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VIII

Das Empfangszimmer im Haus des Faktors auf Dejima

Zehn Uhr morgens am 3. September 1799

 

«Die Antwort des Shōguns auf mein Ultimatum ist an mich gerichtet», beanstandet Vorstenbosch. «Warum verbringt eine Schatulle mit einem zusammengerollten Stück Papier die Nacht in der Residenz des Statthalters wie ein verwöhnter Gast? Wenn der Brief schon gestern Abend eingetroffen ist, warum wurde er mir dann nicht unverzüglich überbracht?» Weil, denkt Jacob, die Verlautbarung eines Shōguns einem päpstlichen Edikt gleichkommt und es Hochverrat wäre, ihr nicht das gebührende Zeremoniell zu erweisen. Aber er hält den Mund: Ihm ist aufgefallen, dass sein Mentor ihn seit einigen Tagen zunehmend kühl behandelt. Es sind nur kleine Gesten: ein lobendes Wort für Peter Fischer, eine schroffe Bemerkung zu Jacob, aber der einst «unentbehrliche de Zoet» fürchtet, dass sein Stern verblasst. Auch van Cleef zieht es vor zu schweigen: Seit langer Zeit schon beherrscht er die Kunst des Höflings, rhetorische von ernst gemeinten Fragen zu unterscheiden. Kapitän Lacy lehnt sich auf dem knarrenden Stuhl zurück, verschränkt die Hände hinter dem Kopf und pfeift leise durch die Zähne. Auf der japanischen Seite des Tisches sitzen die Dolmetscher Kobayashi und Iwase mit zwei ranghohen Schreibern. «Kammerherr des Statthalters», entschuldigt sich Iwase, «wird Shōguns Nachricht bald bringen.»

Unico Vorstenbosch betrachtet mürrisch seinen goldenen Siegelring.

«Was Wilhelm der Schweiger», denkt Lacy laut, «wohl zu seinem Beinamen gesagt hat?»

Die Standuhr tickt laut und würdevoll. Die Männer sind erhitzt und schweigen.

«Himmel heute Nachmittag ...», bemerkt Dolmetscher Kobayashi, «... ist unbeständig.»

«Das Barometer in meiner Kajüte zeigt an», stimmt Lacy zu, «dass es kräftig pusten wird.»

Dolmetscher Kobayashis Miene ist höflich, aber ausdruckslos.

«‹Pusten› bedeutet, dass es Sturm gibt», erklärt van Cleef, «oder ein Seeunwetter oder einen Taifun.»

«Ah, ah», Dolmetscher Iwase versteht, «‹Taifun› ... tai-fū, wir sagen.»

Kobayashi tupft sich den kahlrasierten Scheitel. «Beerdigung für Sommer.»

«Wenn der Shōgun das Kupferquantum nicht erhöht hat», Vorstenbosch verschränkt die Arme, «wird es Dejimas Beerdigung sein: Dejimas und seiner auf Daunen gebetteten Dolmetscher. Apropos Dolmetscher, Herr Kobayashi, darf ich aus Ihrem wohlüberlegten Schweigen bezüglich des Diebstahls schließen, dass die Wiederbeschaffung des entwendeten Porzellangegenstands noch keinen Deut vorangeschritten ist?»

«Untersuchung geht weiter», sagt der vereidigte Dolmetscher.

«Im Schneckentempo», murmelt der unzufriedene Faktor. «Selbst wenn wir auf Dejima bleiben, werde ich Generalgouverneur van Overstraten davon berichten, mit welcher Gleichgültigkeit Sie sich für das Eigentum der Kompanie einsetzen.»

Jacobs scharfe Ohren hören eilende Schritte; auch van Cleef horcht auf.

Der Vize geht zum Fenster und blickt die Lange Straße hinunter. «Ah, endlich.»

Zwei Wachen postieren sich zu beiden Seiten der Tür. Ein Fahnenträger geht voran: Seine Standarte zeigt die drei Malvenblätter des Tokugawa-Shōgunats. Es folgt Kammerherr Tomine mit einem Lacktablett: Darauf liegt die Schatulle mit der Schriftrolle. Die Anwesenden verbeugen sich achtungsvoll vor dem Schriftstück, ausgenommen Vorstenbosch. Er sagt: «Treten Sie ein, Kammerherr, setzen Sie sich und lassen Sie hören, ob Ihre Hoheit in Edo beschlossen hat, diese verdammte Insel von ihrem Leid zu erlösen.»

Jacob bemerkt das leise Zucken in den japanischen Gesichtern.

Iwase übersetzt bis «Setzen Sie sich» und zeigt auf einen Stuhl.

Tomine blickt angewidert auf die fremdländischen Möbel, aber ihm bleibt keine andere Wahl.

Er stellt das Lacktablett vor Dolmetscher Kobayashi ab und verbeugt sich.

Kobayashi erwidert die Verbeugung, dann verbeugt er sich vor der Schriftrolle und schiebt das Tablett zum Faktor.

Vorstenbosch nimmt die zylinderförmige Schatulle, die an einem Ende mit Malvenwappen der Fahne verziert ist, und versucht, sie auseinanderzuziehen. Als das nicht gelingt, versucht er es mit Drehen. Als auch das nicht gelingt, sucht er nach einem Riegel oder einem ähnlichen Verschluss.

«Verzeihung, Herr Vorstenbosch», murmelt Jacob, «Sie müssen im Uhrzeigersinn drehen.»

«Ah, verkehrt herum und auf dem Kopf, wie alles in diesem verfluchten Land ...»

Heraus gleitet ein Pergament, das fest um zwei Pflöcke aus Kirschholz gewickelt ist.

Vorstenbosch entrollt das Pergament in europäischer Manier senkrecht auf dem Tisch.

Jacob hat einen guten Blick auf das Dokument. Die Spalten mit den kunstreich getuschten Kanji-Schriftzeichen verschaffen dem Auge des Sekretärs Momente des Wiedererkennens: Der Niederländischunterricht, den er Ogawa erteilt, ist so gestaltet, dass beide Seiten voneinander lernen, und sein Notizbuch ist schon mit über fünfhundert Schriftzeichen gefüllt. In einer Spalte erkennt der heimliche Student das Wort geben, dann Edo und in der nächsten Spalte das Zeichen für zehn ...

«Natürlich», seufzt Vorstenbosch, «schreibt niemand am Hof des Shōguns Niederländisch. Hätte einer von euch Wunderknaben», er sieht die Dolmetscher an, «vielleicht die Güte?»

 

Die Standuhr zählt eine Minute ab, zwei Minuten, drei ...

Kobayashis Augen wandern abwärts, aufwärts und quer über die Spalten der Schriftrolle.

Die Nachicht ist weder sonderlich lang noch kompliziert, denkt Jacob. Er schindet Zeit.

Die zähe Lektüre des Dolmetschers wird von nachdenklichem Nicken begleitet.

In den anderen Räumen der Faktorenresidenz gehen Diener ihren Pflichten nach.

Vorstenbosch tut Kobayashi nicht den Gefallen, seine Ungeduld zu äußern.

Kobayashi gibt ein rätselhaftes Brummen von sich und öffnet den Mund ...

«Ich lese noch einmal, um sicherzugehen kein Fehler.»

Wenn Blicke tatsächlich töten könnten, denkt Jacob, während er Vorstenbosch beobachtet, würde Kobayashi jetzt schreien wie die Verdammten im Fegefeuer.

Eine weitere Minute vergeht. Vorstenbosch befiehlt seinem Sklaven Philander: «Hol mir Wasser.»

Jacob studiert weiter die Schriftrolle des Shōguns.

Zwei Minuten vergehen. Philander kommt mit einem Wasserkrug zurück.

«Wie», Kobayashi wendet sich an Iwase, «kann man ‹rōju› auf Niederländisch ausdrücken?»

Die bedächtige Antwort des Kollegen beinhaltet die Wörter ‹erster Minister›.

«Dann», verkündet Kobayashi, «ich bin bereit, Nachricht zu übersetzen.»

Jacob taucht seine spitzeste Feder ein.

«Nachricht lautet: ‹Shōguns Erster Minister sendet herzlichste Grüße an Generalgouverneur van Overstraten und Obersten der Niederländer auf Dejima, Vorstenbosch. Erster Minister bittet um ...›», der Dolmetscher blickt auf die Schriftrolle, «‹... um eintausend Fächer aus feinsten Pfauenfedern. Niederländisches Schiff muss Auftrag zurück nach Batavia bringen, damit Fächer aus Pfauenfedern kommen Handelszeit nächstes Jahr.›»

Jacob kritzelt eine Zusammenfassung.

