DER HEILIGE
1170
EIN JUNIMORGEN IM Palast von Westminster: In dem langen Saal
neben der großen Königshalle ging es sehr ruhig zu. An der Tür
unterhielten sich ein paar Höflinge leise murmelnd miteinander. In
der Mitte des Raums saßen sieben Schreiber an ihren Pulten;
Federkiele kratzten leise auf Pergament; die Tinte wurde von den
Mönchen der Westminsterabtei zur Verfügung gestellt. Vom hinteren
Ende des Raumes kam ein merkwürdiges Klick-Geräusch. Dort saßen
einige der wichtigsten Männer von England an einem Tisch und legten
Damespielsteine: Wie ernst sie aussahen, der Schatzkanzler, der
Justitiar, der Bischof von Westminster, Master Thomas Brown und
ihre Sekretäre.
Der Palast von Westminster. In dem Jahrhundert nach der
Eroberung hatte sich die kleine Insel Thorney zu einer königlichen
Plattform neben der Themse gemausert. Sie war von einer Mauer
umgeben. Mehrere Brücken führten über den Tyburn-Fluß, der um sie
herumfloß. Die große Abtei von Eduard dem Bekenner dominierte den
Ort noch immer, doch heute stand neben ihr auch eine bescheidene
normannische Kirche, St. Margaret.
Vor einigen Jahren hatte der Papst den Errichter der Abtei
heiliggesprochen. Wie Frankreich und andere Länder hatte nun auch
England einen königlichen Heiligen. Sein in das Zentrum der Abtei
verlegtes Grab wurde zu einem Heiligenschrein, Westminster zum
spirituellen Mittelpunkt des Königreichs erklärt.
Doch unten am Flußufer hatte sich am meisten verändert, denn
dort stand die große Halle. Westminster Hall, von Wilhelm II.
»Rufus« errichtet, war eine der größten Königshallen in Europa. Das
massive Holzdach des über siebzig Meter langen Baus wurde von zwei
zentralen Säulenreihen gestützt. Neben der großen Halle befanden
sich die Innenhöfe und Säle sowie der Wohnbereich des
Königspalastes. Zwar reiste der König normalerweise in seinem
ausgedehnten Reich viel herum, doch seine Verwaltung konzentrierte
sich immer mehr an diesem Ort. Und von all den verschiedenen
Abteilungen war keine bekannter oder gefürchteter als das Gericht,
das eben tagte.
»Dann eben hundert.« Master Thomas Brown sprach leise. Ein
Sekretär bewegte einen der Steine. Neben dem Thron war dieser
Tisch, der große Exchequer, das wichtigste Möbelstück im
Königreich. Er war gut drei Meter lang und fast zwei Meter breit;
ein vier Finger breiter Rand verlieh ihm das Aussehen eines
Spieltisches. Auf diesem Tisch lag ein schwarzes Tuch, das von
weißen Linien in Quadrate aufgeteilt war und dem Gericht seinen
Namen gegeben hatte.
Je nachdem, auf welchem Quadrat ein Stein lag, bedeutete so
ein Damestein tausend Pfand oder auch nur zehn oder sogar auch nur
einen Silberpenny, den ein einfacher Arbeiter als täglichen Lohn
erhielt. Das karierte Tuch war nichts weiter als eine Art Abakus,
eine einfache Rechenhilfe, auf der die Einkünfte und Ausgaben des
Königreichs festgehalten und überblickt werden konnten. Zweimal im
Jahr, im Frühling an Ostern und im Herbst am Michaelitag, kamen die
Sheriffs, die Verwalter der Grafschaften von England, zur
Abrechnung zum Exchequer.
Zuerst wurden in einem Vorzimmer die in Säcken von ihnen
herbeigeschafften Silberpennies auf ihre Güte getestet und gezählt.
Wenn sie gut waren, wogen zwanzig Dutzend Pennies ein Pfand. Da die
Normannen den englischen Penny als esterlin bezeichneten,
was in Lateinisch sterlingus hieß, wurde die Zähleinheit
unter dem Begriff Pound Sterling bekannt.
Als nächstes bekam der Sheriff ein Kerbholz, einen
Haselnußzweig, auf dem mit Kerben festgehalten war, was er
eingezahlt hatte. Damit jede Partei ein Dokument hatte, wurde der
Stock kurz unter dem Griff der Länge nach aufgeschlitzt; die beiden
Teile eines solchen Kerbholzes hießen foil und
counterfoil. Das längere Stück, das den Griff mit einschloß,
verblieb beim Sheriff und zeigte ihm die Menge seiner eingezahlten
Summe an; es wurde auch als stock bezeichnet. So gelangten
im zwölften Jahrhundert die Begriffe Exchequer, Sterling,
Counterfoil und Stock in die englische
Finanzsprache.
Nachdem der Schatzkanzler an dem großen Tisch
zufriedengestellt war, wurden die Transaktionen der Sheriffs von
den Schreibern festgehalten. Diese fingen damit an, mit einem
Griffel auf mit Wachs überzogenem Holz eine erste Fassung zu
erstellen. Diese Fassung wurde dann auf Pergament kopiert.
Pergament war damals ausreichend vorhanden und billig. Nur das
feinste Pergament, das aus sorgfältigst gesäuberten und gedehnten
Kälberhäuten hergestellt wurde, war seltener und teurer; es wurde
für Kunstwerke wie etwa Buchillustrationen verwendet. Für
gewöhnliche Dokumente gab es einen nahezu unbegrenzten Vorrat an
Häuten von Kühen, Schafen oder Eichhörnchen. Im Schatzamt von
England war das Pergament billiger als die Tinte.
Das englische System der Erfassung solcher Daten wies noch
eine Besonderheit auf, die nur auf der Insel zu finden war. Anfangs
wurden die Pergamentaufstellungen gefaltet und zu Büchern
zusammengelegt. Als Wilhelm der Eroberer sein neues Königreich
vermessen hatte, waren die mächtigen Bände seines Domesday-Book
entstanden. Doch in späteren Generationen beschlossen die
englischen Datenverwalter, die Besitztümer der Krone aufgerollt in
Zylinderform festzuhalten, und deshalb wurden diese Unterlagen
nicht als Bücher, sondern eben als Rolls, oft auch als
Pipe Rolls bezeichnet.
Die Münzen wurden zu dieser Zeit noch in der königlichen
Schatzkammer aufbewahrt, dem thesaurus, wie sie die
lateinisch sprechenden Sekretäre nannten, die sich in Winchester,
der alten Reichshauptstadt König Alfreds, befand. Doch bevor sie
dorthin geschafft wurden, lagerten sie in der Pyx-Kapelle gleich
neben der Westminsterabtei.
Auf dem Gang zum Exchequer lehnte ein
stiller junger Mann an der Wand, ein vielversprechender Kleriker
namens Pentecost Silversleeves. Aber warum war sein Gesicht so
bleich an diesem warmen Juni tag?
Er war ein sonderbarer junger Mann. Sein biblischer Name war
nicht ungewöhnlich, denn im Zuge des religiösen Wiedererwachens,
das London in den letzten Generationen erfaßt hatte, waren solche
Namen sehr beliebt. Pentecosts Vater, Henris Enkel, der inzwischen
das Oberhaupt der Familie Silversleeves war, hätte einen
normannischen Namen vorgezogen, doch eine gewisse verwitwete Tante,
die in einen Nonnenorden eingetreten war, hatte klargestellt, daß
sie ihr Erbe nur einem Pentecost vermachen würde. Also wurde er
Pentecost genannt.
Sein Äußeres war typisch für die Familie: dunkle Haare, eine
große, lange Nase und traurig blickende Augen. Dazu kamen
eingefallene Schultern, Hüften, die breiter waren als die Brust,
und schwache Glieder. Aber diese körperlichen Mängel wurden
wettgemacht durch wahrhaft erstaunliche geistige Gaben.
Als Master Thomas Brown die jungen Kleriker geprüft hatte, war
es Silversleeves untersagt worden, an diesem Test teilzunehmen,
denn er konnte sämtliche Rechenaufgaben ohne die Hilfe eines Abakus
und ohne Schreibtafel lösen. Er kannte den gesamten Inhalt der Pipe
Rolls auswendig.
Solche Talente hätten ihn eigentlich zu einem Gelehrtendasein
befähigen sollen, doch er wollte nie lernen. Seine Eltern hatten
ihn zuerst in die Schule bei St. Paul's geschickt, dann auf eine
andere, dann auf eine kleinere Schule bei St. Mary-le-Bow. Auf
jeder hatte er nur gerade das Nötigste gelernt. Seine Lehrer
beschwerten sich stets: »Er strengt sich einfach nicht an, weil ihm
alles zufliegt.«
Schließlich schickten ihn die Eltern nach Paris. Dort lebten
die bekanntesten Gelehrten Europas. Bis vor kurzem hatte der
berühmte Abelard dort unterrichtet, bis seine Affäre mit Heloise
dazu führte, daß er in Ungnade fiel. Englische Landsleute hatten in
Paris studiert und waren danach zu Amt und Würden gekommen, bevor
sie sich ganz den Wissenschaften widmeten. Jemand, der in Paris
seine Studien beendet hatte, durfte sich Magister, also
Master nennen. Doch der junge Silversleeves beendete seine Studien
nie. Er reiste noch kurz nach Italien, dann kehrte er wieder heim.
Niemand nannte ihn Master.
Was hatte er gelernt? Er beherrschte das fundamentale Trivium:
Lateinische Grammatik, Logik und Rhetorik. Dies war die Grundlage
für die gebildeten Schichten in Europa, deren Verkehrssprache noch
immer Latein war. Er hatte auch das Quadrivium – Musik, Arithmetik,
Geometrie und Astronomie – studiert, wußte also etwas von Euklid
und Pythagoras, konnte die Konstellationen der Gestirne benennen
und glaubte, daß die Sonne und die Planeten sich in einem komplexen
Muster um die Erde drehten. Er konnte Textstellen aus der Bibel in
Lateinisch zitieren. Er hatte ausreichende Kenntnisse im
Rechtswesen, um einem Abt nachzuweisen, wieviel Geld er dem König
schuldete. In Italien hatte er auch Vorlesungen zur Anatomie
besucht. Plato und Aristoteles waren keine Unbekannten für ihn.
Doch alles in allem kannte er eben gerade das Nötigste und nichts
darüber hinaus. Aber wenn er schon kein Magister war, dann immerhin
ein Kleriker, ein Mann, der der Kirche diente.
In einer Welt, in der nur wenige lesen konnten, lag die
gesamte Bildung in den Händen der Kirche. Es war üblich, daß ein
junger Mann, der seine Ausbildung beendet hatte, sich eine
Mönchstonsur zulegte und zu dem niedrigsten Weihegrad zugelassen
wurde. Technisch gesehen war der junge Silversleeves ein Diakon.
Als solcher stand es ihm frei zu heiraten, ein Geschäft zu
eröffnen, nach seinem Gutdünken zu handeln. Er konnte sämtliche
Privilegien der Kirche in Anspruch nehmen und später dann die
höheren Weihen empfangen.
Die Kirche, die das christliche Erbe des alten Römischen
Reiches angetreten hatte, besaß breiten Einfluß und ein umfassendes
Netzwerk in ganz Europa. Und ob sie nun heilig oder korrupt waren,
ob es sich um Gelehrte handelte oder ob sie kaum das Vaterunser in
Lateinisch rezitieren konnten – sämtliche gebildeten Männer der
Gesellschaft hatten der Kirche ihre Bildung zu verdanken. Selbst
wenn es gelegentlich Spaltungen gab, selbst wenn in diesem Moment
der deutsche Kaiser versuchte, einen eigenen Anwärter als
Konkurrenz auf den Heiligen Stuhl aufzustellen, blieb doch die
Tatsache bestehen, daß der Papst ein direkter Nachfolger des
heiligen Petrus war. Er konnte Lehnsherren ermahnen. Seine Bischöfe
verkehrten mit den wichtigsten Adligen im Land. In einer feudalen
Gesellschaft, in der es sehr schwierig war, seinen Status zu
verändern, konnte ein kluger Mann, selbst der Sohn eines einfachen
Leibeigenen, durch die Kirche an die Spitze der Gesellschaft
gelangen.
