[Menü]

X

Der Garten auf Dejima

Am späten Nachmittag des 16. September 1799

 

Jacob gräbt den letzten Pferdemist des Tages unter die Roten Rüben und holt aus den geteerten Fässern Wasser für die Herbstgurken. Er ist heute Morgen eine Stunde früher zur Arbeit gegangen und hat um vier Uhr seinen Dienst beendet, um die ersten der zwölf Stunden Gartenarbeit abzuleisten, die er dem Arzt schuldet. Marinus, dieser Halunke, denkt Jacob, hat verheimlicht, dass er ein Meister im Billardspiel ist, aber eine Wette ist nun mal eine Wette. Er beseitigt das Stroh, das um die Stämme der Gurkenpflanzen liegt, leert beide Kürbisflaschen und legt Mulch auf, der die Feuchtigkeit in der durstigen Erde halten soll. Ab und zu taucht über der Mauer zur Langen Straße ein neugieriges Gesicht auf. Ein niederländischer Sekretär, der Unkraut jätet wie ein Bauer, ist ein Anblick, den sich niemand entgehen lassen will. Hanzaburo lachte, als Jacob ihn um seine Hilfe bat, und als er merkte, dass die Bitte ernst gemeint war, täuschte er Rückenschmerzen vor, stopfte sich an der Gartenpforte eine Handvoll Lavendelblüten in die Tasche und verschwand. Arie Grote wollte Jacob wieder einmal seinen Hailederhut verkaufen, damit er so elegant schuften könne wie ein Gutsherr. Piet Baert bot ihm Unterricht im Billardspielen an, und Ponke Ouwehand zeigte hilfreich auf noch stehendes Unkraut. Jacob ist eine so anstrengende Arbeit nicht gewohnt, aber er stellt zufrieden fest, dass ihm das Gärtnern Freude macht. Das lebendige Grün beruhigt seine müden Augen, Karmingimpel picken Würmer aus der umgegrabenen Erde, und eine Maskenammer, deren Gesang klingt wie klapperndes Besteck, beobachten ihn von der leeren Zisterne aus. Faktor Vorstenbosch und Vize van Cleef sind in Nagasaki beim Fürsten von Satsuma, dem Schwiegervater des Shōguns, um ihre Forderungen nach einer größeren Kupfermenge durchzusetzen, und so herrscht im unbeaufsichtigten Dejima eine entspannte Atmosphäre. Die Famuli sind im Krankenhaus: Als Jacob mit der Hacke durch die Bohnenbeete geht, hört er Marinus’ Stimme durch das Fenster des Behandlungszimmers. Fräulein Aibagawa ist ebenfalls dort. Seit er ihr den kühn bemalten Fächer überreicht hat, hat Jacob sie nicht mehr gesehen, geschweige denn mit ihr gesprochen. Die verhaltene Freundlichkeit, die ihm der Arzt jetzt entgegenbringt, wird kaum so weit gehen, dass er ein Stelldichein arrangiert. Jacob hat bereits erwogen, Ogawa Uzaemon zu bitten, ihr einen Brief von ihm zu überbringen, aber wenn das herauskäme, könnten sowohl der Dolmetscher als auch Fräulein Aibagawa wegen Geheimbündelei mit einem Ausländer bestraft werden.

Und außerdem, denkt Jacob, was sollte ich in so einem Brief denn schreiben?

 

Jacob pflückt mit einem Paar Essstäbchen Schnecken von den Kohlköpfen. Plötzlich bemerkt er einen Marienkäfer auf seiner rechten Hand. Er baut ihm mit der linken Hand eine Brücke, die das Insekt bereitwillig überquert. Jacob wiederholt die Übung mehrere Male. Der Marienkäfer glaubt, denkt er, er sei auf großer Reise, aber in Wahrheit kommt er nicht vom Fleck. Er stellt sich eine unendliche Folge von Brücken vor, die zwischen hautbedeckten Inseln über das Nichts führt, und überlegt, ob eine unsichtbare Macht mit ihm vielleicht dasselbe Spiel spielt ...

... bis eine Frauenstimme ihn aus seinen Träumen reißt: «Herr Dazūto?»

Jacob lüftet den Bambushut und steht auf.

Fräulein Aibagawas Gesicht verdeckt die Sonne. «Ich bitte um Verzeihung für Störung.»

Erstaunen, schlechtes Gewissen, Aufgeregtheit ... Jacobs Gefühle sind mannigfaltig.

Sie erblickt den Marienkäfer auf seinem Daumen. «Tentō-mushi.»

In seinem Eifer, sie zu verstehen, verhört er sich: «O-ben-tō-mushi?»

«O-ben-tō-mushi heißt ‹Essendose-Käfer›.» Sie lächelt. «Das», sie zeigt auf den Marienkäfer, «ist O-ten-tō-mushi.»

«Tentō-mushi», wiederholt er, und sie nickt wie eine lobende Lehrerin.

Der tiefblaue Sommerkimono und das weiße Kopftuch verleihen ihr etwas Nonnenhaftes.

Sie sind nicht allein: An der Gartenpforte lauert der unumgängliche Wachmann.

Jacob versucht, ihn nicht zu beachten. «‹Marienkäfer›. Der Freund jeden Gärtners ...»

Anna würde dich mögen, denkt er und blickt in ihr Gesicht. Anna würde dich sehr mögen.

«... weil Marienkäfer Blattläuse fressen.» Jacob hebt den Daumen an die Lippen und pustet.

Der Marienkäfer landet ein paar Schritte weiter im Gesicht der Vogelscheuche.

Sie rückt der Vogelscheuche den Hut zurecht wie eine treusorgende Ehefrau. «Wie nennen Sie ihn?»

«Vogelscheuche, weil sie ‹Vögel verscheuchen› soll, aber diese hier heißt Robespierre.»

«Speicher Eik ist ‹Speicher Eiche›, Affe ist ‹William›. Warum ist Vogelscheuche ‹Robespierre›?»

«Weil ihr Kopf herunterfällt, wenn der Wind dreht. Das ist schwarzer Humor.»

