus
Jenny lebte, und ihre eigenen winzigen Zimmer mit den
fadenscheinigen Teppichfetzen damit verglich, war es ihr unmöglich,
keinen Neid zu verspüren. Und ihrem Bruder war es unmöglich, einen
Hauch von Bosheit aus seiner Stimme zu verbannen, wenn er sie
begrüßte: »Da ist ja meine Schwester Jenny. Respektabel wie
stets.«
Jenny warf es ihnen nicht vor, aber sie fühlte sich peinlich
berührt.
Sie wußte, daß es ihr nicht ganz gelang, ihren eigenen
Widerwillen zu verbergen. Der muffige Geruch nach zerkochtem Kohl;
der stinkende Abort auf dem Gang, den sich drei Familien teilten.
Sie hatte nicht vergessen, wie es war, so zu leben. Sie erinnerte
sich an ihre Großmutter Lucy mit den Stapeln von
Streichholzschachteln; sie erinnerte sich an Hunger, an ein Leben,
das noch weit schlimmer war. Aber vor allem erinnerte sie sich an
Lucys letzte drängende Worte: »Komm nie hierher zurück, Jenny.«
Respektabel? Für jemanden wie Jenny bedeutete Respektabilität
saubere Leintücher und Kleider; ein Mann mit einer festen Stelle,
Essen auf dem Tisch. Respektabilität war Moral, und Moral war
Ordnung. Respektabilität war Überleben. Kein Wunder, daß viele
Angehörige der Arbeiterklasse sie so hoch bewerteten.
Der Besuch an diesem Samstag war wie immer. Sie plauderten ein
wenig. Jenny hatte kleine Geschenke für ihren sechsjährigen Neffen
und seine jüngere Schwester gekauft und mit dem kleinsten Kind,
einem erst zweijährigen Mädchen, gespielt. Der Besuch hätte wie
alle anderen geendet, wäre nicht die bleiche, magere Frau gekommen,
gerade, als Jenny schon gehen wollte. Sie hatte strähniges,
ungekämmtes rotes Haar, und ihre Augen lagen vor Müdigkeit tief in
den Höhlen. Ein schmutziges Kind klammerte sich an ihre Hand und
heulte, weil es sich geschnitten hatte. Jenny überzeugte sich, daß
es kein tiefer Schnitt war, aber die Frau sagte, sie habe nichts,
um ihn zu verbinden. Sie fanden etwas, beruhigten das Kind und noch
zwei weitere Kinder der Frau, die hereinkamen. Alle sahen
unterernährt aus.
»Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben«, erklärte Jennys
Bruder, als sie fort waren. »Vier Kinder. Wir helfen ihr alle ein
bißchen, aber…«
»Was macht sie? Streichholzschachteln?«
»Nein. Man verdient mehr, wenn man in Heimarbeit Matratzen
stopft. Aber es ist schwere Arbeit, die einen auslaugt.«
Jenny küßte ihren Vater und die Kinder zum Abschied, und ihr
Bruder begleitete sie ein Stückchen. »Du hast es richtig gemacht,
Jenny«, sagte er nach einer Weile. »Du hast recht gehabt, nicht zu
heiraten. Du hast die Frau gesehen. Ihr Mann hatte eine gute Stelle
als Gipsarbeiter. Und jetzt ist er tot… Wenn mir je etwas passiert,
Jenny, würdest du dann ein Auge auf meine Kleinen haben? Ich meine,
sie nicht verhungern lassen? Weil du ja nicht verheiratet bist.
Könntest du das tun?«
»Ich denke, ich würde mein Bestes tun«, erwiderte sie
langsam.
Es war eine fröhliche Gesellschaft am nächsten Tag. Percy sah
glücklich aus, als er sie an der Crystal Palace Station abholte.
Sie trug einen hübschen kleinen Strohhut und ein reizendes
grünweißes Kleid, sehr einfach, aber aus ausgezeichnetem Stoff, den
sie von Mrs. Silversleeves bekommen hatte. Sie sah, daß Percy stolz
auf sie war.
Herbert und Maisie lebten in einem hübschen kleinen Haus, zwei
Stockwerke über einem Souterrain. Davor war ein kleines Stückchen
Rasen mit einer Ligusterhecke.
Jennys geübtes Auge sah sofort, daß im Haus jeder Zentimeter
poliert und glänzend war. Sobald sie Maisie sah, wußte sie, warum.
Die größte soziale Veränderung, die die industrielle Revolution mit
sich gebracht hatte, betraf die Vorstädte. Die vielen neuen
Betriebe, die wachsende Zahl von Banken,
Versicherungsgesellschaften und die immer umfangreichere Verwaltung
im viktorianischen und eduardischen London erforderten eine Armee
von Angestellten. Und da es nun Züge gab und die sich ausbreitenden
Vorstädte billiger und gesünder waren, pendelte diese enorm
gewachsene neue Schicht zu Zehntausenden in die Arbeit. Männer wie
Herbert Fleming, dessen Eltern oder Großeltern Ladenbesitzer oder
Handwerker gewesen waren, fuhren mit der Bahn ins Büro. Ihre
Frauen, die früher in der Nähe der Werkstatt gelebt oder im Laden
geholfen hatten, blieben zu Hause und hielten sich für etwas
Besseres als die Frauen, die arbeiteten.
