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XXI

Oritos Zelle im Haus der Schwestern

Die achte Nacht des ersten Monats im zwölften Jahr der Kansei-Zeit

 

Orito denkt darüber nach, dass sie in den nächsten Stunden sehr viel Glück benötigt: Der Katzentunnel muss breit genug für eine schlanke Frau und an seinem Ende offen sein; Yayoi darf in der Nacht nicht aufstehen, um nach ihr zu sehen; sie muss unverletzt die vereiste Schlucht hinabsteigen und auf halber Strecke das Tor passieren, ohne dass die Wachen sie bemerken; im Morgengrauen muss sie Otanes Hütte finden und darauf hoffen, dass die Freundin ihr Zuflucht gewährt. Und das, denkt Orito, ist erst der Anfang. Wenn sie nach Nagasaki zurückkehrt, würde man sie sofort gefangen nehmen, wenn sie aber nach Kumamoto, Kagoshima oder in die relativ sicherere Provinz Chikugo flieht, wäre sie dort eine Fremde ohne Freunde, Obdach und ohne einen Mon in der Tasche.

Nächste Woche ist Gabentag, denkt Orito. Nächste Woche bist du dran.

Leise schiebt sie die Tür Zentimeter für Zentimeter auf.

Mein erster Schritt in die Freiheit, denkt sie, als sie an Yayois Zelle vorbeigeht.

Ihre hochschwangere Freundin schnarcht. Orito flüstert: «Es tut mir leid.»

Yayoi wird sich durch Oritos Flucht schrecklich verlassen fühlen.

Es ist die Göttin, ermahnt sich die Hebamme, die dich dazu zwingt.

Orito schleicht über den Korridor in die Küche, die durch eine Schiebewand vom Wandelgang abgetrennt ist. Sie zieht sich Schuhe aus Stroh und Segeltuch an und tritt nach draußen.

Die eisige Luft dringt durch die wattierte Jacke und die dicke Wanderhose.

Der Dreiviertelmond ist fleckig. Die Sterne sind Blasen, eingeschlossen im Eis. Die knorrige alte Pinie ist unheilvoll. Orito geht zu der Stelle, die ihr die Katze vor einigen Wochen gezeigt hat. Sie hält Ausschau in der Dunkelheit, kniet sich hin auf die frostbedeckten Steine und duckt sich unter den Laufgang, einen Warnschrei erwartend ...

 

... aber es bleibt still. Sie kriecht weiter, bis sie die rechteckige Öffnung ertastet. Vor neun Tagen war sie schon einmal bis zu dieser Stelle gekommen, aber Schwester Asagao und Schwester Sawarabi hatten sie gesehen, und sie musste sich rasch etwas über eine fallengelassene Nähnadel aus den Fingern saugen. Danach hatte sie es nicht mehr gewagt, den Tunnel zu erkunden. Falls es sich überhaupt um einen Tunnel handelt, denkt sie, und nicht nur um ein paar fehlende Steine im Fundament. Sie zwängt sich mit dem Kopf voran durch das schwarze Rechteck und robbt vorwärts.

Der Gang ist kniehoch und eine Ellenlänge breit. Orito muss sich winden wie ein Aal, nicht so grazil, aber ebenso lautlos. Bald sind ihre Knie aufgeschürft, die Schienbeine haben blaue Flecken, und die Fingerspitzen brennen, wenn sie Halt an den gefrorenen Steinen suchen. Der Boden fühlt sich glatt an, als hätte fließendes Wasser ihn ausgewaschen. Es herrscht fast völlige Finsternis. Als ihre tastenden Hände an einen Steinblock stoßen, meint sie in einer Sackgasse zu sein und verliert den Mut ... doch dann macht der Tunnel eine Biegung nach links. Sie windet sich um die spitze Kurve und schiebt sich weiter. Ihre Lunge schmerzt, und sie zittert am ganzen Körper. Sie versucht, nicht an riesige Ratten zu denken oder daran, lebendig begraben zu werden. Jetzt müsste ich unter Umegaes Zelle sein, denkt sie und stellt sich vor, wie sich die Schwester, zwei Lagen Holzdielen, eine Tatami und einen Futon über ihr, eng an Hashihime schmiegt.

Täusche ich mich, denkt sie, oder wird es da vom ein wenig heller?

Die Hoffnung treibt sie voran. Als sie eine weitere Biegung bewältigt hat, sieht sie ein kleines Dreieck aus mondbeschienenem Stein.

Ein Loch in der Klostermauer, erkennt sie. Bitte gib, dass es groß genug ist.

Doch nach einer weiteren Minute mühsamen Vorankämpfens muss sie erkennen, dass das Loch kaum größer ist als eine Faust: die richtige Größe für eine Katze. Wahrscheinlich hat sich im Lauf der Zeit durch Eis und Sonnenlicht ein einzelner Stein gelöst. Wäre das Loch größer, denkt sie, hätte man es ja längst von außen bemerkt. Sie stützt sich mit den Füßen an den Wänden ab, legt die Hände auf den Stein neben der Öffnung und stemmt sich mit aller Kraft dagegen, bis ein schmerzhaftes Knacken im Genick sie zwingt aufzuhören.