«Humor ist geheime Sprache», sie runzelt die Stirn, «innen in Wörtern.»

Jacob entscheidet sich, den Fächer erst anzusprechen, wenn sie es tut, doch zumindest scheint sie weder gekränkt noch verärgert zu sein. «Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Fräulein?»

«Ja. Dr. Marinus schickt mich, Sie bitten um rōzu-mari. Er sagt ...»

Je besser ich Dr. Marinus kennenlerne, denkt Jacob, desto rätselhafter wird er mir.

«... er sagt: ‹Bitten Sie Dombāga zu geben sechs frische ... ,Sprosse’ von rōzu-mari›.»

«Dort drüben, im Kräutergarten.» Jacob führt sie den kleinen Weg hinunter. Ihm fällt nicht eine scherzhafte Bemerkung ein, die nicht unendlich albern klänge.

Sie fragt: «Warum Herr Dazūto heute arbeitet als Gärtner von Dejima?»

«Weil ich mich gerne im Garten aufhalte», lügt der Pastorenneffe schamlos. «Schon als Kind», er streut ein wenig Wahrheit in die Lüge ein, «half ich im Obstgarten eines Verwandten. Wir pflanzten die ersten Pflaumenbäume an, die bei uns im Dorf wuchsen.»

«In Dorf Domburg», sagt sie, «in Provinz Zeeland.»

«Wie aufmerksam, dass Sie sich daran erinnern.» Jacob bricht ein halbes Dutzend junger Triebe ab. «Bitte sehr.» Einen kostbaren Augenblick lang sind ihre Hände durch ein paar Zentimeter bitteren Krauts miteinander verbunden, nur bezeugt von einem Dutzend orangeroter Sonnenblumen.

Ich will keine käufliche Kurtisane, denkt er, ich will dich mir verdienen.

«Danke.» Sie riecht an dem Kraut. «‹Rosmarin› hat Bedeutung?»

Jacob bedankt sich innerlich bei seinem übel aus dem Mund riechenden Lateinzuchtmeister in Middelburg. «Der lateinische Name ist ros marinus. ‹Ros› bedeutet ‹Tau› - kennen Sie das Wort ‹Tau›?»

Sie runzelt die Stirn, schüttelt kaum merklich den Kopf und dreht langsam ihren Sonnenschirm.

«Tau ist Wasser, das man am frühen Morgen findet, bevor die Sonne es verdunsten lässt.»

Die Hebamme versteht. «Tau ... wir sagen asa-tsuyu.»

Jacob weiß, dass er das Wort asa-tsuyu sein Leben lang nicht mehr vergessen wird. «Ros bedeutet also Tau, und marinus bedeutet ‹Meer›. Ros marinus ist der ‹Tau des Meeres›. Alte Leute sagen, dass Rosmarin nur gedeiht - gut wächst -, wenn er das Meer hören kann.»

Diese Geschichte gefällt ihr. «Ist wahre Geschichte?»

«Vielleicht ...», Jacob wünscht sich, die Zeit möge stehenbleiben, «... steckt mehr Schönheit darin als Wahrheit.»

«Bedeutung von ‹marinus› ist ‹Meer›? Dann ist Doktor ‹Doktor Meer›?»

«Das könnte man so sagen, ja. Hat ‹Aibagawa› auch eine Bedeutung?»

«Aiba ist ‹Indigo›», der Stolz auf ihren Namen ist deutlich zu hören, «und gawa ist ‹Fluss›.»

«Dann sind Sie also ein indigoblauer Fluss. Das klingt wie ein Gedicht.» Und du, denkt Jacob, klingst wie ein Süßholz raspelnder Wüstling. «Rosemarie ist auch ein weiblicher Taufname - ein Vorname. Mein Vorname», er bemüht sich, beiläufig zu klingen, «ist Jacob.»

«Was ist ...», sie dreht den Kopf, um ihre Verwirrung anzuzeigen, «... Ya-ko-bu?»

«Der Name, den meine Eltern mir gegeben haben: Jacob. Mein voller Name ist Jacob de Zoet.»

Sie nickt zaghaft. «Yakobu Dazūto.»

Ich wünschte, denkt er, man könnte gesprochene Wörter festhalten und in einem Medaillon verwahren.

«Mein Aussprechen», fragt Fräulein Aibagawa, «ist nicht sehr gut?»

«Nein ... nein! Sie sind in jeder Hinsicht vollkommen. Ihre Aussprache ist tadellos.»

Grillen schrapen und schrillen in den niedrigen Steinmauern des Gartens.

«Fräulein Aibagawa ...», Jacob schluckt, «wie lautet Ihr Vorname?»

Sie lässt ihn eine Weile warten. «Mein Name von Mutter und Vater ist Orito.»

Der Wind wickelt sich eine Strähne ihres Haares um den Finger.

Sie senkt den Blick. «Doktor wartet. Ich danke für Rosmarin.»

Jacob sagt: «Es war mir ein großes Vergnügen», aber mehr zu sagen traut er sich nicht.

Sie geht ein paar Schritte, dann dreht sie sich um. «Ich eine Sache vergessen.» Sie greift in den Ärmel ihres Kimonos und holt eine Frucht heraus. Von Größe und Farbe ähnelt sie einer Orange, aber sie ist glatt wie unbehaarte Haut. «Aus meinem Garten. Ich bringe viele zu Dr. Marinus, und er mich bitten, ich bringe eine zu Herrn Dazūto. Es ist kaki.»

«Dann ist eine Dattelpflaume auf Japanisch eine Kecki?»

«Ka-ki.» Sie legt die Frucht auf die Schulterbiegung der Vogelscheuche.

«Ka-ki. Robespierre und ich werden sie später essen, vielen Dank.»

Die bröckelige Erde knirscht unter ihren Holzsandalen, als sie den Weg hinuntergeht.

Tu etwas, fleht der Geist des zukünftigen Bedauerns. Ich räume dir keine zweite Gelegenheit ein.

Jacob eilt an den Tomaten vorbei und holt sie kurz vor der Pforte ein.

«Fräulein Aibagawa? Fräulein Aibagawa. Ich muss Sie um Vergebung bitten.»