Kapitän Lacy rülpst. «Meine Frühstücksaustern ... waren ein wenig alt ...»

Kobayashi sieht Vorstenbosch an, als würde er auf eine Antwort warten.

Vorstenbosch trinkt das Wasserglas in einem Zug leer. «Sprechen Sie mit mir über Kupfer.»

Kobayashi sieht ihn mit dreister Unschuldsmiene an und sagt: «In Nachricht steht nichts von Kupfer, Herr Faktor.»

«Erzählen Sie mir nicht, Herr Kobayashi», eine Ader pocht an Vorstenboschs Schläfe, «das ist alles, was in der Nachricht steht.»

«Nein ...» Kobayashi starrt auf die linke Seite der Schriftrolle. «Erster Minister auch hofft, Herbst in Nagasaki ist schön, und Winter ist mild. Aber ich glaube, nicht wichtig.»

«Eintausend Pfauenfederfächer.» Van Cleef stößt einen Pfiff aus.

«Feinste Pfauenfederfächer», korrigiert ihn Kobayashi ungeniert.

«Bei uns in Charleston», sagt Kapitän Lacy, «nennen wir so was einen Bettelbrief.»

«Hier in Nagasaki», sagt Iwase, «wir nennen das Befehl von Shōgun.»

«Wollen die Federfuchser in Edo etwa mit uns spielen?», fragt Vorstenbosch. «Gute Nachricht», sagt Kobayashi, «dass Ältestenrat Debatte über Kupfer fortsetzen. Nicht sagen ‹nein›, ist halb sagen ‹ja›.»

«Die Shenandoah segelt in sieben bis acht Wochen.»

«Kupferquantum», Kobayashi spitzt die Lippen, «ist schwierige Sache.»

«Im Gegenteil, die Sache ist ganz einfach. Wenn bis Mitte Oktober nicht zwanzigtausend Pikol Kupfer auf Dejima eingetroffen sind, wird das einzige Fenster, das dieses unwissende Land zur Welt besitzt, geschlossen. Bildet Edo sich etwa ein, dass der Generalgouverneur nur blufft? Glaubt man vielleicht, ich hätte das Ultimatum selbst geschrieben?»

All das, sagt Kobayashis Achselzucken, liegt nicht in meiner Macht.

Jacob legt die Feder beiseite und betrachtet eingehend die Schriftrolle des Ersten Ministers.

«Wie antworten Edo auf Pfauenfedern?», fragt Iwase. «‹Ja› kann helfen Kupfer ...»

«Warum dauern meine Gesuche bis zum jüngsten Tag», fragt Vorstenbosch aufgebracht, «während wir, wenn der Hof etwas will» - er schnipst mit den Fingern -, «so handeln sollen? Glaubt der Minister vielleicht, Pfauen seien Tauben? Lässt sich Sein Erhabenes Auge nicht mit ein paar Windmühlen erfreuen?»

«Pfauenfächer», sagt Kobayashi, «für Minister genug Zeichen von Wertschätzung.»

«Ich habe von diesen verfluchten ‹Zeichen der Wertschätzung›», er schlägt mit der Faust auf die Schriftrolle, und den Japanern stockt vor Entsetzen über diese Respektlosigkeit der Atem, «die Nase voll, gestrichen voll. Montags heißt es ‹Der Guanoschipper des Falkners des Statthalters bittet um einen Ballen Chintz aus Bangalore, mittwochs benötigt der Affenwärter des Ältestenrats eine Kiste Nelken›, freitags heißt es ‹Fürst Soundso aus Dingsda bewundert Ihr Fischbeinbesteck: Er ist mächtiger Freund von Ausländern›, und schwupp speise ich mit angestoßenen Zinnlöffeln. Wo aber stecken diese ‹mächtigen Freunde von Ausländern›, wenn wir Hilfe brauchen?»

Kobayashi genießt seinen Sieg unter einer schlecht sitzenden Maske des Mitgefühls.

Jacob lässt sich auf ein gewagtes Spiel ein. «Herr Kobayashi?»

Der vereidigte Dolmetscher sieht den Sekretär unklaren Ranges an.

«Herr Kobayashi, vorhin kam es beim Verkauf von Pfefferkörnern zu einem Zwischenfall.»

«Verdammt», braust Vorstenbosch auf, «was haben Pfefferkörner mit unserem Kupfer zu tun?»

«Je vous prie de m'excuser, Monsieur», Jacob versucht, seinen Vorgesetzten zu beruhigen, «mais je crois savoir ce que je fais.»

«Je prie Dieu que vous savez», warnt ihn der Faktor. «Le jour a déjà bien mal commencé sans pour cela y ajouter votre aide.»

«Herr Ouwehand und ich», wendet sich Jacob an Kobayashi, «stritten uns nämlich mit einem Kaufmann über das chinesische Ideogramm - das konji, sagen Sie, glaube ich?»

«Kanji», berichtigt ihn Kobayashi.

«Verzeihung, das Kanji für die Zahl Zehn. Während meines Aufenthaltes in Batavia lernte ich von einem chinesischen Kaufmann einige Schriftzeichen, und da habe ich mein beschränktes Wissen eingesetzt, anstatt - wie es vielleicht klüger gewesen wäre - in der Zunft einen Dolmetscher zu bestellen. Die Gemüter erhitzten sich, und nun befürchte ich, dass Ihrem Landsmann eine Klage wegen Unredlichkeit droht.»

«Was», Kobayashi wittert schon die nächste Gelegenheit, die Niederländer zu demütigen, «ist Kanji des Streits?»

«Nun, Herr Ouwehand sagte, das Kanji für ‹zehn› werde ...», mit gespielter Unbeholfenheit malt Jacob ein Zeichen auf sein Löschpapier, «... so geschrieben.»

«Nein, widersprach ich ihm, das richtige Zeichen für ‹zehn› sieht ... so aus ...»

Um seine Unkenntnis zu demonstrieren, malt Jacob die Striche in der falschen Reihenfolge. «Der Kaufmann behauptete, wir hätten beide unrecht: Er zeichnete ein Kreuz ...», Jacob seufzt und runzelt die Stirn, «... so, glaube ich ...»

«Ich kam zu dem Schluss, dass der Kaufmann ein Schwindler sei, und möglicherweise habe ich diesen Verdacht auch geäußert: Wäre Dolmetscher Kobayashi so freundlich, mich in dieser Sache aufzuklären?»

«Herrn Ouwehands Zahl», Kobayashi zeigt auf das oberste Zeichen, «ist ‹tausend›, nicht ‹zehn›. Herrn de Zoets Zahl ist auch falsch: bedeutet ‹hundert›. Das», er zeigt auf das X, «ist falsche Erinnerung. Kaufmann hat so geschrieben ...» Kobayashi bittet seinen Schreiber um einen Pinsel. «Das ist ‹zehn›. Zwei Striche, richtig, aber einer hoch, einer quer.»

Jacob stöhnt zerknirscht auf und schreibt die Zahlen 10, 100 und 1000 neben die dazugehörigen Zeichen. «Dann sind dies die korrekten Symbole für die betreffenden Zahlen?»

Der wachsame Kobayashi unterzieht die Zahlen einer letzten Prüfung und nickt.

«Ich bin dem obersten Dolmetscher», Jacob verbeugt sich, «für seine Hilfe aufrichtig dankbar.»

«Es gibt», der Dolmetscher fächelt sich Luft zu, «keine Fragen mehr?»

«Eine einzige», sagt Jacob. «Warum haben Sie behauptet, der Erste Minister des Shōguns habe eintausend Pfauenfederfächer verlangt, obwohl es sich nach den Zahlzeichen, die Sie mich eben freundlicherweise gelehrt haben, um die deutlich bescheidenere Anzahl von einhundert handelt» - alle Blicke richten sich auf Jacobs Zeigefinger, der sich auf das Kanji für «hundert» legt, «... so wie es hier geschrieben steht?»

Im Raum herrscht empörte Stille. Jacob dankt seinem Schöpfer.