Manche Dinge lassen sich bewegen, denkt sie, aber dieser Stein niemals.

«Das war’s», murmelt sie. Ihr Atem ist weiß. «Es gibt kein Entkommen.»

Orito denkt an die nächsten zwanzig Jahre, an die Männer, die gestohlenen Kinder.

Sie kriecht zurück zur zweiten Biegung, dreht sich mühsam um die eigene Achse, schiebt sich mit den Füßen voran zur Klostermauer und macht sich ganz klein: Sie setzt die Füße auf den Stein und drückt ...

Ebenso gut könnte ich versuchen, Orito ringt nach Atem, den Kahlen Gipfel zu versetzen.

Dann stellt sie sich vor, wie Äbtissin Izu ihr den Empfang der Gabe ankündigt.

Sie zieht die Beine an und tritt dann mit aller Wucht gegen den Stein.

Sie malt sich die Glückwünsche der Schwestern aus: freudig, hämisch, aufrichtig.

Ihre Schienbeine sind wund, aber sie hört nicht auf zu treten, wieder und wieder ...

Sie stellt sich vor, wie Meister Genmu sie begrabscht und gierig über sie herfällt.

Was war das für ein Geräusch? Orito hält inne. Woher kommt dieses Knirschen?

Sie stellt sich vor, wie Suzaku ihr erstes Kind holt, ihr drittes, ihr neuntes ...

Sie tritt weiter gegen den Stein, bis ihre Beine schmerzen und die Halsschlagader pocht.

Sand rieselt auf ihre Fesseln - und auf einmal lösen sich gleich zwei Steine, und ihre Füße schauen ins Freie.

Sie hört, wie die Steine einen kleinen Hang hinunterpoltern und mit einem dumpfen Ton liegen bleiben.

 

Der Schnee ist harschig und knirscht unter ihren Füßen. Verschaffe dir einen Überblick, schnell. Orito kann es noch gar nicht fassen, dass sie das Haus verlassen hat. Der lange Graben zwischen dem erhöhten Fundament des Klosters und den Schreinmauern ist fünf Schritte breit, aber die Mauer ist so hoch wie drei Männer: Um auf den Wall gelangen zu können, müsste sie eine Treppe oder eine Leiter finden. Links, Richtung Nordwinkel, steht ein im chinesischen Stil erbautes Mondtor: Es führt in einen dreieckigen Innenhof und zu Meister Genmus erlesener Privatunterkunft, weiß Orito von Yayoi. Sie eilt in die entgegengesetzte Richtung zum Ostwinkel. Hinter dem Haus der Schwestern gelangt sie in einen kleinen eingezäunten Bereich, in dem sich der Hühnerstall, der Taubenschlag und die Ziegenställe befinden. Die Vögel werden unruhig, als sie vorbeigeht, aber die Ziegen schlafen weiter.

Vom Ostwinkel führt ein überdachter Laufgang in die Halle der Meister - neben einem kleinen Speicher lehnt eine Bambusleiter an der Außenmauer. Mit dem Gedanken, dass ihr vielleicht in wenigen Augenblicken die Flucht gelingt, steigt Orito hinauf auf den Mauerwall. Als sie auf einer Höhe mit den Dachvorsprüngen ist, sieht sie die alte Säule des Amanohashira, die sich im Heiligen Innenhof erhebt. Ihre Spitze spießt den Mond auf. So viel atemberaubende Schönheit, denkt Orito. So viel stumme Grausamkeit.

Sie zieht die Bambusleiter hoch und lässt sie an der Außenseite wieder hinunter ...

Nur zwanzig Schritte hinter dem Schrein beginnt der dichte Pinienwald.

... aber die Leiter reicht nicht bis ganz nach unten.

Es ist zu finster, um den Abstand zum Boden einschätzen zu können.

Wenn ich springe und mir das Bein breche, denkt sie, bin ich bei Sonnenaufgang erfroren.

Die Leiter rutscht ihr aus den tauben Fingern, fällt hinab und zerbricht.

Ich brauche ein Seil, folgert sie, oder etwas, woraus sich eines machen lässt ...

Ungeschützt wie eine Ratte auf dem Fenstersims, eilt Orito auf das Große Tor im Südwinkel zu, in der Hoffnung, dass ein eingeschlafener Wachposten ihr die Flucht in die Freiheit ermöglicht. Bei der nächsten Leiter klettert sie hinunter - in den Graben zwischen Außenmauer und der riesigen Küche mit Speiseraum. Es riecht nach Ruß und Latrine. Durch die Küchentür sickert bernsteingelbes Licht. Ein schlafloser Koch wetzt seine Messer. Damit er sie nicht hört, passt sie ihre Schritte seinem Schleifrhythmus an. Das nächste Mondtor führt sie in den südlichen Innenhof bei der großen Meditationshalle. Darin stehen zwei riesenhafte Statuen aus Sicheltannenholz: Fūjin, der Windgott, gebeugt unter der Last seines Windsacks, und Raijin, der Donnergott mit seiner großen Trommel, der bei Gewitter Kindern die Bauchnabel stiehlt. Das Große Tor besteht wie die Landpforte auf Dejima aus einer hohen Doppeltür für Sänften und einer kleinen Tür, die ins Pförtnerhaus führt. Die kleine Tür steht einen Spalt offen ...