Diese besondere Beziehung zwischen dem Staat und der
gebildeten Schicht der Kirchenmänner wies noch ein weiteres Element
auf. Jahrhundertelange Schenkungen hatten dazu geführt, daß die
Kirche in ganz Europa das meiste Land besaß. Und obwohl eine
Generation nach der Eroberung der Großteil des Landes in England
feudalen Familien überlassen worden war, gab es noch genug
Kirchenland, das den oberen Klerikern dieser Zeit gewaltige
Einkünfte bescherte. Wenn der König seine Freunde oder treue Diener
belohnen wollte, machte er sie zu Bischöfen. Einige Bistümer
gelangten auf diese Weise an Männer von inniger Frömmigkeit und
Würde, andere jedoch an große königliche Diener oder Staatsmänner.
Der momentane Bischof von Winchester war sowohl ein Verwandter des
Königs als auch ein Staatsmann. Königliche Beamte hatten oft die
Sitze in Salisbury, Ely und mehreren anderen Grafschaften inne.
Zahlreiche Beamte bezogen Einkünfte aus niedrigeren Ämtern –
Erzdiakonien, Domherrenpfründen und reichen Ländereien. In dieser
Zeit war der Kanzler von England und der Erzbischof von Canterbury
ein und dieselbe Person, Thomas Becket, ein treuer Diener seines
Königs. Eines Tages würde ja vielleicht auch der junge
Silversleeves die Bischofswürde erhalten.
Warum war er nur mit ihnen mitgegangen?
fragte sich Pentecost. Mochte er sie überhaupt? Nein, aber es waren
die jungen Londoner Lebemänner, Sprößlinge führender
Kaufmannsfamilien, wie es die seine auch war. Einmal im Monat zogen
sie los. Schwarze Kapuzen, Dolche, Schwerter. Einmal waren sie zu
den Bordellen auf der anderen Seite des Flusses gezogen, hatten
eine Hure genötigt, es ihnen allen ohne Geld zu machen. Wie sie da
geflucht hatte! Oder der Bauer, den sie im Wald aufgegabelt und dem
sie in seinem Karren eine wilde Fahrt geliefert hatten. Schließlich
hatten sie den Karren in einen Bach gelenkt und ihn dort
steckengelassen. Wie gern sie sich dieses Späßchen immer wieder
erzählten! Es war ja nichts Schlimmes dabei. All die jungen Herren
spielten solche Streiche. Das war einfach so in dieser Zeit.
Niemand nahm es allzu ernst, und je wagemutiger das Ganze, um so
besser.
Aber warum machte er überhaupt mit?
»Du siehst aus wie ein Mädchen!« hatten sie ihn in der Schule
immer gehänselt. Sie hatten ihn verlacht. Er wollte es ihnen
zeigen. Nun gehörte er zu der wüstesten Gruppe. Niemand ließ sich
je erwischen. Bis letzte Nacht.
»Wir müssen heute etwas Besonderes anstellen«, hatte Le Blond
gemeint. »Schließlich ist heute Krönungstag.«
Die Krönung. Es war schon ein absonderliches Geschäft gewesen,
diese Krönung. Vielleicht wäre er nicht mehr mit seinen Freunden
ausgegangen, wenn sie nicht so sonderbar gewesen wäre. Sie waren
alle völlig betrunken. Sonst hätten sie doch nie das falsche Haus
erwischt. Es war nicht der Bäcker, sondern der Waffenschmied. Ein
Bursche mit einem Kettenhemd, stark wie ein Pferdeschmied. Welch
einen Kampfer ihnen geliefert hatte! Sie wollten ja nur das Hemd
des Kerls als Trophäe mitnehmen. Und dann der Lehrling. Dieser
Junge mit seinen weit aufgerissenen Augen. Mit einem Messer. Und
dann… er konnte es nicht ertragen, weiter daran zu denken.
Niemand hatte ihn gesehen. Unter großem Geschrei und Gezeter
waren sie davongerannt und hatten sich schließlich getrennt. Sicher
hatte niemand ihn gesehen.
Die Krönung, die am Vortag, dem 14. Juni 1170, in der
Westminsterabtei stattgefunden hatte, war aus zwei Gründen
bemerkenswert. Zum einen war der junge Mann, der gekrönt wurde, gar
nicht der König.
Nach den Söhnen des Eroberers, Rufus und Heinrich I. und einem
Zeitraum der Anarchie, in dem die Nachfahren in der weiblichen
Linie um die Vorherrschaft kämpften, war die englische Krone auf
das Haupt eines außergewöhnlichen Mannes gelangt. Heinrich II.
hatte England und die Normandie durch seine Mutter, die Enkelin des
Eroberers, geerbt. Durch eine spektakuläre Heirat gelangte er in
den Besitz der riesigen Ländereien von Aquitanien in
Südwestfrankreich einschließlich des reichen Weinanbaugebiets
Bordeaux. Von seinem französischen Vater erbte er die fruchtbare
Region Anjou. So war der König von England der Herrscher eines
Feudalreiches, das sich von der europäischen Atlantikküste Spaniens
bis nach Schottland erstreckte.
Von seinem Vater hatte er noch zwei weitere Dinge: den
sonderbaren Familiennamen, der von einem Vorfahren stammte, der,
wie es hieß, seinen Helm anstatt mit einer Feder mit einer Blume zu
verzieren pflegte, und zwar mit einem Ginsterzweig; plante à genet
hieß dieser in Frankreich, in Englisch wurde daraus Plantagenet;
und das Temperament der Familie Plantagenet. Er war ausgesprochen
intelligent und scharfsichtig und ständig unterwegs in seinem
Bestreben, sein Reich zu sichern und auszudehnen. Er war ein
hervorragender Verwalter. Er veränderte das englische Rechtswesen;
seine ausgebildeten Richter boten seinen Untertanen ein königliches
Gericht anstatt der unberechenbaren Gerichte der Feudalherren. Doch
seine Verwaltung war auch sehr streng. In eben diesem Jahr zitterte
die Hälfte der Sheriffs von England vor den Beamten des Schatzamts,
die unangekündigt bei ihnen aufzutauchen pflegten, um sich Einblick
in ihre Geschäfte zu verschaffen.
Doch die Plantagenets hatten auch noch eine andere Seite.
Selbst gemessen an der Norm dieser gefährlichen Zeit waren sie
ruchlos, böse und bekannt für ihre schrecklichen Wutanfälle.
König Heinrich II. hatte vier ungestüme Söhne. Um die
Thronfolge zu sichern, hatte er seine Familie und sein Gefolge in
die Westminsterabtei gerufen und vor ihren Augen seinen ältesten
Sohn krönen lassen, während er selbst noch durchaus lebendig war.
Seine Untertanen hofften, daß dieser Schachzug des Königs etwas
Ordnung in seine Teufelsbrut bringen würde.
Und noch etwas Sonderbares hatte diese Krönung: Thomas Becket,
Erzbischof von Canterbury, der Priester, der diese Zeremonie
durchführen sollte, war nicht anwesend. Er hatte das Land
fluchtartig verlassen.
Becket, dachte Silversleeves. Verfluchte
Familie. Wenn man sie zertritt, richtet sie sich sofort wieder auf,
diese Schlangenbrut. Eine dunkle Nacht. Dies war es, was ihn an
Becket erinnerte. Eine andere dunkle Nacht vor langer Zeit. Ein
anderes schreckliches Verbrechen. Hatte seine Familie es begangen?
Waren sie geborene Verbrecher? Nein, dies konnte er nicht
hinnehmen. Wenn die Beckets Männer zu finsteren Taten antrieben,
dann waren sie es, die Schuld daran hatten.
Die Feindschaft zwischen den Beckets und den Silversleeves
hatte sich in den vergangenen hundert Jahren noch verschlimmert.
Als Gilbert Becket, ein wohlhabender Seidenhändler, mit seiner
Familie in London ankam, waren die Silversleeves, die noch immer in
ihrer Steinhalle im Schatten von St. Paul's lebten, reiche, stolze
und geachtete Leute, die die Neuankömmlinge als Eindringlinge
bezeichneten. Kaum jemand nahm Notiz davon, denn zu jener Zeit gab
es unter den ehrbarsten Bürgern Londons viele Zuwanderer aus
Frankreich, Flandern und Italien. Namen wie Le Blond und Bucherelli
wurden bald zu Blunt und Buckerell. Die Beckets zogen in ein
stattliches Haus am West Cheap in der Nähe des Judenviertels. Sie
kauften ein Dutzend weiterer Häuser. Es ging ihnen finanziell
ausgezeichnet. Und dann bekam Gilbert Becket eine wichtige Stellung
in der Stadt, die sich Pentecosts Großvater erhofft hatte. Da
schlug die alte Bitterkeit in Haß um.
Wer hatte die Brände gelegt? Das erste Feuer brach im Haus der
Beckets in der Nacht aus, in der ihr Sohn Thomas geboren wurde. Das
zweite brannte viele Jahre später an einem anderen Ort, zerstörte
jedoch einen Großteil ihres Besitzes. Gerüchte kursierten. »Das
waren die Silversleeves!« flüsterten sich die Leute zu. »Die haben
das Feuer gelegt! Sie haben die Beckets ruiniert.« Pentecosts Vater
konnte sich noch so heftig dagegen wehren, diese Flüsterpropaganda
verbreitete sich unaufhaltsam weiter. Allmählich schlich sich ein
neuer Gedanke in die düsteren Köpfe der Silversleeves ein. »Die
Beckets haben die Gerüchte in Umlauf gebracht. Sie verfolgen uns
bis ins Grab.« Oft fragte sich der junge Silversleeves, ob dies
wohl stimmte.
Doch die Beckets ließen sich nicht unterkriegen. In London
erinnerte man sich noch gut an den jungen Thomas Becket, der sich
selbst gern Thomas von London nannte. Er war wie Pentecost ein
fauler Bursche und brachte es nie zum Magister. Doch auch er wurde
Kleriker und machte sich trotz des väterlichen Ruins einen Namen.
Der alte Erzbischof von Canterbury nahm ihn bei sich auf. Er machte
Eindruck beim König. Er hatte ein Talent dafür, die Leute zu
beeindrucken, sein Äußeres half ihm dabei. Er war groß, sah
blendend aus und kleidete sich stets elegant. Er machte seine Sache
so gut, daß er im Alter von nur siebenunddreißig Jahren zum Kanzler
von England ernannt wurde. Doch die Überraschung über diesen
Aufstieg war nichts im Vergleich zur allgemeinen Verblüffung, als
er sieben Jahre später zum Erzbischof von Canterbury ernannt wurde.
Thomas, der weltliche Diener des Königs, sollte nun der Primat von
ganz England sein? Und weiterhin auch noch der Kanzler des Königs?
»Der König will den Daumen auf die Kirche halten«, bemerkte
Pentecosts Vater. »Und dies wird ihm mit Becket auch
gelingen.«
Doch dann passierte etwas Sonderbares. Eines Tages stieß
Pentecost bei seiner Heimkehr von der Schule im Innenhof seines
Vaters auf lauter aufgeregte Leute. »Becket hat sich gegen den
König gewandt!«
Natürlich kam es öfter vor, daß König und Erzbischof
Meinungsverschiedenheiten hatten. In den letzten hundert Jahren war
in ganz Europa immer wieder darüber diskutiert worden, wie Kirche
und Staat ihre Autorität ausüben sollten. Waren die großen
Feudalbischöfe dem König Untertan oder nicht? Konnte ein Papst
einen König absetzen? Es hatte Exkommunikationen gegeben. Erst in
der letzten Generation war es in England unter Rums, der sehr
barsch mit der Kirche umging, so weit gekommen, daß der fromme
Erzbischof Anselm sich gezwungen sah, dem Königreich mehrere Jahre
den Rücken zuzukehren. Heinrich II. war sicher genau die Art von
Monarch, um solche Querelen zu schüren. Aber Becket? Der treue
Diener seines Königs?