«Tick, tick, tack», sagt Kapitän Lacy, «die Katze ist aus dem Sack.» Kobayashi greift nach der Schriftrolle. «Shōguns Bitte nicht für Augen von Sekretär

«Ganz recht!», poltert Vorstenbosch. «Sie ist für meine Augen bestimmt! Herr Iwase: Sie übersetzen den Brief, damit wir feststellen können, um wie viele Fächer es sich wirklich handelt - eintausend oder einhundert für den Ältestenrat und neunhundert für Herrn Kobayashi und seine Kumpane. Aber vorher, Herr Iwase, helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge: Wie lautet die Strafe für das vorsätzliche Falschübersetzen eines Shōgunbefehls?»

Um vier Minuten vor vier drückt Jacob im Speicher Eik ein Löschblatt auf die frische Tinte. Er trinkt noch einen Becher Wasser, das er bis zum letzten Tropfen wieder ausschwitzen wird. Dann hebt der Sekretär das Löschblatt und liest die Überschrift: Sechzehnter Nachtrag: Korrekte Menge der in den Jahren 1793 bis 1799 von Dejima nach Batavia ausgeführten japanischen Lackwaren, die nicht in den Frachtbriefen verzeichnet sind. Er klappt das schwarze Buch zu, verschließt es und steckt es in sein Portefeuille. «Wir machen Schluss für heute, Hanzaburo. Faktor Vorstenbosch hat mich für vier Uhr ins Empfangszimmer bestellt. Bring diese Papiere bitte zu Herrn Ouwehand ins Kontor.» Hanzaburo nimmt seufzend die Dokumente und zieht bekümmert davon. Jacob folgt ihm und schließt das Lagerhaus ab. Samen fliegen in der stickigen Luft.

Der sonnenverbrannte Niederländer denkt an die ersten Schneeflocken im zeeländischen Winter.

Nimm den Weg über die Kurze Straße, sagt er zu sich selbst. Vielleicht begegnest du ihr dort.

Auf dem Fahnenplatz hängt die niederländische Trikolore fast schlaff vom Mast.

Wenn du Anna betrügen willst, denkt er, warum trachtest du dann nach dem Unerreichbaren?

An der Landpforte durchsucht ein Abgreifer einen mit Viehfutter beladenen Handkarren auf Schmuggelware.

Marinus hat recht. Miete dir eine Kurtisane. Du hast jetzt genügend Geld ...

Jacob geht die Kurze Straße entlang bis zur Kreuzung, wo Ignatius mit Fegen beschäftigt ist.

Der Sklave erzählt dem Sekretär, dass die Studenten das Krankenhaus schon vor einiger Zeit verlassen haben.

Ein einziger Blick, das weiß Jacob genau, verriete mir, ob der Fächer sie erfreut oder gekränkt hat.

Er steht, wo sie - vielleicht - vorbeigegangen ist. Zwei Spitzel beobachten ihn.

Als er zum Haus des Faktors kommt, tritt Peter Fischer aus der Seitengasse. «Ach, ist das nicht der Hund, der heute die läufige Hündin bestiegen hat?» Der Atem des Preußen riecht nach Rum.

Jacob kann nur vermuten, dass Fischer auf den Fächer von heute Vormittag anspielt.

«Drei Jahre in diesem gottserbärmlichen Gefängnis ... Snitker hat geschworen, ich würde nach seiner Abreise van Cleefs Stellvertreter werden. Geschworen! Aber dann kommen Sie an Land, Sie und Ihr verfluchtes Quecksilber ... in seiner seidengefütterten Tasche ...» Fischer blickt schwankend die Treppe zum Haus des Faktors hinauf. «Sie vergessen, de Zoet, ich bin kein dahergelaufener Schwächling. Sie vergessen ...»

«Dass Sie in Surinam Jäger gewesen sind? Daran erinnern Sie uns alle täglich.»

«Wenn Sie mich um meine rechtmäßige Beförderung bringen, breche ich Ihnen alle Knochen.»

«Ich wünsche Ihnen, dass Ihr Abend nüchterner verläuft als Ihr Nachmittag, Herr Fischer.»

«Jacob de Zoet! Ich breche jedem Feind die Knochen. Einzeln.»

 

Vorstenbosch führt Jacob so unbeschwert wie seit Tagen nicht mehr in sein Arbeitszimmer. «Herr van Cleef sagt, Herr Fischer hätte seinen Unmut an Ihnen ausgelassen.»

«Leider ist Herr Fischer der Überzeugung, dass ich jede wache Minute darauf verwende, seine Interessen zu durchkreuzen.»

Van Cleef füllt drei Kristallgläser mit schwerem dunkelrotem Portwein.

«... aber es ist durchaus möglich, dass seine Vorwürfe Herrn Grotes Rum geschuldet sind.»

«Fest steht jedenfalls», sagt Vorstenbosch, «dass heute Kobayashis Interessen durchkreuzt wurden.»

«So ängstlich», pflichtet van Cleef ihm bei, «hat er den Schwanz noch nie eingezogen.»

Auf dem Dach geben scharrende Vögel düstere Warnungen aus.

«Die eigene Gier hat ihn in die Falle gelockt», sagt Jacob. «Ich habe nur ... ein wenig nachgeholfen.»

«Er», van Cleef lacht sich in den Bart, «sieht das sicher anders!»

«Als ich Sie kennenlernte, de Zoet», beginnt Vorstenbosch, «wusste ich es gleich: Das ist eine ehrliche Seele in einem Sumpf aus falschen Fünfzigern, eine spitze Feder zwischen stumpfen Kielen, ein Mann, der mit etwas Führung in seinem dreißigsten Jahr Faktor sein wird! Ihr Einfallsreichtum hat der Kompanie heute Vormittag viel Geld gespart und ihre Ehre gerettet. Generalgouverneur Overstraten wird das nicht verborgen bleiben, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.»

Jacob verbeugt sich. Hat er mich vielleicht herbestellt, überlegt er, um mich zum Kontorleiter zu ernennen?

«Auf Ihre Zukunft!» Der Faktor und sein Vize stoßen mit Jacob an.

Vielleicht war er in letzter Zeit so reserviert, denkt Jacob, um den Vorwurf der Begünstigung abzuwenden.

«Kobayashis Strafe war, Edo mitzuteilen», sagt van Cleef hämisch, «dass es voreilig und unklug wäre, Waren bei einem Handelsposten zu bestellen, der mangels Kupfer in fünfzig Tagen geschlossen sein könnte. Außerdem nutzen wir seine Angst, ihm weitere Zugeständnisse abzupressen.»

Lichtreflexe funkeln auf den Pendeln der Almelo-Uhr wie Sternensplitter.

«Wir haben», Vorstenbosch wechselt die Tonart, «eine weitere Aufgabe für Sie, de Zoet. Herr van Cleef wird sie Ihnen erläutern.»

Van Cleef trinkt sein Glas aus. «Jeden Morgen vor dem Frühstück bekommt Arie Grote vor aller Augen Besuch: ein Händler mit einer prall gefüllten Tasche.»

«Größer als ein Beutel», ergänzt Vorstenbosch, «kleiner als ein Kopfkissenbezug.»

«Wenig später geht der Händler wieder, die Tasche so prall gefüllt wie zuvor.»

«Wie», Jacob verbannt seine Enttäuschung darüber, dass er nicht sofort befördert wird, «lautet Herrn Grotes Geschichte?»

«Eben, eben», erwidert Vorstenbosch, «er würde van Cleef und mir nur ‹Geschichten› auftischen. Eine hohe Stellung, das werden Sie eines Tages feststellen, entfernt einen Mann von seinen Leuten. Aber der heutige Vormittag hat bewiesen, dass Sie den Riecher haben, um einen Schurken aufzuspüren. Sie zögern. Denken: Niemand mag einen Denunzianten, und damit haben Sie leider recht. Aber wer wie Sie, und davon sind van Cleef und ich überzeugt, für ein hohes Amt bestimmt ist, de Zoet, darf nicht davor zurückschrecken, sich mit den Ellbogen seinen Weg zu bahnen. Statten Sie Grote heute Abend einen Besuch ab ...»

Sie wollen mich auf die Probe stellen, erkennt Jacob, sehen, ob ich bereit bin, mir die Hände schmutzig zu machen.

«Ich werde einer seit langem bestehenden Einladung an den Kartentisch des Kochs folgen.»

«Sehen Sie, van Cleef? De Zoet sagt nie: ‹Muss ich wirklich?›, sondern er überlegt: ‹Wie stelle ich es am klügsten an?›»

Jacob malt sich aus, dass Anna die Neuigkeiten von seiner Beförderung liest.