Sie dreht sich um, die Hand schon auf der Pforte. «Warum Vergebung?»

«Für das, was ich jetzt sage.» Die Ringelblumen sind flüssiges Gelb. «Sie sind sehr schön.»

Sie versteht. Ihr Mund öffnet und schließt sich. Sie macht einen Schritt zurück ...

... und stößt gegen die geschlossene Pforte. Der Wachmann öffnet ihr.

Elender Tölpel, stöhnt der Teufel des gegenwärtigen Bedauerns. Was hast du angerichtet?

Fröstelnd, schwitzend und mit weichen Knien tritt Jacob den Rückzug an, aber der Garten ist auf einmal viermal so lang, und es kommt ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er bei den Gurken ist und sich hinter einen Schutzschirm aus Ampferblättern kniet. Eine gescheckte Schnecke biegt ihre Stummelhörner, Ameisen tragen Rhabarberblattflicken über die Spitzhacke, und er wünscht sich, die Erde möge sich zu dem Augenblick zurückdrehen, als sie in den Garten kam und ihn um Rosmarin bat, damit er noch einmal von vorne beginnen und alles anders machen könnte.

Eine Hirschkuh schreit nach ihrem Jährling, der für den Fürsten von Satsuma geschlachtet wird.

Vor dem Abendappell steigt Jacob den Wachtturm hinauf und holt die Dattelpflaume aus der Jackentasche. Aibagawa Oritos Finger haben in der reifen Gabe kleine Dellen hinterlassen. Er legt die Finger auf die Abdrücke, riecht an der Frucht, atmet den sandig-süßen Duft ein und rollt die kugelige Kaki über die aufgesprungenen Lippen. Ich bereue mein Geständnis, denkt er, aber hatte ich denn eine andere Wahl? Er hält die Frucht vor die Sonne: Der Himmelskörper leuchtet orange wie eine Kürbislaterne. Die holzigen schwarzen Kelchblätter und der Stiel sind mit einem puderigen Belag überzogen. Da er weder Löffel noch Messer bei sich hat, nimmt er ein winziges Stück wächserne Schale zwischen die Schneidezähne und zieht; Saft quillt aus dem Riss; er leckt das süße Rinnsal auf, saugt ein tropfendes Stück faseriges Fruchtfleisch heraus und drückt es zart, ganz zart an seinen Gaumen, bis es zu vergorenem Jasmin, öligem Zimt, duftender Melone und flüssiger Zwetschge zerschmilzt ... Im Herzen der Frucht findet er ungefähr zehn flache Samen, braun wie asiatische Augen und von ebensolcher Form. Die Sonne ist untergegangen, die Zikaden verstummen, die Lila- und Türkistöne verblassen zu Grau und noch dunklerem Grau. In unmittelbarer Nähe fliegt, getrieben von ihrem eigenen Ungestüm, eine Fledermaus vorbei. Nicht ein Windhauch ist zu spüren. Rauch steigt aus dem Kombüsenabzug der Shenandoah auf und senkt sich auf den Bug. Die Stückpforten sind geöffnet, und der Lärm von über hundert Matrosen, die im Bauch der Brigg zu Abend essen, hallt über das Wasser, und wie in einer angestoßenen Stimmgabel schwingt in Jacob Orito nach, ihr Wesen, ihre Weiblichkeit. Das Versprechen, das er Anna gegeben hat, haftet an seinem Gewissen wie eine Klette. Aber Anna, denkt er schuldbewusst, ist an Kilometern und Jahren so weit entfernt. Außerdem hat sie mir ihre Einwilligung gegeben, das heißt, gewissermaßen ihre Einwilligung, und sie würde es nie erfahren, und dann nimmt sein Magen Oritos glitschiges Geschenk in sich auf. Die Schöpfung war nicht am sechsten Tag beendet, will es dem jungen Mann erscheinen. Die Schöpfung entfaltet sich um uns, durch uns und trotz uns, so geschwind wie Tage und Nächte vergehen, und wir nennen es gern «Liebe».

«Kapitän Bōru-suten-bōshu», ruft Dolmetscher Sekita eine Viertelstunde später am Fuß des Fahnenmastes. Gewöhnlich wird der zweimal täglich abgehaltene Appell von Wachtmeister Kosugi durchgeführt, der höchstens eine Minute braucht, um festzustellen, ob die Fremdländer, die er alle bei Gesicht und Namen kennt, vollzählig sind. Heute Abend aber hat Sekita beschlossen, seine Autorität geltend zu machen und den Appell selbst zu leiten, während der Wachtmeister mit verstimmter Miene am Rand steht. «Wo ist der ...», Sekita schielt auf seine Liste, «... der Bōru-suten-bōshu?»

Sein Schreiber unterrichtet ihn, dass Faktor Vorstenbosch an diesem Abend dem Fürst von Satsuma seine Aufwartung macht. Sekita erteilt dem Schreiber eine Rüge und blickt rasch auf den nächsten Namen. «Wo ist der ... Banku-rei-fu?»

Sein Schreiber erinnert ihn daran, dass Stellvertreter van Cleef den Faktor begleitet.

Wachtmeister Kosugi räuspert sich lautstark und grundlos.

Der Dolmetscher fährt fort, die Namen auf der Liste aufzurufen. «Ma-ri-as-su ...»

Marinus steht auf, die Daumen in den Jackentaschen eingehakt. «Es heißt Doktor Marinus.»

Sekita blickt erschrocken auf. «Der Marinus braucht Doktor?»

Gerritszoon und Baert grunzen belustigt: Sekita merkt, dass er einen Fehler gemacht hat, und sagt: «Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot.» Er schielt auf den nächsten Namen. «Fui ... shā ...»

«Ich wage zu behaupten», meldet sich Fischer, «dass ich das bin, aber man spricht es ‹Fischer› aus.»

«Ja, ja, Fuishā.» Sekita ringt mit dem nächsten Namen. «Ōe-hando.»

«Anwesend, samt all meiner Sünden», sagt Ouwehand und reibt die Tintenkleckse an seinen Händen.