»Er hat sämtlichen Pomp aufgegeben«, hieß es. »Er lebt nun wie
ein ganz einfacher Mönch.« War der ehrgeizige, weltliche Londoner
tatsächlich fromm geworden?
Für Pentecosts Vater war die Sache ganz einfach; seiner
Meinung nach hatte Becket, wie es für diese Familie so typisch war,
einfach eine neue Rolle gefunden, mit der er sich nun zur Schau
stellen wollte.
Doch offenbar hatte es schon mehrere Jahre lang
Auseinandersetzungen zwischen dem König und seinem Kanzler gegeben.
Die beiden einst so eng befreundeten Männer waren zu erbitterten
Feinden geworden. Deshalb ließ König Heinrich nun auch seinen Sohn
vom Erzbischof von York krönen, womit er den Erzbischof von
Canterbury zutiefst beleidigte.
Pentecost Silversleeves' Gedanken wurden von einem plötzlichen
Tumult am Eingang unterbrochen. Der stämmige Handwerksmeister mit
dem kurzgeschorenen, braunen Bart und der weißen Haarsträhne in der
Stirn hatte die Höflinge am Eingang beiseite geschubst und stapfte
in den Saal. Er trug einen hellgrünen Umhang und grüne Beinlinge.
Sein hochrotes Gesicht war aufgedunsen vor Wut. Hinter ihm standen
zwei große Gerichtsdiener. Die verblüfften Schreiber drehten sich
um und starrten ihn an. Die würdigen Gestalten am ExchequerTisch,
ebenfalls erstaunt über diese unbotmäßige Störung, blickten nur
schweigend im Saal umher. Doch der Handwerker kümmerte sich nicht
weiter um sie. »Da ist er ja!« schrie er. »Nehmt ihn gefangen!« Er
deutete auf Silversleeves.
»Unter welcher Anklage?« fragte der Justitiar, der persönliche
Repräsentant des Königs, mit ehrfurchtgebietender Stimme.
»Mord!« erklang die schreckliche Antwort, die im ganzen Saal
widerhallte.
Der große Mann mit dem breiten Gesicht
blickte sich zufrieden um. Die anderen Männer in der kleinen Halle
verbeugten sich respektvoll, und Alderman Sampson Bull schenkte
ihnen ein Lächeln. Dies sollte der beste Tag in seinem Leben
werden.
Alles an Alderman Sampson Bull war rot. Er trug ein langes,
rotes Gewand, eine rote Hose, einen roten Mantel mit goldenen
Bündchen und einen roten Ledergürtel. Auf seinem Kopf saß ein
großes, rotes Barett. Sein Gesicht, auf dem helle Bartstoppeln
eines Zweitagebartes schimmerten, war rosa. Nur seine Augen waren
blau. Seine massige Gestalt paßte ausgezeichnet zu seinem
Familiennamen.
Der Name war nach und nach entstanden. Nach der Eroberung
hatte sich die Familie in die normannische Manier gefügt, dem
eigenen Namen den Namen des Vaters mit der Vorsilbe Fitz
hinzuzufügen. Doch dieses System hatte einen Nachteil. Leofrics
Sohn hieß Edward FitzLeofric, sein Enkel Richard FitzEdward, und
Richards Sohn hieß Simon FitzRichard, doch wenn drei oder vier
Generationen unter einem Dach lebten, konnte die Sache ziemlich
verwirrend werden. Da die Familie schon immer unter dem Hauszeichen
des Bullen wohnte, wurden sie deshalb oft genug einfach danach
bezeichnet.
Sampson Bull war ein wichtiger Mann. Seit dem Tod seines
Vaters vor zwei Jahren war er das Familienoberhaupt. Als reicher
Textilhändler – ein Großhändler, der mit Wolle und Tuch handelte –
war er bereits mit dreißig zum Alderman seines Stadtbezirks ernannt
worden, und dies war eine einflußreiche Position.
Die Regierung Londons umfaßte drei Ebenen. Die unterste war
der Parish, oft nur sehr klein, in dem jedoch einige wichtige
Bürger sitzen konnten. Bedeutender waren die etwa zwanzig Wards.
Jeder dieser Bezirke hatte seinen eigenen kleinen Rat, den
Wardmote, der sich aus führenden Bürgern zusammensetzte, die auch
den größeren Stadtrat bildeten. An der Spitze standen die Aldermen,
je einer für jeden Ward. Manchmal besaßen sie große Gebiete in
ihrem Ward; oft behielten sie ihren Posten ein Leben lang. Sie
organisierten das Militär und bildeten den allmächtigen inneren Rat
der Stadt. Sampson Bull gehörte zu dieser inneren Gruppe.
Das London, über das sie herrschten, war größer als früher.
Entlang der Straßen, die aus der Stadt hinausführten, waren viele
neue Häuser entstanden. Im Westen, außerhalb von Newgate, wo der
Fleet-Fluß zum Holborn wurde, waren die neuen Außengrenzen der
Stadt durch Steine markiert, die als Stadtschranken bezeichnet
wurden. Als grimmige Erinnerungen an die normannische Eroberung
dienten auch noch zu dieser Zeit im Westen die Befestigungsanlagen
bei Ludgate, im Osten der mächtige Tower.
Alderman Bull führte seine Wardmote-Geschäfte zu Ende und
entließ dann die Mitglieder. Kurz darauf stieg er den Cornhill
hinauf und dachte an etwas sehr Erfreuliches: Bocton sollte an ihn
zurückfallen.
Hundert Jahre waren vergangen, seit Leofric der Sachse den
Besitz seiner Vorfahren in Kent an einen gewissen St. Malo verloren
hatte, einen Gefolgsmann des Eroberers, und die Bulls waren davon
ausgegangen, daß dies endgültig sei. Doch vor zwanzig Jahren nahm
Jean de St. Malo am zweiten Kreuzzug teil und verpfändete dafür
seinen Besitz. Der Kreuzzug verlief verheerend, der Ritter kehrte
ohne einen Penny in der Tasche heim und gab nach jahrelangen
Bemühungen schließlich auf. Bocton ging an seinen Gläubiger über.
Gestern hatte dieser den Alderman von der Situation in Kenntnis
gesetzt.
Er war ein kleiner, sehr eleganter Herr mit einem schwarzen
Seidenumhang und einer Kappe auf dem Kopf. Sein Name war Abraham.
»Als ich herausfand, daß dieses Land einst Eurer Familie gehörte,
bin ich sofort zu Euch gekommen«, erklärte er. »Wie Ihr wohl wißt,
kann ich den Besitz ohnehin nicht behalten.«
In jenen Tagen gab es viele Geldverleiher in London. Der
ausgedehnte Handel, das wachsende Reich der Plantagenets und die
Ausgaben der Kreuzzüge mußten finanziert werden. Normannische,
italienische und französische Geldverleiher stellten große Summen
zur Verfügung, ebenso wie der Kreuzfahrerorden der Templerritter
und die jüdische Gemeinde in England. Doch während die meisten
Geldverleiher Ländereien besaßen und sich die Templer sogar auf
Landverwaltung spezialisierten, war es den Juden noch immer
untersagt, Land zu besitzen. Wenn also ein jüdischer Geldverleiher
Landbesitz erhielt, verkaufte er ihn gleich wieder.
Abraham nannte einen Preis. Bull erklärte, daß er ihn bezahlen
könne, sobald sein Schiff zurückgekehrt sei. Er zweifelte nicht
daran, daß die Reise erfolgreich sein würde, und er vertraute
darauf, daß Abraham sich noch ein Weilchen geduldete. Ein einziger
Gedanke trübte seine Freude: Er hatte seiner Mutter noch nichts
davon erzählt. Doch dieses Problem wollte er nicht heute
angehen.
Er war aus einem bestimmten Grund den Cornhill hinaufgegangen.
Oben angekommen blickte er auf den zweiten Grund für seine gute
Laune an diesem Tag – auf ein kleines Segelschiff. In einer Zeit,
in der die meisten Ladungen von ausländischen Händlern nach Übersee
verschifft wurden, gehörte Bull seit einem Monat zu den wenigen
Londonern, die selbst ein Schiff besaßen. Es gab noch viele der
schlanken normannischen Langboote mit ihren vielen Rudern, doch
sein Schiff war nach südeuropäischer Art gebaut. Mit seinem breiten
Rumpf, tiefliegend und meist von einem einzigen Hauptsegel
angetrieben, war es schwerfällig und langsam, doch konnte so eine
Kogge mit einer kleinen Besatzung bei jedem Wetter segeln und hatte
einen sehr geräumigen Frachtraum. Im Frachtraum seines Schiffes
ruhte ein Drittel von Bulls Vermögen in Form von Wolle, die nach
Flandern verschifft werden sollte. Wenn das Schiff mit Seide,
Gewürzen und anderen kostbaren Gütern zurückkehrte, würde ihm der
Ertrag aus dieser Reise genügend zusätzliche Mittel einbringen, um
die wichtigste Veränderung am Status und dem Vermögen seiner
Familie seit der normannischen Eroberung vorzunehmen.
Die kleine Kogge kam gerade am Tower vorbei, glitt in die
lange Gerade und näherte sich schließlich der großen Flußkurve.
Doch plötzlich kam sie ins Schlingern. Ihr Bug steuerte auf das
Südufer zu, sie driftete seitwärts ab, begann, sich wie verrückt zu
drehen und blieb schließlich, wie von einer unsichtbaren Hand
festgehalten, stecken.
Alderman Bull verstand sofort, was passiert war. Er stieß
einen Wutschrei aus. »Fischreusen! Dieser verfluchte König!« Dann
hastete er den Hügel hinab.
Diese Äußerung galt als Hochverrat, doch kaum ein Alderman in
London hätte Bull widersprochen. Die alten Fischereirechte der
Stadt waren in großen Ämtern konzentriert worden, und nun oblag das
Fischen auf vielen Meilen flußabwärts keinem anderen als dem Diener
des Königs, dem Burghauptmann des Towers. Da die Themse sehr
fischreich war, waren die Rechte sehr wertvoll, und der
Burghauptmann durfte den maximalen Profit daraus ziehen. Der breite
Fluß wurde mit Netzen, Auslegern, Wehren und sonstigen
Fischfangvorrichtungen zunehmend verstopft. Diese Hindernisse
hießen allgemein nur Reusen. Zwar beschwerten sich die großen
Kaufleute immer wieder beim König persönlich über die Schäden an
ihren Schiffen, doch es wurden stets nur vage Versprechungen
gemacht, und die Reusen blieben bestehen.
Am Spätnachmittag war die Kogge wieder an ihrer Anlegestelle.
Das Steuer war zerbrochen, die Reparatur würde mindestens einen Tag
dauern. Die Netze gehörten einem rothaarigen Fischhändler namens
Barnikel, wie Bull herausfand. Er kannte den Mann flüchtig, doch
dieser hatte nur gemeint: »Die Geschichte mit Eurer Kogge tut mir
leid, aber ich zahle dem Burghauptmann ein Vermögen, damit ich hier
fischen darf.« Bull konnte sich kaum mit dem Mann darüber streiten,
so wütend er auch war. Doch eines war ihm klar, und er wußte es mit
dem gleichen Gespür für das Richtige und das Falsche, über das auch
seine Vorfahren verfügt hatten: Er wurde betrogen. Der König und
sein Burghauptmann mißachteten die Interessen der fahrenden Leute
der Stadt und betrieben ein unfaires System, ein unsauberes
Geschäft. Und als er da so alleine an der Anlegestelle stand, tat
er einen stillen, feierlichen Schwur: »Eines Tages werde ich sie
daran hindern!«
Zu Hause angekommen, wurde der Alderman von seiner Familie
empfangen, die ihn besorgt erwartete. Er dachte, daß sie sich wegen
des Schiffes sorgten, und erklärte ihnen kurz, daß das Steuer
repariert werden würde. Doch seine Mutter schüttelte nur den Kopf
und meinte: »Leider geht es um etwas anderes. Du mußt jetzt ganz
ruhig bleiben, Sampson!«
»Um was geht es denn?«
»Nun ja…« Sie hielt inne, weil sie so aufgeregt war. »Es geht
um deinen Bruder.«
Bruder Michael stand zitternd vor dem
wütenden Abt.
