DER HEILIGE

1170

EIN JUNIMORGEN IM Palast von Westminster: In dem langen Saal neben der großen Königshalle ging es sehr ruhig zu. An der Tür unterhielten sich ein paar Höflinge leise murmelnd miteinander. In der Mitte des Raums saßen sieben Schreiber an ihren Pulten; Federkiele kratzten leise auf Pergament; die Tinte wurde von den Mönchen der Westminsterabtei zur Verfügung gestellt. Vom hinteren Ende des Raumes kam ein merkwürdiges Klick-Geräusch. Dort saßen einige der wichtigsten Männer von England an einem Tisch und legten Damespielsteine: Wie ernst sie aussahen, der Schatzkanzler, der Justitiar, der Bischof von Westminster, Master Thomas Brown und ihre Sekretäre.
Der Palast von Westminster. In dem Jahrhundert nach der Eroberung hatte sich die kleine Insel Thorney zu einer königlichen Plattform neben der Themse gemausert. Sie war von einer Mauer umgeben. Mehrere Brücken führten über den Tyburn-Fluß, der um sie herumfloß. Die große Abtei von Eduard dem Bekenner dominierte den Ort noch immer, doch heute stand neben ihr auch eine bescheidene normannische Kirche, St. Margaret.
Vor einigen Jahren hatte der Papst den Errichter der Abtei heiliggesprochen. Wie Frankreich und andere Länder hatte nun auch England einen königlichen Heiligen. Sein in das Zentrum der Abtei verlegtes Grab wurde zu einem Heiligenschrein, Westminster zum spirituellen Mittelpunkt des Königreichs erklärt.
Doch unten am Flußufer hatte sich am meisten verändert, denn dort stand die große Halle. Westminster Hall, von Wilhelm II. »Rufus« errichtet, war eine der größten Königshallen in Europa. Das massive Holzdach des über siebzig Meter langen Baus wurde von zwei zentralen Säulenreihen gestützt. Neben der großen Halle befanden sich die Innenhöfe und Säle sowie der Wohnbereich des Königspalastes. Zwar reiste der König normalerweise in seinem ausgedehnten Reich viel herum, doch seine Verwaltung konzentrierte sich immer mehr an diesem Ort. Und von all den verschiedenen Abteilungen war keine bekannter oder gefürchteter als das Gericht, das eben tagte.
»Dann eben hundert.« Master Thomas Brown sprach leise. Ein Sekretär bewegte einen der Steine. Neben dem Thron war dieser Tisch, der große Exchequer, das wichtigste Möbelstück im Königreich. Er war gut drei Meter lang und fast zwei Meter breit; ein vier Finger breiter Rand verlieh ihm das Aussehen eines Spieltisches. Auf diesem Tisch lag ein schwarzes Tuch, das von weißen Linien in Quadrate aufgeteilt war und dem Gericht seinen Namen gegeben hatte.
Je nachdem, auf welchem Quadrat ein Stein lag, bedeutete so ein Damestein tausend Pfand oder auch nur zehn oder sogar auch nur einen Silberpenny, den ein einfacher Arbeiter als täglichen Lohn erhielt. Das karierte Tuch war nichts weiter als eine Art Abakus, eine einfache Rechenhilfe, auf der die Einkünfte und Ausgaben des Königreichs festgehalten und überblickt werden konnten. Zweimal im Jahr, im Frühling an Ostern und im Herbst am Michaelitag, kamen die Sheriffs, die Verwalter der Grafschaften von England, zur Abrechnung zum Exchequer.
Zuerst wurden in einem Vorzimmer die in Säcken von ihnen herbeigeschafften Silberpennies auf ihre Güte getestet und gezählt. Wenn sie gut waren, wogen zwanzig Dutzend Pennies ein Pfand. Da die Normannen den englischen Penny als esterlin bezeichneten, was in Lateinisch sterlingus hieß, wurde die Zähleinheit unter dem Begriff Pound Sterling bekannt.
Als nächstes bekam der Sheriff ein Kerbholz, einen Haselnußzweig, auf dem mit Kerben festgehalten war, was er eingezahlt hatte. Damit jede Partei ein Dokument hatte, wurde der Stock kurz unter dem Griff der Länge nach aufgeschlitzt; die beiden Teile eines solchen Kerbholzes hießen foil und counterfoil. Das längere Stück, das den Griff mit einschloß, verblieb beim Sheriff und zeigte ihm die Menge seiner eingezahlten Summe an; es wurde auch als stock bezeichnet. So gelangten im zwölften Jahrhundert die Begriffe Exchequer, Sterling, Counterfoil und Stock in die englische Finanzsprache.
Nachdem der Schatzkanzler an dem großen Tisch zufriedengestellt war, wurden die Transaktionen der Sheriffs von den Schreibern festgehalten. Diese fingen damit an, mit einem Griffel auf mit Wachs überzogenem Holz eine erste Fassung zu erstellen. Diese Fassung wurde dann auf Pergament kopiert.
Pergament war damals ausreichend vorhanden und billig. Nur das feinste Pergament, das aus sorgfältigst gesäuberten und gedehnten Kälberhäuten hergestellt wurde, war seltener und teurer; es wurde für Kunstwerke wie etwa Buchillustrationen verwendet. Für gewöhnliche Dokumente gab es einen nahezu unbegrenzten Vorrat an Häuten von Kühen, Schafen oder Eichhörnchen. Im Schatzamt von England war das Pergament billiger als die Tinte.
Das englische System der Erfassung solcher Daten wies noch eine Besonderheit auf, die nur auf der Insel zu finden war. Anfangs wurden die Pergamentaufstellungen gefaltet und zu Büchern zusammengelegt. Als Wilhelm der Eroberer sein neues Königreich vermessen hatte, waren die mächtigen Bände seines Domesday-Book entstanden. Doch in späteren Generationen beschlossen die englischen Datenverwalter, die Besitztümer der Krone aufgerollt in Zylinderform festzuhalten, und deshalb wurden diese Unterlagen nicht als Bücher, sondern eben als Rolls, oft auch als Pipe Rolls bezeichnet.
Die Münzen wurden zu dieser Zeit noch in der königlichen Schatzkammer aufbewahrt, dem thesaurus, wie sie die lateinisch sprechenden Sekretäre nannten, die sich in Winchester, der alten Reichshauptstadt König Alfreds, befand. Doch bevor sie dorthin geschafft wurden, lagerten sie in der Pyx-Kapelle gleich neben der Westminsterabtei.
Auf dem Gang zum Exchequer lehnte ein stiller junger Mann an der Wand, ein vielversprechender Kleriker namens Pentecost Silversleeves. Aber warum war sein Gesicht so bleich an diesem warmen Juni tag?
Er war ein sonderbarer junger Mann. Sein biblischer Name war nicht ungewöhnlich, denn im Zuge des religiösen Wiedererwachens, das London in den letzten Generationen erfaßt hatte, waren solche Namen sehr beliebt. Pentecosts Vater, Henris Enkel, der inzwischen das Oberhaupt der Familie Silversleeves war, hätte einen normannischen Namen vorgezogen, doch eine gewisse verwitwete Tante, die in einen Nonnenorden eingetreten war, hatte klargestellt, daß sie ihr Erbe nur einem Pentecost vermachen würde. Also wurde er Pentecost genannt.
Sein Äußeres war typisch für die Familie: dunkle Haare, eine große, lange Nase und traurig blickende Augen. Dazu kamen eingefallene Schultern, Hüften, die breiter waren als die Brust, und schwache Glieder. Aber diese körperlichen Mängel wurden wettgemacht durch wahrhaft erstaunliche geistige Gaben.
Als Master Thomas Brown die jungen Kleriker geprüft hatte, war es Silversleeves untersagt worden, an diesem Test teilzunehmen, denn er konnte sämtliche Rechenaufgaben ohne die Hilfe eines Abakus und ohne Schreibtafel lösen. Er kannte den gesamten Inhalt der Pipe Rolls auswendig.
Solche Talente hätten ihn eigentlich zu einem Gelehrtendasein befähigen sollen, doch er wollte nie lernen. Seine Eltern hatten ihn zuerst in die Schule bei St. Paul's geschickt, dann auf eine andere, dann auf eine kleinere Schule bei St. Mary-le-Bow. Auf jeder hatte er nur gerade das Nötigste gelernt. Seine Lehrer beschwerten sich stets: »Er strengt sich einfach nicht an, weil ihm alles zufliegt.«
Schließlich schickten ihn die Eltern nach Paris. Dort lebten die bekanntesten Gelehrten Europas. Bis vor kurzem hatte der berühmte Abelard dort unterrichtet, bis seine Affäre mit Heloise dazu führte, daß er in Ungnade fiel. Englische Landsleute hatten in Paris studiert und waren danach zu Amt und Würden gekommen, bevor sie sich ganz den Wissenschaften widmeten. Jemand, der in Paris seine Studien beendet hatte, durfte sich Magister, also Master nennen. Doch der junge Silversleeves beendete seine Studien nie. Er reiste noch kurz nach Italien, dann kehrte er wieder heim. Niemand nannte ihn Master.
Was hatte er gelernt? Er beherrschte das fundamentale Trivium: Lateinische Grammatik, Logik und Rhetorik. Dies war die Grundlage für die gebildeten Schichten in Europa, deren Verkehrssprache noch immer Latein war. Er hatte auch das Quadrivium – Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie – studiert, wußte also etwas von Euklid und Pythagoras, konnte die Konstellationen der Gestirne benennen und glaubte, daß die Sonne und die Planeten sich in einem komplexen Muster um die Erde drehten. Er konnte Textstellen aus der Bibel in Lateinisch zitieren. Er hatte ausreichende Kenntnisse im Rechtswesen, um einem Abt nachzuweisen, wieviel Geld er dem König schuldete. In Italien hatte er auch Vorlesungen zur Anatomie besucht. Plato und Aristoteles waren keine Unbekannten für ihn. Doch alles in allem kannte er eben gerade das Nötigste und nichts darüber hinaus. Aber wenn er schon kein Magister war, dann immerhin ein Kleriker, ein Mann, der der Kirche diente.
In einer Welt, in der nur wenige lesen konnten, lag die gesamte Bildung in den Händen der Kirche. Es war üblich, daß ein junger Mann, der seine Ausbildung beendet hatte, sich eine Mönchstonsur zulegte und zu dem niedrigsten Weihegrad zugelassen wurde. Technisch gesehen war der junge Silversleeves ein Diakon. Als solcher stand es ihm frei zu heiraten, ein Geschäft zu eröffnen, nach seinem Gutdünken zu handeln. Er konnte sämtliche Privilegien der Kirche in Anspruch nehmen und später dann die höheren Weihen empfangen.
Die Kirche, die das christliche Erbe des alten Römischen Reiches angetreten hatte, besaß breiten Einfluß und ein umfassendes Netzwerk in ganz Europa. Und ob sie nun heilig oder korrupt waren, ob es sich um Gelehrte handelte oder ob sie kaum das Vaterunser in Lateinisch rezitieren konnten – sämtliche gebildeten Männer der Gesellschaft hatten der Kirche ihre Bildung zu verdanken. Selbst wenn es gelegentlich Spaltungen gab, selbst wenn in diesem Moment der deutsche Kaiser versuchte, einen eigenen Anwärter als Konkurrenz auf den Heiligen Stuhl aufzustellen, blieb doch die Tatsache bestehen, daß der Papst ein direkter Nachfolger des heiligen Petrus war. Er konnte Lehnsherren ermahnen. Seine Bischöfe verkehrten mit den wichtigsten Adligen im Land. In einer feudalen Gesellschaft, in der es sehr schwierig war, seinen Status zu verändern, konnte ein kluger Mann, selbst der Sohn eines einfachen Leibeigenen, durch die Kirche an die Spitze der Gesellschaft gelangen.
