XXXVI

Der Raum der Letzten Chrysantheme im Amtssitz des Statthalters
Stunde des Ochsen am dritten Tag des neunten Monats
«Guten Tag, Herr Statthalter.» De Zoet kniet nieder, verbeugt sich und begrüßt mit einem Nicken Dolmetscher Iwase, Kammerherr Tomine und die beiden Schreiber in der Ecke.
«Guten Tag, Herr amtierender Faktor», antwortet der Statthalter. «Iwase wird unserem Gespräch beiwohnen.»
«Ich werde seine Fähigkeiten benötigen. Geht es Ihrer Verletzung besser, Iwase-san?»
«Es war nur ein Riss, kein Bruch», Iwase klopft sich auf den Oberkörper. «Vielen Dank.»
De Zoet bemerkt den Go-Tisch, wo das Spiel mit Enomoto wartet.
Der Statthalter fragt den Niederländer: «Ist dieses Spiel in Holland bekannt?»
«Nein. Dolmetscher Ogawa hat mir in den ersten Wochen auf Dejima ...», er berät sich mit Iwase, «... die Grundzüge beigebracht. Wir wollten das Spiel nach Abschluss der Handelszeit fortsetzen, aber dies wurde durch die unglücklichen Ereignisse vereitelt ...»
Tauben gurren, ein friedliches Geräusch an diesem angstvollen Nachmittag.
Ein Gärtner harkt die weißen Steine am bronzefarbenen Teich.
«Es verstößt gegen das Zeremoniell», Shiroyama wendet sich dem Geschäft zu, «in diesem Raum zu tagen, aber wenn wir jeden Ratgeber, Weisen und Geomantiker in Nagasaki in den Saal der Sechzig Matten pferchen, wird daraus der Saal der Sechs Matten und Sechshundert Stimmen. Niemand kann mehr einen klaren Gedanken fassen.»
«Stellvertreter Fischer wird hocherfreut sein über das Publikum.»
Shiroyama bemerkt, dass de Zoet sich auf höfliche Weise von Fischer distanziert. «Nun, zunächst», er nickt den Schreibern zu, «zu diesem Kriegsschiff. Fībasu. Kein Dolmetscher kennt dieses Wort.»
«‹Phoebus› ist kein niederländisches, sondern ein griechisches Wort, Exzellenz. Phoebus war der Sonnengott. Sein Sohn war Phaeton.» De Zoet hilft den Schreibern bei dem schwierigen Namen. «Phaeton prahlte mit seinem berühmten Vater, aber seine Freunde sagten: ‹Deine Mutter behauptet bloß, dein Vater sei der Sonnengott, weil sie keinen Mann hat.› Phaeton war darüber sehr bekümmert, und sein Vater versprach, ihm dabei zu helfen, den anderen zu beweisen, dass er tatsächlich ein Sohn des Himmels sei. Phaeton bat: ‹Lass mich den Sonnenwagen über den Himmel lenken!›»
De Zoet legt eine Pause ein, damit die Schreiber aufschließen können.
«Phoebus wollte seinen Sohn davon abbringen. ‹Die Pferde sind wild›, sagte er, ‹und der Wagen fliegt zu hoch. Bitte mich um etwas anderes.› Aber Phaeton bestand darauf, und Phoebus musste einwilligen: Ein Versprechen ist ein Versprechen, auch in einer Sage - dort ganz besonders. Im Morgengrauen stieg der Sonnenwagen, geführt von dem jungen Mann, von Osten her am Himmel auf, hoch und immer höher. Zu spät bereute er seinen Starrsinn. Die Pferde waren tatsächlich wild! Zuerst fuhr er zu hoch hinaus, und alle Flüsse und Wasserfälle auf der Welt verwandelten sich zu Eis. Also lenkte Phaeton den Wagen auf die Erde zu, aber er kam zu dicht heran: Er verbrannte Afrika, sodass die Haut der Äthiopier sich schwarz färbte, und zündete die Städte der Antike an. Schließlich griff der Gott Zeus ein, der König des Himmels.»
«Schreiber: Einhalten.» Shiroyama fragt: «Ist dieser Zeus ein Christ?»
«Ein Grieche, Exzellenz», sagt Iwase, «ähnlich Ame-no-Minaka-nushi.»
Der Statthalter weist de Zoet an, fortzufahren.