Mauerschwalben segeln im abendlichen Halbdunkel, und Jacob findet Ogawa Uzaemon an seiner Seite. Der Dolmetscher sagt etwas zu Hanzaburo, worauf dieser verschwindet, und begleitet Jacob zu den feuchten Kiefern am Ende der Uferstraße. Dort bleibt Ogawa stehen, macht den im Verborgenen lauernden Spitzel mit einer freundlichen Begrüßung unschädlich und sagt mit gesenkter Stimme: «Ganz Nagasaki spricht von heute Vormittag. Über Dolmetscher Kobayashi und Fächer.»

«Vielleicht war das sein letzter Versuch, uns derart schamlos zu prellen.»

«Neulich», sagt Ogawa, «ich habe Sie gewarnt, Enomoto nicht zu Feind machen.»

«Ich nehme Ihren Rat sehr ernst.»

«Hier ist noch ein Rat. Kobayashi ist kleiner Shōgun. Dejima ist sein Reich.»

«Dann kann ich von Glück sagen, dass ich nicht auf seine guten Dienste angewiesen bin.»

Ogawa versteht ‹gute Dienste› nicht. «Er schadet Ihnen, de Zoet-san.»

«Vielen Dank für Ihre Besorgnis, Herr Ogawa, aber ich fürchte mich nicht vor ihm.»

«Vielleicht er durchsucht Wohnung», Ogawa blickt sich um, «nach gestohlene Gegenstände ...»

Über einem Boot hinter der Seemauer kreischen Möwen in der Abenddämmerung.

«... oder verbotene Gegenstände. Also, wenn solcher Gegenstand ist in Ihrem Zimmer, ich bitte zu verstecken.»

«Aber ich besitze nichts», protestiert Jacob, «das mich belasten könnte.»

Ein winziger Muskel zuckt unter Ogawas Wange. «Wenn es verbotenes Buch gibt ... verstecken Sie. Verstecken Sie unter Fußboden. Verstecken Sie sehr gut. Kobayashi will Rache. Für Sie, Strafe ist Exil. Dolmetscher, der hat durchsucht Ihre Bibliothek, als Sie gekommen, nicht so viel Glück ...»

Irgendetwas verstehe ich hier nicht, denkt Jacob, aber was?

Der Sekretär setzt zu einer Frage an, doch die Frage stirbt.

Ogawa weiß von meinem Psalter, von Anfang an.

«Ich werde Ihrem Rat sofort nachkommen, Herr Ogawa ...»

Zwei Inspektoren treten aus der Knochengasse und gehen die Uferstraße hinauf.

Ohne ein weiteres Wort geht Ogawa auf sie zu. Jacob verschwindet durch das Gartenhaus.

Con Twomey und Piet Baert stehen auf, und ihre Schatten huschen durch den kerzenerhellten Raum. Der Kartentisch besteht aus einer ausgehängten Tür auf zwei Böcken. Ivo Oost bleibt tabakkauend sitzen, Wybo Gerritszoon spuckt in, nein, gegen den Spucknapf, und Arie Grote ist reizend wie ein Frettchen, das ein Kaninchen begrüßt. «Wir hatten die Hoffnung fast aufgegeben, dass Sie meiner Einladung noch folgen!» Er entkorkt die erste der zwölf Buddeln Rum, die aufgereiht auf einem Bord stehen.

«Ich wollte schon vor einer ganzen Weile kommen», sagt Jacob, «aber die Arbeit hielt mich zurück.»

«Den guten Ruf von Herrn Snitker zu begraben», bemerkt Oost, «ist sicher anstrengend.»

«Ganz recht.» Jacob lässt sich nicht ins Bockshorn jagen. «Das Korrigieren gefälschter Hauptbücher ist äußerst anstrengend. Sehr gemütlich haben Sie es hier, Herr Grote.»

«Wenn ich in ’nem Pisspott leben wollte», Grote zwinkert, «wär ich in Enkhuizen geblieben.»

Jacob nimmt Platz. «Was wird gespielt, meine Herren?»

«Bube und Teufel - ein Spiel unserer germanischen Vettern.»

«Ach, Karnöffel. Ich habe es in Kopenhagen einige Male gespielt.»

«Hätte nicht gedacht», sagt Baert, «dass Sie sich mit Karten auskennen.»

«Pastorensöhne - und Pastorenneffen - sind nicht so naiv, wie viele glauben.»

«Jeder Stift», Grote nimmt einen Nagel aus seinem Vorrat, «ist ein Stuiver von unserem Lohn. Vor jeder Runde wird der Einsatz um einen Nagel erhöht. Sieben Stiche pro Runde, wer die meisten Stiche macht, kassiert den Pott. Sind alle Nägel alle, geht’s ab in die Falle.»

«Und wie lösen wir unseren Gewinn ein, wenn die Löhne erst in Batavia ausbezahlt werden?»

«Kleiner Taschenspielertrick: Hier ...», er wedelt mit einem Zettel, «... wird festgehalten, wer wem wie viel abgenommen hat, und Vize van Cleef trägt die neuen Guthaben ins Lohnbuch ein. Herr Snitker hatte nichts dagegen, weil er wusste, dass ein bisschen Gaudi und Geselligkeit seine Leute bei der Stange hält.»

«Herr Snitker war ein gerngesehener Gast», sagt Ivo Oost, «bevor er seine Freiheit verlor.»

«Fischer, Ouwehand und Marinus halten sich von unserer lustigen Runde fern, aber Sie, Herr de Z., scheinen aus anderem Holz geschnitzt.»

 

Neun Buddeln Rum stehen auf dem Bord. «Also bin ich von zu Hause abgehauen, bevor mein Alter mir wirklich die Leber aus dem Leib gerissen hat», erzählt Grote, «und hab mich in Amsterdam auf die Suche nach Reichtum, Glück und der wahren Liebe gemacht.» Er schenkt sich noch ein Glas uringelben Rum ein. «Aber mehr als die Liebe, die man vorher bar und nachher mit ’nem Tripper bezahlt, hab ich nicht gefunden, und am Reichtum konnt’ ich nicht mal schnuppern. Nee, Hunger, Eis und Schnee und Taschendiebe, die sich wie Hunde auf die Schwachen stürzen, mehr hab ich nicht kennengelernt ... Also dachte ich mir: Erst investieren, dann kassieren, und hab mein ‹Erbe› in ’ner Schubkarre voll Kohlen angelegt, aber ’ne Horde Kohlenmänner warf meine Karre in die Gracht - und mich gleich hinterher. ‹Das ist unser Revier, du friesischer Lump›, schrien sie mir vom Ufer zu, ‹komm erst wieder, wenn du Badetag hast!› Das eiskalte Wasser war nicht bloß ’ne Lehre in Sachen Handelsmonopole. Nee! Ich kriegte so hoch Fieber, dass ich ’ne ganze Woche lang nicht aus meinem Zimmer konnte, und dann setzte mein reizender Vermieter mich mit ’nem Arschtritt vor die Tür. Mit Löchern in den Sohlen und nichts zu fressen außer dem stinkenden Nebel saß ich vor der Nieuwe Kerk und überlegte: Klau ich mir was zu beißen, solange ich noch stark genug bin zum Verduften, oder bring ich’s hinter mich und bleib hier sitzen, bis ich erfroren bin ...»

«Klauen und verduften», sagt Ivo Oost, «ist doch klar ...»

«... als plötzlich so ’n Kerl mit Zylinderhut und vornehmem Spazierstock daherstolziert kommt und mich ganz freundlich fragt: ‹Weißt du, wer ich bin, Junge?› ‹Nein›, sag ich, und er erwidert: ‹Ich, mein Junge, bin dein künftiger Reichtum.› Ich dachte, er gibt mir was zu futtern, weil ich in seine Kirche komme, und so halb verhungert, wie ich war, wär ich für ’n Teller dicke Suppe sogar Jude geworden, aber nein! ‹Du hast doch sicher schon von der stolzen, ehrwürdigen Niederländischen Ostindien-Kompanie gehört, nicht wahr?› ‹Wer hat das nicht?›, antworte ich. Darauf er: ‹Dann weißt du sicher auch, welche glänzenden Aussichten die Kompanie für willige und kräftige Burschen in ihren vielen Besitzungen auf Gottes schöner Welt bereithält!› Endlich kapiere ich, und ich sage: ‹Ja, das weiß ich.› Und er: ‹Nun, ich bin oberster Werber der Kammer in Amsterdam, und mein Name ist Herzog van Eys. Was hältst du davon, wenn ich dir einen Gulden Vorschuss auf deinen Lohn gebe und dazu Unterkunft und Verpflegung, bis die nächste Kompanie-Flottille in den geheimnisvollen Osten aufbricht?› Darauf ich: ‹Herzog van Eys, Sie sind mein Retter.› Herr de Z., bekommt Ihnen unser Rum nicht?»