Diese besondere Beziehung zwischen dem Staat und der gebildeten Schicht der Kirchenmänner wies noch ein weiteres Element auf. Jahrhundertelange Schenkungen hatten dazu geführt, daß die Kirche in ganz Europa das meiste Land besaß. Und obwohl eine Generation nach der Eroberung der Großteil des Landes in England feudalen Familien überlassen worden war, gab es noch genug Kirchenland, das den oberen Klerikern dieser Zeit gewaltige Einkünfte bescherte. Wenn der König seine Freunde oder treue Diener belohnen wollte, machte er sie zu Bischöfen. Einige Bistümer gelangten auf diese Weise an Männer von inniger Frömmigkeit und Würde, andere jedoch an große königliche Diener oder Staatsmänner. Der momentane Bischof von Winchester war sowohl ein Verwandter des Königs als auch ein Staatsmann. Königliche Beamte hatten oft die Sitze in Salisbury, Ely und mehreren anderen Grafschaften inne. Zahlreiche Beamte bezogen Einkünfte aus niedrigeren Ämtern – Erzdiakonien, Domherrenpfründen und reichen Ländereien. In dieser Zeit war der Kanzler von England und der Erzbischof von Canterbury ein und dieselbe Person, Thomas Becket, ein treuer Diener seines Königs. Eines Tages würde ja vielleicht auch der junge Silversleeves die Bischofswürde erhalten.
Warum war er nur mit ihnen mitgegangen? fragte sich Pentecost. Mochte er sie überhaupt? Nein, aber es waren die jungen Londoner Lebemänner, Sprößlinge führender Kaufmannsfamilien, wie es die seine auch war. Einmal im Monat zogen sie los. Schwarze Kapuzen, Dolche, Schwerter. Einmal waren sie zu den Bordellen auf der anderen Seite des Flusses gezogen, hatten eine Hure genötigt, es ihnen allen ohne Geld zu machen. Wie sie da geflucht hatte! Oder der Bauer, den sie im Wald aufgegabelt und dem sie in seinem Karren eine wilde Fahrt geliefert hatten. Schließlich hatten sie den Karren in einen Bach gelenkt und ihn dort steckengelassen. Wie gern sie sich dieses Späßchen immer wieder erzählten! Es war ja nichts Schlimmes dabei. All die jungen Herren spielten solche Streiche. Das war einfach so in dieser Zeit. Niemand nahm es allzu ernst, und je wagemutiger das Ganze, um so besser.
Aber warum machte er überhaupt mit?
»Du siehst aus wie ein Mädchen!« hatten sie ihn in der Schule immer gehänselt. Sie hatten ihn verlacht. Er wollte es ihnen zeigen. Nun gehörte er zu der wüstesten Gruppe. Niemand ließ sich je erwischen. Bis letzte Nacht.
»Wir müssen heute etwas Besonderes anstellen«, hatte Le Blond gemeint. »Schließlich ist heute Krönungstag.«
Die Krönung. Es war schon ein absonderliches Geschäft gewesen, diese Krönung. Vielleicht wäre er nicht mehr mit seinen Freunden ausgegangen, wenn sie nicht so sonderbar gewesen wäre. Sie waren alle völlig betrunken. Sonst hätten sie doch nie das falsche Haus erwischt. Es war nicht der Bäcker, sondern der Waffenschmied. Ein Bursche mit einem Kettenhemd, stark wie ein Pferdeschmied. Welch einen Kampfer ihnen geliefert hatte! Sie wollten ja nur das Hemd des Kerls als Trophäe mitnehmen. Und dann der Lehrling. Dieser Junge mit seinen weit aufgerissenen Augen. Mit einem Messer. Und dann… er konnte es nicht ertragen, weiter daran zu denken.
Niemand hatte ihn gesehen. Unter großem Geschrei und Gezeter waren sie davongerannt und hatten sich schließlich getrennt. Sicher hatte niemand ihn gesehen.
Die Krönung, die am Vortag, dem 14. Juni 1170, in der Westminsterabtei stattgefunden hatte, war aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen war der junge Mann, der gekrönt wurde, gar nicht der König.
Nach den Söhnen des Eroberers, Rufus und Heinrich I. und einem Zeitraum der Anarchie, in dem die Nachfahren in der weiblichen Linie um die Vorherrschaft kämpften, war die englische Krone auf das Haupt eines außergewöhnlichen Mannes gelangt. Heinrich II. hatte England und die Normandie durch seine Mutter, die Enkelin des Eroberers, geerbt. Durch eine spektakuläre Heirat gelangte er in den Besitz der riesigen Ländereien von Aquitanien in Südwestfrankreich einschließlich des reichen Weinanbaugebiets Bordeaux. Von seinem französischen Vater erbte er die fruchtbare Region Anjou. So war der König von England der Herrscher eines Feudalreiches, das sich von der europäischen Atlantikküste Spaniens bis nach Schottland erstreckte.
Von seinem Vater hatte er noch zwei weitere Dinge: den sonderbaren Familiennamen, der von einem Vorfahren stammte, der, wie es hieß, seinen Helm anstatt mit einer Feder mit einer Blume zu verzieren pflegte, und zwar mit einem Ginsterzweig; plante à genet hieß dieser in Frankreich, in Englisch wurde daraus Plantagenet; und das Temperament der Familie Plantagenet. Er war ausgesprochen intelligent und scharfsichtig und ständig unterwegs in seinem Bestreben, sein Reich zu sichern und auszudehnen. Er war ein hervorragender Verwalter. Er veränderte das englische Rechtswesen; seine ausgebildeten Richter boten seinen Untertanen ein königliches Gericht anstatt der unberechenbaren Gerichte der Feudalherren. Doch seine Verwaltung war auch sehr streng. In eben diesem Jahr zitterte die Hälfte der Sheriffs von England vor den Beamten des Schatzamts, die unangekündigt bei ihnen aufzutauchen pflegten, um sich Einblick in ihre Geschäfte zu verschaffen.
Doch die Plantagenets hatten auch noch eine andere Seite. Selbst gemessen an der Norm dieser gefährlichen Zeit waren sie ruchlos, böse und bekannt für ihre schrecklichen Wutanfälle.
König Heinrich II. hatte vier ungestüme Söhne. Um die Thronfolge zu sichern, hatte er seine Familie und sein Gefolge in die Westminsterabtei gerufen und vor ihren Augen seinen ältesten Sohn krönen lassen, während er selbst noch durchaus lebendig war. Seine Untertanen hofften, daß dieser Schachzug des Königs etwas Ordnung in seine Teufelsbrut bringen würde.
Und noch etwas Sonderbares hatte diese Krönung: Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury, der Priester, der diese Zeremonie durchführen sollte, war nicht anwesend. Er hatte das Land fluchtartig verlassen.
Becket, dachte Silversleeves. Verfluchte Familie. Wenn man sie zertritt, richtet sie sich sofort wieder auf, diese Schlangenbrut. Eine dunkle Nacht. Dies war es, was ihn an Becket erinnerte. Eine andere dunkle Nacht vor langer Zeit. Ein anderes schreckliches Verbrechen. Hatte seine Familie es begangen? Waren sie geborene Verbrecher? Nein, dies konnte er nicht hinnehmen. Wenn die Beckets Männer zu finsteren Taten antrieben, dann waren sie es, die Schuld daran hatten.
Die Feindschaft zwischen den Beckets und den Silversleeves hatte sich in den vergangenen hundert Jahren noch verschlimmert. Als Gilbert Becket, ein wohlhabender Seidenhändler, mit seiner Familie in London ankam, waren die Silversleeves, die noch immer in ihrer Steinhalle im Schatten von St. Paul's lebten, reiche, stolze und geachtete Leute, die die Neuankömmlinge als Eindringlinge bezeichneten. Kaum jemand nahm Notiz davon, denn zu jener Zeit gab es unter den ehrbarsten Bürgern Londons viele Zuwanderer aus Frankreich, Flandern und Italien. Namen wie Le Blond und Bucherelli wurden bald zu Blunt und Buckerell. Die Beckets zogen in ein stattliches Haus am West Cheap in der Nähe des Judenviertels. Sie kauften ein Dutzend weiterer Häuser. Es ging ihnen finanziell ausgezeichnet. Und dann bekam Gilbert Becket eine wichtige Stellung in der Stadt, die sich Pentecosts Großvater erhofft hatte. Da schlug die alte Bitterkeit in Haß um.
Wer hatte die Brände gelegt? Das erste Feuer brach im Haus der Beckets in der Nacht aus, in der ihr Sohn Thomas geboren wurde. Das zweite brannte viele Jahre später an einem anderen Ort, zerstörte jedoch einen Großteil ihres Besitzes. Gerüchte kursierten. »Das waren die Silversleeves!« flüsterten sich die Leute zu. »Die haben das Feuer gelegt! Sie haben die Beckets ruiniert.« Pentecosts Vater konnte sich noch so heftig dagegen wehren, diese Flüsterpropaganda verbreitete sich unaufhaltsam weiter. Allmählich schlich sich ein neuer Gedanke in die düsteren Köpfe der Silversleeves ein. »Die Beckets haben die Gerüchte in Umlauf gebracht. Sie verfolgen uns bis ins Grab.« Oft fragte sich der junge Silversleeves, ob dies wohl stimmte.
Doch die Beckets ließen sich nicht unterkriegen. In London erinnerte man sich noch gut an den jungen Thomas Becket, der sich selbst gern Thomas von London nannte. Er war wie Pentecost ein fauler Bursche und brachte es nie zum Magister. Doch auch er wurde Kleriker und machte sich trotz des väterlichen Ruins einen Namen. Der alte Erzbischof von Canterbury nahm ihn bei sich auf. Er machte Eindruck beim König. Er hatte ein Talent dafür, die Leute zu beeindrucken, sein Äußeres half ihm dabei. Er war groß, sah blendend aus und kleidete sich stets elegant. Er machte seine Sache so gut, daß er im Alter von nur siebenunddreißig Jahren zum Kanzler von England ernannt wurde. Doch die Überraschung über diesen Aufstieg war nichts im Vergleich zur allgemeinen Verblüffung, als er sieben Jahre später zum Erzbischof von Canterbury ernannt wurde. Thomas, der weltliche Diener des Königs, sollte nun der Primat von ganz England sein? Und weiterhin auch noch der Kanzler des Königs? »Der König will den Daumen auf die Kirche halten«, bemerkte Pentecosts Vater. »Und dies wird ihm mit Becket auch gelingen.«
Doch dann passierte etwas Sonderbares. Eines Tages stieß Pentecost bei seiner Heimkehr von der Schule im Innenhof seines Vaters auf lauter aufgeregte Leute. »Becket hat sich gegen den König gewandt!«
Natürlich kam es öfter vor, daß König und Erzbischof Meinungsverschiedenheiten hatten. In den letzten hundert Jahren war in ganz Europa immer wieder darüber diskutiert worden, wie Kirche und Staat ihre Autorität ausüben sollten. Waren die großen Feudalbischöfe dem König Untertan oder nicht? Konnte ein Papst einen König absetzen? Es hatte Exkommunikationen gegeben. Erst in der letzten Generation war es in England unter Rums, der sehr barsch mit der Kirche umging, so weit gekommen, daß der fromme Erzbischof Anselm sich gezwungen sah, dem Königreich mehrere Jahre den Rücken zuzukehren. Heinrich II. war sicher genau die Art von Monarch, um solche Querelen zu schüren. Aber Becket? Der treue Diener seines Königs?