«Zeus schleuderte einen Blitz auf den Sonnenwagen. Der Wagen zerbarst, und Phaeton stürzte hinunter auf die Erde. Er ertrank im Fluss Eridanos. Phaetons Schwestern, die Heliaden, beweinten ihren toten Bruder und wurden in Bäume verwandelt - bei uns nennen wir sie Pappeln, ich weiß nicht, ob sie auch in Japan wachsen. Als die Schwestern Bäume waren, wurde aus ihren Tränen ...», de Zoet fragt bei Iwase nach, «... Bernstein. So ist der Bernstein entstanden, und die Geschichte ist zu Ende. Verzeihen Sie mein schlechtes Japanisch.»
«Glauben Sie, dass an dieser Geschichte etwas Wahres ist?»
«Nichts daran ist wahr, Exzellenz.»
«Dann benennen die Engländer ihre Kriegsschiffe nach Lügenmärchen?»
«Die Wahrheit einer Sage, Exzellenz, liegt nicht in ihren Worten, sondern in ihrem Sinngehalt.»
Shiroyama speichert die Bemerkung und wendet sich wieder der dringlichen Angelegenheit zu. «Heute Morgen überbrachte Stellvertreter Fischer einen Brief des englischen Kapitäns. Er sendet uns darin Grüße vom englischen König Georg, auf Niederländisch. Außerdem behauptet er, dass die niederländische Kompanie bankrott sei, dass Holland nicht mehr existiere und dass jetzt ein britischer Generalgouverneur in Batavia regiere. Der Brief schließt mit der Warnung, die Franzosen, die Russen und die Chinesen würden eine Invasion unserer Inseln vorbereiten. König Georg bezeichnet Japan als ‹das Großbritannien des Pazifiks› und dringt darauf, dass wir einen Freundschafts- und Handelsvertrag unterzeichnen. Bitte sagen Sie mir, was Sie darüber denken.»
Vom Geschichtenerzählen erschöpft, richtet de Zoet die Antwort auf Niederländisch an Iwase.
«Faktor de Zoet», übersetzt Iwase, «glaubt, die Engländer wollen seine Landsleute einschüchtern.»
«Was halten seine Landsleute von dem englischen Angebot?»
De Zoet beantwortet die Frage direkt: «Wir befinden uns im Krieg, Exzellenz. Die Engländer werden ihre Versprechen zweifelsohne brechen. Niemand von uns möchte mit ihnen Zusammenarbeiten, bis auf einen ...», sein Blick wandert zu dem Flur, der zum Saal der Sechzig Matten führt, «... der inzwischen in ihren Diensten steht.»
«Sind Sie denn nicht dazu verpflichtet», fragt Shiroyama, «sich Fischer zu fügen?»
Kawasemis Kätzchen jagt auf der blankpolierten Veranda eine Libelle.
Einer der Diener blickt zu seinem Herrn hinüber, aber der schüttelt den Kopf: Lass sie spielen ...
De Zoet denkt über seine Antwort nach. «Ein Mensch hat verschiedene Pflichten, und ...»
Er ringt mit der Sprache und ist auf Iwases Hilfe angewiesen. «Herr de Zoet sagt, Exzellenz, seinen Vorgesetzten zu gehorchen, sei seine dritte Pflicht. Seine zweite Pflicht sei, seine Fahne zu schützen. Seine oberste Pflicht aber sei, seinem Gewissen zu folgen, denn dieses habe Gott - der Gott, an den er glaubt - ihm geschenkt.»
Fremdländische Ehrbegriffe, denkt Shiroyama und weist die Schreiber an, die Bemerkung auszulassen. «Weiß Stellvertreter Fischer von Ihrer Gegnerschaft?»
Ein feuerrotes gefingertes Ahornblatt weht herein und landet neben dem Statthalter.
«Stellvertreter Fischer sieht nur, was er sehen möchte, Exzellenz.»
«Hat Faktor van Cleef Ihnen irgendwelche Weisungen übermittelt?»
«Wir haben nichts von ihm gehört und ziehen daraus die naheliegenden Schlüsse.»
Shiroyama vergleicht die Blattadern mit den Adern seiner Hände. «Gesetzt den Fall, wir wollten die Fregatte daran hindern, die Bucht von Nagasaki zu verlassen - zu welcher Strategie würden Sie raten?»
De Zoet ist über diese Frage überrascht, aber er gibt Iwase eine wohlüberlegte Antwort. «Faktor de Zoet schlägt zwei Strategien vor: Irreführung oder Gewalt. Irreführung hieße, die Verhandlungen über den nicht gewollten Vertrag in die Länge zu ziehen. Der Vorteil dieser Taktik wäre, dass kein Blut vergossen würde. Der Nachteil wäre, dass die Engländer auf eine Entscheidung drängen würden, um den Winter im Nordpazifik zu umgehen, und dass sie diese Strategie bereits aus Indien und Sumatra kennen.»