»Du brichst deine Gelübde!« schrie der Abt mit donnernder
Stimme.
Bruder Michael besaß ein einfaches Gemüt und eine reine Seele.
Er war drei Jahre jünger als Sampson, unterschied sich jedoch von
seinem Bruder auf mannigfaltigste Weise. Sampson war eher stämmig,
Michael groß und dünn; Gebet und Versenkung hatten sein breites
sächsisches Gesicht weich werden lassen; er war ruhig und milde.
Doch nun, als sich das gesamte Kloster gegen ihn wandte, zeigte er
auch Stärke.
Warum war er Mönch geworden? War es ein jugendliches Auflehnen
gegen den Vater gewesen, gegen dessen Grobheit und sein endloses
Gerede über Geld? War es wegen Sampson, dem großen Bruder, den er
als Kind so verehrt hatte, dessen kleine Grausamkeiten ihn jedoch
immer mehr entsetzt hatten? War es ein Sehnen danach, den einfachen
Glauben seiner frommen Mutter zu beschützen?
Nein. Es war eine innere Stimme gewesen, die ihn dazu gebracht
hatte, ein wachsendes Gefühl, daß die Welt um ihn herum leer war,
ein Bedürfnis nach Reinheit und Einfachheit. Michael wollte die
lebendige Anwesenheit Gottes spüren, und zwar jeden Tag. Und er
wußte, daß er dies in der Welt nicht tun konnte.
In den letzten Generationen war eine große neue Welle
religiösen Gefühls über ganz Europa geschwappt und hatte auch die
Küsten Englands erreicht. Die großen Zisterzienserklöster unter
Führung des strengen Bernhard von Clairvaux hatten ihre einfachen
religiösen Gemeinschaften und Schafzuchten vom Mittelmeer ausgehend
bis in die düsteren Moorgegenden Nordenglands verbreitet. Eine
plötzliche Begeisterung für die gebenedeite Jungfrau Maria war
aufgekommen. Die Straßen zu den Heiligenschreinen Europas waren
voller Pilger. Und vor allem war die Christenheit in den letzten
siebzig Jahren einem neuen Ruf gefolgt, das Heilige Land vor den
Sarazenern zu retten, und hatte sich in die großen Abenteuer der
Kreuzzüge gestürzt.
Auch in London war dieser Eifer spürbar. In der Stadt häuften
sich neue Kirchen und andere Stiftungen. Am Themseufer in der Nähe
von Aldwych errichteten die Templer ein riesiges Hauptquartier. In
der Nähe der Westminsterabtei gab es ein neues Krankenhaus, das St.
James gewidmet war. Mehr als ein Fünftel der Londoner Bevölkerung
hatte religiöse Weihen unterschiedlicher Art empfangen.
Als Michael mit Siebzehn den Wunsch äußerte, Mönch zu werden,
war sein Vater zwar enttäuscht, jedoch nicht wirklich entsetzt
gewesen. Da sein Sohn sich nicht von seiner Berufung abbringen
ließ, verschaffte er ihm einen Platz in der aristokratischen
Gemeinde der Benediktinermönche in der großen Westminsterabtei, der
er eine stattliche Spende zukommen ließ, und bemerkte
hoffnungsvoll: »Der Palast des Königs befindet sich gleich neben
der Abtei. Auch Mönche können großartige Laufbahnen
einschlagen.«
Und so hatte Michael in der alten königlichen Abtei von
Westminster zehn glückliche Jahre verbracht. Er liebte die graue
Abtei, die große Halle, die Stimmung, die diese so nahe beieinander
liegenden Gebäude – das Kloster, die königliche Kapelle und die
Innenhöfe der königlichen Verwaltung – verbreiteten. Er fand es
sehr angenehm, an einem so stillen und friedlichen Ort zu leben,
der doch so nahe am Zentrum allen Geschehens war.
Er war glücklich, als er seine Gelübde ablegen durfte. »Diese
drei Gelübde«, erklärte ihm der alte Mönch, der ihn darauf
vorbereitete, »werden dir für den Rest deines Lebens wie Freunde
sein, die dich auf deinem Weg zu Gott begleiten. Warum verpflichten
wir uns der Armut?«
»Weil unser Herr sagt: ›Wo dein Reichtum liegt, befindet sich
dein Herz. Verkaufe alles, was du hast, und folge mir.‹«
»Genau. Man kann nicht gleichzeitig Gott und weltliche Güter
lieben. Wir entscheiden uns für Gott. Und die Keuschheit?«
»Der dem Fleische folgt, vernachlässigt die Seele.«
»Und Gehorsam?«
»Um meinen Stolz und meine Wünsche zu beschwichtigen.«
»Und dich von denjenigen leiten zu lassen, die weiser sind als
du.« Diese drei Gelübde wurden von jedem christlichen Mönch
abgelegt. »Sei ihnen treu, wie du es guten Freunden bist, dann
werden sie dich beschützen.«
Bruder Michael hatte seine Gelübde geschworen und sie
eingehalten. Auch wenn er sah, daß nicht alle Mönche in Westminster
keusch, gehorsam oder in Armut lebten, so wußte er, daß es nur
menschliche Schwäche war, und betete für sie.
Ein Jahr nach Michaels Eintritt hatte der Papst, nachdem er
das große Werk Life gelesen hatte, das die Abtei über das
Leben des Monarchen verfaßt hatte, den Bitten der Mönche Gehör
geschenkt und ihren ehemaligen Patron, Eduard den Bekenner,
heiliggesprochen. Michael war glücklich, als er mit den Schreibern
Kopien von Manuskripten anfertigen durfte, denn er liebte Bücher,
und die Abtei hatte eine ausgezeichnete Bibliothek. »Unsere Abtei
ist älter als St. Paul's«, hatten ihm seine Glaubensbrüder erklärt.
»Der Heilige Petrus ist persönlich nach Britannien gekommen und hat
dieses Kloster gegründet.«
Erst im Lauf der Zeit stieß er auf einiges, das ihn
beunruhigte. War die Abtei mit ihren ständig wachsenden Ländereien
nicht einfach ein wenig zu reich? Lebten die Mönche nicht ein wenig
zu gut? Was war aus dem Armutsgelübde geworden? Jahrelang hatte er
solche Zweifel beiseite geschoben. Das Leben in Westminster hatte
ihm viele Freuden beschert. Doch vor zwei Monaten war etwas
geschehen.
Seit mehreren Jahren kopierte er Manuskripte im Skriptorium.
Die Dokumentation und Betreuung der klösterlichen Unterlagen
oblagen den älteren Schreibern. Michael fühlte sich sehr geehrt,
als ihn eines Morgens einer dieser Schreiber um seine Hilfe bat. In
der Hand hielt er eine Urkunde, die von einem alten sächsischen
König stammte, wie Michael gleich erkannte. »Was sollen wir damit
tun?« fragte er.
»Mach sie älter«, erwiderte der Mönch. »Du weißt schon,
einstauben, einölen, laugen.«
Da begann Bruder Michael zu verstehen. Im darauffolgenden
Monat sah er sich die meisten Urkunden der Westminsterabtei an und
verbrachte viele Stunden mit aufmerksamsten Studien. Schließlich
ging er zum Abt und verkündete ernst: »Ich habe entdeckt, daß
mindestens die Hälfte aller Urkunden der Abtei gefälscht
ist.«
Doch der Abt lachte nur.
Die Lage in der Westminsterabtei war sogar noch schlimmer, als
Bruder Michael anfangs gedacht hatte. Das große Werk Life
über Eduard den Bekenner war größtenteils Fiktion. Es gab keinerlei
Beweis für die Behauptung der Abtei, älter zu sein als St. Paul's.
Und so wurde es als Wille Gottes ausgelegt, die fehlenden
Unterlagen bereitzustellen. Sie wurden einfach gefälscht. In einer
Zeit, in der solche Fälschungen vor allem im Benediktiner-Orden in
ganz Europa weit verbreitet waren, war die englische
Westminsterabtei die unumstrittene Meisterin auf diesem Gebiet.
Urkunden von Grundbesitzschenkungen, königliche Erlasse zu
Steuerbefreiungen, selbst päpstliche Bullen – manche dieser
Unterlagen waren so hervorragend gefälscht, daß sie
jahrhundertelang nicht angezweifelt wurden.
Ein paar Tage, nachdem der Abt Michael erklärt hatte, daß er
sich keine Sorgen machen sollte, wurde er wieder um seine Hilfe
gebeten, doch er verweigerte sie.
Innerhalb von wenigen Wochen wurde die Lage unerträglich. Man
erinnerte ihn an sein Gehorsamsgelübde. Er bat Gott um Hilfe, doch
er konnte dem Problem nicht entkommen.
Alle diese Urkunden sollen ja nur die Privilegien und den
Reichtum der Abtei stärken, gab er sich selbst zu bedenken. Aber
wie paßt dies zu meinem Armutsgelübde? Und was ist das für ein
Gehorsam, wenn ich nicht meinem Gewissen gehorchen kann? Es zeigte
sich ihm nur ein einziger Weg, und so ging er eines Tages zum Abt
und erklärte ruhig, daß er den Orden verlassen wolle.
»Dies alles tun wir doch nur zum Ruhme Gottes«, erläuterte ihm
der Abt. »Wenn wir Geschichte schreiben oder vom Leben der Heiligen
berichten, soll dies doch nur den göttlichen Plan illustrieren,
damit die Menschen ihn besser verstehen können. Wenn es Gottes
Wille ist, daß die Rechte und das Alter dieser Abtei bekannt
werden, tun wir recht daran, den Beweis zu liefern, um die sündigen
Menschen von der Wahrheit zu überzeugen.«
Doch Michael war nicht dieser Meinung. Der gesunde
Menschenverstand seiner sächsischen Vorfahren stand ihm im Weg.
Entweder es war eine alte Urkunde oder nicht. Entweder es war
Wahrheit oder Lüge. »Es tut mir leid, aber ich möchte gehen«,
wiederholte er.
»Und wohin willst du gehen?«
Auch darum hatte Bruder Michael sich bereits gekümmert, wie er
dem Abt gesenkten Hauptes erklärte. Der Abt starrte ihn erstaunt an
und erklärte: »Du bist verrückt.«
Die Menge verstummte. Auf ein Zeichen des
Gerichtsdieners nahm der junge Henry Le Blond zögernd den Umhang
von seinen Schultern und trat vor. Obwohl es ein warmer
Sommermorgen war, zitterte er. Pentecost Silversleeves stand
versteckt in der Menge und beobachtete entsetzt das
Geschehen.
Der Ort, an dem es stattfand, war eine große offene Fläche vor
der nordwestlichen Ecke der Stadtmauer. Am westlichen Rand senkte
sich der Boden hinab zum Flußbett des Holborn. In der Mitte des
Platzes stand eine Gruppe von Ulmen, vor denen sich eine
Pferdetränke befand.
Smithfield hieß dieser Ort. Samstags fand hier meist ein
Pferdemarkt statt, und manchmal gab es bei den Ulmen Hinrichtungen.
An der Pferdetränke, neben der nun etwa vierhundert Leute standen,
wurden manche wichtige Rechtsangelegenheiten abgewickelt.