Maisie war ziemlich klein. Sie hatte einen roten Mund und
kleine, spitze Zähne. Sie beschäftigte ein einziges Dienstmädchen,
das sich bei ihr zu Tode arbeitete, und noch ein Mädchen, das von
außerhalb zum Helfen kam. Auf jedem Sessel in ihrem Wohnzimmer
lagen Schonbezüge, auf der Fensterbank stand eine Topfpflanze, und
an einem Ehrenplatz an der Wand hing ein Gemälde von einem Berg,
das ihr Vater in Brighton gekauft hatte. Das Eßzimmer war eher
klein.
Es gab Brathuhn, unter theatralischen Verbeugungen von Herbert
tranchiert, mit den üblichen Beilagen.
Herbert und Maisie brüsteten sich damit, sehr gesellig zu
sein. Einmal im Monat gingen sie in ein Varietetheater. »Und am
nächsten Abend führt mir Herbert die ganze Vorstellung noch einmal
vor!« lachte Maisie.
»Sie mit ihrer Theatergruppe ist genauso schlimm«, erwiderte
Herbert fröhlich.
»Maisie hat eine hübsche Singstimme«, fügte Percy hinzu. Aber
ihre Lieblingsbeschäftigung im Sommer waren Fahrradtouren an
Sonntagnachmittagen.
Es war Jenny nicht entgangen, daß Maisies scharfe Augen von
Anfang an nachdenklich ihre Kleidung gemustert hatten. Als das
Hähnchen verspeist und ein Obstkuchen serviert worden war, hatte
sie offensichtlich entschieden, es sei Zeit für ein paar
Erkundigungen. »Nun«, meinte sie munter, »Percy erzählt, Sie leben
in Hampstead. Eine hübsche Gegend.«
»Ja«, erwiderte Jenny. »Ich denke schon.«
»Bevor wir dieses Haus gekauft haben, dachten wir auch daran,
dort zu leben«, erklärte Maisie. Kurz vor ihrer Heirat mit Herbert
hatte Maisie fünfhundert Pfund geerbt. Kein Vermögen, aber genug,
um das Haus zu kaufen und noch etwas übrigzubehalten. »Hat Ihre
Familie schon immer dort gewohnt?« fragte sie.
Plötzlich wurde es Jenny klar, daß sie nichts über sie wußten.
Percy hatte ihnen nichts erzählt. »Nein«, bekannte sie
wahrheitsgemäß.
Percy hatte zuvor noch nie jemanden zu Herbert und Maisie
mitgebracht. Ihm war klar, daß Jenny in Maisies Augen kein großer
Fang war, aber er war nicht auf den Gedanken gekommen, daß sie das
Gefühl haben würde, davon betroffen zu sein. Maisies
gesellschaftliche Ambitionen waren an und für sich bescheiden, und
mit ihrem Haus und ihrem beliebten Ehemann war sie im Grunde
zufrieden. Aber was würde es in ihrer Wohngegend für den Namen
Fleming bedeuten, wenn der Bruder ihres Mannes, der in der Nähe
lebte, unter seinem Stand heiratete? Sie hatte geplant, ein nettes
Mädchen für ihn zu finden, das ihnen allen Ehre machte. »Was hält
Sie dann in Hampstead?« fragte Maisie weiter, ohne sich beirren zu
lassen.
»Das frage ich sie auch immerzu«, schaltete sich Percy ein,
recht geschickt, wie er meinte. »Sie ist da oben so weit weg, daß
ich sie kaum zu sehen bekomme.« Und er beschrieb in allen
Einzelheiten, wie er an der Victoria Station den letzten Zug
verpaßt hatte, worüber er und Herbert herzlich lachten. Maisie
schwieg. Jenny fühlte sich jämmerlich. Wollte Percy vor seiner
Familie verbergen, was sie war?
Das Essen war beendet, und die beiden Brüder waren zusammen
nach draußen gegangen, als Maisie fragte: »Sie sind in Stellung,
nicht wahr?«
»Ganz richtig«, erwiderte Jenny.
»Ich habe es mir gedacht. Diese Kleider. Wir hatten niemals
jemanden in der Familie, der Dienstbote war. Auch in Herberts
Familie nicht.«
»Nein. Ich vermute, das werden Sie auch nie«, antwortete
Jenny.
»Oh. Das ist dann ja in Ordnung.«
Als Percy Jenny eine Stunde später im Park von Crystal Palace
einen Heiratsantrag machte, erwiderte sie: »Ich weiß nicht, Percy.