Sekita tupft sich mit einem Taschentuch die Stirn. «Dazūto ...»

«Anwesend», sagt Jacob. Leute zu erfassen und beim Namen aufzurufen, denkt er, bedeutet, sie sich untenan zu machen.

Als Nächstes verunstaltet Sakita die Namen der Arbeiter: Die höhnischen Bemerkungen, mit denen Gerritszoon und Baert reagieren, verhindern nicht, dass auch ihnen nichts anderes übrigbleibt, als zu antworten. Als die weißen Ausländer abgehakt sind, nimmt sich Sekita die vier Diener und vier Sklaven vor, die in zwei Gruppen links und rechts von ihren Herren stehen. Der Dolmetscher beginnt mit den Dienern: Eelattu, Cupido und Philander, dann mustert er den Namen des ersten Sklaven auf der Liste. «Su-ya-ko.»

Als niemand sich zu Wort meldet, schaut Jacob sich nach dem fehlenden Malaien um.

Sekita stößt noch einmal mühsam die Silben hervor, «Su-ya-ko», aber es meldet sich niemand.

Er wirft seinem Schreiber einen zornigen Blick zu, während dieser Wachtmeister Kosugi eine Frage stellt.

Kosugis Antwort, so vermutet Jacob, lautet: «Das ist dein Appell, und Abwesende sind dein Problem.» Sekita wendet sich an Marinus. «Wo - sind - Su-ya-ko?»

Der Arzt summt mit seiner Bassstimme eine Melodie. Als er Sekita genügend gereizt hat, wendet er sich an die Diener und Sklaven. «Würdet ihr bitte Sjako suchen und ihm sagen, dass er zu spät zum Appell kommt?»

Alle sieben eilen zur Langen Straße und beraten sich, wo Sjako wohl stecken könnte.

«Ich finde heraus, wo der Hund sich verkrochen hat», sagt Peter Fischer zu Dr. Marinus, «und zwar wesentlich schneller als das braune Gesindel. Begleiten Sie mich, Herr Gerritszoon, Sie sind der richtige Mann für diese Aufgabe.»

 

Kaum fünf Minuten später tritt Peter Fischer mit blutverschmierter rechter Hand aus der Fahnengasse, gefolgt von ein paar Hausdolmetschern, die aufgeregt auf Wachtmeister Kosugi und Dolmetscher Sekita einreden. Kurz darauf erscheint Eelattu und erstattet Marinus auf Singhalesisch Bericht. Fischer unterrichtet derweil die anderen Niederländer. «Wir fanden den Mistkäfer im Packhaus gleich neben dem Speicher Doorn. Ich hatte ihn heute früh dort hineingehen sehen.»

«Warum», fragt Jacob, «haben Sie ihn dann nicht zum Appell geholt?»

Fischer grinst. «Ich schätze, er wird ein Weilchen nicht gehen können.»

«In Gottes Namen, was haben Sie ihm angetan?», sagt Ouwehand.

«Nicht so viel, wie er verdient hätte. Der Sklave trank gestohlenen Schnaps und belegte uns mit Schimpfworten, die schon bei einem Gleichgestellten unverzeihlich wären, ganz zu schweigen von einem stinkenden Malaien. Als Herr Gerritszoon sich anschickte, ihm die Unverschämtheiten mit einem Rattanstock auszutreiben, bekam er einen entsetzlichen Wutanfall, heulte wie ein blutdürstiger Wolf und wollte uns mit einem Brecheisen die Schädel einschlagen.»

«Aber warum», bohrt Jacob nach, «hat niemand von uns dieses blutdürstige Heulen gehört?»

«Weil er», weist Fischer ihn zurecht, «vorher die Tür geschlossen hat, Sekretär de Zoet!»

«Sjako hat noch keiner Fliege was zuleide getan», sagt Ivo Oost, «jedenfalls nicht, dass ich wüsste.»

«Vielleicht stehen Sie ihm zu nah», Fischer spielt auf Oosts Abstammung an, «um unvoreingenommen urteilen zu können.»

Arie Grote löst vorsichtig das Schnitzmesser aus Oosts Hand. Marinus gibt Eelattu eine Anweisung auf Singhalesisch, und der Diener läuft in Richtung Krankenhaus. Der Arzt eilt so schnell, wie sein lahmes Bein es zulässt, in die Fahnengasse. Ohne auf Sekitas Protest zu hören, folgt Jacob ihm, seinerseits gefolgt von Wachtmeister Kosugi und dessen Wachleuten.

Das Abendlicht färbt die weißgetünchten Speicher in der Langen Straße in einem dunklen Bronzeton. Jacob hat Marinus eingeholt. An der Kreuzung biegen sie in die Knochengasse ein, eilen vorbei am Speicher Doorn und betreten den stickigen, düsteren, mit Kisten vollgestellten Schuppen.

«Na, Sie haben sich ja ganz schön Zeit gelassen!», sagt Gerritszoon, der auf einem Sack sitzt.

«Wo ist ...» Jacob erblickt die Antwort auf seine Frage.

Der Sack ist Sjako. Sein einstmals hübsches Gesicht liegt in einer Blutlache. Seine Lippe ist gespalten, ein Auge ist fast zugeschwollen, und er gibt kein Lebenszeichen von sich. Auf dem Boden liegen zersplitterte Kisten, eine zertrümmerte Flasche und ein kaputter Stuhl. Gerritszoon kniet auf Sjakos Rücken und fesselt dem Sklaven die Hände.

Die anderen drängen sich hinter Jacob und dem Arzt in den Schuppen.

«Jesus, Maria und Oliver Sauhund Cromwell», ruft Con Twomey aus.

Die einheimischen Zeugen bekunden auf Japanisch ihr Entsetzen.

«Binden Sie ihn los», befiehlt Marinus Gerritszoon, «und halten Sie sich von mir fern.»

«Sie sind nicht der Chef, und der Vize sind Sie auch nicht, und ich schwöre bei Gott ...»