 

... Orito drückt sich eng an die Mauer und schleicht weiter, bis sie Tabakrauch riecht und Stimmen hört. Sie kauert sich hinter einen großen Bottich. «Ist noch Holzkohle da?», fragt ein Mann mit breitem Dialekt. «Meine Eier sind schon Eisklumpen.»

Eine Kohlenschütte wird ausgekippt. «Das war der Rest», sagt eine hohe Stimme.

«Lasst uns losen», sagt der Mann mit dem Dialekt, «wer die Ehre hat, Nachschub zu holen.»

«Und», fragt eine dritte Stimme, «wie stehen die Aussichten, dass deine Eier bei der nächsten Gabenspende aufgetaut sind?»

«Nicht besonders», gibt der erste Mann zu. «Ich hatte vor drei Monaten Sawarabi.»

«Ich hatte letzten Monat Kagerō», sagt die dritte Stimme. «Jetzt muss ich mich wieder hinten anstellen.»

«Es ist so gut wie sicher, dass die Jüngste Schwester beim nächsten Mal erwählt wird», sagt die zweite Stimme, «und das heißt, wir Novizen gehen leer aus. Genmu und Suzaku sind immer die Ersten, die ihren Spaten in jungfräulicher Erde versenken.»

«Nicht, wenn der Fürstabt seine Aufwartung macht», sagt der Mann mit dem Dialekt. «Meister Annei hat Meister Nogoro erzählt, dass Enomoto-dono mit ihrem Vater befreundet war und für seine Darlehen gebürgt hat. Als der Alte dann über den Sanzu ging, stand die Witwe vor der Wahl: Entweder sie überlässt die Stieftochter dem Schrein, oder sie verliert Haus und Besitz.»

So hat Orito die Sache noch nie betrachtet, aber jetzt erscheint es ihr auf ekelhafte Weise einleuchtend.

Die dritte Stimme gluckst anerkennend. «Ein Meister der Taktik, unser Fürstabt ...»

Orito wünscht, sie könnte die Männer und ihre Reden in Fetzen reißen wie Papier ...

«Warum macht er sich die Mühe und holt sich eine Samuraitochter», fragt die hohe Stimme, «wenn er in jedem Bordell im Land die freie Auswahl hat?»

«Weil diese hier Hebamme ist», antwortet der Mann mit dem Dialekt. «Sie soll dafür sorgen, dass nicht mehr so viele unserer Schwestern und deren Gaben im Kindbett sterben. Es heißt, sie hätte den neugeborenen Sohn des Statthalters von den Toten zurückgeholt. Er war schon kalt und blau, aber Schwester Orito hat ihm wieder Leben eingehaucht ...»

Nur deswegen, staunt Orito, hat Enomoto mich hierhergebracht?

«... würde mich nicht wundern», fährt der Mann mit dem Dialekt fort, «wenn sie eine Ausnahme wäre.»

«Meinst du damit», fragt die dritte Stimme, «dass nicht mal der Fürstabt ihr die Ehre erweist?»

«Nicht einmal sie könnte verhindern, dass sie bei der Geburt stirbt, oder?»

Hör nicht auf ihre Vermutungen, befiehlt sich Orito. Was ist, wenn sie sich irren?

«Schade», sagt der Mann mit dem Dialekt. «Ist ein hübsches Ding, wenn man ihr nicht ins Gesicht sieht.»

«Aber bis Ersatz für Jiritsu gefunden ist», sagt die hohe Stimme, «sind wir einer weniger ...»

«Meister Genmu hat uns verboten», fällt ihm der Mann mit dem Dialekt ins Wort, «... auch nur den Namen dieses dreckigen Verräters zu erwähnen.»

«Allerdings», stimmt die dritte Stimme zu. «Allerdings. Zur Strafe füllst du die Kohlenschütte auf.»

«Aber wir wollten doch losen!»

«Ach! Das war vor deinem schändlichen Ausrutscher. Holzkohle!»

Die Tür wird aufgestoßen: Wütende Schritte kommen auf Orito zu, die sich ängstlich zusammenkauert. Der junge Mönch bleibt vor dem Bottich stehen und hebt den Deckel. Orito hört, wie ihm die Zähne klappern. Sie presst Mund und Nase an die Schulter, um ihren Atem unsichtbar zu machen. Schaufel für Schaufel füllt er den Eimer ...

Gleich, sie zittert, gleich ...

... aber er dreht sich um und geht zurück zum Pförtnerhaus. Eine Jahresration Glück ist in wenigen Sekunden verbrannt wie Papiergebete.