Ich brauche etwas Zeit.«
Esther Silversleeves wartete zwei Wochen, bis sie Jenny
ansprach, weil sie sich Sorgen machte. »Jenny, bitte sagen Sie mir,
was los ist.«
Obwohl Jenny ein paar Freundinnen hatte, gab es keine, bei der
sie wirklich das Gefühl hatte, sich anvertrauen zu können, daher
hatte sie die letzten beiden Wochen allein nachgedacht. Und je mehr
sie nachdachte, desto unmöglicher schien alles. Maisie und Herbert
haben es ihm mittlerweile wahrscheinlich ausgeredet, vermutete sie.
Wahrscheinlich wünscht er, er hätte mir den Antrag nie gemacht. Was
will Percy auch mit einem späten Mädchen, wie ich es bin, ohne
Geld? Maisie könnte ein junges Mädchen finden, das viel passender
für ihn wäre. Und es gab ja auch noch ihren Bruder und seine
Kinder. Ich mag arm sein, überlegte sie, aber solange ich arbeite,
kann ich seine Kinder vor dem Verhungern bewahren, wenn ihm etwas
passieren sollte. Und die liebe alte Mrs. Silversleeves braucht
mich wirklich.
»Es ist wirklich nichts«, erwiderte sie.
»Erzählen Sie mir von ihm«, sagte die alte Lady ruhig, und als
Jenny sie überrascht ansah, fuhr sie fort: »Ausgang am
Samstagabend, hübsch angezogen, dann am nächsten Sonntag mit einem
Strohhut unterwegs? Sie können mich doch nicht für so dumm halten,
daß ich das nicht bemerkt hätte.«
Also erzählte ihr Jenny zögernd ein wenig von Percy und seiner
Familie und von ihren Zweifeln. »Ich könnte Sie nicht verlassen,
Mrs. Silversleeves. Ich verdanke Ihnen so viel.«
»Kind«, sagte Esther sanft, »Sie verdanken mir nichts. So
lange werde ich nicht mehr leben, wissen Sie. Für mich wird schon
gesorgt. Und was diesen Percy betrifft – wenn er Sie liebt, wird
nichts, was diese Maisie sagt, ihn ernstlich berühren.«
»Aber es ist seine Familie.«
»Ach, zum Teufel mit seiner Familie!« Mrs. Silversleeves'
Ausbruch überraschte sie beide. »Ist das alles?«
Es war nicht alles. Jeden Tag suchten sie die Erinnerungen an
die Frau, die sie bei ihrem Bruder gesehen hatte, an das Elend
ihrer eigenen Kindheit, an Lucys letzte Worte heim. Es war immer
noch die nackte Realität. Eine Ehe mit Percy, ein paar Kinder
vielleicht – aber was, wenn Percy starb? Ein Leben wie die armen
Leute im Eastend? Vielleicht nicht ganz so schlimm, aber hart
genug. Ihr Bruder hatte das ganz recht gesehen. Sie hatte gut daran
getan, nicht zu heiraten. Sie hatte die Sicherheit bei den
Silversleeves, sie hatte ein paar Ersparnisse. Wenn Mrs.
Silversleeves starb, würde sie bestimmt eine gute Stelle finden.
Junge Mädchen heirateten gedankenlos, Frauen wie Jenny nicht,
obwohl sie sich so sehr danach sehnte, von Percy geliebt zu werden
und mit ihm zu leben, daß es weh tat.
Vor einer Woche hatten ihre Magenschmerzen begonnen, zweimal
war ihr übel gewesen. Sie war nicht überrascht, als Mrs.
Silversleeves den Arzt rief.
Harley Street war sozusagen die Savile Row der Medizinerzunft.
Wer hier seine Praxis hatte, war kein gewöhnlicher Arzt, sondern
ein hervorragender Spezialist.
Etwas furchtsam schritt Jenny in der nächsten Woche die Harley
Street entlang bis zu den heiligen Gemächern Mr. Algernon
Tyrell-Fords. Der Hausarzt der Silversleeves hatte nichts Ernstes
gefunden, aber er hatte Mrs. Silversleeves geraten, Jenny zu einem
Spezialisten zu schicken, nur um sicherzugehen. »Natürlich muß sie
gehen«, erwiderte Esther. »Schicken Sie alle Rechnungen an mich.«
Und obwohl Jenny protestierte, ließ Esther sie in der Kutsche
hinbringen.
Mr. Tyrell-Ford war ein großer, korpulenter und barscher
Gentleman. Er befahl ihr schroff, sich auszuziehen, und untersuchte
sie. »Ihnen fehlt nichts«, erklärte er offen. »Natürlich schreibe
ich an Ihren Hausarzt.« Als sie fast wieder angezogen war, bemerkte
er beiläufig: »Ich vermute, Sie wissen, daß Sie keine Kinder haben
können.«
»Aber warum nicht?« Sie starrte ihn entsetzt an.
Er zuckte nur die Achseln. Viele Worte an eine so unbedeutende
Frau zu verschwenden, die ohnehin nichts verstand, schien ihm
überflüssig. »So sind Sie eben geschaffen«, erklärte er.
Percy hatte ihr geschrieben, sie sollten sich an der Tower
Bridge treffen, und Jenny hatte zugestimmt. Es war fast eine
Erleichterung, daß sie nun wußte, was sie tun sollte. Mrs.