Am Rand des Wassers standen neben Le Blond, der bis auf einen
Lendenschurz nackt war, zwei weitere junge Männer, zwei
Gerichtsdiener, ein Dutzend Aldermen, ein Sheriff und der Justitiar
von England höchstpersönlich. Ein Handwerksmeister war angegriffen,
einer seiner Lehrlinge getötet worden. Die Schuldigen waren alle
bekannt, denn in der Hoffnung, ungeschoren davonzukommen, hatten
sie sich als Kronzeugen aufstellen lassen und sich gegenseitig
beschuldigt. Das Verbrechen hatte sich in der Nacht ereignet, in
der der Prinz gekrönt worden war. König Heinrich war so erbost, daß
er seinem Stellvertreter befohlen hatte, sich persönlich um die
Angelegenheit zu kümmern. »Ich will sie alle in drei Tagen
verurteilt sehen«, hatte er gefordert.
Nun fesselten die Gerichtsdiener auf ein Nicken des Justitiars
hin die Hände des jungen Mannes hinter seinem Rücken und banden
seine Füße zusammen. Dann ergriffen sie ihn bei den Knöcheln und
den Schultern, hoben ihn hoch und begannen, ihn hin- und
herzuschwingen. »Eins!« schrie die Menge. »Zwei! Drei!« Le Blonds
Körper flog durch die Luft und fiel ins Wasser.
Henry Le Blond kämpfte um sein Leben.
Es gab viele verschiedene Arten von Prozessen in England. Bei
zivilen Streitigkeiten konnten die Freien eine
Geschworenenverhandlung vor den unparteiischen Gerichtshöfen König
Heinrichs beantragen, doch ernste Vergehen wie Mord oder
Vergewaltigung, auf die die Todesstrafe stand, waren der göttlichen
Gerechtigkeit unterstellt; es wurde ein Gottesurteil verlangt.
Frauen mußten in so einem Fall oft ein glühendheißes Eisen
anlangen, und dann beobachtete man, ob die Verbrennungen heilten,
was auf Unschuld hinwies, oder in Wundbrand übergingen, was Schuld
bedeutete. Männer wurden meist dem schnelleren Verfahren zugeführt
– das Gottesurteil wurde vom Wasser gefällt. Wenn Le Blond nicht
unterging, war er schuldig. Dieses Gottesurteil zu überleben war
schwierig. Um seine Unschuld zu beweisen, mußte man untergehen, und
dies ging am besten, wenn man sein Gewicht verringerte und tief
ausatmete; doch wenn man dann nicht schnell genug wieder
herausgefischt wurde, ertrank man. Ängstliche Männer atmeten
instinktiv tief ein und trieben auf dem Wasser. Die Menge sah
schweigend zu. Dann ertönte ein Aufschrei. Henry Le Blond ging
nicht unter.
Ich sollte dort bei den anderen stehen, dachte Pentecost
Silversleeves. Aber er war frei; er war ja ein Mann der
Kirche.
Von allen Privilegien der Kirche war keines nützlicher als das
Recht eines jeden Klerikers, der kirchlichen Gerichtsbarkeit
unterstellt zu werden, egal, wie groß sein Vergehen war. Es liefen
genügend kriminelle Kleriker herum, da dieses System natürlich oft
genug mißbraucht wurde. Bei seinem Streit mit seinem früheren
Freund Becket hatte König Heinrich II. nichts mehr erzürnt als die
Weigerung des Erzbischofs, es zu reformieren.
Eigentlich sollten Männer, denen schwere Verbrechen
vorgeworfen wurden, ihrer kirchlichen Weihen entledigt und dem
königlichen Gericht zur Bestrafung zugeführt werden. »Doch selbst
dagegen wehrt Ihr Euch noch«, hatte König Heinrich protestiert.
»Das ist wirklich unerträglich.« Viele vernünftige Leute in der
Kirche pflichteten ihm bei, doch Becket hatte auf seiner Weigerung
beharrt und weilte immer noch im Exil.
Am Vortag hatte Pentecost Silversleeves' Verhandlung in der
Halle des Bischofs von London in St. Paul's stattgefunden. Gilbert
Foliot, der Bischof von London, war ein Aristokrat. Seine schwarze
Robe war aus Seide. Sein hageres, gelbes Gesicht sah aus, als sei
uraltes Vellum über seinen Schädel gezogen worden. Seine Hände
wirkten wie Klauen, so dürr waren sie. Er hielt Becket für einen
vulgären Idioten. »Ihr solltet dem König übergeben und hingerichtet
werden«, hatte er trocken bemerkt. Aber er konnte nichts
dergleichen unternehmen; denn das Kirchengericht folgte noch immer
den alten Regeln des Eidschwures. Wenn ein beschuldigter Kleriker
behauptete, unschuldig zu sein, und genügend achtbare Zeugen
bereitstellen konnte, die dies beschwörten, dann mußte er
freigesprochen werden. Trotz der Tatsache, daß Pentecosts Komplizen
ihn alle der Mitschuld bezichtigt hatten, hatte die Familie
Silversleeves zwei Priester, einen Erzdiakon und drei Aldermen
herbeigeschafft, die ihnen einen Gefallen schuldeten oder auch
erpreßt wurden, und diese hatten vor dem Bischof geschworen, daß
sich der junge Pentecost niemals auch nur in der Nähe des
Schauplatzes des Verbrechens aufgehalten habe.
»Deshalb bin ich verpflichtet«, hatte Foliot mit einem
verächtlichen Blick auf Silversleeves und seine Zeugen gesagt,
»Eure Unschuld zu erklären. Und da Ihr theoretisch unschuldig seid,
könnt Ihr auch nicht der königlichen Gerichtsbarkeit übergeben
werden. Doch das eine sage ich Euch: Solange ich es verhindern
kann, werdet weder Ihr noch Eure lügnerischen Zeugen in dieser
Diözese je wieder so eine Vorzugsbehandlung erfahren.« Damit waren
sie entlassen worden.
Auch die anderen beiden gingen nicht unter.
Sie waren alle schuldig und sollten nun, wie es der König in diesem
Fall wünschte, auf der Stelle ihrer Bestrafung zugeführt
werden.
In diesem Moment fiel Silversleeves' Blick auf die stämmige
Gestalt mit der weißen Haarsträhne, die nur etwa zehn Meter von ihm
entfernt stand. Silversleeves wollte sich ducken, doch der
Handwerksmeister hatte ihn bereits entdeckt und bahnte sich einen
Weg durch die Menge zu ihm hin.
Simon der Waffenschmied war ein konservativer Mensch. Er lebte
noch immer im Haus seines Urgroßvaters Alfred und war auch in seine
handwerklichen Fußstapfen getreten. Er besaß auch noch einiges Land
in einem Weiler in der Nähe von Windsor, für das er Pacht zahlte.
Und er war stolz auf sein handwerkliches Geschick. Doch er war weit
entfernt von den reichen Großhändlern, den Aldermen, die die
Geschicke der ständig wachsenden Stadt lenkten. »Die machen sich
doch nie die Hände schmutzig, wie wir es tun«, pflegte er oft zu
sagen. »Die halten sich für Adlige. Aber das sind sie nicht. Es
sind nur Kaufleute, und die sind um nichts besser als ich.«
Als die jungen Kerle in sein Haus eingedrungen waren und
seinen besten Lehrling ermordeten, hatte ihn dies auch deshalb so
erbost, weil sich hier wieder einmal die Verachtung zeigte, die
diese Leute seiner Klasse gegenüber hegten. »Das sind ganz
gewöhnliche Verbrecher«, hatte er getobt. Und nun war er nach
Smithfield gekommen, um mit eigenen Augen zu sehen, daß
Gerechtigkeit erfolgte, auch wenn er sich nicht eines Anflugs von
Bedauern erwehren konnte, als die jungen Männer für schuldig
befunden wurden; denn er wußte, was als nächstes kommen würde. »Sie
haben zwar etwas Schreckliches getan«, murmelte er, »aber trotzdem
sind es arme Teufel.«
Dann hatte er Silversleeves entdeckt. Er trat neben den
langnasigen jungen Mann und flüsterte ihm ins Ohr: »Du schleimiger
Feigling! Du bist genauso ein Mörder, und sogar noch schlimmer als
die anderen. Denn die werden jetzt sterben, du jedoch nicht, Judas.
Weil du zu feige bist. Abschaum!« Damit entfernte er sich
wieder.
Pentecost blieb noch, um die Hinrichtung zu sehen. Die drei
jungen Männer wurden zu den Ulmen geführt, über deren hohe Äste
Stricke geworfen wurden. Pentecost sah, wie die Schlingen um die
Hälse gelegt wurden, sah, wie die drei hochgezogen wurden, während
die Menge schrie: »Hoch mit ihnen!«, sah, wie sich die Gesichter
seiner Freunde verzerrten und lila verfärbten, sah, wie ihre Körper
wild zuckten, bis sie schließlich nur noch leblos dahingen.
Als Silversleeves eine Stunde später in den Exchequer-Hof
trat, waren alle in ihre Arbeit vertieft. Eigentlich sollte die
Ostersitzung bereits vorüber sein, doch mit der zusätzlichen
Arbeit, die die Krönung des Prinzen mit sich gebracht hatte, gab es
noch einiges zu tun. Dankbar, von der Hinrichtung abgelenkt zu
werden, machte sich Pentecost an die Arbeit.
Erst nach einer Weile fiel ihm auf, daß es hier drinnen
unnatürlich ruhig war. Die Schreiber taten ihr Bestes, ihn zu
ignorieren. Es war die Scheu einem Menschen gegenüber, der soeben
offiziell zu einem Ausgestoßenen geworden war. Pentecost versuchte,
nicht darauf zu achten, doch nach einer Weile verließ er seinen
Platz und wanderte im Palast von Westminster umher. Er wollte
versuchen, die Bilder, die auf ihn einstürmten, zu ordnen.
Seine Eltern, als er es ihnen erzählt hatte. Seine Mutter,
blaß, entsetzt, unfähig zu verstehen, wie ihr Sohn so etwas hatte
tun können. Sein Vater, schrecklich in seiner stillen Wut, doch
gleich darauf bedacht, seinen Sohn freizubekommen. Die Verhandlung.
Die Augen des Bischofs. Die toten Körper seiner Freunde. Das
Schweigen im Exchequer-Saal. Solange Foliot lebte, hatte er als
Kleriker nichts mehr zu melden, aber was war mit dem Exchequer?
Hatte er auch hier nichts mehr zu melden?
Gedankenversunken bog er in einen großen Durchgang ein und sah
zwei Maler an der Wand arbeiten. Viele der Wände in den Sälen um
die Westminster-Halle herum waren mit Wandmalereien versehen. Das
Fresko hier bestand aus einer Reihe von Szenen aus dem Leben von
Königen und Propheten des Alten Testaments. Im Zentrum stand ein
Rad, an dem die beiden gerade arbeiteten. Silversleeves blieb
stehen, um ihre Arbeit zu bewundern. »Was soll dieses Rad werden?«
fragte er.
»Das ist das Schicksalsrad, Sir«, antwortete der eine.
»Und was soll es bedeuten?«
»Nicht mehr, Sir, als daß ein Mann zu Ruhm und Ehren
aufsteigen und ebenso schnell wieder absteigen kann. Oder auch
umgekehrt. Es bedeutet, daß das Leben wie ein Rad ist, Sir, das
sich ständig dreht. Es lehrt uns, demütig zu sein.«
Silversleeves nickte. Jeder gebildete Mann kannte das Rad des
Schicksals. Der römische Philosoph Boethius, der in den damaligen
Schulen sehr geschätzt wurde, war nach einem politischen Umschwung
ins Gefängnis geworfen worden und hatte dort darauf gedrungen, daß
man sein Schicksal stoisch annehmen solle; er hatte das Geschick
der Menschen mit einem sich ständig drehenden Rad verglichen.
Silversleeves lächelte leise. Wie passend! Er würde sein Schicksal
philosophisch angehen. Zwar war er jetzt gerade an einem Tiefpunkt
angelangt, doch das Rad würde sich zweifellos wieder drehen. Er
ging weiter.