»Er hat sämtlichen Pomp aufgegeben«, hieß es. »Er lebt nun wie ein ganz einfacher Mönch.« War der ehrgeizige, weltliche Londoner tatsächlich fromm geworden?
Für Pentecosts Vater war die Sache ganz einfach; seiner Meinung nach hatte Becket, wie es für diese Familie so typisch war, einfach eine neue Rolle gefunden, mit der er sich nun zur Schau stellen wollte.
Doch offenbar hatte es schon mehrere Jahre lang Auseinandersetzungen zwischen dem König und seinem Kanzler gegeben. Die beiden einst so eng befreundeten Männer waren zu erbitterten Feinden geworden. Deshalb ließ König Heinrich nun auch seinen Sohn vom Erzbischof von York krönen, womit er den Erzbischof von Canterbury zutiefst beleidigte.
Pentecost Silversleeves' Gedanken wurden von einem plötzlichen Tumult am Eingang unterbrochen. Der stämmige Handwerksmeister mit dem kurzgeschorenen, braunen Bart und der weißen Haarsträhne in der Stirn hatte die Höflinge am Eingang beiseite geschubst und stapfte in den Saal. Er trug einen hellgrünen Umhang und grüne Beinlinge. Sein hochrotes Gesicht war aufgedunsen vor Wut. Hinter ihm standen zwei große Gerichtsdiener. Die verblüfften Schreiber drehten sich um und starrten ihn an. Die würdigen Gestalten am ExchequerTisch, ebenfalls erstaunt über diese unbotmäßige Störung, blickten nur schweigend im Saal umher. Doch der Handwerker kümmerte sich nicht weiter um sie. »Da ist er ja!« schrie er. »Nehmt ihn gefangen!« Er deutete auf Silversleeves.
»Unter welcher Anklage?« fragte der Justitiar, der persönliche Repräsentant des Königs, mit ehrfurchtgebietender Stimme.
»Mord!« erklang die schreckliche Antwort, die im ganzen Saal widerhallte.
Der große Mann mit dem breiten Gesicht blickte sich zufrieden um. Die anderen Männer in der kleinen Halle verbeugten sich respektvoll, und Alderman Sampson Bull schenkte ihnen ein Lächeln. Dies sollte der beste Tag in seinem Leben werden.
Alles an Alderman Sampson Bull war rot. Er trug ein langes, rotes Gewand, eine rote Hose, einen roten Mantel mit goldenen Bündchen und einen roten Ledergürtel. Auf seinem Kopf saß ein großes, rotes Barett. Sein Gesicht, auf dem helle Bartstoppeln eines Zweitagebartes schimmerten, war rosa. Nur seine Augen waren blau. Seine massige Gestalt paßte ausgezeichnet zu seinem Familiennamen.
Der Name war nach und nach entstanden. Nach der Eroberung hatte sich die Familie in die normannische Manier gefügt, dem eigenen Namen den Namen des Vaters mit der Vorsilbe Fitz hinzuzufügen. Doch dieses System hatte einen Nachteil. Leofrics Sohn hieß Edward FitzLeofric, sein Enkel Richard FitzEdward, und Richards Sohn hieß Simon FitzRichard, doch wenn drei oder vier Generationen unter einem Dach lebten, konnte die Sache ziemlich verwirrend werden. Da die Familie schon immer unter dem Hauszeichen des Bullen wohnte, wurden sie deshalb oft genug einfach danach bezeichnet.
Sampson Bull war ein wichtiger Mann. Seit dem Tod seines Vaters vor zwei Jahren war er das Familienoberhaupt. Als reicher Textilhändler – ein Großhändler, der mit Wolle und Tuch handelte – war er bereits mit dreißig zum Alderman seines Stadtbezirks ernannt worden, und dies war eine einflußreiche Position.
Die Regierung Londons umfaßte drei Ebenen. Die unterste war der Parish, oft nur sehr klein, in dem jedoch einige wichtige Bürger sitzen konnten. Bedeutender waren die etwa zwanzig Wards. Jeder dieser Bezirke hatte seinen eigenen kleinen Rat, den Wardmote, der sich aus führenden Bürgern zusammensetzte, die auch den größeren Stadtrat bildeten. An der Spitze standen die Aldermen, je einer für jeden Ward. Manchmal besaßen sie große Gebiete in ihrem Ward; oft behielten sie ihren Posten ein Leben lang. Sie organisierten das Militär und bildeten den allmächtigen inneren Rat der Stadt. Sampson Bull gehörte zu dieser inneren Gruppe.
Das London, über das sie herrschten, war größer als früher. Entlang der Straßen, die aus der Stadt hinausführten, waren viele neue Häuser entstanden. Im Westen, außerhalb von Newgate, wo der Fleet-Fluß zum Holborn wurde, waren die neuen Außengrenzen der Stadt durch Steine markiert, die als Stadtschranken bezeichnet wurden. Als grimmige Erinnerungen an die normannische Eroberung dienten auch noch zu dieser Zeit im Westen die Befestigungsanlagen bei Ludgate, im Osten der mächtige Tower.
Alderman Bull führte seine Wardmote-Geschäfte zu Ende und entließ dann die Mitglieder. Kurz darauf stieg er den Cornhill hinauf und dachte an etwas sehr Erfreuliches: Bocton sollte an ihn zurückfallen.
Hundert Jahre waren vergangen, seit Leofric der Sachse den Besitz seiner Vorfahren in Kent an einen gewissen St. Malo verloren hatte, einen Gefolgsmann des Eroberers, und die Bulls waren davon ausgegangen, daß dies endgültig sei. Doch vor zwanzig Jahren nahm Jean de St. Malo am zweiten Kreuzzug teil und verpfändete dafür seinen Besitz. Der Kreuzzug verlief verheerend, der Ritter kehrte ohne einen Penny in der Tasche heim und gab nach jahrelangen Bemühungen schließlich auf. Bocton ging an seinen Gläubiger über. Gestern hatte dieser den Alderman von der Situation in Kenntnis gesetzt.
Er war ein kleiner, sehr eleganter Herr mit einem schwarzen Seidenumhang und einer Kappe auf dem Kopf. Sein Name war Abraham. »Als ich herausfand, daß dieses Land einst Eurer Familie gehörte, bin ich sofort zu Euch gekommen«, erklärte er. »Wie Ihr wohl wißt, kann ich den Besitz ohnehin nicht behalten.«
In jenen Tagen gab es viele Geldverleiher in London. Der ausgedehnte Handel, das wachsende Reich der Plantagenets und die Ausgaben der Kreuzzüge mußten finanziert werden. Normannische, italienische und französische Geldverleiher stellten große Summen zur Verfügung, ebenso wie der Kreuzfahrerorden der Templerritter und die jüdische Gemeinde in England. Doch während die meisten Geldverleiher Ländereien besaßen und sich die Templer sogar auf Landverwaltung spezialisierten, war es den Juden noch immer untersagt, Land zu besitzen. Wenn also ein jüdischer Geldverleiher Landbesitz erhielt, verkaufte er ihn gleich wieder.
Abraham nannte einen Preis. Bull erklärte, daß er ihn bezahlen könne, sobald sein Schiff zurückgekehrt sei. Er zweifelte nicht daran, daß die Reise erfolgreich sein würde, und er vertraute darauf, daß Abraham sich noch ein Weilchen geduldete. Ein einziger Gedanke trübte seine Freude: Er hatte seiner Mutter noch nichts davon erzählt. Doch dieses Problem wollte er nicht heute angehen.
Er war aus einem bestimmten Grund den Cornhill hinaufgegangen. Oben angekommen blickte er auf den zweiten Grund für seine gute Laune an diesem Tag – auf ein kleines Segelschiff. In einer Zeit, in der die meisten Ladungen von ausländischen Händlern nach Übersee verschifft wurden, gehörte Bull seit einem Monat zu den wenigen Londonern, die selbst ein Schiff besaßen. Es gab noch viele der schlanken normannischen Langboote mit ihren vielen Rudern, doch sein Schiff war nach südeuropäischer Art gebaut. Mit seinem breiten Rumpf, tiefliegend und meist von einem einzigen Hauptsegel angetrieben, war es schwerfällig und langsam, doch konnte so eine Kogge mit einer kleinen Besatzung bei jedem Wetter segeln und hatte einen sehr geräumigen Frachtraum. Im Frachtraum seines Schiffes ruhte ein Drittel von Bulls Vermögen in Form von Wolle, die nach Flandern verschifft werden sollte. Wenn das Schiff mit Seide, Gewürzen und anderen kostbaren Gütern zurückkehrte, würde ihm der Ertrag aus dieser Reise genügend zusätzliche Mittel einbringen, um die wichtigste Veränderung am Status und dem Vermögen seiner Familie seit der normannischen Eroberung vorzunehmen.
Die kleine Kogge kam gerade am Tower vorbei, glitt in die lange Gerade und näherte sich schließlich der großen Flußkurve. Doch plötzlich kam sie ins Schlingern. Ihr Bug steuerte auf das Südufer zu, sie driftete seitwärts ab, begann, sich wie verrückt zu drehen und blieb schließlich, wie von einer unsichtbaren Hand festgehalten, stecken.
Alderman Bull verstand sofort, was passiert war. Er stieß einen Wutschrei aus. »Fischreusen! Dieser verfluchte König!« Dann hastete er den Hügel hinab.
Diese Äußerung galt als Hochverrat, doch kaum ein Alderman in London hätte Bull widersprochen. Die alten Fischereirechte der Stadt waren in großen Ämtern konzentriert worden, und nun oblag das Fischen auf vielen Meilen flußabwärts keinem anderen als dem Diener des Königs, dem Burghauptmann des Towers. Da die Themse sehr fischreich war, waren die Rechte sehr wertvoll, und der Burghauptmann durfte den maximalen Profit daraus ziehen. Der breite Fluß wurde mit Netzen, Auslegern, Wehren und sonstigen Fischfangvorrichtungen zunehmend verstopft. Diese Hindernisse hießen allgemein nur Reusen. Zwar beschwerten sich die großen Kaufleute immer wieder beim König persönlich über die Schäden an ihren Schiffen, doch es wurden stets nur vage Versprechungen gemacht, und die Reusen blieben bestehen.
Am Spätnachmittag war die Kogge wieder an ihrer Anlegestelle. Das Steuer war zerbrochen, die Reparatur würde mindestens einen Tag dauern. Die Netze gehörten einem rothaarigen Fischhändler namens Barnikel, wie Bull herausfand. Er kannte den Mann flüchtig, doch dieser hatte nur gemeint: »Die Geschichte mit Eurer Kogge tut mir leid, aber ich zahle dem Burghauptmann ein Vermögen, damit ich hier fischen darf.« Bull konnte sich kaum mit dem Mann darüber streiten, so wütend er auch war. Doch eines war ihm klar, und er wußte es mit dem gleichen Gespür für das Richtige und das Falsche, über das auch seine Vorfahren verfügt hatten: Er wurde betrogen. Der König und sein Burghauptmann mißachteten die Interessen der fahrenden Leute der Stadt und betrieben ein unfaires System, ein unsauberes Geschäft. Und als er da so alleine an der Anlegestelle stand, tat er einen stillen, feierlichen Schwur: »Eines Tages werde ich sie daran hindern!«
Zu Hause angekommen, wurde der Alderman von seiner Familie empfangen, die ihn besorgt erwartete. Er dachte, daß sie sich wegen des Schiffes sorgten, und erklärte ihnen kurz, daß das Steuer repariert werden würde. Doch seine Mutter schüttelte nur den Kopf und meinte: »Leider geht es um etwas anderes. Du mußt jetzt ganz ruhig bleiben, Sampson!«
»Um was geht es denn?«
»Nun ja…« Sie hielt inne, weil sie so aufgeregt war. »Es geht um deinen Bruder.«
Bruder Michael stand zitternd vor dem wütenden Abt.