Silversleeves hatte gemeint, es würde Percy vielleicht nichts
ausmachen, aber Jenny wußte es besser. »Er hat mir gesagt, daß er
sich eine Familie wünscht. Ich kenne Percy. Wenn ich ihm jetzt die
Wahrheit sage, wird er erklären, es mache nichts aus. Aber es macht
ihm etwas aus.«
Percy wartete auf der Mitte der Brücke auf sie. Sie hakte sich
freundlich bei ihm unter, und sie gingen ein wenig die Tower Bridge
Road hinunter Richtung London Bridge Station, wo eine kleine
Teestube war. Er bestellte Tee. »Wie ist es nun, Jenny?«
»Es tut mir leid, Percy«, erwiderte sie langsam. »Ich fühle
mich so geschmeichelt, ich meine, wirklich geehrt. Du bist so ein
guter Freund. Aber ich kann einfach nicht.«
»Ist es etwas, das Maisie…?«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Das ist es nicht. Es liegt an
mir. Ich bin sehr gerne mit dir ausgegangen, Percy. Aber ich bin
glücklich, wo ich bin. Ich will nicht heiraten. Niemanden. Ich
glaube, wir sollten uns eine Weile lang nicht sehen.«
»Nun«, begann er, »wir können immer noch…«
»Percy, ich will dich nicht heiraten. Es tut mir leid.« Und
bevor er wußte, was geschah, lief sie hinaus.
Sie ging schnell über die Tower Bridge. Als sie etwa die
Hälfte überquert hatte, sah sie, daß von flußaufwärts ein Schiff
kam und die Brücke sich bald drehen würde. Sie eilte bereits die
nördliche Seite hinunter, als sie weit hinter sich einen Schrei
hörte. Percy war gerannt. »Jenny!« rief er und stürmte auf die
große Klappbrücke zu, doch ein stämmiger Polizist hielt ihn
auf.
»Tut mir leid, Junge, da können Sie jetzt nicht rüber. Die
Brücke geht hoch.« Und Percy sah, wie die Straße vor ihm
hochgeschwenkt wurde, als Arnold Silversleeves' mächtiger
Mechanismus in Gang gesetzt wurde. Es war ein ehrfurchtgebietender
Anblick, wenn die Tower Bridge gehoben wurde, was etwa zwanzigmal
am Tag geschah.
»Ich muß jetzt hinüber!« rief Percy.
»Das geht jetzt nur über den da«, sagte der Polizist und
deutete auf den eisernen Gehsteg über der Brücke. Percy hastete zu
dem südlichen Turm und erklomm in wilder Eile die über zweihundert
Stufen, lief keuchend über den eisernen Steg und die Treppe am
Nordturm hinunter. Aber Jenny war verschwunden.
Dreimal schrieb Percy an Jenny, bekam aber keine Antwort.
Maisie stellte ihn einem anderen Mädchen vor, aber daraus ergab
sich nichts. Wenn er aus seinem Fenster auf die fernen Hügel von
Hampstead sah, fühlte er sich immer noch traurig.
1911
Noch nie in ihrem Leben war Helen Meredith
so aufgeregt gewesen. Natürlich war sie es gewohnt, elegant
gekleidet zu werden. Wie die meisten Mädchen ihrer
Gesellschaftsklasse mußte sie selbst bei einem Spaziergang im Hyde
Park einen Mantel und weiße Handschuhe tragen. Sie war ein Kind und
wurde entsprechend gekleidet und behandelt. Aber nicht heute.
Voller Stolz bewunderte sie sich in ihrem langen weißen Kleid mit
der rotweißgrünen Schärpe im Spiegel. Sie war genauso gekleidet wie
Mummy. Und nebeneinander würden sie bei der Krönungsprozession der
Frauen mitmarschieren.
Die Herrschaft König Eduards hatte nur ein Jahrzehnt gedauert.
Nun sollte nach einer schicklichen Trauerzeit Eduards Sohn Georg V
zusammen mit seiner Gattin Mary gekrönt werden.
Die Bewegung der Suffragetten hatte beschlossen, am Samstag,
17. Juni, dem Wochenende vor dem königlichen Ereignis, eine eigene
Krönungsprozession abzuhalten, die riesig sein sollte. In den
letzten drei Jahren hatte diese Bewegung erstaunliche Fortschritte
gemacht. Manche Taktiken der Anhängerinnen waren unerhört, manche
eher raffiniert. Etwa der Trick, sich an öffentlichen Orten an
Geländern festzuketten, hatte ihnen nicht nur Bekanntheit gebracht,
sondern es ihnen auch ermöglicht, lange, wohlvorbereitete Reden zu
halten, während die Polizei ihre Ketten durchsägen mußte. Als sie
feststellten, daß man sie auf Bürgersteigen wegen
»Verkehrsbehinderung« verhaften konnte, gingen sie dazu über, mit
ihren Plakaten in den Rinnen am Straßenrand zu marschieren, wo die
Polizei ihnen nichts anhaben konnte. Als einige Mitstreiterinnen
Fenster einschlugen, weil die Regierung sich weigerte, ihre
Abordnungen zu empfangen, wurden sie verhaftet, und als sie in den
Hungerstreik traten, fanden viele Menschen das ungerechtfertigt.