Ein paar Minuten später stand er in der riesigen
Westminsterhalle. Ein halbes Dutzend reich gekleideter Männer kam
auf ihn zu. Sie liefen rasch, um mit dem Mann in ihrer Mitte
Schritt zu halten. Sobald Silversleeves sah, wer es war, duckte er
sich hinter einer Säule.
Im Gegensatz zu seinen Höflingen trug König Heinrich II. von
England meist nur sehr einfache Kleidung – heute schlichte, grüne
Beinkleider und ein Jägerwams. Er war durchschnittlich groß und
eher breit gebaut und neigte wahrscheinlich zu Dickleibigkeit, die
jedoch durch seine permanente Umtriebigkeit verhindert wurde.
Wenn Pentecost nicht versucht hätte, sich hinter der Säule zu
verbergen, wäre er vielleicht ungeschoren davongekommen. Doch als
er sich nun instinktiv an den grauen, normannischen Stein preßte,
hörte er eine strenge Stimme in Französisch rufen: »Man bringe mir
diesen Mann!« König Heinrich schätzte es nicht, wenn sich Leute vor
ihm versteckten.
Kurz darauf standen sie sich gegenüber. Silversleeves hatte
den König noch nie so nahe gesehen, was nicht weiter überraschend
war, denn Heinrich Plantagenet verbrachte nur einen Bruchteil der
Zeit in seinem nördlichen Königreich, und selbst wenn er auf der
Insel weilte, reiste er ständig von Ort zu Ort und gab sich
unterwegs gern der Jagd hin.
Ein normannisches Gesicht voller Sommersprossen, rötliches,
mit grauen Strähnen durchzogenes, kurzgeschnittenes Haar. Der
Urenkel des Eroberers und obendrein noch ein rastloser Plantagenet.
Eine furchterregende Kombination. Graue, durchdringende
Augen.
»Wer seid Ihr?«
»Ein Kleriker, Sire. Pentecost Silversleeves.«
»Und warum habt Ihr Euch versteckt?«
»Ich habe mich nicht versteckt, Sire.« Eine dumme Lüge.
Heinrich Plantagenet runzelte die Stirn, durchforschte sein
Gedächtnis, erinnerte sich. »Silversleeves. Seid Ihr nicht einer
der Unholde, die meinen Waffenschmied angegriffen haben?«
Silversleeves wurde kreidebleich, Heinrichs Augen wurden plötzlich
härter als Stein. »Warum seid Ihr nicht heute morgen gehängt
worden?«
»Ich bin unschuldig, Sire.«
»Wer hat das gesagt?«
»Der Bischof von London, Sire.«
»Ein krimineller Kleriker«, zischte König Heinrich, während
sich sein Gesicht vor Zorn rötete. Ein Schurke, der sich unter den
Röcken der Kirche vor der Gerechtigkeit des Königs versteckte.
Genau solche Geschichten hatten die Beziehung zu seinem alten
Freund Becket getrübt.
Und dann hatte Silversleeves die Ehre, ein weiteres
Charakteristikum zu beobachten, für das die Familie des Königs so
berühmt war: einen Wutanfall in der Manier der Plantagenets.
»Viper!« Das Gesicht König Heinrichs lief dunkelrot an, und
auch seine Augen waren blutunterlaufen. »Du langnasiger Sohn einer
Hure! Du heuchlerischer, halbgarer Priester! Glaubst du, daß du dem
Galgen entkommen bist? Glaubst du, daß du den König betrügen
kannst, du eklige Kröte? Glaubst du das wirklich?«
»Nein, Sire«, stammelte Pentecost.
»Gut! Denn das wirst du auch nicht, das verspreche ich dir!
Ich persönlich werde dafür sorgen, daß dein Fall wieder aufgerollt
wird. Ich werde dich unter dem Gewand des Bischofs hervorzerren! Du
wirst meine Gerechtigkeit schon noch zu spüren bekommen, du
Abschaum. Du wirst den Tod riechen!« Letzteres war nicht laut
gerufen, sondern aus vollster Kehle gebrüllt, so daß es überall in
den hohen Räumen widerhallte.
Pentecost Silversleeves drehte sich um und floh aus der Halle,
vorbei am Court of Common Pleas, wo zivile Angelegenheiten
ausgetragen wurden, vorbei an Säulenreihen, vorbei am Court of the
King's Bench, dem Gericht für Kronangelegenheiten, durch die große
Eingangspforte hindurch in den Innenhof, vorbei an der Abtei, über
den Tyburn-Fluß. Er floh an den Ufern der Themse entlang nach
Aldwych und darüber hinaus. Er floh am Tempel der Ritter des
Templerordens vorbei und über den Fleet-Fluß hinweg. Er lief den
Ludgate-Hügel hinauf. Er floh in das Sanktuarium von St.
Mary-le-Bow, und dort saß er gut eine Stunde lang und zitterte wie
Espenlaub.
An einem warmen Nachmittag gegen Ende September saßen ein Mann
und eine Frau still auf einer Bank vor einem großen Gebäudekomplex
am östlichen Rand von Smithfield. Sie warteten. Der Mann, der eine
graue Kutte und Sandalen trug, war Bruder Michael.
Die Frau, Anfang Zwanzig, wirkte eher alterslos. Sie war kurz
und gedrungen; ihr Gesicht spiegelte anhaltend freundliche
Entschlossenheit wider; ihr linkes Auge schielte; nur ihr rotes
Haar, das sie streng zurückgekämmt trug, gab einen kleinen Hinweis
darauf, daß sie der dänischen Familie Barnikel angehörte. Sie trug
graue Nonnentracht. Sie hieß Schwester Mabel.
Die Gebäude hinter ihnen waren vergleichsweise neu. Vor
weniger als fünfzig Jahren hatte ein Höfling, vom König für seinen
Witz und seine Schlagfertigkeit geschätzt, plötzlich eine Vision,
kehrte der Welt den Rücken und gründete ein Priorat und ein
Krankenhaus, das er dem Heiligen Bartholomäus widmete. Die Priorei
war reich und stattlich, das Krankenhaus sehr einfach. Diesem St.
Bartholomew's Hospital gehörten Bruder Michael und Schwester Mabel
an.
»Vielleicht kommt er ja doch nicht«, sagte Schwester Mabel.
Sie hatte keine Angst um sich selbst, sondern um den sanften Bruder
Michael. »Du mußt aufpassen«, warnte sie ihn noch einmal. »Er hat
ein schwarzes Herz.«
»Er wird schon kommen«, sagte Bruder Michael gelassen. »Mutter
wird ihn dazu bringen. Ich habe keine Angst, Schwester Mabel, denn
du beschützt mich ja.«
Mabel Barnikel war die Schwester des Fischhändlers, der
unabsichtlich dem Schiff von Alderman Bull einen schweren Schaden
zugefügt hatte. Viele Leute lachten über sie, doch sie taten ihr
unrecht, denn sie war eine gute Seele. Von klein auf hatte sie
immer aufmerksam jedem gelauscht, den sie für weise hielt, und sich
bemüht, die verwirrende Welt zu verstehen. Wenn sie schließlich
damit zufrieden war, etwas verstanden zu haben, hielt sie eisern
daran fest.
Mit dreizehn entdeckte sie, daß ihr ewige Verdammnis drohte,
und zwar einzig und allein deshalb, weil sie eine Frau war.
Der Priester des Kirchensprengels hatte eine Predigt zum Thema
Adam und Eva gehalten und die Gelegenheit genutzt, den weiblichen
Gemeindemitgliedern eine strikte Warnung zukommen zu lassen.
»Frauen, wenn ihre eure Seelen retten wollt, denkt an Eva. Denn es
liegt in der Natur der Frau, der Frivolität und den Sünden des
Fleisches zugeneigt zu sein. Frauen droht das Höllenfeuer ganz
besonders.«
Er war ein weißhaariger, alter Mann, und Mabel verehrte ihn
sehr. Da die Predigt sie zutiefst beunruhigte, bat sie ihn, ihr zu
erklären, warum denn Frauen eher sündigten.
Der alte Mann lächelte freundlich. »Es liegt in ihrer Natur,
mein Kind. Gott hat die Frau als die Schwächere geschaffen.« Dies
war eine alte Annahme, die bis auf den Heiligen Paulus persönlich
zurückging. »Gott hat den Mann nach seinem Ebenbild erschaffen,
mein Kind. Aus dem Samen des Mannes entspringt das perfekte
Ebenbild. Die Frau ist nur der Behälter, in dem der Samen reift,
und deshalb minderwertiger. Sie kann zwar trotzdem in den Himmel
kommen, doch es ist schwieriger für sie.«
»Aber wenn es so ist, daß aus dem Samen des Mannes sein
perfektes Ebenbild entsteht, wie kommt es dann, daß auch Frauen
geboren werden? Und wenn ein Kind nur aus dem Samen des Mannes
geboren wird, warum ähneln dann Kinder oft ihren Müttern und nicht
nur den Vätern?« wollte Mabel wissen.
»Gottes Vorhersehung ist in der Tat wundervoll. Mein Kind, du
denkst ja wie ein Arzt! Deine Frage kann nicht mit Sicherheit
beantwortet werden, aber der große Philosoph Aristoteles war der
Meinung, daß das Ungeborene, während es im Mutterleib heranwächst,
von der Mutter Flüssigkeiten trinkt, die eine gewisse Auswirkung
haben.« Der Priester lächelte, froh über diese Gelegenheit, seine
Gelehrsamkeit unter Beweis stellen zu können.
»So sagt mir nur noch eines, Vater«, bat Mabel demütig. »Da es
für eine Frau so schwer ist, gerettet zu werden, was muß ich dann
tun?«
»Bete fromm! Gehorche deinem Mann! Manche Leute sagen, daß nur
Jungfrauen problemlos in den Himmel kommen, aber dies ist ja nun
kein Weg für alle Frauen.«
Aufgrund dieses Gespräches verstand Mabel schließlich drei
Dinge: Frauen waren minderwertig; sie hatte vielleicht die Gabe der
Heilkunst, da sie wie ein Arzt dachte; Jungfräulichkeit war der
wahrscheinlichste Pfad in den Himmel.
Als sie einige Jahre nach dieser Unterhaltung merkte, daß sie
wenig Chancen hatte, einen Ehemann zu finden, ließ ihr ernstes
Wesen in ihr den Wunsch aufkeimen, in das religiöse Leben
einzutreten. Das Problem jedoch war, daß ihre Leute nur einfache
Fischhändler waren.
Nach ihren ruhmreichen Wikingerzeiten war es mit den Barnikels
stetig bergab gegangen. Durch die Eroberung hatten die alten
dänischen Familien in London ihre Besitzungen verloren und waren
von hereinströmenden Kaufleuten aus der Normandie und dem
wachsenden Netz der germanischen Hanse-Häfen immer weiter verdrängt
worden. Der gegenwärtige Barnikel von Billingsgate war ein
Fischhändler, der neben seinem Fischstand auf der Straße auch mit
anderen Gütern für die Schifferei handelte. Er war ein geachteter
Mann, doch sein Status lag weit unterhalb eines Großhändlers wie
etwa Bull oder Silversleeves.
Aber warum sollte dies ein Problem sein? Es gab damals in
England etwa zehn Prozent mehr Frauen als Männer. In Mabels
Generation hatte sich dieser Unterschied weiter verstärkt, weil
immer mehr Männer in den heiligen Stand eintraten und zumindest
theoretisch ein keusches Leben führten. Für Frauen dagegen gab es
nur wenige große Nonnenklöster, und es war teuer, in eines
einzutreten; sie waren adligen Familien und den reichsten
Kaufleuten vorbehalten. Bei den einfachen Kaufleuten und
Handwerkern wurden die übriggebliebenen Frauen zur Mithilfe im
Haushalt und im Betrieb der Männer gebraucht.