»Du brichst deine Gelübde!« schrie der Abt mit donnernder Stimme.
Bruder Michael besaß ein einfaches Gemüt und eine reine Seele. Er war drei Jahre jünger als Sampson, unterschied sich jedoch von seinem Bruder auf mannigfaltigste Weise. Sampson war eher stämmig, Michael groß und dünn; Gebet und Versenkung hatten sein breites sächsisches Gesicht weich werden lassen; er war ruhig und milde. Doch nun, als sich das gesamte Kloster gegen ihn wandte, zeigte er auch Stärke.
Warum war er Mönch geworden? War es ein jugendliches Auflehnen gegen den Vater gewesen, gegen dessen Grobheit und sein endloses Gerede über Geld? War es wegen Sampson, dem großen Bruder, den er als Kind so verehrt hatte, dessen kleine Grausamkeiten ihn jedoch immer mehr entsetzt hatten? War es ein Sehnen danach, den einfachen Glauben seiner frommen Mutter zu beschützen?
Nein. Es war eine innere Stimme gewesen, die ihn dazu gebracht hatte, ein wachsendes Gefühl, daß die Welt um ihn herum leer war, ein Bedürfnis nach Reinheit und Einfachheit. Michael wollte die lebendige Anwesenheit Gottes spüren, und zwar jeden Tag. Und er wußte, daß er dies in der Welt nicht tun konnte.
In den letzten Generationen war eine große neue Welle religiösen Gefühls über ganz Europa geschwappt und hatte auch die Küsten Englands erreicht. Die großen Zisterzienserklöster unter Führung des strengen Bernhard von Clairvaux hatten ihre einfachen religiösen Gemeinschaften und Schafzuchten vom Mittelmeer ausgehend bis in die düsteren Moorgegenden Nordenglands verbreitet. Eine plötzliche Begeisterung für die gebenedeite Jungfrau Maria war aufgekommen. Die Straßen zu den Heiligenschreinen Europas waren voller Pilger. Und vor allem war die Christenheit in den letzten siebzig Jahren einem neuen Ruf gefolgt, das Heilige Land vor den Sarazenern zu retten, und hatte sich in die großen Abenteuer der Kreuzzüge gestürzt.
Auch in London war dieser Eifer spürbar. In der Stadt häuften sich neue Kirchen und andere Stiftungen. Am Themseufer in der Nähe von Aldwych errichteten die Templer ein riesiges Hauptquartier. In der Nähe der Westminsterabtei gab es ein neues Krankenhaus, das St. James gewidmet war. Mehr als ein Fünftel der Londoner Bevölkerung hatte religiöse Weihen unterschiedlicher Art empfangen.
Als Michael mit Siebzehn den Wunsch äußerte, Mönch zu werden, war sein Vater zwar enttäuscht, jedoch nicht wirklich entsetzt gewesen. Da sein Sohn sich nicht von seiner Berufung abbringen ließ, verschaffte er ihm einen Platz in der aristokratischen Gemeinde der Benediktinermönche in der großen Westminsterabtei, der er eine stattliche Spende zukommen ließ, und bemerkte hoffnungsvoll: »Der Palast des Königs befindet sich gleich neben der Abtei. Auch Mönche können großartige Laufbahnen einschlagen.«
Und so hatte Michael in der alten königlichen Abtei von Westminster zehn glückliche Jahre verbracht. Er liebte die graue Abtei, die große Halle, die Stimmung, die diese so nahe beieinander liegenden Gebäude – das Kloster, die königliche Kapelle und die Innenhöfe der königlichen Verwaltung – verbreiteten. Er fand es sehr angenehm, an einem so stillen und friedlichen Ort zu leben, der doch so nahe am Zentrum allen Geschehens war.
Er war glücklich, als er seine Gelübde ablegen durfte. »Diese drei Gelübde«, erklärte ihm der alte Mönch, der ihn darauf vorbereitete, »werden dir für den Rest deines Lebens wie Freunde sein, die dich auf deinem Weg zu Gott begleiten. Warum verpflichten wir uns der Armut?«
»Weil unser Herr sagt: ›Wo dein Reichtum liegt, befindet sich dein Herz. Verkaufe alles, was du hast, und folge mir.‹«
»Genau. Man kann nicht gleichzeitig Gott und weltliche Güter lieben. Wir entscheiden uns für Gott. Und die Keuschheit?«
»Der dem Fleische folgt, vernachlässigt die Seele.«
»Und Gehorsam?«
»Um meinen Stolz und meine Wünsche zu beschwichtigen.«
»Und dich von denjenigen leiten zu lassen, die weiser sind als du.« Diese drei Gelübde wurden von jedem christlichen Mönch abgelegt. »Sei ihnen treu, wie du es guten Freunden bist, dann werden sie dich beschützen.«
Bruder Michael hatte seine Gelübde geschworen und sie eingehalten. Auch wenn er sah, daß nicht alle Mönche in Westminster keusch, gehorsam oder in Armut lebten, so wußte er, daß es nur menschliche Schwäche war, und betete für sie.
Ein Jahr nach Michaels Eintritt hatte der Papst, nachdem er das große Werk Life gelesen hatte, das die Abtei über das Leben des Monarchen verfaßt hatte, den Bitten der Mönche Gehör geschenkt und ihren ehemaligen Patron, Eduard den Bekenner, heiliggesprochen. Michael war glücklich, als er mit den Schreibern Kopien von Manuskripten anfertigen durfte, denn er liebte Bücher, und die Abtei hatte eine ausgezeichnete Bibliothek. »Unsere Abtei ist älter als St. Paul's«, hatten ihm seine Glaubensbrüder erklärt. »Der Heilige Petrus ist persönlich nach Britannien gekommen und hat dieses Kloster gegründet.«
Erst im Lauf der Zeit stieß er auf einiges, das ihn beunruhigte. War die Abtei mit ihren ständig wachsenden Ländereien nicht einfach ein wenig zu reich? Lebten die Mönche nicht ein wenig zu gut? Was war aus dem Armutsgelübde geworden? Jahrelang hatte er solche Zweifel beiseite geschoben. Das Leben in Westminster hatte ihm viele Freuden beschert. Doch vor zwei Monaten war etwas geschehen.
Seit mehreren Jahren kopierte er Manuskripte im Skriptorium. Die Dokumentation und Betreuung der klösterlichen Unterlagen oblagen den älteren Schreibern. Michael fühlte sich sehr geehrt, als ihn eines Morgens einer dieser Schreiber um seine Hilfe bat. In der Hand hielt er eine Urkunde, die von einem alten sächsischen König stammte, wie Michael gleich erkannte. »Was sollen wir damit tun?« fragte er.
»Mach sie älter«, erwiderte der Mönch. »Du weißt schon, einstauben, einölen, laugen.«
Da begann Bruder Michael zu verstehen. Im darauffolgenden Monat sah er sich die meisten Urkunden der Westminsterabtei an und verbrachte viele Stunden mit aufmerksamsten Studien. Schließlich ging er zum Abt und verkündete ernst: »Ich habe entdeckt, daß mindestens die Hälfte aller Urkunden der Abtei gefälscht ist.«
Doch der Abt lachte nur.
Die Lage in der Westminsterabtei war sogar noch schlimmer, als Bruder Michael anfangs gedacht hatte. Das große Werk Life über Eduard den Bekenner war größtenteils Fiktion. Es gab keinerlei Beweis für die Behauptung der Abtei, älter zu sein als St. Paul's. Und so wurde es als Wille Gottes ausgelegt, die fehlenden Unterlagen bereitzustellen. Sie wurden einfach gefälscht. In einer Zeit, in der solche Fälschungen vor allem im Benediktiner-Orden in ganz Europa weit verbreitet waren, war die englische Westminsterabtei die unumstrittene Meisterin auf diesem Gebiet. Urkunden von Grundbesitzschenkungen, königliche Erlasse zu Steuerbefreiungen, selbst päpstliche Bullen – manche dieser Unterlagen waren so hervorragend gefälscht, daß sie jahrhundertelang nicht angezweifelt wurden.
Ein paar Tage, nachdem der Abt Michael erklärt hatte, daß er sich keine Sorgen machen sollte, wurde er wieder um seine Hilfe gebeten, doch er verweigerte sie.
Innerhalb von wenigen Wochen wurde die Lage unerträglich. Man erinnerte ihn an sein Gehorsamsgelübde. Er bat Gott um Hilfe, doch er konnte dem Problem nicht entkommen.
Alle diese Urkunden sollen ja nur die Privilegien und den Reichtum der Abtei stärken, gab er sich selbst zu bedenken. Aber wie paßt dies zu meinem Armutsgelübde? Und was ist das für ein Gehorsam, wenn ich nicht meinem Gewissen gehorchen kann? Es zeigte sich ihm nur ein einziger Weg, und so ging er eines Tages zum Abt und erklärte ruhig, daß er den Orden verlassen wolle.
»Dies alles tun wir doch nur zum Ruhme Gottes«, erläuterte ihm der Abt. »Wenn wir Geschichte schreiben oder vom Leben der Heiligen berichten, soll dies doch nur den göttlichen Plan illustrieren, damit die Menschen ihn besser verstehen können. Wenn es Gottes Wille ist, daß die Rechte und das Alter dieser Abtei bekannt werden, tun wir recht daran, den Beweis zu liefern, um die sündigen Menschen von der Wahrheit zu überzeugen.«
Doch Michael war nicht dieser Meinung. Der gesunde Menschenverstand seiner sächsischen Vorfahren stand ihm im Weg. Entweder es war eine alte Urkunde oder nicht. Entweder es war Wahrheit oder Lüge. »Es tut mir leid, aber ich möchte gehen«, wiederholte er.
»Und wohin willst du gehen?«
Auch darum hatte Bruder Michael sich bereits gekümmert, wie er dem Abt gesenkten Hauptes erklärte. Der Abt starrte ihn erstaunt an und erklärte: »Du bist verrückt.«
Die Menge verstummte. Auf ein Zeichen des Gerichtsdieners nahm der junge Henry Le Blond zögernd den Umhang von seinen Schultern und trat vor. Obwohl es ein warmer Sommermorgen war, zitterte er. Pentecost Silversleeves stand versteckt in der Menge und beobachtete entsetzt das Geschehen.
Der Ort, an dem es stattfand, war eine große offene Fläche vor der nordwestlichen Ecke der Stadtmauer. Am westlichen Rand senkte sich der Boden hinab zum Flußbett des Holborn. In der Mitte des Platzes stand eine Gruppe von Ulmen, vor denen sich eine Pferdetränke befand.
Smithfield hieß dieser Ort. Samstags fand hier meist ein Pferdemarkt statt, und manchmal gab es bei den Ulmen Hinrichtungen. An der Pferdetränke, neben der nun etwa vierhundert Leute standen, wurden manche wichtige Rechtsangelegenheiten abgewickelt.