«Er zersetzt mir den Magen, Herr Grote, aber ansonsten ist er köstlich.»

Grote spielt die Karo-Fünf: Gerritszoon wirft die Königin ab.

«Attacke!» Baert knallt die Trumpf-Fünf auf den Tisch und rafft die Nägel zusammen.

Jacob spielt eine niedrige Herzkarte. «Ihr Retter, Herr Grote?»

Grote studiert sein Blatt. «Der feine Herr führte mich in ein wackliges Haus in einer schiefen Gasse hinter dem Rasphuys. Die Schreibstube war winzig, aber warm und trocken, und von unten drang der Duft von Speck herauf und ... ach, roch das gut! Ich fragte ihn, ob ich nicht ’ne Scheibe haben könnte oder auch zwei oder drei. Van Eys lachte nur und sagte: ‹Setz deinen Namen hier drunter, mein Junge, und nach fünf Jahren in Fernost kannst du dir einen Palast aus Speck bauen!› Damals konnte ich weder lesen noch meinen Namen schreiben, und so hab ich einfach meinen Daumenabdruck unter das Papier gesetzt. ‹Ausgezeichnet›, sagte van Eys, ‹und hier ist der Vorschuss auf deine Prämie, damit du siehst, dass auf mein Wort Verlass ist.› Er gab mir einen neuen glänzenden halben Gulden, und ich strahlte vor Glück. ‹Den Rest bekommst du an Bord der Admiral de Ruyter, die am dreißigsten oder einunddreißigsten absegelt. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, mit den anderen willigen, kräftigen Burschen zusammen zu hausen, die mit dir aufs Schiff und auf die Fahrt in den Reichtum gehen?› Irgendein Dach überm Kopf ist besser als kein Dach überm Kopf, also steckte ich das Geld ein und sagte: ‹Einverstanden.›»

Twomey spielt eine wertlose Pikkarte aus, Ivo Oost die Kreuz-Vier.

«Zwei Dienstboten brachten mich nach unten», Grote mustert sein Blatt, «aber was da vor sich ging, durchschaute ich erst, als hinter mir der Schlüssel umgedreht wurde. In dem Keller, der nicht größer war als dieser Raum, kauerten vierundzwanzig Burschen in meinem Alter oder älter. Manche waren schon seit Wochen da, und ein paar waren nur noch Haut und Knochen und spuckten Blut ... Ah, ich wollte raus und hämmerte gegen die Tür, aber so ein großer, räudiger Kerl schlurft zu mir rüber und sagt, er würde mir dringend raten, ihm meinen halben Gulden zum Aufbewahren zu geben. ‹Welchen halben Gulden?›, sag ich, und darauf droht er mir, ‹entweder ich rück die Münze freiwillig raus, oder er klopft mich weich und holt sie sich.› Ich frag ihn, wann wir das nächste Mal zum Frische-Luft-Schnappen nach draußen dürfen. ‹Die lassen uns hier erst raus, wenn das Schiff absegelt›, sagt er, ‹außer du kratzt vorher ab. Und jetzt her mit dem Geld.› Wünschte, ich könnte sagen, ich hätte meinen Mann gestanden, aber Arie Grote ist kein Lügner. Außerdem war das mit dem Abkratzen kein Witz: Acht von uns ‹willigen, kräftigen Burschen› verließen das Gefängnis in der Horizontalen, immer zwei zusammengepfercht in einem Sarg. Nur ein Eisengitter über dem Pflaster für Luft und Licht, und ein Fraß so schlimm, dass man nicht wusste, aus welchem Eimer man essen und in welchen man scheißen soll.»

«Warum hast du nicht die Tür eingetreten?», fragt Twomey.

«Weil die aus Eisen war und draußen Wachen mit Knüppeln standen, darum.» Grote zupft sich Läuse aus dem Haar. «Oh, ich habe Wege und Möglichkeiten gefunden, lebend aus der Sache rauszukommen. Die hohe Kunst zu überleben ist schließlich meine Hauptbeschäftigung. Aber als sie uns dann eines Tages aneinandergefesselt wie die Sträflinge zu dem Tender trieben, der uns auf die Admiral de Ruyter bringen sollte, schwor ich mir drei Dinge. Erstens: Vertrau nie wieder einem Herrn von der Kompanie, der dir sagt, dass er nur dein Bestes will.» Er zwinkert Jacob zu. «Zweitens: dass ich nie mehr so arm sein will, dass eine Eiterblase wie van Eys mich kaufen und verschachern kann wie einen Sklaven. Drittens? Dass ich mir den halben Gulden von dem räudigen Kerl zurückhole, bevor wir in Curaçao sind. Den ersten Schwur halte ich bis heute in Ehren, den zweiten, na ja, die Aussichten sind ganz passabel, dass Arie Grote nicht ins Armengrab wandert, wenn seine Zeit gekommen ist. Und mein dritter Schwur? Oh, ja, ich hab den halben Gulden noch in derselben Nacht zurückgekriegt!»

Wybo Gerritszoon bohrt sich in der Nase. «Wie das?»

Grote mischt die Karten. «Ich gebe, Kameraden.»

 

Fünf Buddeln Rum warten auf dem Bord. Die Arbeiter trinken mehr als der Sekretär, aber Jacob spürt schon das Glühen der Trunkenheit in den Beinen. Karnöffel, denkt er, wird mich heute Abend nicht zu einem reichen Mann machen. «Schreiben», sagt Ivo Oost, «haben sie uns im Waisenhaus gelehrt und Rechnen und die Bibel: Jede Menge Bibel, zweimal täglich in der Kirche. Wir mussten die Evangelien von vorne bis hinten auswendig lernen, und für jeden Fehler gab’s was mit dem Stock. Ein Pastor hätte aus mir werden können! Aber wer lässt sich schon von einem unehelichen Kind die Zehn Gebote predigen?» Er teilt an jeden Spieler sieben Karten aus. Dann dreht er die oberste Karte auf dem Stapel um. «Karo ist Trumpf.»

«Angeblich», Grote spielt die Kreuz-Acht, «hat die Kompanie mal einen Schrumpfkopfmacher, schwarz wie ’n Schornsteinfeger, in die Pastorenschule nach Leiden geschickt. Nach der Ausbildung sollte er zurück in seinen Dschungel gehen und den Kannibalen das Licht des Herrn zeigen, damit sie friedfertiger werden. Weil, Bibeln sind billiger als Gewehre.»

«Ja, aber Gewehre machen viel mehr Spaß», bemerkt Gerritszoon. «Bumm, bumm, bumm, bumm!»

«Was taugt schon ein Sklave», fragt Grote, «der von Kugeln durchsiebt ist?»

Baert küsst seine Spielkarte und spielt die Kreuz-Dame.

«Das einzige Weibsstück auf der Welt», sagt Gerritszoon, «das dir das erlaubt.»

«Mit dem Gewinn von heute Abend», sagt Baert, «kann ich mir ein goldhäutiges Fräulein bestellen.»

«Haben Sie im Waisenhaus von Batavia auch Ihren Namen erhalten, Herr Oost?» Wärest du nüchtern, würdest du diese Frage nicht stellen, schilt Jacob sich im Stillen.

Aber Oost, von Grotes Rum milde gestimmt, ist nicht gekränkt. «Ja, ganz recht. ‹Oost› kommt von ‹Oost-Indische Compagnie›, die das Waisenhaus gegründet hat, und dass ich den ‹Osten› im Blut habe, lässt sich wohl kaum leugnen. ‹Ivo› heiße ich, weil ich am neunzehnten Mai auf der Treppe vor dem Waisenhaus ausgesetzt wurde, dem Gedenktag des heiligen Ivo. Herr Drijver vom Waisenhaus war so freundlich, hin und wieder zu erwähnen, dass Ivo die männliche Form von ‹Eva› ist, zur Erinnerung, dass ich ein Kind der Sünde bin.»

«Gott interessiert sich dafür, wie ein Mensch sich verhält», erklärt Jacob, «aber nicht für die Umstände seiner Geburt.»

«Leider wurde ich nicht von Gott aufgezogen, sondern von Wölfen wie Drijver.»