Mabel war also zu niedrig geboren, um Gott zu dienen. Aber sie
war hartnäckig. Sie erfuhr von einem Nonnenkloster, das
Laienschwestern für niedrige Dienste aufnahm. Einige der
Kreuzzugorden hatten sogar Krankenschwestern. Schließlich fand man
einen Platz für sie in dem Krankenhaus, das zu der reichen Priorei
St. Bartholomew's gehörte. Eine Spende war nicht
erforderlich.
Hier war sie glücklich. Die Krankenpflege gefiel ihr. Sie
kannte sämtliche Kräuterheilmittel, die im Krankenhaus gebräuchlich
waren, und in ihrer Kammer hatte sie einen wahrhaften Schatz von
Gläsern, Topfen und Schachteln. »Löwenzahn zur Reinigung des
Blutes«, konnte sie erklären; »Kresse gegen Kahlheit, Wolfsmilch
gegen Fieber, Seerosen gegen Durchfall.« Schwerstkranken half sie
auf ihrem Weg quer durch London, damit sie eine heilige Reliquie
berühren konnten, wenn es denn keine andere Hoffnung auf Heilung
gab.
Und dann kam Bruder Michael. Von dem Moment an, als sie ihn
Anfang Juni erblickte, war sie sich sicher, daß er ein Heiliger
war. Warum sonst sollte der Sohn eines reichen Kaufmanns die
Westminsterabtei verlassen und ins Krankenhaus gehen? Erst im Lauf
der Zeit merkte sie, daß nicht alle ihre Meinung über ihn teilten.
Manche, wie etwa sein böser Bruder, hielten ihn sogar für einen
Dummkopf, und dies ärgerte sie. Während sie ihn also nach wie vor
verehrte, begann sie auch, ihn beschützen zu wollen.
Bruder Michael blickte auf das Stadttor und winkte. »Da ist er
ja!« bemerkte er, während Alderman Bull auf sie zukam.
Bull hatte schlechte Laune. Er wäre nicht hergekommen, wenn
ihn nicht die Mutter seit Wochen darum gebeten hätte. »Versöhne
dich vor meinem Tod mit Michael.« Wenn er darauf nur verärgert
erwiderte, daß sie ja keinesfalls im Sterben liege, sagte sie
stets: »Das kann man nie wissen.« Schließlich hielt er es nicht
mehr aus. Warum stellte sich die Mutter immer auf Michaels Seite?
Er persönlich hatte nie sehr viel von seinem jüngeren Bruder
gehalten, und als dieser in das Kloster von Westminster eintrat,
verachtete er ihn. Als er dann in diesem Juni das Kloster verließ,
kannte sein Zorn keine Grenzen. »Unsere Spenden!« hatte er
gedonnert. »Völlig umsonst!« Seitdem sprach er kein Wort mehr mit
Michael.
Der wahre Grund, warum seine Mutter ihn immer wieder gedrängt
hatte, Michael zu besuchen, war Bocton. Trotz der Verzögerung durch
den Reusenschaden hatte sein Schiff die Reise erfolgreich hinter
sich gebracht. Verhandlungen mit Abraham waren erfolgt, und morgen
sollte der Vertrag unterzeichnet werden. Und genau dies entsetzte
seine fromme Mutter.
Ein Kreuzritter war ein heiliger Pilger, bereit, in Gottes
gerechtem Krieg als Märtyrer zu sterben. In den Augen der Kirche
wusch ihn der Kreuzzug von seinen Sünden rein und garantierte ihm
einen Platz im Paradies. Zwar kam es in diesem Jahrhundert häufig
vor, daß der Besitz von bankrotten Kreuzrittern umverteilt wurde,
doch viele hielten es für ein ernstes moralisches Vergehen und
verlangten nach Gesetzen, um die Kreuzritter vor ihren Gläubigern
zu schützen.
»Siehst du denn nicht, daß es ein Verbrechen ist?« hatte seine
Mutter protestiert. »Die Not eines Kreuzritters so auszunützen? Und
noch dazu mit einem heidnischen Juden!«
Als sie bei ihrem älteren Sohn keinen Erfolg gehabt hatte, war
sie heimlich zu Michael gegangen.
Es war lange her, daß Sampson Bull sich die Mühe gemacht
hatte, St. Bartholomew's zu besuchen, und als Michael ihn nun
herumführte, konnte er nicht umhin, seine Bewunderung über diesen
Ort kundzutun. Die Priorei bestand aus einer großen normannischen
Kirche, einem Kloster, einem Refektorium und reich ausgestatteten
klösterlichen Nebengebäuden. Im August veranstaltete das Priorat
zum Namenstag des heiligen Bartholomäus immer eine Tuchmesse in
Smithfield, aus der ihr ein stattlicher Gewinn erwuchs. Die
Mitglieder der Gemeinde, die Kanoniker, waren eine kleine, doch
vornehme Gesellschaft, die mit allen Annehmlichkeiten lebte.
Die Kirche selbst war sehr edel mit ihrem breiten, hohen
Kirchenschiff, ihren massiven Säulen, den normannischen Bögen und
den Tonnengewölben. Der etwas kleinere Chor war besonders hübsch
mit seinem zweireihigen Schutz von Säulen und Bögen, die einen
Halbkreis am östlichen Ende hinter dem Altar bildeten. Der Ort
strahlte eine Mischung aus normannischer Stärke und orientalischer
Wärme aus.
Obwohl Bull sich um Verträglichkeit bemühte, ärgerte er sich
über gewisse Dinge. Der Anblick der nackten Zehen seines Bruders
und das leise Schlurfgeräusch, das seine Sandalen auf den
Steinfliesen verursachten, störten ihn. Und warum starrte diese
Barnikel-Frau mit ihrem sonderbar schrägen Auge ihn ständig so
übelwollend an?
Nachdem sie das Kloster besichtigt hatten, betraten sie das
Krankenhaus. Das St. Bartholomew's Hospital war völlig getrennt von
der Priorei. Die hier tätigen Brüder und Schwestern waren keine
Kanoniker, sondern einfache Leute. Das Hauptgebäude war ein langer,
schmuckloser, ziemlich enger Schlafsaal, der einem Klostergang
ähnelte. Am Ende des Raumes befand sich eine einfache kleine
Kapelle.
Wie die meisten Krankenhäuser in jener Zeit hatte auch das St.
Bartholomew's als Hospiz angefangen, als Ort, an dem sich müde
Reisende und Pilger ausruhen konnten. Dies hatte sich rasch
geändert. Inzwischen gab es hier drei Blinde, ein halbes Dutzend
Verkrüppelte, mehrere senile, alte Frauen. Es gab Männer mit
Fieber, Frauen mit Furunkeln, Kranke und Leidende. Wie es damals
Sitte war, lagen oft zwei oder drei, ja sogar noch mehr Kranke in
einem Bett. Der Alderman blickte sich entsetzt um. Was tat er hier?
Und was tat sein Bruder, der die Familienehre in einem angesehenen
Kloster hätte aufrechterhalten können, an so einem widerlichen
Ort?
Als sie wieder in den Sonnenschein hinaustraten, nahm Bruder
Michael ihn sanft am Arm und zog ihn ein paar Schritte weg von
Mabel. »Mein lieber Bruder«, sagte er, »ich bin sicher, daß unsere
Mutter dich dazu gebracht hat, doch trotzdem bin ich sehr gerührt,
dich hier zu sehen. Du mußt mir verzeihen, daß ich versuche, deine
unsterbliche Seele zu retten.«
Bull grinste hämisch. »Du glaubst also, daß ich zur Hölle
fahren werde? Aber wenn ich Bocton nicht kaufe, wird es ein anderer
tun.«
»Doch es bleibt Unrecht.«
Sie hatten wieder kehrtgemacht und näherten sich Mabel. »Du
vergeudest deine Zeit, Bruder«, sagte Bull. »Ich habe keine Angst
vor der ewigen Verdammnis. Tatsache ist, daß ich nicht an Gott
glaube.«
Dies war keine besonders schockierende Feststellung, auch wenn
es Mabel fast den Atem verschlug. Selbst in jenen sehr religiösen
Zeiten gab es zahlreiche Männer, die ihre Zweifel hatten. Vor zwei
Generationen hatte König Wilhelm Rufus kein Hehl aus seiner
tiefverwurzelten Skepsis gegenüber der Kirche und ihren religiösen
Ansprüchen gemacht. Denker und Prediger bemühten sich ständig um
Beweise für die Existenz Gottes. Bulls Ansicht, daß die Kirchen mit
all ihren Stiftungen, ihren speziellen Gerichten und den über die
Jahrhunderte erfolgten Zugewinnen nicht mehr waren als die
Schöpfung von Menschen, bezeugte immerhin eine gewisse furchtlose,
wenn auch brutale Ehrlichkeit, die sich von der seines Bruders gar
nicht so stark unterschied.
Mabel sah dies natürlich nicht so. Sie wußte, daß Bull seinen
vergeistigten Bruder verachtete; sie wußte, daß er vorhatte, einen
Kreuzritter mit Hilfe eines Juden zu berauben. Nun hatte sie den
letzten Beweis für seine abgrundtiefe Bosheit.
Bruder Michael schätzte besonders an Mabel, daß sie immer
sagte, was ihr auf der Zunge lag. Doch selbst er war nun ein wenig
verblüfft, als sie den stämmigen Alderman mit ihrem nicht
schielenden Auge fixierte und laut und deutlich sagte: »Ihr seid
ein schlechter Mensch und werdet mit den Juden zur Hölle fahren!
Ihr solltet Euch schämen! Warum gebt Ihr nicht dem Krankenhaus
Geld, anstatt Pilger auszurauben, die sehr viel besser sind als
Ihr?«
Seit Monaten hatte sich Bull die Klagen seiner Mutter anhören
müssen, und nun wurden ihm nicht nur von Michael Vorträge gehalten,
sondern er wurde auch noch von dieser Verrückten angegriffen, deren
Bruder beinahe sein Schiff zerstört hatte. Das war wirklich zu
viel! Das Blut stieg ihm in den Kopf, und er fing an zu brüllen:
»Verflucht seien euer Krankenhaus und eure alten Weiber, die sich
in ihrem eigenen Dreck wälzen! Verflucht seien eure Mönche und eure
blöden Kreuzritter und eure heuchlerischen Priester! Das eine sage
ich dir, Bruder, wenn ich jemals eine Religion brauche, dann werde
ich ein Jude.«
Dies war nicht sehr originell, es war genau dasselbe, was
König Wilhelm Rufus einmal zu tun gedroht hatte, als ihn ein paar
Bischöfe mit ihren Beschwerden allzusehr langweilten. Doch es
schockierte Mabel. Und er war noch nicht fertig. »Du bist als
Dummkopf auf die Welt gekommen, Michael. Du verdienst kein Geld,
weil du dich zur Armut verpflichtet hast. Du hast keine Frau, weil
du ein Keuschheitsgelübde abgelegt hast; du denkst nicht einmal für
dich selbst, weil du Gehorsam geschworen hast. Und wofür?« Einer
plötzlichen Eingebung folgend, setzte er noch hinzu: »Im übrigen
glaube ich nicht, daß du deine blöden Gelübde einhalten wirst. Nun
sage ich dir, was ich tun werde, und das werde ich in meinem
Testament festhalten: Auf deinem Todesbett sollst du nach mir oder
meinem Erben rufen lassen. Wenn du dann bei Gott und vor einem
Priester schwörst, daß du von heute an bis an dein Ende niemals
deine Gelübde gebrochen hast, dann werde ich Bocton an St.
Bartholomew's vermachen.« Damit drehte er sich um und stapfte
Richtung Stadttor davon.
Im Herbst 1170 begannen Neuigkeiten über
ein unerwartetes Ereignis nach England durchzusickern. König
Heinrich II. von England war in die Normandie geeilt, wo er den
exilierten Erzbischof von Canterbury getroffen hatte. Dort hatte
sich Becket schließlich wieder mit seinem König versöhnt;
vielleicht war die Demütigung, daß der Erbe von England ohne ihn
gekrönt worden war, der Auslöser dafür. Und dann tauchten Gerüchte
auf, daß Becket zurückkehren wollte. Aber er kam nicht.