Am Rand des Wassers standen neben Le Blond, der bis auf einen Lendenschurz nackt war, zwei weitere junge Männer, zwei Gerichtsdiener, ein Dutzend Aldermen, ein Sheriff und der Justitiar von England höchstpersönlich. Ein Handwerksmeister war angegriffen, einer seiner Lehrlinge getötet worden. Die Schuldigen waren alle bekannt, denn in der Hoffnung, ungeschoren davonzukommen, hatten sie sich als Kronzeugen aufstellen lassen und sich gegenseitig beschuldigt. Das Verbrechen hatte sich in der Nacht ereignet, in der der Prinz gekrönt worden war. König Heinrich war so erbost, daß er seinem Stellvertreter befohlen hatte, sich persönlich um die Angelegenheit zu kümmern. »Ich will sie alle in drei Tagen verurteilt sehen«, hatte er gefordert.
Nun fesselten die Gerichtsdiener auf ein Nicken des Justitiars hin die Hände des jungen Mannes hinter seinem Rücken und banden seine Füße zusammen. Dann ergriffen sie ihn bei den Knöcheln und den Schultern, hoben ihn hoch und begannen, ihn hin- und herzuschwingen. »Eins!« schrie die Menge. »Zwei! Drei!« Le Blonds Körper flog durch die Luft und fiel ins Wasser.
Henry Le Blond kämpfte um sein Leben.
Es gab viele verschiedene Arten von Prozessen in England. Bei zivilen Streitigkeiten konnten die Freien eine Geschworenenverhandlung vor den unparteiischen Gerichtshöfen König Heinrichs beantragen, doch ernste Vergehen wie Mord oder Vergewaltigung, auf die die Todesstrafe stand, waren der göttlichen Gerechtigkeit unterstellt; es wurde ein Gottesurteil verlangt. Frauen mußten in so einem Fall oft ein glühendheißes Eisen anlangen, und dann beobachtete man, ob die Verbrennungen heilten, was auf Unschuld hinwies, oder in Wundbrand übergingen, was Schuld bedeutete. Männer wurden meist dem schnelleren Verfahren zugeführt – das Gottesurteil wurde vom Wasser gefällt. Wenn Le Blond nicht unterging, war er schuldig. Dieses Gottesurteil zu überleben war schwierig. Um seine Unschuld zu beweisen, mußte man untergehen, und dies ging am besten, wenn man sein Gewicht verringerte und tief ausatmete; doch wenn man dann nicht schnell genug wieder herausgefischt wurde, ertrank man. Ängstliche Männer atmeten instinktiv tief ein und trieben auf dem Wasser. Die Menge sah schweigend zu. Dann ertönte ein Aufschrei. Henry Le Blond ging nicht unter.
Ich sollte dort bei den anderen stehen, dachte Pentecost Silversleeves. Aber er war frei; er war ja ein Mann der Kirche.
Von allen Privilegien der Kirche war keines nützlicher als das Recht eines jeden Klerikers, der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterstellt zu werden, egal, wie groß sein Vergehen war. Es liefen genügend kriminelle Kleriker herum, da dieses System natürlich oft genug mißbraucht wurde. Bei seinem Streit mit seinem früheren Freund Becket hatte König Heinrich II. nichts mehr erzürnt als die Weigerung des Erzbischofs, es zu reformieren.
Eigentlich sollten Männer, denen schwere Verbrechen vorgeworfen wurden, ihrer kirchlichen Weihen entledigt und dem königlichen Gericht zur Bestrafung zugeführt werden. »Doch selbst dagegen wehrt Ihr Euch noch«, hatte König Heinrich protestiert. »Das ist wirklich unerträglich.« Viele vernünftige Leute in der Kirche pflichteten ihm bei, doch Becket hatte auf seiner Weigerung beharrt und weilte immer noch im Exil.
Am Vortag hatte Pentecost Silversleeves' Verhandlung in der Halle des Bischofs von London in St. Paul's stattgefunden. Gilbert Foliot, der Bischof von London, war ein Aristokrat. Seine schwarze Robe war aus Seide. Sein hageres, gelbes Gesicht sah aus, als sei uraltes Vellum über seinen Schädel gezogen worden. Seine Hände wirkten wie Klauen, so dürr waren sie. Er hielt Becket für einen vulgären Idioten. »Ihr solltet dem König übergeben und hingerichtet werden«, hatte er trocken bemerkt. Aber er konnte nichts dergleichen unternehmen; denn das Kirchengericht folgte noch immer den alten Regeln des Eidschwures. Wenn ein beschuldigter Kleriker behauptete, unschuldig zu sein, und genügend achtbare Zeugen bereitstellen konnte, die dies beschwörten, dann mußte er freigesprochen werden. Trotz der Tatsache, daß Pentecosts Komplizen ihn alle der Mitschuld bezichtigt hatten, hatte die Familie Silversleeves zwei Priester, einen Erzdiakon und drei Aldermen herbeigeschafft, die ihnen einen Gefallen schuldeten oder auch erpreßt wurden, und diese hatten vor dem Bischof geschworen, daß sich der junge Pentecost niemals auch nur in der Nähe des Schauplatzes des Verbrechens aufgehalten habe.
»Deshalb bin ich verpflichtet«, hatte Foliot mit einem verächtlichen Blick auf Silversleeves und seine Zeugen gesagt, »Eure Unschuld zu erklären. Und da Ihr theoretisch unschuldig seid, könnt Ihr auch nicht der königlichen Gerichtsbarkeit übergeben werden. Doch das eine sage ich Euch: Solange ich es verhindern kann, werdet weder Ihr noch Eure lügnerischen Zeugen in dieser Diözese je wieder so eine Vorzugsbehandlung erfahren.« Damit waren sie entlassen worden.
Auch die anderen beiden gingen nicht unter. Sie waren alle schuldig und sollten nun, wie es der König in diesem Fall wünschte, auf der Stelle ihrer Bestrafung zugeführt werden.
In diesem Moment fiel Silversleeves' Blick auf die stämmige Gestalt mit der weißen Haarsträhne, die nur etwa zehn Meter von ihm entfernt stand. Silversleeves wollte sich ducken, doch der Handwerksmeister hatte ihn bereits entdeckt und bahnte sich einen Weg durch die Menge zu ihm hin.
Simon der Waffenschmied war ein konservativer Mensch. Er lebte noch immer im Haus seines Urgroßvaters Alfred und war auch in seine handwerklichen Fußstapfen getreten. Er besaß auch noch einiges Land in einem Weiler in der Nähe von Windsor, für das er Pacht zahlte. Und er war stolz auf sein handwerkliches Geschick. Doch er war weit entfernt von den reichen Großhändlern, den Aldermen, die die Geschicke der ständig wachsenden Stadt lenkten. »Die machen sich doch nie die Hände schmutzig, wie wir es tun«, pflegte er oft zu sagen. »Die halten sich für Adlige. Aber das sind sie nicht. Es sind nur Kaufleute, und die sind um nichts besser als ich.«
Als die jungen Kerle in sein Haus eingedrungen waren und seinen besten Lehrling ermordeten, hatte ihn dies auch deshalb so erbost, weil sich hier wieder einmal die Verachtung zeigte, die diese Leute seiner Klasse gegenüber hegten. »Das sind ganz gewöhnliche Verbrecher«, hatte er getobt. Und nun war er nach Smithfield gekommen, um mit eigenen Augen zu sehen, daß Gerechtigkeit erfolgte, auch wenn er sich nicht eines Anflugs von Bedauern erwehren konnte, als die jungen Männer für schuldig befunden wurden; denn er wußte, was als nächstes kommen würde. »Sie haben zwar etwas Schreckliches getan«, murmelte er, »aber trotzdem sind es arme Teufel.«
Dann hatte er Silversleeves entdeckt. Er trat neben den langnasigen jungen Mann und flüsterte ihm ins Ohr: »Du schleimiger Feigling! Du bist genauso ein Mörder, und sogar noch schlimmer als die anderen. Denn die werden jetzt sterben, du jedoch nicht, Judas. Weil du zu feige bist. Abschaum!« Damit entfernte er sich wieder.
Pentecost blieb noch, um die Hinrichtung zu sehen. Die drei jungen Männer wurden zu den Ulmen geführt, über deren hohe Äste Stricke geworfen wurden. Pentecost sah, wie die Schlingen um die Hälse gelegt wurden, sah, wie die drei hochgezogen wurden, während die Menge schrie: »Hoch mit ihnen!«, sah, wie sich die Gesichter seiner Freunde verzerrten und lila verfärbten, sah, wie ihre Körper wild zuckten, bis sie schließlich nur noch leblos dahingen.
Als Silversleeves eine Stunde später in den Exchequer-Hof trat, waren alle in ihre Arbeit vertieft. Eigentlich sollte die Ostersitzung bereits vorüber sein, doch mit der zusätzlichen Arbeit, die die Krönung des Prinzen mit sich gebracht hatte, gab es noch einiges zu tun. Dankbar, von der Hinrichtung abgelenkt zu werden, machte sich Pentecost an die Arbeit.
Erst nach einer Weile fiel ihm auf, daß es hier drinnen unnatürlich ruhig war. Die Schreiber taten ihr Bestes, ihn zu ignorieren. Es war die Scheu einem Menschen gegenüber, der soeben offiziell zu einem Ausgestoßenen geworden war. Pentecost versuchte, nicht darauf zu achten, doch nach einer Weile verließ er seinen Platz und wanderte im Palast von Westminster umher. Er wollte versuchen, die Bilder, die auf ihn einstürmten, zu ordnen.
Seine Eltern, als er es ihnen erzählt hatte. Seine Mutter, blaß, entsetzt, unfähig zu verstehen, wie ihr Sohn so etwas hatte tun können. Sein Vater, schrecklich in seiner stillen Wut, doch gleich darauf bedacht, seinen Sohn freizubekommen. Die Verhandlung. Die Augen des Bischofs. Die toten Körper seiner Freunde. Das Schweigen im Exchequer-Saal. Solange Foliot lebte, hatte er als Kleriker nichts mehr zu melden, aber was war mit dem Exchequer? Hatte er auch hier nichts mehr zu melden?
Gedankenversunken bog er in einen großen Durchgang ein und sah zwei Maler an der Wand arbeiten. Viele der Wände in den Sälen um die Westminster-Halle herum waren mit Wandmalereien versehen. Das Fresko hier bestand aus einer Reihe von Szenen aus dem Leben von Königen und Propheten des Alten Testaments. Im Zentrum stand ein Rad, an dem die beiden gerade arbeiteten. Silversleeves blieb stehen, um ihre Arbeit zu bewundern. »Was soll dieses Rad werden?« fragte er.
»Das ist das Schicksalsrad, Sir«, antwortete der eine.
»Und was soll es bedeuten?«
»Nicht mehr, Sir, als daß ein Mann zu Ruhm und Ehren aufsteigen und ebenso schnell wieder absteigen kann. Oder auch umgekehrt. Es bedeutet, daß das Leben wie ein Rad ist, Sir, das sich ständig dreht. Es lehrt uns, demütig zu sein.«
Silversleeves nickte. Jeder gebildete Mann kannte das Rad des Schicksals. Der römische Philosoph Boethius, der in den damaligen Schulen sehr geschätzt wurde, war nach einem politischen Umschwung ins Gefängnis geworfen worden und hatte dort darauf gedrungen, daß man sein Schicksal stoisch annehmen solle; er hatte das Geschick der Menschen mit einem sich ständig drehenden Rad verglichen. Silversleeves lächelte leise. Wie passend! Er würde sein Schicksal philosophisch angehen. Zwar war er jetzt gerade an einem Tiefpunkt angelangt, doch das Rad würde sich zweifellos wieder drehen. Er ging weiter.