Orito verabschiedet sich von ihrem Plan, durch das Tor zu fliehen - sie denkt: Ein Seil ...

 

Ängstlich und mit rasendem Puls schlüpft sie aus dem purpurnen Schatten durch das nächste Mondtor und gelangt in einen Innenhof, der von der Meditationshalle, dem Westflügel und der Schreinmauer begrenzt ist. Das Gästehaus ist ein Abbild vom Haus der Schwestern: Dort werden die Laienmönche aus Enomotos Gefolge untergebracht, wenn der Fürstabt sich im Schrein aufhält. Wie die Nonnen können auch sie ihr Gefängnis nicht verlassen. Im Westflügel, weiß Orito von den Schwestern, werden die Vorräte gelagert, außerdem befinden sich darin die Schlafstätten der dreißig bis vierzig Novizen. Die meisten werden fest schlafen, aber nicht alle. Im Nordwestteil befindet sich die Residenz des Fürstabts. Das Gebäude stand den ganzen Winter über leer, Orito hat die Hausmutter davon sprechen hören, dass das Bettzeug in den Wäscheschränken gelüftet werden müsse. Und aus Bettzeug, fällt ihr ein, kann man Seile knoten.

Sie schleicht hinunter in den Graben zwischen Außenmauer und Gästehaus ...

Durch die Tür dringt das leise Lachen eines jungen Mannes, dann verstummt es.

Die edlen Materialien und der Dachfirst kennzeichnen das Gebäude als das Haus des Fürstabts.

Von drei Seiten sichtbar, klettert sie hinauf zu der Giebeltür.

Gebt, dass sie aufgeht, betet sie zu ihren Ahnen, gebt, dass sie aufgeht ...

Die Tür ist zum Schutz vor Winterkälte verrammelt.

Ich bräuchte Hammer und Meißel, um sie zu öffnen, denkt Orito. Sie hat das Haus schon fast umrundet, aber sie ist der Flucht nicht einen Schritt näher gekommen. Ohne ein zwanzig Fuß langes Seil muss ich zwanzig Jahre als Konkubine leben.

Hinter dem Steingarten von Enomotos Haus liegt der Nordflügel.

Dort, weiß Orito, wohnt Suzaku, gleich neben der Krankenstation ...

... und eine Krankenstation bedeutet Patienten, Betten, Laken und Mückennetze.

Es ist gefährlich und leichtsinnig, einen der beiden Flügel zu betreten, aber was bleibt ihr anderes übrig?

 

Die Tür bewegt sich langsam, und plötzlich gibt sie einen hohen, ächzenden Laut von sich. Orito stockt der Atmen, und sie horcht auf herbeieilende Schritte ...

... doch es bleibt still, und die unergründliche Nacht wiegt sich wieder in den Schlaf.

Sie zwängt sich durch den Spalt: Ein Türvorhang streicht über ihr Gesicht. Im Schein des Mondlichts erkennt sie schemenhaft eine kleine Eingangshalle.

Ein zarter Kampfergeruch verrät ihr, dass hinter der Tür rechts die Krankenstation liegen muss.

Links befindet sich ein zurückversetzter Türbogen, aber ihr Flüchtlingsinstinkt sagt nein.

Sie schiebt die rechte Tür auf.

Die Dunkelheit löst sich auf zu Ebenen, Linien und Flächen ...

Sie hört das Rascheln eines strohgefüllten Futons und das Atmen eines Schlafenden.

Sie hört Stimmen und Schritte: zwei Männer oder drei.

Der Patient fragt gähnend: «Is’ da wer?»

Orito schleicht zurück in die Eingangshalle, schließt leise die Tür zur Krankenstation und späht durch die ächzende Tür nach draußen. Ein Laternenträger, nicht einmal zehn Schritte entfernt.

Er schaut in ihre Richtung, aber der Schein der Laterne blendet ihn.

Jetzt ist Meister Suzakus Stimme in der Krankenstation zu hören.

Der Türbogen bietet die einzige Fluchtmöglichkeit.

Das ist vielleicht das Ende, Orito zittert, das ist vielleicht das Ende.

 

Die Schreibstube ist gesäumt mit deckenhohen Regalen, gefüllt mit Schriftrollen und Handschriften. Auf der anderen Seite der Tür stolpert jemand und stößt einen leisen Fluch aus. Die Angst entdeckt zu werden, treibt Orito in den großen Raum, bevor sie sich vergewissert hat, ob sie allein ist. Eine Zwillingslampe wirft Licht auf zwei Schreibtische, und die Flammen eines kleinen Feuers züngeln am Kessel über dem Kohlenbecken. Die Seitengänge bieten die Möglichkeit, sich zu verstecken, aber ein Versteck, denkt Orito, kann auch zur Falle werden. Sie geht über den Gang zu einer anderen Tür, die, so vermutet sie, in die Wohnung von Meister Genmu führt, und tritt in den Lichtkreis der Lampe. Sie fürchtet sich, den leeren Raum zu verlassen, aber ebenso fürchtet sie sich, zu bleiben oder umzukehren. Unentschlossen blickt sie auf eine halbfertige Handschrift, die auf einem der Tische liegt: Abgesehen von den bemalten Wandbehängen im Haus der Schwestern sind dies die ersten Schriftzeichen, die die Gelehrtentochter seit ihrer Entführung zu Gesicht bekommt, und trotz der Gefahr wird ihr hungriger Blick davon angezogen. Es handelt sich nicht um ein Sutra oder eine Predigt, sondern um einen unvollendeten Brief. Nicht geschrieben in der kunstvollen Kalligraphie eines gebildeten Mönches, sondern in einer eher weiblichen Schrift. Die erste Spalte zwingt sie, die zweite zu lesen und dann die dritte ...