Für die Familie Silversleeves war es eine unangenehme Zeit.
Pentecost wagte es nicht, sich zu Michaeli am Exchequer blicken zu
lassen. Was bedeutete diese neue Wendung der Ereignisse? Hatte der
König eingewilligt, die kriminellen Kleriker nicht verfolgen zu
lassen, oder wollte Becket sie nun dem König übergeben? Die
Silversleeves versuchten, aus der Normandie Informationen zu
erhalten, aber niemand wußte Genaueres. Der Oktober verstrich; der
November verstrich. Schließlich kamen Anfang Dezember die
Neuigkeiten aus Kent: »Er ist da!«
Er kam nicht wie ein Lamm. Vielleicht hatte er ja mit dem
König Frieden geschlossen, nicht jedoch mit den Bischöfen, die ihn
beleidigt hatten, indem sie in seiner Abwesenheit den Prinz
krönten. Er exkommunizierte den Bischof von Sarum und Gilbert
Foliot, den Bischof von London. In der englischen Kirche rumorte
es. Foliot und seine Anhänger schickten Botschafter über das Meer
in die Normandie, um König Heinrich wissen zu lassen, was in seinem
Königreich ablief. Einer dieser Boten war auch von der Familie
Silversleeves bezahlt worden, um sie auf dem laufenden zu
halten.
Am frühen Nachmittag des 30. Dezember 1170 gab sich Pentecost
Silversleeves einer sehr merkwürdigen Beschäftigung hin. Er trug
mehrere Schichten von Kleidung, um sich warm zu halten, und hatte
gewachste, geschliffene Kuhbeinknochen mit Lederriemen an seinen
Schuhen befestigt. Mit Hilfe eines Stockes bewegte er sich
vorwärts. Er lief Schlittschuh.
Londons Eislauffläche lag unmittelbar außerhalb des Zentrums
an der nördlichen Stadtmauer. Achthundert Jahre, nachdem die Römer
den Ort verlassen hatten, waren die alten Wasserläufe des Walbrook
unter der Mauer noch immer mit Müll verstopft, so daß die noch
nicht trockengelegten Gebiete sumpfig waren. Moorfields hießen sie.
Im Sommer war es ein Morast, der im rauhen Winter zufror, und die
Londoner vergnügten sich dann auf dieser wilden, weiten Eisfläche –
ein fröhlicher Anblick, auch wenn Pentecost nicht besonders
fröhlich war; denn der Bote hatte eine sehr schlechte Nachricht aus
der Normandie gebracht. »Der König wird Becket verhaften lassen.
Foliot hat gewonnen«, hatte ihm sein Vater an diesem Morgen
mitgeteilt. »Das ist schlecht für dich.«
»Vielleicht hat mich der König inzwischen vergessen.«
»Nein. Er spricht noch immer von dir. Du wirst schwören
müssen, das Land auf immer zu verlassen.«
Das Königreich verlassen. Nur so konnte ein Verbrecher der
Gerechtigkeit entkommen. Aber wohin sollte er gehen? Nirgendwohin
in Heinrichs ausgedehnten Einflußbereich. »Du könntest ja auf eine
Pilgerreise ins Heilige Land ziehen«, hatte seine Mutter
vorgeschlagen. Aber dieser Vorschlag behagte Pentecost überhaupt
nicht.
Trübsinnig drehte er seine Runden auf dem Eis. Die Sonne ging
eben unter, da kam ein Bursche aus der Stadt herbeigerannt und tat
laut seine Botschaft kund, die innerhalb eines Monats in ganz
Europa mit großer Überraschung aufgenommen werden sollte: »Becket
ist tot. Männer des Königs haben ihn ermordet.«
Die Ermordung des Erzbischofs Thomas Becket fand vor dem Altar
der Kathedrale von Canterbury während des Abendgottesdienstes am
29. Dezember 1170 statt. Vier junge Barone, die zu der Gruppe
gehörten, die Becket verhaften sollte, stellten den Erzbischof
persönlich zur Rede und töteten ihn im Verlauf der sich daran
anschließenden Verwirrung. Da sie einmal mitbekommen hatten, wie
der König Becket bei einem seiner Wutanfälle verfluchte, dachten
sie, es würde ihn erfreuen.
Als die erschrockenen Mönche begannen, den toten Körper des
Erzbischofs zu entkleiden, stellten sie zu ihrem Erstaunen fest,
daß der stolze Prälat unter seiner Kleidung das rauhe Haarhemd
eines Büßers trug. Nun sahen sie ihn plötzlich in einem anderen
Licht. Der Kanzler, der zu einem Kirchenmann geworden war, der
unerwartete Märtyrer, war nicht das, was er zu sein schien. Er
hatte seinem früheren weltlichen Leben viel gründlicher entsagt,
als die Leute geglaubt hatten. »Er war also tatsächlich ein echter
Büßer«, riefen alle. Ein Sohn der Kirche.
Die Kunde verbreitete sich rasch; London ließ den Kaufmannsohn
zum Märtyrer ausrufen; bald wurde in ganz England die Forderung
laut, ihn zum Heiligen zu erklären. Der Papst, der die Mörder und
ihre Komplizen bereits exkommuniziert hatte, schenkte der Forderung
Gehör.
Für König Heinrich II. war es eine Katastrophe. »Wenn er nicht
selbst die Schuld trägt, so doch zumindest die Verantwortung«,
erklärten die wichtigsten Kirchenmänner. Um dem wachsenden Sturm zu
entkommen, begab sich Heinrich rasch zu einem Feldzug nach Irland.
Zum Thema Kirchenprivilegien, über das er mit Becket so lange
gestritten hatte, schwieg König Heinrich beharrlich.
Im Herbst 1171 herrschte große Freude im Haus der
Silversleeves. »Ich habe mit dem Justitiar und dem Bischof von
London persönlich gesprochen«, verkündete Pentecosts Vater. »Der
König hat seinen Streit mit der Kirche beigelegt. Du bist in
Sicherheit. Du kannst sogar zum Exchequer zurück.« Zum erstenmal
seit vielen Generationen segneten sie den Namen Becket.
Schwester Mabel zweifelte nie daran, daß
die Welt voller Wunder war. Die göttliche Vorhersehung war für sie
überall spürbar. Die erstaunliche Enthüllung, daß Becket eigentlich
ein Heiliger war, war für sie nur ein weiteres Beispiel für einen
Prozeß, der um so phantastischer war, weil sie ihn nicht erklären
konnte. Selbst Alderman Bulls wütendes Versprechen an seinen
Bruder, das der Mönch nicht wörtlich genommen hatte, war für sie
ein Gegenstand des Glaubens. Sie wußte, daß Bruder Michael gut war.
»Du wirst schon sehen«, versicherte sie ihm, »das Krankenhaus wird
die Erbschaft erhalten.«
Doch selbst Schwester Mabel staunte über das außergewöhnliche
Ereignis an einem hellen, warmen Aprilmorgen 1127.
Sie war drüben in Aldwych gewesen und lief gerade über die
freie Fläche von Smithfield, als sie ein höchst ungewöhnliches
Spektakel sah, eine Prozession, die am westlichen Rand von
Smithfleld entlangzog. Eine großartige Gesellschaft von Rittern und
vornehmen Damen auf reich geschmückten Pferden führte sie an.
Spielmänner mit Flöten und Tamburinen liefen an der Seite. Weiter
hinten folgte ein langer Zug von einfachen Leuten. Wer waren all
diese Menschen? Sie versuchte, einen der vorbeireitenden Männer zu
fragen, aber er ritt einfach weiter, als habe er sie nicht
gesehen.
Kurz vor dem Stadttor verschwand die funkelnde Gesellschaft.
Pferde und Reiter lösten sich auf, als seien sie in einen
unsichtbaren Nebel geraten. Als Mabel sich zu den an ihr
vorbeireitenden Pferden umdrehte, merkte sie, daß ihre Hufe kein
Geräusch verursachten.
Da verstand sie – es war eine Vision.
Sie hatte natürlich schon von solchen Visionen gehört, jedoch
nie erwartet, selbst einmal eine zu haben. Überrascht stellte sie
fest, daß sie keine Angst hatte. Die Reiter, die fast so wirkten,
als könne sie sie berühren, schienen in einer eigenen Welt zu sein.
Sie bemerkte, daß einige von ihnen auch ganz einfache Leute waren.
Sie sah sogar einen ihrer Patienten aus dem Krankenhaus in einem
schimmernden weißen Gewand, dessen bleiches, schmales Gesicht
seltsam heiter wirkte.
Nach einer Weile waren die Reiter alle vorüber, nun kam die
Masse des Fußvolks hinterher, vom wütenden Fischweib bis hin zum
heruntergekommenen Lord. Sie trugen abgerissene Kleider, ihre
Gesichter waren leer. Neben ihnen liefen die sonderbarsten Wesen,
die Mabel jemals gesehen hatte. Sie ähnelten Menschen, aber sie
hatten lange Beine wie die eines Vogels, mit Klauen statt Füßen,
und geschwungene Schwänze. Sie staksten neben der Menge her und
trieben ab und zu ein paar Leute mit den Dreizacken an, die sie in
ihren sehnigen Händen hielten. Zwar hatten ihre
scharfgeschnittenen, harten Gesichter menschliche Züge, doch die
Haut war bei manchen rot, bei manchen grün, bei manchen
gesprenkelt. »Das müssen Teufel sein«, murmelte Mabel. Sie trat
einem dieser Wesen in den Weg und fragte: »Was ist das für eine
Prozession?« Und diesmal hatte sie mehr Glück.
»Das sind Menschenseelen«, erwiderte das Wesen mit einer
nasalen Stimme.
»Sind sie tot?«
»Nein. Sie leben noch. Die vorderen kommen in den Himmel. Doch
die hier«, und damit zeigte er auf einen aufgedunsenen Mönch, »sind
auf ihrem Weg zur Hölle.«
»Haben sie denn so schreckliche Sünden begangen?« fragte
Mabel.
»Nicht alle. Manche werden sie erst noch begehen. Wir führen
sie in Versuchung und dann in die Verdammnis.« Er ging
weiter.
»Werden auch welche gerettet werden?« rief sie ihm
hinterher.
»Ein paar«, hörte sie ihn mit rauher Stimme sagen. »Freilich
nur sehr wenige.«
Eine Weile lang beobachtete sie die verlorenen Pilger, die
sich da an ihr vorbeidrängten. Sie sah zahlreiche Menschen, die sie
kannte, und murmelte für jeden ein Gebet. Sie wollte sie auch
warnen, doch sie schienen sie nicht zu hören. Dann sah sie Alderman
Bull. Er saß verkehrt herum auf einem Pferd. Seine Kleidung war
rot, wie immer, doch sein Gesicht und seine Hände waren von
eitrigen Wunden übersät. Zweifellos war er auf dem Weg in die
Hölle. Nur wenige Schritte hinter dem Alderman ging Bruder Michael
mit seinem blassen Gesicht. Er ging gesenkten Kopfes, wohl aus
Trauer und Scham. Seine Augen schienen auf etwas vor ihm gerichtet
zu sein. Was hatte er nur getan? fragte sich Schwester Mabel. Sie
rannte neben der Prozession her und rief immer wieder seinen Namen.
Einmal kam es ihr vor, als habe er sie gehört und wolle den Kopf
heben, doch dann senkte er ihn wieder, wie von einer unsichtbaren
Kraft dazu gezwungen, und setzte seinen Weg fort.
Sie stand fassungslos am Wegrand. Sie konnte einfach nicht
glauben, daß Bruder Michael eine böse Tat begangen hatte. Würde er
noch eine Sünde begehen? Und da kam ihr ein Gedanke: Wenn er in die
Hölle gehen muß, dann muß ich es sicher auch. Sie suchte unter den
vorüberziehenden Seelen nach sich selbst, konnte sich jedoch nicht
sehen. Dann verschwand die Vision.