«Dann also Gewalt», sagt Shiroyama. «Wie lässt sich ohne eigene Fregatte eine fremde Fregatte aufbringen?»
De Zoet fragt: «Über wie viele Soldaten verfügen Exzellenz?»
Der Statthalter gebietet den Schreibern einzuhalten. Dann schickt er sie hinaus. «Einhundert», vertraut er de Zoet an. «Morgen vierhundert, in Kürze werden es tausend sein.»
De Zoet nickt. «Wie viele Boote?»
«Acht Wachtboote», sagt Tomine, «die vor dem Hafen und an der Küste patrouillieren.»
Ob es dem Statthalter möglich sei, die Fischerboote und Transportschiffe im Hafen sowie im Umkreis der Bucht zu beschlagnahmen, erkundigt sich de Zoet.
«Der Vertreter des Shōguns», sagt Shiroyama, «kann alles beschlagnahmen.»
De Zoet gibt seine Beurteilung ab, und Iwase übersetzt: «Der amtierende Faktor ist der Meinung, dass eintausend gut ausgebildete Samurai den Feind leicht bezwingen können, sowohl an Land als auch auf der Fregatte. Sie dorthin zu befördern, stelle uns hingegen vor nicht zu überwindende Schwierigkeiten. Bevor die Flottille nah genug an der Fregatte wäre, dass die Schwertkämpfer an Bord gehen könnten, hätte deren Artillerie sie längst vernichtet. Die Seesoldaten der Phoebus verfügen zudem über die neuesten» - Iwase verwendet das niederländische Wort für «Schusswaffen» - «Musketen, aber mit dreifacher Schusskraft und deutlich schneller nachzuladen.»
«Dann ist es also aussichtslos» - Shiroyama hat das Ahornblatt zerpflückt -, «das Schiff gewaltsam festzuhalten?»
«Das Schiff lässt sich nicht aufbringen», sagt de Zoet, «aber wir können die Bucht abriegeln.»
Shiroyama wirft Iwase einen fragenden Blick zu, weil er annimmt, der Niederländer habe sich falsch ausgedrückt, aber de Zoet spricht ausführlich mit seinem Dolmetscher. Mehrmals deutet er mit den Händen eine Kette an, eine Mauer sowie Pfeil und Bogen. Iwase fragt bei einigen Begriffen nach und wendet sich dann an den Statthalter. «Exzellenz, der amtierende Faktor schlägt etwas vor, das die Niederländer eine Pontonbrücke nennen: eine Brücke aus aneinander festgemachten Booten. Zweihundert, schätzt er, würden ausreichen. Die Boote sollen in den Dörfern außerhalb der Bucht beschlagnahmt werden. Sie werden zur engsten Stelle in der Buchteinmündung gerudert oder gesegelt und von Ufer zu Ufer nebeneinander festgezurrt, sodass eine schwimmende Mauer entsteht.»
Shiroyama stellt sich die Szene vor. «Was hindert das Kriegsschiff daran, die Brücke zu durchschlagen?»
Der amtierende Faktor versteht und spricht auf Niederländisch mit Iwase. «De-Zoet-sama sagt, Exzellenz, das Kriegsschiff müsse die Segel streichen, um die Pontonbrücke zu durchstoßen. Segeltuch wird aus Hanf gewebt und oft mit Öl getränkt, um es regenfest zu machen. Eingeöltes Hanf brennt leicht, besonders jetzt, in der heißen Jahreszeit.»
«Brandpfeile!» Shiroyama begreift. «Wir verstecken Bogenschützen in den Booten ...»
De Zoet macht ein zweifelndes Gesicht. «Exzellenz, wenn die Phoebus in Brand gesteckt wird ...»
Shiroyama erinnert sich an die Sage: «Wie der Sonnenwagen!»
Wenn dieser wagemutige Plan gelingt, denkt er, wird der Mangel an Soldaten vergessen sein.
«Viele der Seeleute an Bord der Phoebus», sagt de Zoet, «sind keine Engländer.»
Ein solcher Sieg, sieht Shiroyama voraus, könnte mir einen Sitz im Ältestenrat einbringen.
«Es muss den Gefangenen gewährt sein», de Zoet ist beunruhigt, «sich ehrenvoll zu ergeben.»
«Ehrenvoll ergeben.» Shiroyama runzelt die Stirn. «Wir sind in Japan, Herr amtierender Faktor.»