Liebe Mutter, der Herbst färbt die Ahornbäume flammend rot, und der Erntemond hängt am Himmel wie eine Laterne, so wie es in Die mondbeschienene Burg beschrieben wird. So fern erscheint mir der Tag in der Regenzeit, als der Diener des Fürstabts deinen Brief überbrachte. Er liegt vor mir auf dem Tisch meines Ehemannes. Ja, Koyama Shingo hat mich am günstigen dreizehnten Tag des siebten Monats im Shimogamo-Schrein zu seiner Frau genommen, und wir wohnen als frisch verheiratetes Paar in den beiden Hinterzimmern der Obi-Schneiderei Weißer Kranich in der Imadegawa-Straße. Nach der Trauzeremonie fand in einem berühmten Teehaus ein Festmahl statt, das von den Uedas und den Koyamas gemeinsam ausgerichtet wurde. Einige Freunde meines Mannes haben sich in bösartige Kobolde verwandelt, nachdem sie ihre Braut erobert hatten, aber Shingo behandelt mich weiter freundlich. Natürlich ist das Eheleben keine Bootsfahrt - so wie du es in deinem Brief vor drei Jahren geschrieben hast, darf eine pflichtgetreue Ehefrau niemals vor ihrem Mann zu Bett gehen oder nach ihm aufstehen, und dennoch hat der Tag nie genug Stunden! Bis sich der Weiße Kranich einen Namen gemacht hat, sparen wir und begnügen uns mit einem Hausmädchen, und auch mein Mann hat nur zwei Lehrlinge aus der Schneiderei seines Vaters mitgenommen. Ich freue mich jedoch, dir mitteilen zu können, dass wir uns die Gunst zweier Familien gesichert haben, die mit dem kaiserlichen Hof verbunden sind. Die eine gehört zu einem weniger bedeutenden Zweig des Konoe ...

Der Text bricht ab. Orito dreht sich der Kopf. Heißt das, alle Neujahrsbriefe werden von den Mönchen selbst geschrieben? Aber das ergibt doch keinen Sinn! Bis zum Abstieg der Mütter müssten viele, viele erfundene Lebensgeschichten fortgesponnen werden, und danach würde der Betrug auffliegen. Wozu dieser Aufwand? Weil, die wissenden Augen der dicken Ratte funkeln im Licht, die Kinder selber keine Neujahrsbriefe aus der Unteren Welt schreiben können, denn sie kommen nie dort an. Die Schatten in der Schreibstube sehen zu, wie Orito auf die Schlussfolgerung reagiert. Aus dem Kessel steigt Dampf auf. Die dicke Ratte wartet. «Nein», sagt Orito. «Nein!» Es gibt keinen Grund, die Kinder zu töten. Wären die Gaben unerwünscht, würde Meister Suzaku den Schwangeren Kräuter verabreichen, damit sie eine Fehlgeburt erleiden. Die dicke Ratte fordert sie spöttisch auf, den Brief zu erklären, der auf dem Tisch liegt. Orito greift nach der ersten einleuchtenden Antwort. Schwester Hatsunes Tochter ist an einer Krankheit oder durch einen Unfall gestorben. Um der Schwester den Schmerz des Verlustes zu ersparen, hat der Orden beschlossen, die Neujahrsbriefe selbst zu schreiben.

Die dicke Ratte zuckt, dreht sich um und verschwindet.

Die Tür, durch die sie gekommen ist, geht auf. Ein Mann sagt: «Nach Euch, Meister ...»

Orito eilt zu der anderen Tür: Wie im Traum ist sie nah und fern zugleich.

«Eigenartig», ertönt Meister Chimeis Stimme, «dass man nachts am besten schreibt ...»

Orito schiebt die Tür einen halben Meter weit auf.

«... aber ich freue mich, dass du mir zu dieser unwirtlichen Stunde Gesellschaft leistest, lieber Junge.»

