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XXXIII

Der Saal der Sechzig Matten in der Residenz des Statthalters

Nach dem Abgang des amtierenden Faktors de Zoet am zweiten Tag des neunten Monats

 

«Der Niederländer mag aussehen wie ein Kobold aus einem bösen Kindertraum», sagt Shiroyama, als er das höhnisch-servile Grinsen seiner Berater bemerkt, «aber er ist nicht dumm.» Das Grinsen weicht augenblicklich weisem, zustimmendem Nicken.

«Er hat geschliffene Manieren», bekundet ein Stadtältester, «und seine Argumentation ist klar.»

«Sein Japanisch ist sonderbar», erklärt ein anderer, «aber ich habe das meiste verstanden.»

«Einer meiner Spitzel auf Dejima berichtet», sagt ein Dritter, «dass er unermüdlich lernt.»

«Aber sein Akzent», beschwert sich Wada, ein Inspektor, «klingt wie das Krächzen einer Krähe.»

«Und Sie, Wada», fragt Shiroyama, «sprechen Dazūtos Sprache wie eine Nachtigall?»

Wada, der nicht ein Wort Niederländisch spricht, ist klug genug, zu schweigen.

«Und ihr drei», Shiroyama zeigt mit dem Fächer auf die Männer, denen die Schuld an der Entführung der beiden Niederländer angelastet wird, «verdankt seiner Milde euer Leben.»

Die eingeschüchterten Männer verbeugen sich untertänig.

«Dolmetscher Iwase, ich werde in meinem Bericht nach Edo hervorheben, dass Sie, wenn auch stümperhaft, wenigstens den Versuch unternommen haben, die Entführung zu vereiteln. Sie werden in Ihrer Zunft gebraucht und dürfen gehen.»

Iwase verbeugt sich tief und verlässt eilig den Saal.

«Sie», Shiroyamas strenger Blick richtet sich auf den Inspektor und den Kammerherrn, «haben beide Schande über Ihren Rang gebracht und den Engländern gezeigt, dass Japan ein Land der Feiglinge ist.» Nur wenige euresgleichen, räumt der Statthalter stumm ein, hätten ihre Sache besser gemacht. «Sie stehen bis auf weiteres unter Hausarrest.»

Die beiden in Ungnade Gefallenen kriechen rückwärts zur Tür.

Shiroyama wendet sich an Tomine. «Schicken Sie den Hauptmann der Küstenwache herein.»

Der dunkelhäutige Hauptmann wird zu der Matte geführt, auf der eben noch de Zoet gekniet hat. Er verbeugt sich vor dem Statthalter. «Ich heiße Doi, Eure Exzellenz.»

«Wie schnell, mit welcher Taktik und mit wie vielen Soldaten können wir Zurückschlagen?»

Der Mann starrt schweigend zu Boden.

Shiroyama sieht fragend Tomine an, der ebenso verblüfft ist wie sein Herr.

Ein halbstummer Stümper, denkt Shiroyama, dem ein Verwandter seinen Posten zugeschanzt hat?

Wada räuspert sich. «Der Saal erwartet Ihre Antwort, Hauptmann Doi.»

«Ich ...», der Soldat blickt auf wie ein Kaninchen in der Schlinge, «... ich habe die Wachstationen im Norden und Süden der Bucht auf ihre Gefechtsbereitschaft überprüft und mich mit den höchsten diensthabenden Offizieren beraten.»

«Sie sollen nicht Ihre Befehle wiederkäuen, Doi, Sie sollen Vorschläge für einen Gegenangriff unterbreiten!»

«Man ... teilte mir mit, dass - dass sich die Truppenstärke gegenwärtig ...»

Shiroyama fällt auf, dass die besser unterrichteten Höflinge sich nervös Luft zufächeln.

«... auf eine geringere Zahl beläuft als die von Edo festgesetzten eintausend Mann.»

«Heißt das, die Garnisonen in der Bucht von Nagasaki sind unterbesetzt?»

Doi beantwortet die Frage mit einer demütigen Verbeugung. Unter den Beratern wird beunruhigt getuschelt.

Ein paar fehlende Soldaten können mir nichts anhaben, denkt der Statthalter. «Wie viele zu wenig?»

«Die genaue Zahl», Hauptmann Doi schluckt, «beträgt siebenundsechzig, Eure Exzellenz.»

Shiroyama atmet auf: Nicht einmal seinem giftspeienden Nebenbuhler Ōmatsu, mit dem er sich das Statthalteramt teilt, würde es gelingen, ihn wegen siebenundsechzig fehlender Soldaten glaubhaft der Pflichtvernachlässigung zu bezichtigen. Der Schwund ließe sich ganz leicht auf Krankheitsausfälle schieben. Aber ein Blick in die Gesichter der Versammelten verrät dem Statthalter, dass er etwas falsch verstanden hat ...

... und plötzlich dämmert ihm die entsetzliche Wahrheit.

«Sie ... Sie meinen doch nicht ...», er beherrscht seine Stimme, «... siebenundsechzig insgesamt?»

Der wettergegerbte Hauptmann bekommt vor Angst kein Wort heraus.

Kammerherr Tomine herrscht ihn an: «Der Statthalter hat Sie etwas gefragt!»

«Es -», Doi versagt die Stimme, und er muss sich sammeln, «es sind dreißig Soldaten in der Nordgarnison und siebenunddreißig in der Südgarnison. Das sind alle, Eure Exzellenz.»

