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XXIII

Yayois Zelle im Haus der Schwestern, Shiranui-Schrein

Kurz vor Sonnenaufgang am achtzehnten Tag des ersten Monats

 

Hausmutter Satsuki nimmt Yayois eben gestillte Tochter entgegen. Im Schein des Feuers und der Dämmerung sieht man ihre Tränen. In der Nacht hat es keinen Neuschnee gegeben; damit ist der Weg in die Mekura-Klamm gangbar, und Yayois Zwillinge werden noch an diesem Morgen in die Untere Welt gebracht. «Schämen Sie sich, Hausmutter», tadelt Äbtissin Izu sie sanft. «Sie haben schon bei so vielen Darbringungen geholfen. Wenn Schwester Yayoi einsieht, dass sie Shinobu und Binyō nicht verliert, sondern sie in die Untere Welt vorausschickt, werden Sie Ihre unbedeutenden Gefühle wohl auch beherrschen können. Wir beklagen heute keinen schmerzlichen Verlust, wir nehmen Abschied.»

Was du ‹unbedeutende Gefühle› nennst, denkt Orito, nenne ich Mitgefühl.

«Sehr wohl, Äbtissin.» Hausmutter Satsuki schluckt. «Es ist nur ... sie sind so ...»

«Wenn wir unsere Gaben nicht der Unteren Welt darbringen», sagt Yayoi wie auswendig gelernt auf, «trocknen die Flüsse im Lehen Kyōga aus, die Sämlinge verdorren, und die Mütter werden unfruchtbar.»

Vor der Nacht ihrer Flucht und freiwilligen Rückkehr hätte Orito bei diesen duldsamen Worten Abscheu empfunden: Jetzt versteht sie, dass Yayoi die Trennung nur erträgt, weil sie daran glaubt, dass sie dieses Opfer dem Leben darbringt. Die Hebamme wiegt Yayois hungrigen Sohn Binyō in den Armen: «Deine Schwester ist jetzt fertig. Gib deiner Mutter ein wenig Zeit, sich auszuruhen ...»

«Wir sagen ‹Trägerin›, Schwester Aibagawa», ermahnt Äbtissin Izu sie.

«Ihr sagt das, Äbtissin», widerspricht Orito erwartungsgemäß, «aber ich bin nicht ‹wir›.»

Sadaie schüttet Holzkohle ins Feuer: Es knistert und zischt.

Wir haben eine klare Abmachung, Orito sieht der Äbtissin fest in die Augen, schon vergessen?

Noch, die Äbtissin erwidert Oritos Blick, hat unser Fürstabt nicht das letzte Wort gesprochen.

Bis dahin gilt, Oritos Blick bleibt standhaft, und sie wiederholt: «Ich bin nicht ‹wir›.»

Binyō verzieht das nasse rosige Gesicht und gibt einen langgezogenen Schrei von sich.

«Schwester?» Yayoi nimmt ihren Sohn entgegen, um ihn ein letztes Mal zu stillen.

Die Hebamme untersucht Yayois entzündete Brustwarze.

«Es ist schon viel besser», sagt Yayoi zu ihrer Freundin. «Das Herzgespannkraut hilft.»

Orito denkt an Otane, die das Kraut gewiss geliefert hat, und sie überlegt, ob sie zusätzlich die Bedingung stellen kann, sich einmal im Jahr mit ihr treffen zu dürfen. Die Jüngste Schwester ist nach wie vor die niedrigste Gefangene im Schrein, aber ihr Entschluss auf der Todoroki-Brücke, die Flucht aufzugeben, und die Tatsache, dass sie Yayois Zwillinge gesund zur Welt gebracht hat, hat ihre Situation in mancher Hinsicht verbessert. Man hat ihr das Recht eingeräumt, Suzakus Arznei abzulehnen, sie darf dreimal täglich auf dem Wehrgang des Schreins spazieren gehen, und Meister Genmu hat eingewilligt, dass die Göttin sie nicht als Gabenempfängerin erwählt. Als Gegenleistung hat Orito versprochen, Schweigen über die gefälschten Briefe zu wahren. Moralisch hat sie für diese Abmachung einen hohen Preis bezahlt. Seither kommt es täglich zu kleinen Reibereien mit der Äbtissin, und außerdem kann der Fürstabt ihr diese Privilegien immer noch nehmen ... aber dieser Kampf denkt Orito, wird später stattfinden.

Asagao erscheint an der Tür. «Neister Suzaku konnt, Ä’htissin.»

Orito sieht, dass Yayoi mit den Tränen ringt.