Als der Meister ins Licht tritt, schlüpft sie schnell hinaus und schiebt die Tür hinter sich zu. Der kurze Flur, der zu Meister Genmus Wohnung führt, ist dunkel und kalt. «Eine Geschichte muss bewegen», hört sie Meister Chimei dozieren, «und Unglück treibt die Menschen an. Zufriedenheit macht träge. Deshalb werden wir in der Geschichte von Schwester Hatsunes Fräulein Noriko maßvoll Unheil säen. Die Turteltauben müssen leiden. Entweder durch äußere Einflüsse wie Diebstahl, Feuer oder Krankheit, oder besser noch, von innen heraus, durch charakterliche Schwäche. Der junge Shingo könnte der Hingabe seiner Frau überdrüssig werden, oder Noriko wird so eifersüchtig auf das neue Dienstmädchen, dass Shingo sie schließlich tatsächlich bespringt. Man muss die nötigen Kniffe beherrschen, verstehst du? Geschichtenerzähler sind keine Priester, die Zwiesprache mit himmlischen Sphären halten, sondern Handwerker, geschickt wie ein Teigtaschenmacher, nur langsamer. Also an die Arbeit, lieber Junge, bis die Lampe verlischt ...»

 

Orito gleitet geräuschlos an der Wand entlang über den Flur. Sie kommt zu einer holzgetäfelten Tür, hält den Atem an und horcht. Stille. Sie öffnet sie einen winzigen Spalt ...

Der Raum ist dunkel und leer: Schwarze Rechtecke in den Wänden deuten auf Türen hin.

In der Mitte erhebt sich etwas, das aussieht wie ein Haufen altes Sackleinen.

Sie tritt ein und geht darauf zu - vielleicht lässt sich daraus ein Seil knoten.

Sie greift in den Stoffhaufen und bekommt den warmen Fuß eines Mannes zu fassen.

Ihr bleibt fast das Herz stehen. Der Fuß befreit sich. Ein Körper dreht sich um. Die Decken bewegen sich.

Meister Genmu murmelt: «Bleib, Maboroshi, oder ich ...» Die Drohung bleibt unausgesprochen.

Orito duckt sich. Sie wagt es nicht zu atmen, geschweige denn wegzulaufen ...

Das Deckengebirge, unter dem der Novize Maboroshi liegt, bewegt sich; er fängt an zu schnarchen.

Mehrere Minuten vergehen, bis Orito sich halbwegs sicher ist, dass beide Männer schlafen.

Sie zählt zehn langsame Atemzüge, dann geht sie zu der Tür, die vor ihr liegt.

Das leise Rumpeln beim Aufschieben klingt in ihren Ohren wie ein Erdbeben ...

 

Die Göttin, geschnitzt aus fein gemasertem, silbrig glänzendem Holz und von einer großen Votivkerze erleuchtet, betrachtet den Eindringling von ihrem Sockel in der Mitte des kleinen, reich verzierten Altarraums aus. Sie lächelt. Begegne ihrem Blick nicht, warnt Orito ein inneres Gefühl, oder sie erkennt dich. An einer Wand sind schwarze Gewänder mit blutroten Seidenbändern aufgehängt; die anderen Wände sind wie in den Häusern wohlhabender Niederländer mit Papier beklebt. Die Matten riechen harzig und neu. Die hintere Wand ist zu beiden Seiten der Tür mit großen Ideogrammen beschrieben. Orito nimmt die Kerze und geht darauf zu. Die dicken Pinselstriche sind klar ausgeführt, aber Orito kann die Zeichen nicht entziffern. Bekannte Teile wurden auf unbekannte Weise zusammengesetzt.

Sie stellt die Kerze zurück und öffnet die Tür, die in den nördlichen Innenhof führen muss.

 

Die Göttin, deren Farbe stellenweise abgeblättert ist, beobachtet den überraschten Eindringling aus der Mitte des schlichten Altarraums. Orito überlegt, ob der Raum wohl in die Außenmauern des Schreins gehauen wurde. Oder gibt es gar keinen nördlichen Innenhof?. Die Göttin vor ihr wird von einer wachenden Kerze beleuchtet. Sie ist gealtert seit dem ersten Raum, und ihr Lächeln ist fort. Sieh ihr nicht in die Augen, beharrt das Gefühl von eben. Es riecht nach Stroh, Tieren, Menschen. Der Dielenboden und die holzgetäfelten Wände lassen an das Haus eines recht wohlhabenden Bauern denken. An der hinteren Wand befinden sich zu beiden Seiten der Tür weitere hundertacht Ideogramme, dieses Mal auf zwölf vergilbte Schriftrollen getuscht. Orito bleibt kurz stehen, um sie zu lesen, doch auch diesmal lassen sich die verstörenden Zeichen nicht entziffern. Na und?, schilt sie sich. Geh weiter!

Sie öffnet die Tür, die endlich in den nördlichen Innenhof führen muss ...