«Herr de Zoet», sagt Twomey, «Sie sind dran.»

Jacob spielt die Herz-Fünf; Twomey legt die Vier ab.

Oost streicht sich mit den Karten über die vollen Lippen. «Oft stieg ich aus dem Dachfenster über den Palisanderbäumen. Im Norden, hinter dem alten Fort, schimmerte ein Streifen Blau ... oder Grün ... oder Grau ... und durch den Gestank der Gosse roch ich die See. Die Schiffe vor Onrust sahen aus wie lebendige Wesen, und ihre Segel blähten sich ... ‹Du bist nicht mein Zuhause, und ihr seid nicht meine Herren›, sagte ich dann zum Waisenhaus und zu den Wölfen, und dann blickte ich hinaus zur See und sagte: ‹Denn mein Zuhause bist du.› An manchen Tagen glaubte ich, dass sie mich hörte und mir antwortete: ‹Ja, das bin ich, und bald rufe ich dich zu mir.› Ich weiß, das war nur Einbildung, aber ... man trägt sein Kreuz, so gut man kann, oder? So vergingen die Jahre, und wenn die Wölfe mich für meine Missetaten schlugen ... träumte ich von der See, auch wenn ich weder Dünung noch Sturzwellen kannte ... und noch nie den Fuß auf ein Schiff gesetzt hatte ...» Er legt die Kreuz-Fünf auf den Tisch.

Baert sticht die anderen Karten. «Vielleicht bestell ich mir gleich zwei goldhäutige Fräuleins für die Nacht.»

Gerritszoon spielt die Karo-Sieben und ruft: «Teufel!»

«Der soll dich holen», schimpft Baert, der seine Kreuz-Zehn verliert, «du verdammter Judas

«Und wie war es», fragt Twomey, «als die See dich rief, Ivo?»

«Mit zwölf Jahren - das heißt, wenn der Heimleiter entschied, dass wir zwölf waren - begannen wir mit der ‹produktiven Arbeit›. Die Mädchen mussten nähen, weben und in den Bottichen in der Waschküche rühren. Wir Jungen wurden an Kistenmacher und Böttcher ausgeliehen, dienten den Offizieren in der Kaserne als Laufburschen oder schufteten als Schauerleute im Hafen. Ich wurde an einen Seiler gegeben, wo ich aus teerbeschmierten alten Tauen Werg zupfen musste. Wir waren billiger als Dienstboten, billiger als Sklaven! Drijver strich die, wie er es nannte, ‹Anerkennung› ein, und bei hundert Waisen in ‹produktiver Arbeit› hatte er ein feines Leben. Das Gute daran war, dass wir so aus dem Waisenhaus rauskamen. Wir wurden nicht bewacht; wo hätten wir auch hinlaufen sollen? In den Dschungel? Ich kannte in Batavia kaum mehr als den Weg vom Waisenhaus zur Kirche, aber jetzt konnte ich ein bisschen umherstreifen und auf dem Weg zur Arbeit und zurück kleine Umwege machen. Die Botengänge für den Seiler führten mich auf den chinesischen Bazar und vor allem in den Hafen, und dort sah ich mir, glücklich wie eine Ratte in einem Kornspeicher, die Matrosen aus fernen Ländern an ...» Ivo Oost spielt den Karo-Buben und gewinnt die Runde. «Der Teufel schlägt den Papst, aber der Bube schlägt den Teufel.»

«Mein fauler Zahn», jammert Baert, «tut schrecklich, schrecklich weh.»

«Klug gespielt», lobt Grote, der nur eine wertlose Karte verliert.

«Eines Tages», fährt Oost fort, «ich glaube, ich war vierzehn, musste ich einem Krämer eine Rolle Seil liefern. Im Hafen lag eine schmucke Brigg, klein und hübsch und mit einer gütigen Frau als Galionsfigur. Sara Maria hieß sie, und plötzlich ... sagte eine Stimme, die da war, aber niemandem gehörte: ‹Heute ist der Tag, und das ist dein Schiff.›»

«Klar wie ’n Franzosenschiss», murmelt Gerritszoon.

«Hat vielleicht», schlägt Jacob vor, «eine innere Stimme zu Ihnen gesprochen?»

«Kann schon sein, jedenfalls lief ich das Fallreep hinauf und wartete, dass der dicke Kerl, der die Anweisungen brüllte, mich bemerkte, aber das tat er nicht. Also kratzte ich meinen ganzen Mut zusammen und sagte: ‹Entschuldigen Sie bitte.› Er nahm mich ins Visier und schnauzte: ‹Wer hat diesen Lumpenbengel an Bord gelassen?› Ich bat ihn um Verzeihung und sagte, dass ich abhauen und zur See fahren will und ob er vielleicht mit dem Kapitän sprechen könnte. Gelächter war das Letzte, womit ich gerechnet hatte, aber er lachte mich aus! Also bat ich abermals um Verzeihung und sagte, dass ich es ernst meine. Da sagte er zu mir: ‹Was würden deine Eltern wohl von mir halten, wenn ich dich ohne ihre Erlaubnis einfach so verschwinden lasse? Und überhaupt, wie kommst du drauf, dass du zum Matrosen taugst? Das heißt Plackerei und Elend, Kälte und Hitze und dazu die Launen des Frachtmeisters, der, wie jeder an Bord dir bestätigen wird, ein wahrer Teufel ist.› Meine Eltern würden nichts sagen, antwortete ich, weil ich im Haus der Bastarde aufgewachsen wär, und nichts für ungut, aber wer das überlebt, würde sich auch nicht vorm Meer oder den Launen von ’nem Frachtmeister fürchten ... Da machte er sich nicht mehr lustig über mich, sondern er fragte ganz freundlich: ‹Wissen deine Vormunde denn, dass du zur See fahren willst?› Ich gab zu, dass Drijver mir das Fell über die Ohren ziehen würde. Er überlegte kurz, und dann sagte er: ‹Ich bin Daniel Snitker, der Frachtmeister der Santa Maria, und mein Schiffsjunge ist am Schiffsfieber gestorben.› Am nächsten Tag sollte Banda-Muskat verladen werden, und er versprach, er würde den Kapitän dazu bringen, mich ins Bordbuch einzutragen: Aber bis die Santa Maria Segel setzte, sollte ich mich bei den anderen Burschen im Cockpit verstecken. Ich gehorchte auf der Stelle, aber irgendwer hatte mich an Bord gehen sehen, und der Direktor schickte drei große böse Wölfe los, die ihm sein ‹gestohlenes Eigentum› zurückbringen sollten. Herr Snitker und seine Kameraden warfen sie ins Hafenbecken.»

Jacob streicht sich über die gebrochene Nase. Und ich bringe den Vater des Jungen vor Gericht.

Gerritszoon spielt eine wertlose Kreuz-Fünf.

«Ich glaub», Baert stopft seine Nägel in die Börse, «der Don-donnerbalken ruft.»

«Und warum nimmst du deinen Gewinn mit?», fragt Gerritszoon. «Traust du uns etwa nicht?»

«Eher», sagt Baert, «brate ich meine eigene Leber mit Rahm und Zwiebeln.»

Zwei Buddeln Rum stehen auf dem Bord und werden die Nacht kaum überstehen. «Ich hatte den Ehering in der Tasche», schnieft Piet Baert, «und ... und ...»

Gerritszoon spuckt aus. «Ah, hör auf zu flennen, du tropfender Schlappschwanz.»