«Binden Sie ihn sofort los», herrscht der Arzt ihn an, «oder ich schwöre bei meinem Gott, dass mir auf tragische Weise langsam und qualvoll die Hand ausrutscht, wenn Ihr Blasenstein so groß ist, dass Sie Blut pissen, und Sie wie ein verängstigtes Kind nach einer Operation schreien.»

«Es war unsere Pflicht», knurrt Gerritszoon, «den Teufel aus ihm rauszuprügeln.»

Er tritt zur Seite. «Sie haben das Leben aus ihm rausgeprügelt», ruft Ivo Oost.

Marinus gibt Jacob seinen Stock und kniet sich neben den Sklaven.

«Hätten wir tatenlos abwarten sollen», fragt Fischer, «bis er uns umbringt?»

Marinus löst die Fesseln. Mit Jacobs Hilfe versucht er, Sjako umzudrehen.

«Faktor V. wird nicht begeistert sein», schnaubt Arie Grote verächtlich, «dass so mit dem Eigentum der Kompanie umgegangen wird!»

Ein Schmerzensschrei dringt aus Sjakos Brust und verklingt.

Marinus legt dem verletzten Malaien seinen Mantel unter den Kopf, raunt ihm in seiner Muttersprache etwas zu und untersucht seinen Schädel. Der Sklave zittert am ganzen Körper. Marinus macht ein besorgtes Gesicht und sagt: «Wie kommen die Glassplitter in die Kopfwunde?»

«Das habe ich bereits gesagt», antwortet Fischer, «wenn Sie mir zugehört hätten. Er hat gestohlenen Rum getrunken.»

«Und sich dann mit der Flasche selbst verletzt?»

«Ich habe sie ihm im Kampf abgenommen», sagt Gerritszoon, «um mich damit zu wehren.»

«Der schwarze Hund wollte uns umbringen!», schreit Fischer. «Mit einem Hammer!»

«Hammer? Brecheisen? Flasche? Sie hätten besser dafür sorgen sollen, dass Ihre Aussagen übereinstimmen.»

«Ich lasse mir diese ...», droht Fischer, «... diese Unterstellungen nicht länger bieten, Marinus.»

Eelattu kommt mit einer Trage. Marinus sagt zu Jacob: «Helfen Sie mir, Domburger.»

Sekita stößt die Hausdolmetscher mit seinem Fächer beiseite und wirft einen angewiderten Blick auf das Geschehen. «Das ist der Su-ya-ko?»

Der erste Gang beim Abendessen ist eine süße französische Zwiebelsuppe. Vorstenbosch schlürft sie verstimmt und schweigend. Er und van Cleef kamen in heiterer Laune nach Dejima zurück, doch diese war dahin, als sie von dem verprügelten Sjako erfuhren. Marinus ist noch im Krankenhaus und behandelt die zahlreichen Wunden des Malaien. Der Faktor hat sogar Cupido und Philander von ihren musikalischen Pflichten entbunden, mit der Begründung, er sei nicht in Stimmung für Musik. So bleibt es Vize van Cleef und Kapitän Lacy überlassen, die Tischgesellschaft mit ihren Schilderungen der Residenz des Fürsten von Satsuma und seines Gefolges zu unterhalten. Jacob hat den Eindruck, dass sein Mentor gewisse Zweifel an Fischers und Gerritszoons Version des Vorfalls im Packhaus hegt, aber diese auszusprechen, hieße, das Wort eines schwarzen Sklaven über das Wort eines weißen Amtsträgers und eines weißen Arbeiters zu stellen. Würde man damit nicht einen Präzedenzfall, denkt Vorstenbosch in Jacobs Phantasie, für die anderen Diener und Sklaven schaffen? Fischer befleißigt sich vorsichtiger Zurückhaltung, denn er spürt, dass seine Aussichten, die Stellung als Kontorleiter zu bekommen, gefährdet sind. Als Arie Grote und sein Küchenjunge die Wildpastete auftragen, lässt Kapitän Lacy seinen Diener ein halbes Dutzend Flaschen Gerstenbier holen, aber Vorstenbosch bemerkt es nicht einmal. Er murmelt: «Was in Gottes Namen hält Marinus so lange auf?», und schickt Cupido, den Arzt zu holen. Cupido bleibt lange fort. Lacy erzählt in ausgeschmückter Fassung, wie er in der Schlacht von Bunker Hill neben George Washington gekämpft hat, und vertilgt gerade seine dritte Portionen Aprikosenpudding, als Marinus ins Esszimmer hinkt.

«Wir hatten gar nicht mehr mit Ihrem Erscheinen gerechnet, Herr Doktor», empfängt ihn Vorstenbosch.

«Ein angebrochenes Schlüsselbein», Marinus nimmt Platz, «eine Ellenfraktur, ein gebrochener Kiefer, eine Splitterfraktur der Rippe, drei ausgeschlagene Zähne, schwere Quetschungen am ganzen Körper, besonders im Gesicht und im Genitalbereich, sowie eine teilweise abgelöste Kniescheibe. Wenn er wieder gehfähig ist, wird er so geschickt humpeln wie ich, und sein gutes Aussehen ist, Sie ahnen es, für immer dahin.»

Fischer trinkt sein Yankeebier, als ob ihn das alles nichts anginge.

«Dann», erkundigt sich van Cleef, «schwebt der Sklave nicht in Lebensgefahr?»

«Im Augenblick nicht, aber Fieber und Infektionen lassen sich nicht ausschließen.»

«Wie lange», Vorstenbosch bricht einen Zahnstocher entzwei, «muss er genesen?»

«Bis alle Verletzungen verheilt sind. Danach empfehle ich leichte Arbeiten.»

Lacy schnaubt. «Hier verrichten alle Sklaven leichte Arbeiten: Dejima ist ein Schlaraffenland.»

«Haben Sie aus dem Sklaven», fragt Vorstenbosch, «seine Version der Ereignisse herausbekommen?»

«Ich hoffe doch», sagt Fischer, «dass die Aussagen von Herrn Gerritszoon und mir mehr sind als eine bloße ‹Version der Ereignisse›?»

«Jede Beschädigung von Kompanieeigentum muss untersucht werden, Fischer.»