Jetzt mustern die Berater den Statthalter ...

Siebenundsechzig Soldaten, er vergegenwärtigt sich die vernichtende Zahl, anstelle von eintausend.

... die Zyniker, die Ehrgeizlinge, seine entsetzten Mitstreiter, Ōmatsus Vertrauensleute.

Manche von euch Blutsaugern haben es gewusst, denkt Shiroyama, aber ihr habt geschwiegen.

Doi duckt sich noch immer wie ein Sträfling, der auf das Niedersausen des Richtschwertes wartet.

Ōmatsu würde den Boten zum Sündenbock machen ... und auch Shiroyama ist versucht, auf ihn loszugehen. «Warten Sie draußen, Hauptmann. Danke, dass Sie ... Ihrer Pflicht so rasch und gewissenhaft nachgekommen sind.»

Doi vergewissert sich mit einem Blick zu Tomine, dass er richtig gehört hat, und verlässt den Saal.

Keiner der Berater wagt es, die ehrfurchtsvolle Stille als Erster zu durchbrechen.

Schieb die Schuld auf den Fürsten von Hizen, denkt Shiroyama. Es sind schließlich seine Soldaten.

Nein: Seine Feinde würden ihn dafür als Feigling und Drückeberger verspotten.

Behaupte, die Küstengarnisonen seien schon seit Jahren unterbesetzt.

Damit würde er indirekt zugeben, dass er von der Sache wusste, aber nichts unternommen hat.

Mache geltend, dass kein japanischer Untertan deswegen verletzt wurde. Das Gebot des Ersten Shōguns, erlassen in der heiligen Stadt Nikko, ist nicht befolgt worden. Dieses Vergehen allein ist unverzeihlich. «Kammerherr Tomine», sagt Shiroyama, «Sie sind mit den geltenden Vorschriften bezüglich der Verteidigung des abgeschlossenen Reiches vertraut.»

«Es ist meine Pflicht, diese zu kennen, Eure Exzellenz.»

«Welches Handeln obliegt dem obersten Beamten, wenn Fremde unerlaubt seine Stadt betreten?»

«Er hat jegliche Verhandlungsangebote abzulehnen, Eure Exzellenz, und muss die Fremden der Stadt verweisen. Sofern diese um Proviant ersuchen, darf es ihnen in geringer Menge zur Verfügung gestellt werden. Es darf jedoch keine Gegenleistung empfangen werden, damit die Fremden sich später nicht auf eine bestehende Handelsbeziehung berufen können.»

«Und wenn die Fremden Angriffshandlungen vornehmen?»

Alle Fächer im Saal der Sechzig Matten stehen still.

«Der Statthalter oder Daimyō muss die Fremden festnehmen lassen, Eure Exzellenz, und sie so lange in Haft halten, bis er weitere Befehle aus Edo erhält.»

Ein vollbewaffnetes Kriegsschiff, denkt Shiroyama, mit siebenundsechzig Mann festnehmen?

Der Statthalter hat in diesem Saal schon Schmuggler, Räuber, Frauenschänder ...

... Mörder, Taschendiebe und einen heimlichen Christen von den Goto-Inseln verurteilt.

Jetzt verurteilt das Schicksal ihn, und zwar mit der kräftigen, nasalen Stimme seines Kammerherrn.

Der Shōgun wird mich wegen mutwilliger Vernachlässigung meiner Pflichten ins Gefängnis werfen.

Seine Familie in Edo wird ihren Namen und die Samuraistellung verlieren.

Kawasemi, meine heißgeliebte Kawasemi, wird sich wieder in Teehäusern verdingen müssen ...

Er denkt an seinen Sohn, seinen wunderbaren Sohn, der sein Leben als Knecht eines Zuhälters fristen wird müssen.

Es sei denn, ich entschuldige mich für mein Vergehen und stelle die Familienehre wieder her ...

Er blickt zu seinen Beratern auf, doch niemand wagt es, einem zum Tode Verurteilten in die Augen zu sehen.

... indem ich Seppuku begehe, bevor die Regierung in Edo meine Verhaftung anordnet.

Hinter ihm ertönt leises Räuspern. «Darf ich sprechen, Statthalter?»

«Es ist gut, dass jemand das Wort ergreift, Fürstabt.»

«Das Lehen Kyōga ist eher eine geistliche denn eine militärische Festung, aber es liegt ganz in der Nähe. Wenn ich sogleich einen Boten entsende, kann ich innerhalb von drei Tagen zweihundertfünfzig Soldaten aus Kashima und Isahaya nach Nagasaki beordern.»

Diese sonderbare Gestalt, denkt Shiroyama, gehört zu meinem Leben wie zu meinem Tod.

«Befehlen Sie sie her, Fürstabt, im Namen des Shōguns.» Der Statthalter sieht einen Hoffnungsschimmer. Das Kriegsschiff eines ausländischen Angreifers zu kapern, wäre eine Ruhmestat, die meine Vergehen vielleicht, vielleicht in den Hintergrund treten ließe. Er wendet sich an den Befehlshaber der Wache. «Schicken Sie Reiter zu den Fürsten von Hizen, Chikugo und Higo, ausgestattet mit dem Befehl, im Namen des Shōguns jeweils fünfhundert bewaffnete Soldaten zu entsenden. Unverzüglich und ohne Umstände. Das Reich befindet sich im Krieg.»