«Du hast gut reden», ein harter Zug tritt in Baerts Gesicht, «weil du ’ne stinkende Sau bist, die noch nie wer geliebt hat, aber meine einzige wahre Liebe war ganz wild drauf, mich zu heiraten, und ich dachte: Endlich hat das Pech mich verlassen. Nur der Segen von Neeltjes Vater fehlte noch, und wir wären zum Altar geschwebt. Bierträger war er, in Saint-Pol-sur-Mer, und da wollte ich an dem Abend hin. Aber Duinkerke ist ’ne komische Stadt: Die Straßen führten dahin zurück, wo ich hergekommen war, und es pisste wie aus Kübeln, und weil’s schon dunkel wurde, ging ich in eine Schenke. Die Möpse von dem Schankfräulein warn wie zwei Ferkel, und wie ich sie nach dem Weg frag, strahlt sie mich ganz betörend an und sagt: ‹Ach herrje, hast du dich etwa auf die falsche Seite von der Stadt verirrt, mein armes Lämmchen?› ‹Bitte, Fräulein›, sag ich, ‹ich will nur nach Saint-Pol-sur-Mer.› Und sie sagt: ‹Was hast du’s denn so eilig, gefällt dir unser Wirtshaus nicht?›, und streckt mir ihre beiden Ferkel hin. ‹Es ist schön bei Ihnen, Fräulein›, antworte ich, ‹aber Neeltje, meine Liebste, wartet dort mit ihrem Vater, damit ich um ihre Hand bitten und der See den Rücken kehren kann.› Das Schankfräulein fragt: ‹Ach, du bist Matrose?›, und ich sag: ‹Das war ich, ja, aber jetzt nicht mehr.› Da ruft sie durchs ganze Wirtshaus: ‹Wer trinkt nicht auf Neeltje, das glücklichste Mädchen in Flandern?›, und dann drückt sie mir ein Glas Gin in die Hand und sagt: ‹Hier, um dir die Knochen zu wärmen.› Als Nächstes verspricht sie mir, dass ihr Bruder mich nach Saint-Pol-sur-Mer bringt, weil nachts würden sich ’ne Menge Schurken in Duinkerke rumtreiben. Also denke ich: Ja! Endlich, endlich hat das Pech mich verlassen, und heb das Glas zum Mund.»

«Pfundiges Mädchen», bemerkt Arie Grote. «Wie heißt die Schenke, nebenbei bemerkt?»

«Bevor ich Duinkerke das nächste Mal verlasse, heißt sie Zur Rauchenden Asche: Der Gin läuft mir die Kehle runter, mir dreht sich alles, und dann wird’s dunkel. Ich hab böse Träume, und wie ich wieder aufwache, schwanke ich, als wäre ich auf See, aber Leute sitzen auf mir drauf und zerquetschen mich wie eine Traube in der Weinpresse. Das ist noch der Traum, denke ich, aber es war kein Traum, und ich schreie: ‹Lieber Gott, bin ich tot?› Ein Dämon kichert: ‹So leicht flutscht mir kein Fisch vom Haken!›, und dann sagt ’ne grimmige Stimme: ‹Du bist gepresst, mein Freund. Wir fahren auf der Vengeur du Peuple und segeln durch den Kanal nach Westen.› Ich frag: ‹Die Vengeur du was?›, und dann fällt mir Neeltje wieder ein, und ich schrei: ‹Aber ich muss heute Abend um meine Braut anhalten!›, und der Teufel sagt: ‹Für dich gibt’s hier nur eine Braut, Freundchen, und das ist die See.› Lieber Gott im Himmel, denke ich, Neeltjes Ring, und ich winde meinen Arm frei, um nachzusehen, ob er noch in meiner Jacke steckt, aber er ist weg. Ich fluche. Flenne. Knirsche mit den Zähnen. Aber nichts hilft. Am nächsten Morgen werden wir an Deck gebracht und am Schandeck aufgestellt. Um die zwanzig Südniederländer waren wir, und dann erscheint der Kapitän. Er ist eine miese Pariser Ratte, und sein Erster Offizier, ein Baske, ist ein großes zotteliges Tier. ‹Ich bin Kapitän Renaudin, und ihr seid meine Freiwilligen. Wir haben den Befehl, einen Konvoi, der Getreide von Amerika bringt, sicher ans republikanische Ufer zu geleiten. Die Briten werden versuchen, uns aufzuhalten. Wir werden Kleinholz aus ihnen machen! Noch Fragen?› Ein Wagemutiger - ein Schweizer - meldet sich zu Wort: ‹Kapitän Renaudin: Ich gehöre der mennonitischen Kirche an, und mein Glaube verbietet mir zu töten.› Renaudin sagt zu seinem Ersten Offizier: ‹Dann wollen wir diesen Mann der Nächstenliebe nicht länger in Verlegenheit bringen›, und schwups geht das zottelige Tier auf den Schweizer zu und wirft ihn über Bord! Wir hören ihn um Hilfe schreien. Wir hören ihn um Hilfe betteln. Und dann ist er still. Der Kapitän sagt: ‹Sonst noch Fragen?› Na, ich war schnell wieder seefest, und zwei Wochen später, als die englische Flotte gesichtet wurde, lud ich in eine 24-Pfünder. Was dann kam, nennen die Franzosen die dritte Schlacht von Ouessant. Die Engländer nennen es ‹Glorreicher Erster Juni›. Wir beschossen uns gegenseitig aus drei Metern Entfernung, und für Johnny Roastbeef mag das ‹glorreich› sein, aber für mich nicht. Zerfetzte Männer winden sich im Qualm, ja, Männer, größer und zäher wie du, Gerritszoon, weinten aus aufgerissenen Kehlen nach ihrer Mama ... und aus dem Lazarett wurde ein Bottich voll mit ...» Baert schenkt sich das Glas voll. «Na ja, als die Brunswick uns an der Wasserlinie traf und wir wussten, dass wir sinken, war die Vengeur kein Kriegsschiff mehr: Sie war ein Schlachthaus ... ein Schlachthaus ...» Baert blickt in seinen Rum, dann sieht er Jacob an. «Was mich an diesem schrecklichen Tag gerettet hat? Ein leeres Käsefass, das auf mich zutrieb. Die ganze Nacht klammerte ich mich daran fest, bibbernd und halb tot und zu geschwächt, um mich vor den Haien zu fürchten. Im Morgengrauen kommt eine Schaluppe mit dem Union Jack am Mast. Ein Matrose holt mich an Bord und schreit irgendwas in dem Krähenkauderwelsch, das die Engländer sprechen - nichts für ungut, Twomey ...»

Der Zimmermann zuckt die Achseln. «Meine Muttersprache ist Irisch, Herr Baert.»

«Ein alter Seebär übersetzt für mich. ‹Der Kamerad will wissen, woher du kommst›, und ich sage: ‹Aus Antwerpen: Die Franzosen, der Teufel soll sie holen, haben mich gepresst.› Der alte Seebär übersetzt, sein Kamerad kräht weiter, und der Seebär übersetzt wieder. Kurz gesagt, sie nahmen mich nicht gefangen, weil ich kein Franzmann war. Ich hätt’ ihnen vor Dankbarkeit fast die Stiefel geküsst! Aber dann kam’s: Wenn ich freiwillig als gewöhnlicher Matrose in der königlichen Marine dienen würde, fuhr er fort, würden sie mir die normale Heuer und ’nen Satz neuer Klamotten geben - na ja, fast neu. Wenn ich mich aber weigerte, würden sie mich zwingen, und ich müsste wie ’ne Landratte für umsonst arbeiten. Um den Mut nicht zu verlieren, frag ich sie, wohin die Reise geht: In Gravesend oder Portsmouth, dachte ich, kann ich bestimmt an Land schlüpfen und bin in ein, zwei Wochen wieder in Duinkerke und bei meinem Schatz ... Der Seebär sagt: ‹Unser nächster Hafen ist die Insel Ascension, wo wir Proviant aufnehmen - glaub nicht, dass du ’nen Fuß an Land setzt - und von da geht’s weiter zur bengalischen Bucht ...›, und obwohl ich ein erwachsener Mann war, heulte ich wie ein Schlosshund ...»

 

Nicht ein Tropfen Rum ist übrig geblieben. «Die Glücksgöttin hat Ihnen heute Abend die kalte Schulter gezeigt, Herr de Z.» Grote pustet alle Kerzen aus bis auf zwei. «Aber morgen ist auch noch ein Tag, was?»

«Kalte Schulter?» Jacob hört, wie die anderen die Tür schließen. «Man hat mich ausgenommen.»

«Ach, mit den Einnahmen vom Quecksilber halten Sie sich Hunger und Pest ’ne ganze Weile vom Leib. Ziemlich gewagt, wie Sie das Geschäft abgewickelt haben, Herr de Z., aber wenn der Abt weiter so nachsichtig mit Ihnen ist, können Sie die letzten beiden Kisten vielleicht sogar noch teurer verkaufen. Denken Sie nur, wie viel Geld erst achtzig Kisten erbringen würden ...»

«Eine so große Menge», Jacob dampft vom Trinken der Kopf, «wäre ein Verstoß ...»

«Man würde die Vorschriften für den Privathandel beugen, ja, aber nur Bäume, die sich biegen, überstehen den Sturm, oder nicht?»

«Eine gute Metapher macht aus Unrecht kein Recht.»