Doch als es genau belegte Berichte über Polizisten gab, die
demonstrierende Frauen schlugen, oder über brutale Zwangsernährung
in den Gefängnissen, wurde die Öffentlichkeit unruhig. Man
arbeitete einen detaillierten Plan für eine gemäßigte Gesetzgebung
aus, und während die Regierung ihn prüfte, gab es einen
Waffenstillstand für alle illegalen Aktionen. Aber vor allem hatten
sie im Laufe der Jahre Unterstützer gewonnen. Die Bewegung, die ihr
Hauptquartier in der Strand und einen eigenen Verlag, die Women's
Press, in der Charing Cross Road hatte, war nun groß und
professionell. Im ganzen Land waren Zweigorganisationen aus dem
Boden geschossen. Und heute wollte die Frauenbewegung der ganzen
Welt demonstrieren, daß sie erwachsen geworden war.
»Komm«, sagte Violet. »Wir marschieren gemeinsam.« Helen war
sehr stolz, als sie zum Untergrundbahnhof Sloane Station
gingen.
Unmittelbar westlich des Buckingham-Palastes, etwas unterhalb
der Knightsbridge Road am östlichen Ende des Hyde Park lag das
Viertel Belgravia, das der reichen Familie der Grosvenors gehörte.
Cubitt hatte dort stuckverzierte weiße Häuserzeilen und Plätze
entworfen, groß und teuer, und am teuersten war der Belgrave
Square. Etwas weiter westlich lag das lange Rechteck des Eaton
Square mit den bescheideneren Häusern von Eaton Terrace, wohin
Violet nach Colonel Meredith' Tod gezogen war. Sloane Square lag an
der Grenze zwischen Belgravia und Chelsea, und hier war eine
Haltestelle der Untergrundbahn.
Als die beiden Suffragetten durch dieses vornehme Viertel
schritten, ernteten sie zum Teil mißbilligende Blicke. »Die Leute
starren uns an«, flüsterte Helen ihrer Mutter zu. Deren Antwort
vergaß sie nie.
»Wirklich?« Violet lächelte fröhlich. »Nun, mir macht das
nichts aus.«
So etwas wie diesen Umzug, der nun am Ende von Westminster
erschien, hatte Helen noch nie in ihrem Leben gesehen. Um die
Kritik, sie seien unweiblich, zu widerlegen, kleideten sich die
Suffragetten mit großer Sorgfalt. Alle Frauen, an die zehntausend,
trugen lange Kleider, zumeist weiß. Die einzige Ausnahme war die
Gestalt, die an der Spitze ritt, gekleidet als Jeanne d'Arc, die
sich die Suffragetten als Schutzheilige erwählt hatten. Es gab
Abordnungen und Festwagen aus ganz England, aus Schottland, Wales
und sogar aus Indien und anderen Teilen des Empires. Die vier
Meilen lange Prozession zog von der City am Big Ben und am
Parlament vorbei zum Hyde Park zu der großen Kundgebung in der
Albert Hall.
»Denk daran«, sagte Violet zu Helen, »wir sind für eine
gerechte Sache. Wir demonstrieren für unser Land und für eine
bessere Zukunft.«
Obwohl Helen diese Worte oder das erstaunliche Bild dieser
Tausenden von Frauen in weißen Kleidern mit Schärpen und Fahnen nie
vergaß, erinnerte sie sich vor allem an dieses außergewöhnliche
Gefühl, gemeinsam für eine Sache zu marschieren, Seite an Seite mit
ihrer Mutter, in eine neue Welt.
Es gab noch andere Anzeichen, daß ein neues Zeitalter anbrach.
Als im Todesjahr König Eduards der Halleysche Komet gesehen wurde,
betrachtete man das als rein wissenschaftlich interessantes
Ereignis. Bedeutsamer war vielleicht die Entwicklung des
Automobils. Es hatte relativ lange gedauert, bis die Engländer den
Verbrennungsmotor nutzten. Es gab mittlerweile ein paar Autobusse
und Taxis, aber in der Regel konnten sich nur die sehr Reichen
Automobile leisten. Die Firma Rolls Royce bestand erst seit einigen
Jahren, aber Penny besaß ein solches Auto, und am Samstag, den 17.
Juni 1911, holte er Edward Bull damit ab.
Die Familie Penny war den Vettern Bull immer nahe geblieben.