Kapitän Lacy fächelt sich mit seinem Hut Luft zu. «Bei uns in Carolina würden wir jetzt erörtern, wie viel Schadenersatz Herr Fischer von den Eigentümern des Sklaven einfordern kann.»

«Nachdem die Umstände geklärt sind, hoffe ich! Dr. Marinus: Warum ist der Sklave nicht zum Appell erschienen? Er lebt schon seit vielen Jahren hier. Er kennt die Vorschriften.»

«Ich würde es ebendiesen vielen Jahren zuschreiben.» Marinus füllt sich Pudding auf. «Sie haben ihn ausgezehrt und eine Schwächung der Nervenkraft herbeigeführt.»

«Sie ...», Lacy bekommt vor Lachen keine Luft mehr, «... Sie sind einmalig, Doktor! Eine ‹Schwächung der Nervenkraft›? Was kommt als Nächstes? Ein Maultier, das zu melancholisch ist zum Lastenziehen? Eine Henne, die zu empfindsam ist zum Eierlegen?»

«Sjako hat in Batavia Frau und Sohn», sagt Marinus. «Als Gijsbert Hemmij ihn vor sieben Jahren mit nach Dejima nahm, wurde die Familie auseinandergerissen. Als Hemmij dann nach Java zurückkehrte, versprach er Sjako, ihm für seine treuen Dienste die Freiheit zurückzugeben.»

«Bekäme ich für jeden Nigger», ruft Lacy triumphierend, «dem man unüberlegt die Freiheit verspricht, auch nur einen Dollar, ich könnte mir ganz Florida kaufen.»

«Aber mit Faktor Hemmijs Tod», hält van Cleef dagegen, «erlosch auch sein Versprechen.»

«Noch in diesem Frühling versprach ihm Daniel Snitker, er werde das Versprechen nach Beendigung der Handelszeit einlösen. Man ließ Sjako in dem Glauben», Marinus stopft seine Pfeife, «er werde in wenigen Wochen als freier Mann nach Batavia segeln, und als die Shenandoah kam, hatte er sein Herz schon darauf ausgerichtet, für die Freiheit seiner Familie zu arbeiten.»

«Snitkers Wort», bemerkt Lacy, «ist das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben wurde.»

«Erst gestern erfuhr Sjako», Marinus hält einen Fidibus in die Kerze und zündet die Pfeife an, «dass man das Versprechen gebrochen hat und ihm die Freiheit verwehrt.»

«Der Sklave wird bis zum Ende meiner Amtszeit hierbleiben», entscheidet der Faktor. «Dejima braucht Arbeitskräfte.»

Der Arzt pafft eine Rauchwolke aus. «Warum bekunden Sie dann Ihr Erstaunen über seine Gemütsverfassung? Bei mir ist sieben plus fünf zwölf: zwölf Jahre. Sjako kam als Siebzehnjähriger hierher: Das heißt, er wird Dejima frühestens mit neunundzwanzig verlassen. Bis dahin wird man seinen Sohn verkauft und seine Frau mit einem anderen verheiratet haben.»

«Wie kann ich ein Versprechen brechen, das ich nie gegeben habe?», entgegnet Vorstenbosch.

«Ein schlauer und berechtigter Einwand, Herr Faktor», sagt Peter Fischer.

«Auch ich habe Frau und Töchter seit acht Jahren nicht gesehen!», sagt van Cleef.

«Sie sind stellvertretender Faktor.» Marinus kratzt an einem Blutfleck auf seiner Manschette. «Sie sind hier, um reich zu werden. Sjako ist ein Sklave, der hier ist, damit seine Herren ein angenehmes Leben haben.»

«Ein Sklave ist ein Sklave», ereifert sich Fischer, «weil er Sklavenarbeit verrichtet.»

«Was halten Sie davon», Lacy pult sich mit seiner Gabel im Ohr, «wenn wir zu seiner Erheiterung eine Theatervorstellung geben? Vielleicht können wir Othello aufführen.»

«Laufen wir nicht Gefahr», gibt van Cleef zu bedenken, «das Entscheidende aus den Augen zu verlieren? Nämlich, dass ein Sklave heute versucht hat, zwei unserer Kollegen zu ermorden?»

«Wieder ein ausgezeichneter Einwand», sagt Fischer, «wenn ich das bemerken darf.»

«Sjako», Marinus legt die Daumen zusammen, «bestreitet, seine Gegner angegriffen zu haben.»

Fischer lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und stößt ein «Pah!» in Richtung Kronleuchter aus.

«Sjako sagt, die beiden weißen Herren hätten sich völlig grundlos auf ihn gestürzt.»

«Der Halunke», knurrt Fischer, «ist ein Lügner der dreckigsten Sorte.»

«Alle Schwarzen lügen», Lacy klappt seine Schnupftabaksdose auf, «so wie Gänse Schleim scheißen.»

«Warum», Marinus legt die Pfeife in den Pfeifenständer, «hätte Sjako sie angreifen sollen?»

«Wilde brauchen kein Motiv!» Fischer spuckt in den Spucknapf. «Leute wie Sie, Dr. Marinus, sitzen bei Ihren Zusammenkünften da, nicken weise und schwafeln über den wahren Preis des Zuckers in unserem Tee, den uns ein ‹fortentwickelter Neger› in Samt und Seide bringt. Ich aber wurde nicht in schwedischen Gärten herangezüchtet: Ich habe im Dschungel von Surinam gelebt, wo man den Neger in seiner natürlichen Umgebung findet. Verdienen Sie sich eine von diesen hier ...», Fischer knöpft das Hemd auf und zeigt eine große Narbe über dem Schlüsselbein, «... und dann erzählen Sie mir, ein Wilder habe eine Seele, nur weil er wie ein Papagei das Vaterunser aufsagen kann.»

Lacy blickt beeindruckt auf die Narbe. «Wo haben Sie sich denn dieses hübsche Andenken zugelegt?»