Ein paar Minuten später stand er in der riesigen Westminsterhalle. Ein halbes Dutzend reich gekleideter Männer kam auf ihn zu. Sie liefen rasch, um mit dem Mann in ihrer Mitte Schritt zu halten. Sobald Silversleeves sah, wer es war, duckte er sich hinter einer Säule.
Im Gegensatz zu seinen Höflingen trug König Heinrich II. von England meist nur sehr einfache Kleidung – heute schlichte, grüne Beinkleider und ein Jägerwams. Er war durchschnittlich groß und eher breit gebaut und neigte wahrscheinlich zu Dickleibigkeit, die jedoch durch seine permanente Umtriebigkeit verhindert wurde.
Wenn Pentecost nicht versucht hätte, sich hinter der Säule zu verbergen, wäre er vielleicht ungeschoren davongekommen. Doch als er sich nun instinktiv an den grauen, normannischen Stein preßte, hörte er eine strenge Stimme in Französisch rufen: »Man bringe mir diesen Mann!« König Heinrich schätzte es nicht, wenn sich Leute vor ihm versteckten.
Kurz darauf standen sie sich gegenüber. Silversleeves hatte den König noch nie so nahe gesehen, was nicht weiter überraschend war, denn Heinrich Plantagenet verbrachte nur einen Bruchteil der Zeit in seinem nördlichen Königreich, und selbst wenn er auf der Insel weilte, reiste er ständig von Ort zu Ort und gab sich unterwegs gern der Jagd hin.
Ein normannisches Gesicht voller Sommersprossen, rötliches, mit grauen Strähnen durchzogenes, kurzgeschnittenes Haar. Der Urenkel des Eroberers und obendrein noch ein rastloser Plantagenet. Eine furchterregende Kombination. Graue, durchdringende Augen.
»Wer seid Ihr?«
»Ein Kleriker, Sire. Pentecost Silversleeves.«
»Und warum habt Ihr Euch versteckt?«
»Ich habe mich nicht versteckt, Sire.« Eine dumme Lüge.
Heinrich Plantagenet runzelte die Stirn, durchforschte sein Gedächtnis, erinnerte sich. »Silversleeves. Seid Ihr nicht einer der Unholde, die meinen Waffenschmied angegriffen haben?« Silversleeves wurde kreidebleich, Heinrichs Augen wurden plötzlich härter als Stein. »Warum seid Ihr nicht heute morgen gehängt worden?«
»Ich bin unschuldig, Sire.«
»Wer hat das gesagt?«
»Der Bischof von London, Sire.«
»Ein krimineller Kleriker«, zischte König Heinrich, während sich sein Gesicht vor Zorn rötete. Ein Schurke, der sich unter den Röcken der Kirche vor der Gerechtigkeit des Königs versteckte. Genau solche Geschichten hatten die Beziehung zu seinem alten Freund Becket getrübt.
Und dann hatte Silversleeves die Ehre, ein weiteres Charakteristikum zu beobachten, für das die Familie des Königs so berühmt war: einen Wutanfall in der Manier der Plantagenets.
»Viper!« Das Gesicht König Heinrichs lief dunkelrot an, und auch seine Augen waren blutunterlaufen. »Du langnasiger Sohn einer Hure! Du heuchlerischer, halbgarer Priester! Glaubst du, daß du dem Galgen entkommen bist? Glaubst du, daß du den König betrügen kannst, du eklige Kröte? Glaubst du das wirklich?«
»Nein, Sire«, stammelte Pentecost.
»Gut! Denn das wirst du auch nicht, das verspreche ich dir! Ich persönlich werde dafür sorgen, daß dein Fall wieder aufgerollt wird. Ich werde dich unter dem Gewand des Bischofs hervorzerren! Du wirst meine Gerechtigkeit schon noch zu spüren bekommen, du Abschaum. Du wirst den Tod riechen!« Letzteres war nicht laut gerufen, sondern aus vollster Kehle gebrüllt, so daß es überall in den hohen Räumen widerhallte.
Pentecost Silversleeves drehte sich um und floh aus der Halle, vorbei am Court of Common Pleas, wo zivile Angelegenheiten ausgetragen wurden, vorbei an Säulenreihen, vorbei am Court of the King's Bench, dem Gericht für Kronangelegenheiten, durch die große Eingangspforte hindurch in den Innenhof, vorbei an der Abtei, über den Tyburn-Fluß. Er floh an den Ufern der Themse entlang nach Aldwych und darüber hinaus. Er floh am Tempel der Ritter des Templerordens vorbei und über den Fleet-Fluß hinweg. Er lief den Ludgate-Hügel hinauf. Er floh in das Sanktuarium von St. Mary-le-Bow, und dort saß er gut eine Stunde lang und zitterte wie Espenlaub.
An einem warmen Nachmittag gegen Ende September saßen ein Mann und eine Frau still auf einer Bank vor einem großen Gebäudekomplex am östlichen Rand von Smithfield. Sie warteten. Der Mann, der eine graue Kutte und Sandalen trug, war Bruder Michael.
Die Frau, Anfang Zwanzig, wirkte eher alterslos. Sie war kurz und gedrungen; ihr Gesicht spiegelte anhaltend freundliche Entschlossenheit wider; ihr linkes Auge schielte; nur ihr rotes Haar, das sie streng zurückgekämmt trug, gab einen kleinen Hinweis darauf, daß sie der dänischen Familie Barnikel angehörte. Sie trug graue Nonnentracht. Sie hieß Schwester Mabel.
Die Gebäude hinter ihnen waren vergleichsweise neu. Vor weniger als fünfzig Jahren hatte ein Höfling, vom König für seinen Witz und seine Schlagfertigkeit geschätzt, plötzlich eine Vision, kehrte der Welt den Rücken und gründete ein Priorat und ein Krankenhaus, das er dem Heiligen Bartholomäus widmete. Die Priorei war reich und stattlich, das Krankenhaus sehr einfach. Diesem St. Bartholomew's Hospital gehörten Bruder Michael und Schwester Mabel an.
»Vielleicht kommt er ja doch nicht«, sagte Schwester Mabel. Sie hatte keine Angst um sich selbst, sondern um den sanften Bruder Michael. »Du mußt aufpassen«, warnte sie ihn noch einmal. »Er hat ein schwarzes Herz.«
»Er wird schon kommen«, sagte Bruder Michael gelassen. »Mutter wird ihn dazu bringen. Ich habe keine Angst, Schwester Mabel, denn du beschützt mich ja.«
Mabel Barnikel war die Schwester des Fischhändlers, der unabsichtlich dem Schiff von Alderman Bull einen schweren Schaden zugefügt hatte. Viele Leute lachten über sie, doch sie taten ihr unrecht, denn sie war eine gute Seele. Von klein auf hatte sie immer aufmerksam jedem gelauscht, den sie für weise hielt, und sich bemüht, die verwirrende Welt zu verstehen. Wenn sie schließlich damit zufrieden war, etwas verstanden zu haben, hielt sie eisern daran fest.
Mit dreizehn entdeckte sie, daß ihr ewige Verdammnis drohte, und zwar einzig und allein deshalb, weil sie eine Frau war.
Der Priester des Kirchensprengels hatte eine Predigt zum Thema Adam und Eva gehalten und die Gelegenheit genutzt, den weiblichen Gemeindemitgliedern eine strikte Warnung zukommen zu lassen. »Frauen, wenn ihre eure Seelen retten wollt, denkt an Eva. Denn es liegt in der Natur der Frau, der Frivolität und den Sünden des Fleisches zugeneigt zu sein. Frauen droht das Höllenfeuer ganz besonders.«
Er war ein weißhaariger, alter Mann, und Mabel verehrte ihn sehr. Da die Predigt sie zutiefst beunruhigte, bat sie ihn, ihr zu erklären, warum denn Frauen eher sündigten.
Der alte Mann lächelte freundlich. »Es liegt in ihrer Natur, mein Kind. Gott hat die Frau als die Schwächere geschaffen.« Dies war eine alte Annahme, die bis auf den Heiligen Paulus persönlich zurückging. »Gott hat den Mann nach seinem Ebenbild erschaffen, mein Kind. Aus dem Samen des Mannes entspringt das perfekte Ebenbild. Die Frau ist nur der Behälter, in dem der Samen reift, und deshalb minderwertiger. Sie kann zwar trotzdem in den Himmel kommen, doch es ist schwieriger für sie.«
»Aber wenn es so ist, daß aus dem Samen des Mannes sein perfektes Ebenbild entsteht, wie kommt es dann, daß auch Frauen geboren werden? Und wenn ein Kind nur aus dem Samen des Mannes geboren wird, warum ähneln dann Kinder oft ihren Müttern und nicht nur den Vätern?« wollte Mabel wissen.
»Gottes Vorhersehung ist in der Tat wundervoll. Mein Kind, du denkst ja wie ein Arzt! Deine Frage kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden, aber der große Philosoph Aristoteles war der Meinung, daß das Ungeborene, während es im Mutterleib heranwächst, von der Mutter Flüssigkeiten trinkt, die eine gewisse Auswirkung haben.« Der Priester lächelte, froh über diese Gelegenheit, seine Gelehrsamkeit unter Beweis stellen zu können.
»So sagt mir nur noch eines, Vater«, bat Mabel demütig. »Da es für eine Frau so schwer ist, gerettet zu werden, was muß ich dann tun?«
»Bete fromm! Gehorche deinem Mann! Manche Leute sagen, daß nur Jungfrauen problemlos in den Himmel kommen, aber dies ist ja nun kein Weg für alle Frauen.«
Aufgrund dieses Gespräches verstand Mabel schließlich drei Dinge: Frauen waren minderwertig; sie hatte vielleicht die Gabe der Heilkunst, da sie wie ein Arzt dachte; Jungfräulichkeit war der wahrscheinlichste Pfad in den Himmel.
Als sie einige Jahre nach dieser Unterhaltung merkte, daß sie wenig Chancen hatte, einen Ehemann zu finden, ließ ihr ernstes Wesen in ihr den Wunsch aufkeimen, in das religiöse Leben einzutreten. Das Problem jedoch war, daß ihre Leute nur einfache Fischhändler waren.
Nach ihren ruhmreichen Wikingerzeiten war es mit den Barnikels stetig bergab gegangen. Durch die Eroberung hatten die alten dänischen Familien in London ihre Besitzungen verloren und waren von hereinströmenden Kaufleuten aus der Normandie und dem wachsenden Netz der germanischen Hanse-Häfen immer weiter verdrängt worden. Der gegenwärtige Barnikel von Billingsgate war ein Fischhändler, der neben seinem Fischstand auf der Straße auch mit anderen Gütern für die Schifferei handelte. Er war ein geachteter Mann, doch sein Status lag weit unterhalb eines Großhändlers wie etwa Bull oder Silversleeves.
Aber warum sollte dies ein Problem sein? Es gab damals in England etwa zehn Prozent mehr Frauen als Männer. In Mabels Generation hatte sich dieser Unterschied weiter verstärkt, weil immer mehr Männer in den heiligen Stand eintraten und zumindest theoretisch ein keusches Leben führten. Für Frauen dagegen gab es nur wenige große Nonnenklöster, und es war teuer, in eines einzutreten; sie waren adligen Familien und den reichsten Kaufleuten vorbehalten. Bei den einfachen Kaufleuten und Handwerkern wurden die übriggebliebenen Frauen zur Mithilfe im Haushalt und im Betrieb der Männer gebraucht.