Dank der Heirat mit Gorham Doggets Tochter Nancy und des enormen
Erfolges seiner Versicherungsgesellschaft war Penny nun ebenso
reich wie Edward. Geplant war, daß sie Bulls Enkel, die beiden
jungen Meredith, im Charterhouse abholen und nach Bocton mitnehmen
sollten. Am nächsten Tag würde Penny sie zur Teezeit zurück in die
Schule bringen. Sogar der alte Edward Bull, der kaum je in einem
Auto gefahren war, war insgeheim aufgeregt über diesen Ausflug. Es
war ein schöner Tag. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von
zwanzig Meilen pro Stunde kamen sie vor dem Mittagessen in
Charterhouse an. Edward war einigermaßen verstimmt, als sie in der
Schule telefonisch benachrichtigt wurden, daß sie nach London
kommen sollten.
Auch die Jungen sahen enttäuscht drein; das Wochenende schien
verdorben. Doch Henry machte einen Vorschlag. Zweifellos war sein
Enkel Henry Meredith ein feiner Kerl, dachte Edward Bull, als der
Rolls Royce zwei Stunden später London erreichte. Bull wußte, was
Henry in der Schule durchgemacht hatte. Oftmals hatte er sich
prügeln müssen, um seinen kleineren Bruder gegen die
erbarmungslosen Angriffe seiner Mitschüler zu verteidigen, wenn der
Name oder das Foto ihrer Mutter in der Zeitung erschien.
Letztendlich hatte Henry erklärt, er unterstütze selbst die Sache
der Suffragetten – was er nicht im mindesten tat –, und jeder im
Haus, dem das nicht passe, müsse zuerst gegen ihn antreten. Da er
nun groß und kräftig war, waren wenige geneigt, sich mit ihm
auseinanderzusetzen.
»Ich respektiere Mutter, weil sie an ihre Sache glaubt«, sagte
Henry zu seinem Großvater. »Vielleicht sollten Frauen wirklich das
Wahlrecht haben. Ich verabscheue die Methoden der Suffragetten,
aber wenn Mutter sagt, auf die höfliche, altmodische Art hätten die
Frauen nichts erreicht, kann ich das nicht ableugnen. Und nun
unterstütze ich sie, weil sie meine Mutter ist. Wenn ihr ohnehin
nach London fahren müßt, könnten wir dann nicht mit? Wir würden
dann morgen mit dem Zug zurück zur Schule fahren. Wir haben die
Zeitungen gesehen, Großvater, deswegen wissen wir, daß Mutter heute
demonstriert. Warum überraschen wir nicht Helen? Wir könnten alle
zusammen in eine Teestube gehen.«
Helen taten die Füße weh, als sie und ihre Mutter am frühen
Abend nach Hause kamen. Aber sie verspürte auch ein Gefühl des
Triumphes. Sie war überrascht, als sie aus der Tür des Salons eine
vertraute Stimme hörte. »Geh in dein Zimmer, Helen«, flüsterte ihre
Mutter, aber sie gehorchte nicht und spähte durch die Tür.
Ihr Großvater und Henry waren da. Edward Bull sah grimmig
aus.
»Du hast Helen, ein unschuldiges Kind, als Suffragette
verkleidet und zu einer Demonstration mitgenommen, die sich
womöglich zu einem Aufstand entwickelt hätte?«
»Die Veranstaltung war vollkommen friedlich.«
»Es ist vorgekommen, daß solche Aufmärsche nicht friedlich
geblieben sind. Jedenfalls ist das kein Ort für ein Kind.«
»Willst du mir sagen, daß ich das Thema Frauenwahlrecht vor
meiner eigenen Tochter nicht erwähnen soll?«
»Ich sehe keine Notwendigkeit«, erwiderte Bull. »Sie kann das
eines Tages selbst entscheiden. Aber ich muß dir sagen, Violet,
wenn du das Kind weiterhin so mißbrauchst, werde ich es mit nach
Bocton nehmen.«
»Ich würde dich verklagen, Vater.«
»Und ein Richter würde mit mir übereinstimmen, daß du kein
geeigneter Vormund für ein Kind bist.«
»Das ist absurd! Henry, sag etwas.«
»Mutter, wenn es je zu so etwas kommt, werde ich gegen dich
aussagen. Es tut mir leid.«
Helen bebte vor Schreck. Schließlich hob sie jemand hoch und
trug sie nach oben ins Kinderzimmer.
So einen Morgen hatte es bei Tom Brown seit Menschengedenken
nicht gegeben. Und das allerschlimmste – Lord St. James persönlich
war in einem der Anprobezimmer. Und wenn es ihm einfiel
herauszukommen?
Eine Lady war in diese Hallen eingedrungen. Sie war sehr alt
und gewiß sehr respektabel. Ganz in Schwarz gekleidet und auf einen
Ebenholzstock gestützt. Sie hatte nach Mr. Fleming gefragt, der an
diesem Morgen zufällig einige Hosen abliefern sollte. »Glauben Sie,
wir könnten sie in einem Anprobezimmer verstecken?« flüsterte der
Verkäufer.