«Während meiner Genesung in Goed Accoord», antwortet Fischer mit finsterem Blick auf Marinus, «einer Pflanzung am Commewijne, zwei Tagesreisen flussaufwärts von Paramaribo. Meine Einheit war ausgerückt, um das Tal von ausgerissenen Sklaven zu säubern, die sich zu räuberischen Banden zusammengerottet hatten. Die Siedler nennen sie ‹Rebellen›: Ich nenne sie Ungeziefer. Wir hatten schon viele ihrer Nester und Yamsfelder ausgeräuchert, als wir von der Trockenzeit überrascht wurden. Nicht einmal in der Hölle gibt es ein dunkleres Loch. Keiner meiner Männer blieb von Beriberi oder Ringelflechte verschont. Die Hausschwarzen auf Goed Accoord nutzten unsere Schwäche aus, und am dritten Tag drangen sie in der Morgendämmerung ins Haus ein und griffen uns an. Die verräterischen Nattern krochen zu Hunderten aus ihren Schlammlöchern oder ließen sich von Bäumen fallen. Meine Männer und ich wehrten uns tapfer mit Musketen, Bajonetten und den bloßen Händen, aber dann traf mich ein Streitkolben am Schädel, und ich wurde ohnmächtig. Als ich nach Stunden zu mir kam, war ich an Händen und Füßen gefesselt. Mein Kiefer war - wie sagt man? - ausgerenkt. Ich lag zwischen den anderen Verwundeten im Salon. Einige flehten um Gnade, aber dieser Begriff ist dem Neger fremd. Der Sklavenanführer erschien und befahl seinen Schlächtern, den Männern für die Siegesfeier die Herzen herauszuschneiden. Und das taten sie ...», Fischer schwenkt sein Bier im Glas herum, «... langsam, ohne die Opfer vorher zu töten.»

«So viel Niedertracht und Barbarei», sagt van Cleef feierlich, «spottet jeder Gottgläubigkeit.»

Vorstenbosch schickt Philander und Weh nach unten, damit sie einige Flaschen Rheinwein holen.

«Meine weniger glücklichen Kameraden, der Schweizer Fourgeoud, DeJohnette und mein Busenfreund Tom Isberg erduldeten die Leiden Christi. Ihre Schreie werden mich bis an mein Lebensende verfolgen, und ebenso das Gelächter der Schwarzen. Sie warfen die Herzen in einen Nachttopf, nur eine Handbreit von der Stelle entfernt, wo ich auf dem Boden lag. Im Zimmer stank es wie in einem Schlachthaus; die Luft war schwarz von Fliegen. Es war schon dunkel, als ich an die Reihe kam. Ich war der Vorletzte. Sie warfen mich auf einen Tisch. Trotz meiner Furcht stellte ich mich tot und betete zu Gott, er möge meine Seele schnell zu sich holen. Einer der Schwarzen rief: ‹Son de go sleeby caba. Mekewe liby den tara dago tay tamara.› Das bedeutet, dass die Sonne schon untergegangen war und dass sie sich die beiden letzten ‹Hunde› für den nächsten Tag aufsparen wollten. Draußen schlugen die Trommeln zum Festschmaus und zur Hurerei, und die Barbaren wollten sich dieses Vergnügen nicht entgehen lassen. Einer der Schlächter spießte mich mit einem Bajonett am Tisch fest, als wäre ich ein Schmetterling auf der Nadel eines Sammlers, und dann ließen sie mich, ohne eine Wache aufzustellen, allein.»

Insekten schwirren über dem Kandelaber wie unheilvoller Nebel.

Eine rostrote Eidechse sitzt auf der Klinge von Jacobs Buttermesser.

«Ich flehte Gott an, er möge mir die nötige Kraft geben. Durch Drehen des Kopfes bekam ich die Klinge zwischen die Zähne und zog das Bajonett langsam heraus. Ich verlor Unmengen von Blut, aber ich rang meine Schwäche nieder. Schließlich hatte ich meine Freiheit wieder. Unter dem Tisch lag Joosse, der letzte Überlebende meiner Einheit. Joosse war Zeeländer, genau wie Sekretär de Zoet ...»

Ach, denkt Jacob, welch passender Zufall!

«... und, wie ich leider sagen muss, ein Feigling. Vor lauter Angst konnte er sich nicht bewegen, bis meine Argumente seine Furcht besiegten. Wir verließen Goed Accoord im Schatten der Dunkelheit. Sieben Tage lang schlugen wir uns mit bloßen Händen einen Pfad durch die grüne Hölle. Außer den Maden, die sich in unseren Wunden vermehrten, hatten wir nichts zu essen. Immer wieder flehte Joosse mich an, endlich sterben zu dürfen. Aber meine Ehre zwang mich, selbst diesen zeeländischen Schwächling vor dem Tode zu beschützen. Schließlich erreichten wir durch Gottes Fügung Fort Sommelsdyck, wo der Commewijne und der Cottica zusammenfließen. Wir waren mehr tot als lebendig. Mein Kommandeur gestand mir später, er habe nicht damit gerechnet, dass ich die nächsten Stunden überleben würde. ‹Unterschätzen Sie nie wieder einen Preußen›, erklärte ich ihm. Der Gouverneur von Surinam verlieh mir eine Tapferkeitsmedaille, und sechs Wochen später führte ich zweihundert Soldaten zurück nach Goed Accord. Wir verübten an dem Ungeziefer furchtbare Rache, aber es liegt mir fern, mit meinen Verdiensten zu prahlen.»

Weh und Philander kommen mit dem Rheinwein zurück.

«Eine höchst erbauliche Geschichte», sagt Lacy. «Ich ziehe den Hut vor Ihrer Tapferkeit, Herr Fischer.»

«Die Stelle, als Sie die Maden verspeist haben», wirft Marinus ein, «war wohl doch ein wenig dick aufgetragen.»

«Die Zweifel des Herrn Doktors», sagt Fischer zu den Beamten, «entspringen seiner gefühlvollen Zuneigung zu den Wilden, muss ich mit Bedauern feststellen.»

«Die Zweifel des Herrn Doktors ...», Marinus studiert das Weinetikett, «... sind die natürliche Reaktion auf großspuriges Geschwätz.»