Mabel war also zu niedrig geboren, um Gott zu dienen. Aber sie war hartnäckig. Sie erfuhr von einem Nonnenkloster, das Laienschwestern für niedrige Dienste aufnahm. Einige der Kreuzzugorden hatten sogar Krankenschwestern. Schließlich fand man einen Platz für sie in dem Krankenhaus, das zu der reichen Priorei St. Bartholomew's gehörte. Eine Spende war nicht erforderlich.
Hier war sie glücklich. Die Krankenpflege gefiel ihr. Sie kannte sämtliche Kräuterheilmittel, die im Krankenhaus gebräuchlich waren, und in ihrer Kammer hatte sie einen wahrhaften Schatz von Gläsern, Topfen und Schachteln. »Löwenzahn zur Reinigung des Blutes«, konnte sie erklären; »Kresse gegen Kahlheit, Wolfsmilch gegen Fieber, Seerosen gegen Durchfall.« Schwerstkranken half sie auf ihrem Weg quer durch London, damit sie eine heilige Reliquie berühren konnten, wenn es denn keine andere Hoffnung auf Heilung gab.
Und dann kam Bruder Michael. Von dem Moment an, als sie ihn Anfang Juni erblickte, war sie sich sicher, daß er ein Heiliger war. Warum sonst sollte der Sohn eines reichen Kaufmanns die Westminsterabtei verlassen und ins Krankenhaus gehen? Erst im Lauf der Zeit merkte sie, daß nicht alle ihre Meinung über ihn teilten. Manche, wie etwa sein böser Bruder, hielten ihn sogar für einen Dummkopf, und dies ärgerte sie. Während sie ihn also nach wie vor verehrte, begann sie auch, ihn beschützen zu wollen.
Bruder Michael blickte auf das Stadttor und winkte. »Da ist er ja!« bemerkte er, während Alderman Bull auf sie zukam.
Bull hatte schlechte Laune. Er wäre nicht hergekommen, wenn ihn nicht die Mutter seit Wochen darum gebeten hätte. »Versöhne dich vor meinem Tod mit Michael.« Wenn er darauf nur verärgert erwiderte, daß sie ja keinesfalls im Sterben liege, sagte sie stets: »Das kann man nie wissen.« Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Warum stellte sich die Mutter immer auf Michaels Seite? Er persönlich hatte nie sehr viel von seinem jüngeren Bruder gehalten, und als dieser in das Kloster von Westminster eintrat, verachtete er ihn. Als er dann in diesem Juni das Kloster verließ, kannte sein Zorn keine Grenzen. »Unsere Spenden!« hatte er gedonnert. »Völlig umsonst!« Seitdem sprach er kein Wort mehr mit Michael.
Der wahre Grund, warum seine Mutter ihn immer wieder gedrängt hatte, Michael zu besuchen, war Bocton. Trotz der Verzögerung durch den Reusenschaden hatte sein Schiff die Reise erfolgreich hinter sich gebracht. Verhandlungen mit Abraham waren erfolgt, und morgen sollte der Vertrag unterzeichnet werden. Und genau dies entsetzte seine fromme Mutter.
Ein Kreuzritter war ein heiliger Pilger, bereit, in Gottes gerechtem Krieg als Märtyrer zu sterben. In den Augen der Kirche wusch ihn der Kreuzzug von seinen Sünden rein und garantierte ihm einen Platz im Paradies. Zwar kam es in diesem Jahrhundert häufig vor, daß der Besitz von bankrotten Kreuzrittern umverteilt wurde, doch viele hielten es für ein ernstes moralisches Vergehen und verlangten nach Gesetzen, um die Kreuzritter vor ihren Gläubigern zu schützen.
»Siehst du denn nicht, daß es ein Verbrechen ist?« hatte seine Mutter protestiert. »Die Not eines Kreuzritters so auszunützen? Und noch dazu mit einem heidnischen Juden!«
Als sie bei ihrem älteren Sohn keinen Erfolg gehabt hatte, war sie heimlich zu Michael gegangen.
Es war lange her, daß Sampson Bull sich die Mühe gemacht hatte, St. Bartholomew's zu besuchen, und als Michael ihn nun herumführte, konnte er nicht umhin, seine Bewunderung über diesen Ort kundzutun. Die Priorei bestand aus einer großen normannischen Kirche, einem Kloster, einem Refektorium und reich ausgestatteten klösterlichen Nebengebäuden. Im August veranstaltete das Priorat zum Namenstag des heiligen Bartholomäus immer eine Tuchmesse in Smithfield, aus der ihr ein stattlicher Gewinn erwuchs. Die Mitglieder der Gemeinde, die Kanoniker, waren eine kleine, doch vornehme Gesellschaft, die mit allen Annehmlichkeiten lebte.
Die Kirche selbst war sehr edel mit ihrem breiten, hohen Kirchenschiff, ihren massiven Säulen, den normannischen Bögen und den Tonnengewölben. Der etwas kleinere Chor war besonders hübsch mit seinem zweireihigen Schutz von Säulen und Bögen, die einen Halbkreis am östlichen Ende hinter dem Altar bildeten. Der Ort strahlte eine Mischung aus normannischer Stärke und orientalischer Wärme aus.
Obwohl Bull sich um Verträglichkeit bemühte, ärgerte er sich über gewisse Dinge. Der Anblick der nackten Zehen seines Bruders und das leise Schlurfgeräusch, das seine Sandalen auf den Steinfliesen verursachten, störten ihn. Und warum starrte diese Barnikel-Frau mit ihrem sonderbar schrägen Auge ihn ständig so übelwollend an?
Nachdem sie das Kloster besichtigt hatten, betraten sie das Krankenhaus. Das St. Bartholomew's Hospital war völlig getrennt von der Priorei. Die hier tätigen Brüder und Schwestern waren keine Kanoniker, sondern einfache Leute. Das Hauptgebäude war ein langer, schmuckloser, ziemlich enger Schlafsaal, der einem Klostergang ähnelte. Am Ende des Raumes befand sich eine einfache kleine Kapelle.
Wie die meisten Krankenhäuser in jener Zeit hatte auch das St. Bartholomew's als Hospiz angefangen, als Ort, an dem sich müde Reisende und Pilger ausruhen konnten. Dies hatte sich rasch geändert. Inzwischen gab es hier drei Blinde, ein halbes Dutzend Verkrüppelte, mehrere senile, alte Frauen. Es gab Männer mit Fieber, Frauen mit Furunkeln, Kranke und Leidende. Wie es damals Sitte war, lagen oft zwei oder drei, ja sogar noch mehr Kranke in einem Bett. Der Alderman blickte sich entsetzt um. Was tat er hier? Und was tat sein Bruder, der die Familienehre in einem angesehenen Kloster hätte aufrechterhalten können, an so einem widerlichen Ort?
Als sie wieder in den Sonnenschein hinaustraten, nahm Bruder Michael ihn sanft am Arm und zog ihn ein paar Schritte weg von Mabel. »Mein lieber Bruder«, sagte er, »ich bin sicher, daß unsere Mutter dich dazu gebracht hat, doch trotzdem bin ich sehr gerührt, dich hier zu sehen. Du mußt mir verzeihen, daß ich versuche, deine unsterbliche Seele zu retten.«
Bull grinste hämisch. »Du glaubst also, daß ich zur Hölle fahren werde? Aber wenn ich Bocton nicht kaufe, wird es ein anderer tun.«
»Doch es bleibt Unrecht.«
Sie hatten wieder kehrtgemacht und näherten sich Mabel. »Du vergeudest deine Zeit, Bruder«, sagte Bull. »Ich habe keine Angst vor der ewigen Verdammnis. Tatsache ist, daß ich nicht an Gott glaube.«
Dies war keine besonders schockierende Feststellung, auch wenn es Mabel fast den Atem verschlug. Selbst in jenen sehr religiösen Zeiten gab es zahlreiche Männer, die ihre Zweifel hatten. Vor zwei Generationen hatte König Wilhelm Rufus kein Hehl aus seiner tiefverwurzelten Skepsis gegenüber der Kirche und ihren religiösen Ansprüchen gemacht. Denker und Prediger bemühten sich ständig um Beweise für die Existenz Gottes. Bulls Ansicht, daß die Kirchen mit all ihren Stiftungen, ihren speziellen Gerichten und den über die Jahrhunderte erfolgten Zugewinnen nicht mehr waren als die Schöpfung von Menschen, bezeugte immerhin eine gewisse furchtlose, wenn auch brutale Ehrlichkeit, die sich von der seines Bruders gar nicht so stark unterschied.
Mabel sah dies natürlich nicht so. Sie wußte, daß Bull seinen vergeistigten Bruder verachtete; sie wußte, daß er vorhatte, einen Kreuzritter mit Hilfe eines Juden zu berauben. Nun hatte sie den letzten Beweis für seine abgrundtiefe Bosheit.
Bruder Michael schätzte besonders an Mabel, daß sie immer sagte, was ihr auf der Zunge lag. Doch selbst er war nun ein wenig verblüfft, als sie den stämmigen Alderman mit ihrem nicht schielenden Auge fixierte und laut und deutlich sagte: »Ihr seid ein schlechter Mensch und werdet mit den Juden zur Hölle fahren! Ihr solltet Euch schämen! Warum gebt Ihr nicht dem Krankenhaus Geld, anstatt Pilger auszurauben, die sehr viel besser sind als Ihr?«
Seit Monaten hatte sich Bull die Klagen seiner Mutter anhören müssen, und nun wurden ihm nicht nur von Michael Vorträge gehalten, sondern er wurde auch noch von dieser Verrückten angegriffen, deren Bruder beinahe sein Schiff zerstört hatte. Das war wirklich zu viel! Das Blut stieg ihm in den Kopf, und er fing an zu brüllen: »Verflucht seien euer Krankenhaus und eure alten Weiber, die sich in ihrem eigenen Dreck wälzen! Verflucht seien eure Mönche und eure blöden Kreuzritter und eure heuchlerischen Priester! Das eine sage ich dir, Bruder, wenn ich jemals eine Religion brauche, dann werde ich ein Jude.«
Dies war nicht sehr originell, es war genau dasselbe, was König Wilhelm Rufus einmal zu tun gedroht hatte, als ihn ein paar Bischöfe mit ihren Beschwerden allzusehr langweilten. Doch es schockierte Mabel. Und er war noch nicht fertig. »Du bist als Dummkopf auf die Welt gekommen, Michael. Du verdienst kein Geld, weil du dich zur Armut verpflichtet hast. Du hast keine Frau, weil du ein Keuschheitsgelübde abgelegt hast; du denkst nicht einmal für dich selbst, weil du Gehorsam geschworen hast. Und wofür?« Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte er noch hinzu: »Im übrigen glaube ich nicht, daß du deine blöden Gelübde einhalten wirst. Nun sage ich dir, was ich tun werde, und das werde ich in meinem Testament festhalten: Auf deinem Todesbett sollst du nach mir oder meinem Erben rufen lassen. Wenn du dann bei Gott und vor einem Priester schwörst, daß du von heute an bis an dein Ende niemals deine Gelübde gebrochen hast, dann werde ich Bocton an St. Bartholomew's vermachen.« Damit drehte er sich um und stapfte Richtung Stadttor davon.
Im Herbst 1170 begannen Neuigkeiten über ein unerwartetes Ereignis nach England durchzusickern. König Heinrich II. von England war in die Normandie geeilt, wo er den exilierten Erzbischof von Canterbury getroffen hatte. Dort hatte sich Becket schließlich wieder mit seinem König versöhnt; vielleicht war die Demütigung, daß der Erbe von England ohne ihn gekrönt worden war, der Auslöser dafür. Und dann tauchten Gerüchte auf, daß Becket zurückkehren wollte. Aber er kam nicht.