«Danke, Asagao.» Äbtissin Izu erhebt sich geschmeidig wie ein junges Mädchen.

Sadaie bindet das Kopftuch fester um ihren deformierten Schädel.

Als die Äbtissin den Raum verlässt, lockert sich die Stimmung ein wenig, und die Gespräche werden unbefangener.

«Sei still», sagt Yayoi zu dem brüllenden Binyō, «ich habe noch eine Brust. Hier, du Vielfraß.»

Binyō findet die andere Brustwarze und trinkt.

Hausmutter Satsuki sieht die kleine Shinobu an. «Ein voller, glücklicher Bauch.»

«Eine volle, stinkende Windel», sagt Orito. «Darf ich, bevor sie zu müde ist?»

«Oh, lassen Sie mich.» Die Hausmutter legt Shinobu auf den Rücken. «Das macht mir keine Mühe.»

Orito gewährt der Älteren die traurige Ehre. «Ich hole warmes Wasser.»

«Wenn man sich vorstellt», sagt Sadaie, «wie spindeldürr die Gaben noch vor einer Woche waren!»

«Wir haben es Schwester Aibagawa zu verdanken», sagt Yayoi, während sie dem hungrigen Binyö hilft, die Brustwarze zu finden, «dass sie bereits kräftig genug sind, um dargebracht zu werden.»

«Wir haben es ihr zu verdanken», fügt Hausmutter Satsuki hinzu, «dass sie überhaupt auf der Welt sind.»

Die blütenzarte Hand des zehn Tage alten Jungen ballt sich kurz zur Faust.

«Das verdanken wir deiner Ausdauer», sagt Orito zu Yayoi, während sie heißes Wasser aus dem Kessel in eine Wanne mit kaltem Wasser gießt, «deiner Milch und deiner Mutterliebe.» Sprich nicht von Liebe, ermahnt sie sich, nicht heute. «Kinder wollen geboren werden: Die Hebamme hilft nur dabei.»

«Glaubt ihr», fragt Sadaie, «Meister Chimei könnte der Gabenspender der Zwillinge sein?»

«Dieser hier», Yayoi streicht Binyō über den Kopf, «ist ein pausbackiger Kobold: Chimei ist dürr.»

«Dann Meister Seiryū», flüstert Hausmutter Satsuki. «Er wird zum Koboldkönig, wenn er in Zorn gerät ...»

An jedem anderen Tag würden die Frauen jetzt lächeln.

«Shinobu-chans Augen», sagt Sadaie, «erinnern mich an den armen Novizen Jiritsu.»

«Ich glaube, es sind seine Augen», erwidert Yayoi. «Ich habe wieder von ihm geträumt.»

«Sonderbar, wenn man sich vorstellt, dass Novize Jiritsu unter der Erde liegt», Satsuki nimmt das schmutzige Tuch von den Lenden des Säuglings, «während das Leben seiner Gaben gerade erst beginnt.» Die Hausmutter wischt den stinkenden Brei mit einem dreckigen Baumwolllappen ab. «Sonderbar und traurig.» Sie badet den Po des Kindes im warmen Wasser. «Könnte es sein, dass Shinobu und Binyō verschiedene Gabenspender haben?»

«Nein.» Orito erinnert sich an die niederländischen Schriften. «Zwillinge haben immer einen Vater.»

Meister Suzaku wird hereingeführt. «Einen angenehmen Morgen, Schwestern.»

«Guten Morgen», rufen die Schwestern im Chor; Orito macht nur eine leichte Verbeugung.

«Gutes Wetter für unsere erste Darbringung in diesem Jahr! Wie geht es unseren Gaben?»

«Sie wurden heute Nacht zweimal gestillt, Meister», antwortet Yayoi, «und eben noch einmal.»

«Sehr gut. Ich gebe beiden einen Tropfen Schlaf. Sie werden erst in der Herberge in Kurozane wieder aufwachen. Dort warten zwei Ammen auf sie. Eine hat vor zwei Jahren Schwester Minoris Gabe nach Niigata gebracht. Die Kleinen sind in den besten Händen.»

«Der Meister», sagt Äbtissin Izu, «hat wunderbare Neuigkeiten, Schwester Yayoi.»

Suzaku zeigt seine spitzen Zähne. «Deine Gaben werden gemeinsam in einem buddhistischen Tempel in der Nähe von Hōfu aufgezogen, von einem kinderlosen Priester und seiner Frau.»

«Stell dir nur vor!», ruft Sadaie. «Der kleine Binyō wird später einmal Priester!»