»Nein«, erwiderte Mr. Brown ruhig. »Bieten Sie ihr einen Stuhl
an, und sorgen Sie dafür, daß Seine Lordschaft vollständig
angezogen ist, bevor er aus dem Anprobezimmer kommt.«
Es war für Esther Silversleeves keine leichte Entscheidung
gewesen. Sie hatte Jennys Entschluß, Percy fortzuschicken,
respektiert, und als die Monate verstrichen und Percys Briefe
aufhörten, dachte sie, das sei eben Schicksal. Sie hatte Jenny im
Sommer eine Woche lang nach Brighton in den Urlaub geschickt, um
sie aufzuheitern, aber vor einer Woche war wieder ein Brief
gekommen, und das Mädchen war sichtlich aus dem
Gleichgewicht.
»Er ist von Percy«, sagte Jenny. »Er sagt, er hat ein Jahr
lang gewartet, bevor er wieder geschrieben hat, aber er würde mich
gerne wiedersehen. Er schreibt, daß er krank war.«
»Sie könnten sich doch mit ihm treffen, nicht wahr?«
»Oh, Madam, ich glaube einfach nicht, daß ich es ertragen
könnte.« Und ihr waren die Tränen gekommen.
Esther Silversleeves wollte seit einiger Zeit schon ins
Westend fahren. Vor zwei Jahren hatte ein Amerikaner namens
Selfridge in der Oxford Street ein großes Warenhaus eröffnet. In
jüngeren Jahren war Esther immer gerne vor Weihnachten in das große
Kaufhaus Harrod's in Knightsbridge gegangen. Selfridge's machte ihm
nicht nur Konkurrenz, sondern hatte so viele Abteilungen, darunter
ein Restaurant, daß man dort den ganzen Tag verbringen konnte. Sie
hatte ihren Kutscher angewiesen, sie dort um zehn Uhr abzusetzen
und um drei Uhr abzuholen, und kaum war er fort, hatte sie die
Gemächer Tom Browns aufgesucht. Weder sie noch Lord St James
wußten, wer der andere war, als er aus dem Anprobezimmer kam, ihr
einen belustigten Blick zuwarf und sich auf den Rückweg in das
Junggesellenviertel Albany machte, wo er nun lebte, nahe beim
Piccadilly.
Als Percy um halb zwölf kam, war er höchst erstaunt, Mrs.
Silversleeves anzutreffen, die er nie zuvor gesehen hatte. Auf ihre
Bitte hin begleitete er sie zurück zu Selfridge's und ging mit ihr
in das Restaurant, wo sie ein Stückchen Kuchen und eine Tasse Tee
bestellte. Sie erkundigte sich nach seiner Gesundheit und fragte
ihn, ob ihm immer noch etwas an Jenny lag. Zufrieden mit seinen
Antworten erklärte sie, warum sie gekommen war. »Jenny selbst, Mr.
Fleming, hat keine Ahnung, daß ich Sie aufgesucht habe, und ich
will nicht, daß sie es erfährt. Aber ich werde Ihnen etwas sagen.
Was Sie mit dieser Mitteilung anfangen, ist natürlich ganz Ihre
Sache.«
Ein wenig sanfte Überredung von seiten Mrs. Silversleeves' war
nötig, bevor Jenny der Begegnung zustimmte. Der zweite Brief, in
dem stand, er würde aufgrund seiner Gesundheit den ganzen Winter
über fortgehen, gab den Ausschlag. »Ich glaube, es wäre eine
Gefälligkeit, sich mit ihm zu treffen«, sagte Esther, als Jenny sie
um Rat fragte. Und so saß sie nun, zwei Wochen später, in einem
hübschen kleinen Cafe namens Ivy Percy gegenüber und trank Tee. Sie
stellten einander die üblichen Fragen. Sie war in Brighton gewesen.
Mrs. Silversleeves ging es gut. Maisie und Herbert bereiteten in
Maisies Theatergruppe eine Weihnachtspantomime vor. Erst nach der
ersten rituellen Tasse Tee sprach Jenny das große Thema an. »Du
gehst also fort.«
»Ja. Der Arzt hat gesagt, ich sollte es tun wegen meines
Hustens. Man hat befürchtet, daß es Tuberkulose sein könnte.« Der
Fluch der Zeit. »War es dann doch nicht, aber der Arzt hat gemeint,
wenn ich wirklich gesund werden will, sollte ich im Winter
irgendwohin gehen, wo es warm ist.«
»Wie die reichen Leute, Percy. Die gehen nach
Südfrankreich.«
»Ich weiß. Es ist lustig, aber genau das mache ich. Wenn man
dort in eine kleine Pension geht, ist es anscheinend viel billiger
als in England. Und ich habe auch ein wenig gespart. Als
Junggeselle habe ich ja nichts, wofür ich das Geld ausgeben könnte.
Und so geht es nächste Woche zu einem Fünf-MonateUrlaub nach
Südfrankreich!«
»Du wirst lauter französische Mädchen kennenlernen, Percy.«
Jenny brachte ein Lächeln zustande. »Du wirst eine Französin als
Ehefrau mitbringen.«
Percy runzelte die Brauen. »Da bin ich nicht so sicher, Jenny.