«Ihre Anschuldigungen», schlägt Fischer zurück, «verdienen keine Antwort.»

Jacob bemerkt die Mückenstiche, die sich wie eine Inselkette quer über seine Hand ziehen.

«Die Sklaverei mag für manche ungerecht sein», sagt van Cleef, «aber niemand kann leugnen, dass alle Weltreiche auf ihr begründet sind.»

«Dann», Marinus dreht den Korkenzieher, «soll der Teufel alle Weltreiche holen.»

«Welch ungewöhnliche Äußerung», erklärt Lacy, «aus dem Mund eines Kolonialbeamten!»

«In der Tat», pflichtet Fischer ihm bei, «und obendrein zeugt sie von geradezu jakobinischen Ansichten.»

«Ich bin kein Kolonialbeamter: Ich bin Arzt, Gelehrter und Reisender.»

«Sie suchen Ihr Glück», sagt Lacy, «auf Kosten des Niederländischen Weltreichs.»

«Meine Schätze sind rein botanischer Natur.» Der Korken knallt. «Die Reichtümer überlasse ich Ihnen.»

«Wie ungemein aufgeklärt, überspannt und französisch, eine Nation, nebenbei bemerkt, die erfahren hat, welche Gefahren die Abschaffung der Sklaverei mit sich bringt. Anarchie hat die Karibik in Brand gesteckt, Pflanzungen wurden geplündert, Männer an Bäumen aufgeknüpft, und als Paris seine Neger wieder in Ketten gelegt hatte, war Hispaniola schon verloren.»

«Und dennoch», schaltet sich Jacob ein, «zieht sogar das Britische Empire die Abschaffung der Sklaverei in Erwägung.»

Vorstenbosch taxiert seinen einstigen Protégé mit strengem Blick.

«Die Briten», ermahnt ihn Lacy, «bedienen sich immer irgendeiner List: Die Zeit wird es lehren.»

«Und die Bürger Ihrer Nordstaaten», sagt Marinus, «die erkannt haben ...»

«Die blutsaugenden Yankees», Kapitän Lacy fuchtelt mit seinem Messer, «mästen sich mit unseren Steuern.»

«Im Tierreich», sagt van Cleef, «werden die Unterlegenen von denen gefressen, die von der Natur besser begünstigt wurden. Dagegen ist die Sklaverei geradezu barmherzig: Die niederen Rassen dürfen am Leben bleiben, aber sie müssen dafür eben arbeiten.»

«Welchen Nutzen ...», der Arzt schenkt sich Wein ein, «... hätte denn auch ein aufgefressener Sklave?»

Die Standuhr im Empfangszimmer schlägt zehnmal.

Vorstenbosch gelangt zu einer Entscheidung. «So verärgert ich über den Zwischenfall im Packhaus auch bin, Fischer, ich erkenne an, dass Sie und Gerritszoon in Notwehr gehandelt haben.»

«Ich schwöre Ihnen», beteuert Fischer, «wir hatten keine andere Wahl.»

Marinus blickt in sein Weinglas und verzieht angewidert das Gesicht. «Ekelhafter Nachgeschmack.»

Lacy bürstet seinen Schnurrbart. «Und was ist mit Ihrem Sklaven, Marinus?»

«Eelattu, Kapitän Lacy, ist ebenso wenig Sklave wie Ihr Erster Offizier. Ich fand ihn vor fünf Jahren in Jaffna. Eine Horde portugiesischer Walfänger hatte auf ihn eingeprügelt, bis er sich nicht mehr rührte, und ihn einfach liegengelassen. Während seiner Genesung überzeugte mich die rasche Auffassungsgabe des Jungen, ihn als chirurgischen Assistenten zu beschäftigen, gegen Bezahlung aus eigener Tasche. Er kann seine Stellung aufgeben, wann immer es ihm beliebt, und das mit Lohn und Zeugnis. Kann das irgendein Besatzungsmitglied der Shenandoah von sich sagen?»

«Inder, das muss ich zugeben ...», Lacy begibt sich zum Pisspott, «... äffen zivilisierte Sitten recht gut nach. Ich habe schon Pazifikinsulaner und Chinesen in die Heuerrolle der Shenandoah eingeschrieben, ich weiß also, wovon ich spreche. Aber für Afrikaner ...», der Kapitän knöpft sich die Hose auf und uriniert in den Topf, «... ist die Sklaverei die beste Lebensform: Ließe man sie frei, sie wären innerhalb einer Woche verhungert, es sei denn, sie schlachten weiße Familien ab, um deren Speisekammern zu plündern. Für sie existiert nur der Moment: Sie können weder Land bewirtschaften noch planen, Neues ersinnen oder ihre Vorstellungskraft einsetzen.» Er schüttelt die letzten Urintropfen ab und steckt das Hemd in die Hose. «Wer die Sklaverei verurteilt ...», er kratzt sich unter dem Kragen, «... verwirft außerdem die Heilige Schrift. Die Schwarzen stammen von Noahs viehischem Sohn Ham ab, der seine eigene Mutter beschlief: Deshalb sind seine Nachkommen verflucht. Es steht schwarz auf weiß im neunten Buch der Genesis: ‹Verflucht sei Kanaan. Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern.› Die weiße Rasse stammt hingegen von Jafet ab: ‹Raum schaffe Gott für Jafet, Kanaan aber sei sein Knecht.› Oder ist das etwa die Unwahrheit, Herr de Zoet?»

Alle Augen richten sich auf den Pastorenneffen.

«Diese besonderen Verse sind umstritten», sagt Jacob.

«Der Sekretär nennt Gottes Wort umstritten?», stichelt Peter Fischer.

«Die Welt wäre glücklicher ohne die Sklaverei», erwidert Jacob, «und ...»

«Die Welt wäre glücklicher», schnaubt van Cleef, «wenn an den Bäumen goldene Äpfel hingen.»

«Lieber Herr Vorstenbosch ...», Kapitän Lacy erhebt das Glas, «... Ihr Rheinwein ist fürwahr ein erlesener Tropfen. Sein Abgang ist reiner Nektar.»