Grote stellt die kostbare Glasflasche zurück auf das Bord. «Sie haben fünfhundert Prozent Gewinn gemacht: So was spricht sich schnell herum, und Ihnen bleiben mindestens zwei Handelszeiten, bis die Chinesen den Markt hier überschwemmen. Vize van Cleef und Kapitän Lacy verfügen in Batavia über ausreichend Kapital, und die gehören nicht zu denen, die sagen: ‹Ach, Liebchen, ich darf nicht, mein Kontingent beträgt nur acht Kisten.› Und wenn sie es nicht tun, macht es der Faktor selbst.»

«Faktor Vorstenbosch ist hier, um die Korruption auszurotten, nicht um sie zu befördern.»

«Faktor Vorstenboschs Finanzen haben durch den Krieg genauso gelitten wie die aller anderen.»

«Faktor Vorstenbosch ist ein von Grund auf ehrlicher Mensch, der sich nie auf Kosten der Kompanie bereichern würde.»

«Wer hält sich nicht für den Ehrlichsten von allen?» Grotes rundes Gesicht ist ein bronzeschimmernder Mond in der Dunkelheit. «Der Weg zur Hölle ist nicht mit guten Vorsätzen, sondern mit Selbstbeschönigung gepflastert. Aber wo wir gerade von ehrlichen Menschen sprechen: Warum haben Sie uns heute Abend wirklich mit Ihrer Gesellschaft beehrt?»

An der Uferstraße schlagen Wachposten mit Holzklöppeln die volle Stunde.

Ich bin zu betrunken, denkt Jacob, um mit Schläue vorzugehen. «Ich bin wegen zweier heikler Angelegenheiten hier.»

«Meine Lippen sind fest versiegelt, beim fernen Grab meines geliebten Papas.»

«Also schön, die Wahrheit ist ... Der Faktor hat den Verdacht, dass Güter veruntreut werden ...»

«Heiliger Bimbam! Güter veruntreut, Herr de Zoet? Hier auf Dejima?»

«... und zwar mit Hilfe eines Lieferanten, der Sie jeden Morgen in Ihrer Küche aufsucht ...»

«In meine Küche kommen morgens viele Lieferanten, Herr de Z.»

«... und dessen Beutel hinterher so prall gefüllt ist wie vorher.»

«Ich bin froh, dass ich dieses Missverständnis aufklären kann! Richten Sie Herrn Vorstenbosch aus, die Antwort heißt ‹Zwiebeln›. Jawohl, Zwiebeln. Faule, stinkende Zwiebeln. Dieser Lieferant ist der größte Halunke von allen. Jeden Morgen versucht er es wieder, aber manche Lumpen hören eben nicht auf ‹Fort mit dir, dreister Spitzbube›, und vor diesem habe ich Manschetten.»

Die Stimmen der Fischer dringen durch die warme, salzige Nacht.

Ich bin nicht so betrunken, denkt Jacob, dass ich einer schamlosen Lüge aufsitze.

«Nun», der Sekretär erhebt sich, «dann gibt es keinen Grund, Sie länger zu belästigen.»

«Nein?» Arie Grote ist misstrauisch.

«Nein. Morgen steht uns wieder ein langer Tag bevor, und ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.»

Grote runzelt die Stirn. «Sprachen Sie nicht von zwei heiklen Angelegenheiten, Herr de Z.?»

«Ihre Geschichte mit den Zwiebeln ...», Jacob duckt sich unter dem Holzbalken, «... veranlasst mich, die zweite Angelegenheit mit Herrn Gerritszoon zu besprechen. Ich unterhalte mich morgen mit ihm, bei nüchternem Tageslicht - leider werden es unerfreuliche Neuigkeiten sein.»

Grote stellt sich in die Tür. «Worum könnte es bei dieser zweiten Angelegenheit wohl gehen?»

«Um Ihr Kartenspiel, Herr Grote. Sechsunddreißig Runden Karnöffel. Von diesen sechsunddreißig haben Sie zwölf Runden gegeben und davon wiederum zehn gewonnen. Ein höchst unwahrscheinliches Ergebnis! Baert und Oost merken vielleicht nicht, wenn sie gezinkte Karten empfangen, aber Twomey und Gerritszoon würden es durchaus kapieren. Es war der uralte Trick - und ich habe nicht daran gedacht. Es gab keine Spiegel hinter uns, keine Diener, die ihnen einen Wink geben konnten ... ich war ratlos.»

«Für einen gottesfürchtigen Menschen», Grotes Stimme bekommt einen frostigen Klang, «sind Sie ziemlich misstrauisch.»

«Ein Buchhalter ist von Berufs wegen ein misstrauisches Wesen, Herr Grote. Ich konnte mir Ihren Erfolg nicht erklären, bis mir auffiel, dass Sie beim Geben über den Rand der Karten strichen. Also tat ich dasselbe und fühlte die Kerben - winzige Kerben: Die Buben, Siebenen, Könige und Damen sind, je nach ihrem Wert, an einer bestimmten Stelle markiert. Die Hände eines Matrosen, eines Lagerarbeiters oder Zimmermanns sind zu schwielig, um es zu bemerken, nicht aber die Zeigefinger eines Kochs oder Sekretärs.»

«Es ist üblich», Grote schluckt, «dass das Haus für seine Umstände entlohnt wird.»

«Morgen früh werden wir feststellen, ob Gerritszoon Ihre Ansicht teilt. Und nun muss ich ...»

«Es war so ein netter Abend: Wie wär’s, wenn ich Ihnen den Verlust von heute Abend ersetze?»

«Nur die Wahrheit zählt, Herr Grote: die reine Wahrheit.»

«Vergelten Sie mir auf diese Weise, dass ich Sie reich gemacht habe? Indem Sie mich erpressen?»

«Angenommen, Sie erzählten mir mehr über den Beutel mit den Zwiebeln ...»

Grote seufzt, zweimal. «Sie sind eine elende Nervensäge, Herr de Z.»

Jacob nimmt die Beleidigung als Kompliment und wartet.

«Also», beginnt der Koch, «Sie kennen doch die Ginsengwurzel?»

«Ich weiß, dass sie von japanischen Apothekern sehr verehrt wird.»

«Ein Chinese in Batavia - ein feiner Herr - schickt mir jedes Jahr eine Kiste. Gut und schön. Das Dumme ist nur, dass die Stadtregierung am Auktionstag Steuern erhebt: Sechzig Prozent haben wir verloren, bis Dr. Marinus eines Tages eine einheimische Ginsengart erwähnte, die hier in der Bucht wächst, aber weniger begehrt ist. Also ...»

«Also bringt Ihr Mann Ihnen den einheimischen Ginseng ...»

«... und geht», Grote zeigt kurz seinen Stolz, «mit dem chinesischen.»

«Wundern sich die Wachen und Abgreifer an der Landpforte denn nicht darüber?»

«Sie werden dafür bezahlt, sich nicht zu wundern. Und jetzt frage ich Sie: Was wird der Faktor in dieser Sache unternehmen? In dieser und in allen anderen, die Sie ausgraben? Weil, so läuft das auf Dejima nun mal. Wenn Sie Schluss machen mit den vielen kleinen Vergünstigungen, ist auch auf Dejima Schluss - und winden Sie sich nicht mit ‹Das hat Herr Vorstenbosch zu entscheiden› raus.»

«Aber es ist Herrn Vorstenboschs Entscheidung.» Jacob löst den Riegel.

«Das ist nicht richtig.» Grote legt den Riegel wieder vor. «Das ist nicht gerecht. Erst heißt es ‹Privater Handel ruiniert die Kompanie›, dann heißt es plötzlich: ‹Ich gehöre nicht zu denen, die ihre Leute leer ausgehen lassen.› Sie können nicht ’nen vollen Weinkeller und ’ne sturzbesoffene Ehefrau haben.»

«Wenn Sie Ihre Geschäfte ehrlich führen», sagt Jacob, «geraten Sie auch nicht in Bedrängnis.»

«Wenn ich meine Geschäfte ehrlich führe, sind Kartoffelschalen meine Ausbeute.»

«Ich habe die Vorschriften der Kompanie nicht gemacht, Herr Grote.»

«Richtig, aber Sie erledigen mit Freuden die Drecksarbeit, hä?»

«Ich befolge nur treu meine Anweisungen. So, wenn Sie nicht Vorhaben, einen Beamten der Kompanie festzuhalten, öffnen Sie bitte die Tür.»

«Treue sieht einfach aus», sagt Grote, «aber das ist sie nicht.»