Du hast ganz recht gehabt, daß du mich abgelehnt hast. Als man
diese ganzen Untersuchungen mit mir angestellt hat, ist noch etwas
herausgekommen. Ich kann heiraten – und all das – , aber Kinder
wird es wohl nie geben. So ist es.«
Es war dunkel, als Edward Bull aus der Loge kam und von
Walbrook Richtung St. Paul's ging. Er wollte die Nacht in seinem
Club verbringen. In London hatte es immer viele Freimaurer gegeben.
Manche fanden ihre Geheimrituale, Initiationsriten und geheime
Mitgliedschaft unheimlich, aber Edward Bull war nie dieser Ansicht
gewesen. Er war als junger Mann Freimaurer geworden, hatte dadurch
viele Geschäftsleute kennengelernt und betrachtete das Ganze als
eine Art Club, zwar mit einigen schrulligen und mittelalterlichen
Regeln, aber hauptsächlich mit wohltätigen Werken befaßt. Ein
Treffen seiner Loge hatte ihn an diesem Frühlingstag im Jahr 1912
nach London gebracht. Er bog in die Watling Street ein, kaufte sich
eine Zeitung und sah die Schlagzeile.
Er fand Violet in einer Zelle. Sie war erstaunt, ihn zu sehen.
»Ich habe versucht, die Rechtsanwälte zu benachrichtigen«, erklärte
sie, »aber als man mich schließlich hierhergebracht hat, waren die
Büros schon zu. Du mußt Kaution für mich zahlen, Vater. Ich muß
nach Hause zu Helen.«
»Wie ich höre, hast du Fenster eingeschlagen«, erwiderte er
ruhig.
Die Kampagne der Suffragetten, Fenster einzuschlagen,
Golfplätze zu beschädigen und sogar einzelne Brandstiftungen zu
begehen – allerdings so ausgewählt, daß niemand verletzt wurde –,
hatte im letzten November begonnen, nachdem die liberale Regierung
mit Unterstützung des konservativen Königs Georg alle
Reformvorschläge ignoriert und schließlich das Faß zum Überlaufen
gebracht hatte, indem Arbeiter mehr Stimmrecht erhielten, Frauen
jedoch keines.
Violet war bisher nicht an solchen Aktionen beteiligt. Doch
als sie auf dem Rückweg von einer Kundgebung sah, wie Polizisten
äußerst grob mit einer Frau umsprangen, die, eher vorsichtig, eine
Fensterscheibe einschlug, hatte sie in einem Wutanfall selbst mit
ihrem Regenschirm gegen die Scheiben gedroschen. Das hatte für eine
Verhaftung gereicht.
»Ich bin sicher, du könntest die Polizei überreden, mich über
Nacht gehen zu lassen«, drängte Violet.
»Ja, ich denke schon. Aber ich tue es nicht, Violet. Ich hole
Helen jetzt ab. Es tut mir leid, aber so etwas kann man nicht
zulassen. Helen kommt mit mir nach Bocton.«
»Ich komme sofort nach und hole sie zurück!« schrie sie.
»Das bezweifle ich. Ich halte es für viel wahrscheinlicher,
daß du ins Gefängnis gehst.« Es erwies sich, daß er recht hatte.
Sie bekam drei Monate.
Die Hochzeit von Percy Fleming und Jenny Ducket – obwohl zu
Percys Erstaunen Dogget auf der Heiratsurkunde stand – fand im
Sommer statt. Zugegen waren Herbert und Maisie, die gar nicht
erfreut war, und Mrs. Silversleeves. Ihren Vater oder Bruder hatte
Jenny nicht eingeladen. Auf besondere Bitte seiner Mutter kam ihr
Sohn, Rechtsanwalt Silversleeves, und übernahm die Rolle des
Brautführers.
Die Überraschung kam, als die alte Lady schon fort war. Mr.
Silversleeves nahm das Paar beiseite. »Meine Mutter hat mir Ihr
Hochzeitsgeschenk anvertraut«, erklärte er, »und ich soll es Ihnen
persönlich überreichen.« Es war ein Scheck über sechshundert
Pfund.
»Aber… ich kann nicht!« rief Jenny. »Ich meine, nur weil ich
meine Arbeit getan habe…«
»Sie besteht darauf, daß Sie es nehmen«, erwiderte er. »Das
sind meine Anweisungen.«
Jenny und Percy kauften sich ein kleines Haus in Crystal
Palace.
Eine noch größere Überraschung für sie beide kam im kommenden
Frühjahr. Zuerst sagte Jenny nichts. Nach einem weiteren Monat ging
sie ein wenig beunruhigt zum Arzt. Als sie ihm sagte, das sei
unmöglich, versicherte er ihr das Gegenteil. Als sie am Abend Percy
fragte, fing er an zu lachen. Er wußte, daß er sie wegen seiner
Zeugungsunfähigkeit angelogen hatte, aber das andere hatte er nicht
vorgesehen, und im Sommer wurde ihr Sohn geboren.
Der hervorragende Mr. Tyrell-Ford in der Harley Street hatte
dummes Zeug erzählt.