 

Die Göttin in der Mitte des dritten Altarraums ist halb verfallen und hat keine Ähnlichkeit mehr mit der Figur im Gebetsraum des Klosters. Ihr Gesicht ist das einer Syphilitikerin, deren Krankheit so weit fortgeschritten ist, dass nicht einmal eine Quecksilberkur sie noch heilen könnte. Ein Arm ist abgefallen und liegt auf dem Boden, und im Schein der Talgkerze sieht Orito einen Kakerlak aus einem Loch in ihrem Schädel krabbeln. Die Wände sind aus Lehm und Bambus, der Fußboden ist aus Stroh, und es riecht nach Mist: Man könnte den Raum für eine Bauernkate halten. Orito vermutet, dass die Räume in den Kahlen Gipfel geschlagen wurden oder aus bereits vorhandenen Höhlen entstanden sind, die vor langer Zeit den Grundstein des Schreins legten. Wenn ich Glück habe, denkt Orito, handelt es sich um einen Fluchttunnel, der noch aus der militärischen Vergangenheit des Schreins stammt. Die hintere Wand ist dunkel angestrichen - vielleicht mit einer Mischung aus Tierblut und Lehm -, und darauf sind mit weißer Tünche weitere unverständliche Zeichen geschrieben. Orito hebt den primitiven Riegel und betet, dass ihre Hoffnung sich bewahrheitet ...

Die Kälte und die Finsternis stammen aus einer Zeit, bevor es Menschen und Feuer gab.

Der Tunnel ist mannshoch und eine Armspanne breit.

Orito geht noch einmal zurück und holt die Kerze aus dem letzten Raum: Das Licht wird etwa für eine Stunde reichen.

Vorsichtig betritt sie den Tunnel.

Über dir ist der Kahle Gipfel, spottet die Angst, und erdrückt dich, erdrückt dich ...

Ihre Schuhe klappern über Stein, ihr Atem zittert, aber sonst herrscht Stille.

Die Kerze rußt mehr, als dass sie Licht spendet, aber sie ist besser als nichts.

Orito hält kurz inne: Die Flamme bewegt sich nicht. Kein Luftzug.

Der Tunnel bleibt mannshoch und eine Armspanne breit.

Orito setzt ihren Weg fort. Nach dreißig, vierzig Schritten geht es bergauf.

Sie stellt sich vor, dass sie durch einen verborgenen Spalt in sternenklare Nacht tritt ...

... und fragt sich besorgt, ob ihre Flucht Yayoi das Leben kosten wird.

Enomoto ist der Schuldige, wehrt sich ihr Gewissen, und Äbtissin Izu und die Göttin.

«So einfach ist die Wahrheit nicht», ermahnt ihr Echo leise ihr Gewissen.

Wird es wärmer, fragt sich Orito, oder habe ich Fieber?

 

Der Tunnel erweitert sich zu einem Gewölbe mit einer knienden Skulptur der Göttin in drei- bis vierfacher Lebensgröße. Zu Oritos Bestürzung endet der Tunnel hier. Die Skulptur ist aus schwarzem Stein mit hellen Sprenkeln, als hätte der Bildhauer sie aus einem Block Nachthimmel geschlagen. Orito überlegt, wie das Götterbild in den Raum geschafft wurde: Die einfachste Erklärung ist, dass der Stein sich seit der Erschaffung der Erde hier befindet und dass Menschen den Tunnel verbreitert haben, um zur Göttin zu gelangen. Deren Rücken wird von einem roten Umhang verhüllt, ihre riesenhaften Hände formen eine Mulde, groß genug für eine Wiege. Die Augen starren gierig in den Raum. Der raubtierhafte Mund ist aufgerissen. Wenn der Shiranui-Schrein eine Frage ist, denkt Orito - oder denkt der Gedanke Orito? dann ist dieser Ort die Antwort. Die glatten runden Wände sind in Schulterhöhe mit weiteren unergründlichen Schriftzeichen versehen: einhundertacht, davon ist Orito überzeugt, eines für jede buddhistische Sünde. Irgendetwas zieht ihre Hand zum Schenkel der Göttin, und als sie ihn berührt, lässt sie fast die Kerze fallen: Der Stein ist warm wie das Leben. Die Gelehrte sucht nach einer Antwort: Kanäle einer nahe gelegenen Thermalquelle ... Im Mund der Göttin, dort, wo die Zunge sein sollte, glitzert etwas im Kerzenlicht. Orito übergeht die abgründige Angst, die steinernen Zähne könnten ihr den Arm abbeißen, und greift hinein. Sie ertastet eine Mulde, und darin steckt eine bauchige Flasche, entweder aus Rauchglas oder mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt. Sie löst den Stopfen und schnuppert: Der Inhalt ist geruchlos. Als Arzttochter und Suzakus Patientin hütet sie sich davor, die Flüssigkeit zu probieren. Aber warum wird sie hier versteckt? Sie schiebt die Flasche zurück in die Mulde und sagt: «Was bist du? Was geschieht hier? Zu welchem Zweck?»

Die steinernen Nasenflügel der Göttin können sich nicht blähen. Die unheilvollen Augen können sich nicht weiten ...

Die Kerze erlischt. Das Gewölbe versinkt in Finsternis.