Für die Familie Silversleeves war es eine unangenehme Zeit. Pentecost wagte es nicht, sich zu Michaeli am Exchequer blicken zu lassen. Was bedeutete diese neue Wendung der Ereignisse? Hatte der König eingewilligt, die kriminellen Kleriker nicht verfolgen zu lassen, oder wollte Becket sie nun dem König übergeben? Die Silversleeves versuchten, aus der Normandie Informationen zu erhalten, aber niemand wußte Genaueres. Der Oktober verstrich; der November verstrich. Schließlich kamen Anfang Dezember die Neuigkeiten aus Kent: »Er ist da!«
Er kam nicht wie ein Lamm. Vielleicht hatte er ja mit dem König Frieden geschlossen, nicht jedoch mit den Bischöfen, die ihn beleidigt hatten, indem sie in seiner Abwesenheit den Prinz krönten. Er exkommunizierte den Bischof von Sarum und Gilbert Foliot, den Bischof von London. In der englischen Kirche rumorte es. Foliot und seine Anhänger schickten Botschafter über das Meer in die Normandie, um König Heinrich wissen zu lassen, was in seinem Königreich ablief. Einer dieser Boten war auch von der Familie Silversleeves bezahlt worden, um sie auf dem laufenden zu halten.
Am frühen Nachmittag des 30. Dezember 1170 gab sich Pentecost Silversleeves einer sehr merkwürdigen Beschäftigung hin. Er trug mehrere Schichten von Kleidung, um sich warm zu halten, und hatte gewachste, geschliffene Kuhbeinknochen mit Lederriemen an seinen Schuhen befestigt. Mit Hilfe eines Stockes bewegte er sich vorwärts. Er lief Schlittschuh.
Londons Eislauffläche lag unmittelbar außerhalb des Zentrums an der nördlichen Stadtmauer. Achthundert Jahre, nachdem die Römer den Ort verlassen hatten, waren die alten Wasserläufe des Walbrook unter der Mauer noch immer mit Müll verstopft, so daß die noch nicht trockengelegten Gebiete sumpfig waren. Moorfields hießen sie. Im Sommer war es ein Morast, der im rauhen Winter zufror, und die Londoner vergnügten sich dann auf dieser wilden, weiten Eisfläche – ein fröhlicher Anblick, auch wenn Pentecost nicht besonders fröhlich war; denn der Bote hatte eine sehr schlechte Nachricht aus der Normandie gebracht. »Der König wird Becket verhaften lassen. Foliot hat gewonnen«, hatte ihm sein Vater an diesem Morgen mitgeteilt. »Das ist schlecht für dich.«
»Vielleicht hat mich der König inzwischen vergessen.«
»Nein. Er spricht noch immer von dir. Du wirst schwören müssen, das Land auf immer zu verlassen.«
Das Königreich verlassen. Nur so konnte ein Verbrecher der Gerechtigkeit entkommen. Aber wohin sollte er gehen? Nirgendwohin in Heinrichs ausgedehnten Einflußbereich. »Du könntest ja auf eine Pilgerreise ins Heilige Land ziehen«, hatte seine Mutter vorgeschlagen. Aber dieser Vorschlag behagte Pentecost überhaupt nicht.
Trübsinnig drehte er seine Runden auf dem Eis. Die Sonne ging eben unter, da kam ein Bursche aus der Stadt herbeigerannt und tat laut seine Botschaft kund, die innerhalb eines Monats in ganz Europa mit großer Überraschung aufgenommen werden sollte: »Becket ist tot. Männer des Königs haben ihn ermordet.«
Die Ermordung des Erzbischofs Thomas Becket fand vor dem Altar der Kathedrale von Canterbury während des Abendgottesdienstes am 29. Dezember 1170 statt. Vier junge Barone, die zu der Gruppe gehörten, die Becket verhaften sollte, stellten den Erzbischof persönlich zur Rede und töteten ihn im Verlauf der sich daran anschließenden Verwirrung. Da sie einmal mitbekommen hatten, wie der König Becket bei einem seiner Wutanfälle verfluchte, dachten sie, es würde ihn erfreuen.
Als die erschrockenen Mönche begannen, den toten Körper des Erzbischofs zu entkleiden, stellten sie zu ihrem Erstaunen fest, daß der stolze Prälat unter seiner Kleidung das rauhe Haarhemd eines Büßers trug. Nun sahen sie ihn plötzlich in einem anderen Licht. Der Kanzler, der zu einem Kirchenmann geworden war, der unerwartete Märtyrer, war nicht das, was er zu sein schien. Er hatte seinem früheren weltlichen Leben viel gründlicher entsagt, als die Leute geglaubt hatten. »Er war also tatsächlich ein echter Büßer«, riefen alle. Ein Sohn der Kirche.
Die Kunde verbreitete sich rasch; London ließ den Kaufmannsohn zum Märtyrer ausrufen; bald wurde in ganz England die Forderung laut, ihn zum Heiligen zu erklären. Der Papst, der die Mörder und ihre Komplizen bereits exkommuniziert hatte, schenkte der Forderung Gehör.
Für König Heinrich II. war es eine Katastrophe. »Wenn er nicht selbst die Schuld trägt, so doch zumindest die Verantwortung«, erklärten die wichtigsten Kirchenmänner. Um dem wachsenden Sturm zu entkommen, begab sich Heinrich rasch zu einem Feldzug nach Irland. Zum Thema Kirchenprivilegien, über das er mit Becket so lange gestritten hatte, schwieg König Heinrich beharrlich.
Im Herbst 1171 herrschte große Freude im Haus der Silversleeves. »Ich habe mit dem Justitiar und dem Bischof von London persönlich gesprochen«, verkündete Pentecosts Vater. »Der König hat seinen Streit mit der Kirche beigelegt. Du bist in Sicherheit. Du kannst sogar zum Exchequer zurück.« Zum erstenmal seit vielen Generationen segneten sie den Namen Becket.
Schwester Mabel zweifelte nie daran, daß die Welt voller Wunder war. Die göttliche Vorhersehung war für sie überall spürbar. Die erstaunliche Enthüllung, daß Becket eigentlich ein Heiliger war, war für sie nur ein weiteres Beispiel für einen Prozeß, der um so phantastischer war, weil sie ihn nicht erklären konnte. Selbst Alderman Bulls wütendes Versprechen an seinen Bruder, das der Mönch nicht wörtlich genommen hatte, war für sie ein Gegenstand des Glaubens. Sie wußte, daß Bruder Michael gut war. »Du wirst schon sehen«, versicherte sie ihm, »das Krankenhaus wird die Erbschaft erhalten.«
Doch selbst Schwester Mabel staunte über das außergewöhnliche Ereignis an einem hellen, warmen Aprilmorgen 1127.
Sie war drüben in Aldwych gewesen und lief gerade über die freie Fläche von Smithfield, als sie ein höchst ungewöhnliches Spektakel sah, eine Prozession, die am westlichen Rand von Smithfleld entlangzog. Eine großartige Gesellschaft von Rittern und vornehmen Damen auf reich geschmückten Pferden führte sie an. Spielmänner mit Flöten und Tamburinen liefen an der Seite. Weiter hinten folgte ein langer Zug von einfachen Leuten. Wer waren all diese Menschen? Sie versuchte, einen der vorbeireitenden Männer zu fragen, aber er ritt einfach weiter, als habe er sie nicht gesehen.
Kurz vor dem Stadttor verschwand die funkelnde Gesellschaft. Pferde und Reiter lösten sich auf, als seien sie in einen unsichtbaren Nebel geraten. Als Mabel sich zu den an ihr vorbeireitenden Pferden umdrehte, merkte sie, daß ihre Hufe kein Geräusch verursachten.
Da verstand sie – es war eine Vision.
Sie hatte natürlich schon von solchen Visionen gehört, jedoch nie erwartet, selbst einmal eine zu haben. Überrascht stellte sie fest, daß sie keine Angst hatte. Die Reiter, die fast so wirkten, als könne sie sie berühren, schienen in einer eigenen Welt zu sein. Sie bemerkte, daß einige von ihnen auch ganz einfache Leute waren. Sie sah sogar einen ihrer Patienten aus dem Krankenhaus in einem schimmernden weißen Gewand, dessen bleiches, schmales Gesicht seltsam heiter wirkte.
Nach einer Weile waren die Reiter alle vorüber, nun kam die Masse des Fußvolks hinterher, vom wütenden Fischweib bis hin zum heruntergekommenen Lord. Sie trugen abgerissene Kleider, ihre Gesichter waren leer. Neben ihnen liefen die sonderbarsten Wesen, die Mabel jemals gesehen hatte. Sie ähnelten Menschen, aber sie hatten lange Beine wie die eines Vogels, mit Klauen statt Füßen, und geschwungene Schwänze. Sie staksten neben der Menge her und trieben ab und zu ein paar Leute mit den Dreizacken an, die sie in ihren sehnigen Händen hielten. Zwar hatten ihre scharfgeschnittenen, harten Gesichter menschliche Züge, doch die Haut war bei manchen rot, bei manchen grün, bei manchen gesprenkelt. »Das müssen Teufel sein«, murmelte Mabel. Sie trat einem dieser Wesen in den Weg und fragte: »Was ist das für eine Prozession?« Und diesmal hatte sie mehr Glück.
»Das sind Menschenseelen«, erwiderte das Wesen mit einer nasalen Stimme.
»Sind sie tot?«
»Nein. Sie leben noch. Die vorderen kommen in den Himmel. Doch die hier«, und damit zeigte er auf einen aufgedunsenen Mönch, »sind auf ihrem Weg zur Hölle.«
»Haben sie denn so schreckliche Sünden begangen?« fragte Mabel.
»Nicht alle. Manche werden sie erst noch begehen. Wir führen sie in Versuchung und dann in die Verdammnis.« Er ging weiter.
»Werden auch welche gerettet werden?« rief sie ihm hinterher.
»Ein paar«, hörte sie ihn mit rauher Stimme sagen. »Freilich nur sehr wenige.«
Eine Weile lang beobachtete sie die verlorenen Pilger, die sich da an ihr vorbeidrängten. Sie sah zahlreiche Menschen, die sie kannte, und murmelte für jeden ein Gebet. Sie wollte sie auch warnen, doch sie schienen sie nicht zu hören. Dann sah sie Alderman Bull. Er saß verkehrt herum auf einem Pferd. Seine Kleidung war rot, wie immer, doch sein Gesicht und seine Hände waren von eitrigen Wunden übersät. Zweifellos war er auf dem Weg in die Hölle. Nur wenige Schritte hinter dem Alderman ging Bruder Michael mit seinem blassen Gesicht. Er ging gesenkten Kopfes, wohl aus Trauer und Scham. Seine Augen schienen auf etwas vor ihm gerichtet zu sein. Was hatte er nur getan? fragte sich Schwester Mabel. Sie rannte neben der Prozession her und rief immer wieder seinen Namen. Einmal kam es ihr vor, als habe er sie gehört und wolle den Kopf heben, doch dann senkte er ihn wieder, wie von einer unsichtbaren Kraft dazu gezwungen, und setzte seinen Weg fort.
Sie stand fassungslos am Wegrand. Sie konnte einfach nicht glauben, daß Bruder Michael eine böse Tat begangen hatte. Würde er noch eine Sünde begehen? Und da kam ihr ein Gedanke: Wenn er in die Hölle gehen muß, dann muß ich es sicher auch. Sie suchte unter den vorüberziehenden Seelen nach sich selbst, konnte sich jedoch nicht sehen. Dann verschwand die Vision.