«Als Kinder des Tempels», sagt die Äbtissin, «genießen sie eine ausgezeichnete Erziehung.»

«Und sie haben einander», fügt Sadaie hinzu. «Ein Geschwister ist das schönste Geschenk.»

«Meinen aufrichtigsten Dank», Yayois Stimme ist gefühllos, «an den Fürstabt.»

«Du kannst dich persönlich bei ihm bedanken, Schwester», sagt Äbtissin Izu. Orito, die gerade Shinobus schmutzige Windel auswäscht, blickt auf. «Wir erwarten den Fürstabt morgen oder übermorgen.»

Ein Angstschauer geht durch Orito. «Auch ich», lügt sie, «freue mich auf die Ehre, mit ihm sprechen zu dürfen.»

Äbtissin Izu wirft ihr einen siegessicheren Blick zu.

Der gesättigte Binyō hört auf zu saugen: Yayoi streicht ihm sanft über die Lippen, um ihn zum Weitertrinken zu ermuntern.

Satsuki und Sadaie machen das kleine Mädchen reisefertig.

Meister Suzaku öffnet seinen Arzneikasten und zieht den Stopfen von einem Glaskolben.

Der erste Schlag der Glocke von Amanohashira verhallt in Yayois Zelle.

Niemand spricht: Vor der Klosterpforte wartet eine Sänfte.

Sadaie fragt: «Wo liegt Hōfu, Schwester Aibagawa? Ist es so weit weg wie Edo?»

Der zweite Schlag der Glocke von Amanohashira verhallt in Yayois Zelle.

«Viel näher.» Äbtissin Izu nimmt die frisch gewickelte, schläfrige Shinobu und drückt sie Suzaku an die Brust. «Hōfu ist die Burgstadt des Lehens Suō, ein Lehen hinter Nagato. Es sind nur fünf bis sechs Tagesreisen, wenn ruhige See herrscht ...»

Yayoi starrt durch Binyō hindurch ins Nichts. Orito kann nur vermuten, woran sie denkt: vielleicht an Kaho, ihre erste Tochter, die im vergangenen Jahr zu Kerzendrehern ins Lehen Harima geschickt wurde, oder an künftige Gaben, die sie bis zu ihrem Abstieg in achtzehn oder neunzehn Jahren hergeben muss. Vielleicht hofft sie auch nur, dass die Ammen in Kurozane gute, saubere Milch haben.

Darbringungen sind wie der Tod eines Kindes, denkt Orito, aber die Mütter können nicht einmal trauern.

Der dritte Schlag der Glocke von Amanohashira läutet das Ende der Abschiedsszene ein.

Suzaku träufelt ein paar Tropfen aus dem Glaskolben zwischen Shinobus Lippen. «Süße Träume», flüstert er, «kleine Gabe.»

Ihr Bruder Binyō, der noch in Yayois Armen liegt, seufzt, macht ein Bäuerchen und pupst. Seine Darbietung erntet nicht den üblichen Applaus. Die Stimmung ist gedrückt und melancholisch. «Es ist so weit, Schwester Yayoi», sagt die Äbtissin. «Ich weiß, du wirst tapfer sein.»

Yayoi riecht ein letztes Mal an seinem zarten Hals. «Darf ich Binyō das Schlaf geben?»

Suzaku nickt und reicht ihr den Kolben.

Yayoi drückt die spitze Öffnung an Binyōs Mund; seine winzige Zunge leckt.

«Woraus», fragt Orito, «besteht Meister Suzakus Schlaf?»

«Du bist Hebamme.» Suzaku lächelt. «Ich bin Apotheker.»

Shinobu ist schon eingeschlafen. Binyō fallen langsam die Augen zu ...

Orito kann nur mutmaßen: Opiate? Kobralilie? Eisenhut?

«Hier ist etwas für die tapfere Schwester Yayoi.» Suzaku gießt eine schlammige Flüssigkeit in ein fingerhutgroßes Steinbecherchen. «Ich nenne es ‹Innere Kraft›: Es hat dir auch bei deiner letzten Darbringung geholfen.» Er hält den Becher an Yayois Lippen, und Orito muss sich beherrschen, ihm das Gefäß nicht aus der Hand zu schlagen. Als Yayoi schluckt, nimmt Suzaku ihr den Säugling ab.

Die ihrer Kinder beraubte Mutter murmelt «Aber ...» und starrt den Apotheker aus trüben Augen an.

Orito stützt den Kopf ihrer betäubten Freundin und legt sie hin.

Äbtissin Izu und Meister Suzaku verlassen mit den gestohlenen Kindern die Zelle.