 

Orito ist wieder im ersten Altarraum. Als sie sich für den Rückweg durch Meister Genmus Wohnung bereitmacht, bemerkt sie die Seidenbänder an den schwarzen Gewändern und verwünscht sich für ihre Dummheit. Zehn der geknoteten Bänder ergeben ein dünnes festes Seil, lang genug für die Schreinmauer: Zur Sicherheit verlängert sie es mit fünf weiteren Bändern. Sie rollt das Seil zusammen, schiebt die Tür auf und schleicht an der Wand entlang zu einer Seitentür. Ein abgeteilter Gang führt durch eine Außentür in Meister Genmus Garten. Am Mauerwall lehnt eine Bambusleiter. Sie steigt hinauf, befestigt das Seil an einem unauffälligen stabilen Balken und wirft es an der Außenseite hinunter. Ohne sich umzuschauen, nimmt sie ihren letzten, tiefen Atemzug in Gefangenschaft und lässt sich hinab in den trockenen Graben ...

Noch bist du nicht in Sicherheit. An einem Spalier aus Winterästen hangelt sie sich aus dem Graben.

Sie behält die Schreinmauer auf der rechten Seite und verbietet sich, an Yayoi zu denken.

Große Zwillinge, denkt sie, vierzehn Tage überfällig, und ihr Becken ist noch schmaler als Kawasemis ...

Am Westwinkel kämpft sie sich durch eine dichte Reihe Tannen.

Jede zehnte bis zwölfte Geburt im Haus kostet die Mutter das Leben.

Über steinhartes Eis und verwehte Tannennadeln gelangt sie in eine geschützte Senke.

Mit Hilfe deines Wissens und deiner Fähigkeiten, das ist keine eitle Prahlerei, wäre es nur jede dreißigste.

Der Wind bläst in raschen Böen durch die stechenden vereisten Bäume.

«Du weißt, was die Männer dir antun, wenn du umkehrst», ermahnt sich Orito.

Sie kommt zu dem Hang mit den zinnoberroten Torī-Toren. Der Nachthimmel hat sie schwarz gefärbt.

Niemand kann von mir verlangen, dass ich ein Leben in Sklaverei erdulde, nicht einmal Yayoi ...

Dann denkt sie über die Waffe nach, die sie aus der Schreibstube mitgenommen hat.

An einem Neujahrsbrief zu zweifeln, könnte sie Genmu drohen, heißt, an allem zu zweifeln ...

Würden sich die Schwestern weiter den Regeln des Hauses beugen, wenn sie wüssten, dass ihre Gaben nie in der Unteren Welt ankommen?

Wer krankhaft rachsüchtig ist, würde sie hinzufügen, lässt sich nicht erfolgreich schwängern.

Der Weg macht eine scharfe Biegung. Orion erscheint am Himmel.

Nein. Orito verwirft den Gedanken, bevor sie ihn zu Ende gedacht hat. Ich gehe niemals mehr zurück.

Sie konzentriert sich auf den steilen, vereisten Weg. Eine Verletzung, und ihre Hoffnung, im Morgengrauen bei Otanes Hütte zu sein, wäre dahin. Eine Achtelstunde später geht sie oberhalb der aus Holz und Ranken gebauten Todoroki-Brücke um eine Biegung und verschnauft. Der Berghang stürzt steil hinab in die Mekura-Klamm, gewaltig wie der Himmel ...

 

... Im Schrein geht eine Glocke. Es ist nicht die tiefe Stundenglocke, sondern eine Glocke mit hohem und eindringlichem Ton, die geschlagen wird, wenn bei einer Frau im Haus der Schwestern die Wehen einsetzen. Orito stellt sich vor, dass Yayoi nach ihr ruft. Sie stellt sich die Fassungslosigkeit über ihr Verschwinden vor und die Panik, mit der das ganze Gelände abgesucht wird. Sie stellt sich vor, dass das Seil entdeckt und Meister Genmu geweckt wird: Die Jüngste Schwester ist fort ...

Sie stellt sich vor, dass die beiden miteinander verschlungenen Föten in Yayois Gebärmutterhals stecken bleiben.

Wahrscheinlich werden Novizen ausgesandt, um sie zu suchen und den Wachen am Tor auf halber Strecke ihr Verschwinden mitzuteilen, und morgen wird man die Grenzübergänge in Isahaya und Kashima verständigen, aber ein Flüchtling kann in den endlosen Wäldern des Kyōga-Gebirges leicht untertauchen. Du gehst nur zurück, denkt Orito, wenn du dich dafür entscheidest.

Sie stellt sich Yayois entsetzliche Schreie und einen hilflosen Meister Suzaku vor.

Die Glocke könnte eine List sein, denkt sie, um dich zurückzulocken.

Tief unter ihr glitzert das Ariake-Meer sanft im Mondlicht.

Was heute eine List ist, wird morgen Abend oder sehr bald die Wahrheit sein ...

«Orito Aibagawas Freiheit», sagt Orito laut, «ist wichtiger als das Leben Yayois und ihrer Zwillinge.» Sie überprüft die Aussage auf ihren Wahrheitsgehalt.