XIII

Der Fahnenplatz auf Dejima
Morgenappell am letzten Oktobertag 1799
«Es ist wie ein Wunder ...», Piet Baert blickt hinauf in den Himmel, «... der Regen hat aufgehört.»
«Hab schon gedacht», sagt Ivo Oost, «uns blühen vierzig Tage Dauerregen.»
«Im Fluss trieben Leichen», bemerkt Wybo Gerritszoon. «Boote haben sie mit langen Stangen aus dem Wasser gefischt.»
«Herr Kobayashi?» Melchior van Cleef ruft lauter: «Herr Kobayashi!»
Kobayashi dreht sich um und blickt vage in van Cleefs Richtung.
«Es gibt noch viel zu tun, bevor die Shenandoah beladen ist: weshalb die Verzögerungen?»
«Flut hat gute Brücken in Stadt zerstört. Es gibt viel Verspätung heute.»
«Und warum», fragt Peter Fischer, «hat man die Verurteilten dann nicht früher hergebracht?»
Aber Dolmetscher Kobayashi hat sich schon wieder abgewendet und beobachtet das Geschehen auf dem für die Hinrichtung vorbereiteten Fahnenplatz. Dort hat sich die größte Menschenmenge versammelt, die Jacob bislang in Japan gesehen hat. Die Niederländer stehen halbkreisförmig mit dem Rücken zum Fahnenmast. Ein in den Staub gezeichnetes Rechteck markiert die Stelle, wo die Teekannendiebe enthauptet werden sollen. Gegenüber befindet sich unter einem Sonnenbaldachin eine dreistufige Tribüne: In der obersten Reihe sitzen Kammerherr Tomine und ein Dutzend hohe Beamte der Stadtregierung. Die Mittelreihe wird von weiteren Würdenträgern der Stadt Nagasaki eingenommen, und auf der untersten Stufe sitzen alle sechzehn vereidigten Dolmetscher, mit Ausnahme von Kobayashi, der an Vorstenboschs Seite seinen Dienst verrichtet. Ogawa Uzaemon, dem Jacob zuletzt im Badehaus begegnet ist, sieht müde aus. Drei Shintō-Priester in weißen Gewändern und mit verzierten Kopfbedeckungen vollziehen ein Reinigungsritual, indem sie Gesänge anstimmen und Salz werfen. Links und rechts von der Tribüne stehen Bedienstete, achtzig bis neunzig unvereidigte Dolmetscher, Kulis und Tagelöhner, froh, dem Spektakel auf Kosten der Kompanie beizuwohnen, sowie Wachen, Abgreifer, Ruderer und Zimmerleute. Bei einem Handwagen warten vier in Lumpen gehüllte Männer. Der Henker ist ein Samurai mit Adleraugen, sein Gehilfe hat eine Trommel. Dr. Marinus steht mit seinen vier männlichen Famuli am Rand.
Orito war nur ein Fieber, ermahnt sich Jacob. Jetzt ist das Fieber von mir gewichen.
«Im Vergleich dazu ist das Aufknüpfen in Antwerpen eine richtige Festveranstaltung», stellt Baert fest.
Kapitän Lacy blickt hinauf zur Fahne und denkt an Windverhältnisse und Gezeiten.
Vorstenbosch fragt: «Meinen Sie, wir benötigen später Schleppboote, Kapitän?»
Lacy schüttelt den Kopf. «Wenn der Wind sich hält, haben wir genug Schub.»
«Die Schlepperführer werden dennoch versuchen, ihre Taue festzumachen», warnt van Cleef.
«Dann haben diese Piraten einen Haufen gekappter Taue auszuwechseln, besonders wenn ...»
An der Landpforte macht sich Unruhe breit, das Stimmengemurmel wird lauter, und die Menschenmenge teilt sich.
Jeweils vier Männer tragen die Gefangenen in großen, aus Tauen geknüpften und an Stangen befestigten Netzen auf den Platz, präsentieren sie vor der Tribüne und werfen sie dann in das Rechteck. Dort öffnen sie die Netze. Der jüngere der beiden Gefangenen ist höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt - vor seiner Verhaftung war er vermutlich ein hübscher Junge. Sein älterer Komplize ist völlig gebrochen und zittert. Beide tragen nur einen langen Lendenschurz, ihre Körper sind über und über mit getrocknetem Blut, Striemen und offenen Wunden bedeckt. Manche ihrer Finger und Zehen sind nur noch schorfverkrustete braune Stummel. Wachtmeister Kosugi, der strenge Zeremonienmeister des grausigen Schauspiels, öffnet eine Schriftrolle. Die Menge verstummt, und Kosugi verliest einen japanischen Text.
«Es ist Verlesung von Anklagen», erklärt Kobayashi den Niederländern, «und Gestehnisse.»
Als Wachtmeister Kosugi fertig ist, geht er zum Sonnenbaldachin. Er verbeugt sich, und Kammerherr Tomine gibt eine Erklärung ab. Der Wachtmeister geht zu Unico Vorstenbosch, um ihm die Nachricht zu übermitteln. Kobayashis Übersetzung ist auffällig kurz: «Gewährt niederländischer Faktor Begnadigung?»
Vier- bis fünfhundert Augenpaare richten sich auf Unico Vorstenbosch.
Bitte, lass Gnade walten, fleht der künftige Stellvertreter de Zoet und schließt die Augen. Gnade. «Fragen Sie die Diebe», weist Vorstenbosch Kobayashi an, «ob sie gewusst haben, welche Strafe ihnen für dieses Verbrechen droht.»
Kobayashi richtet die Frage an die knienden Gefangenen.
Der ältere Dieb ist nicht in der Lage zu sprechen. Der jüngere sagt trotzig: «Hai.»
«Warum soll ich mich dann in die japanische Rechtsprechung einmischen? Die Antwort heißt nein!»
Kobayashi gibt die Entscheidung weiter an Wachtmeister Kosugi, der zurück zu Kammerherr Tomine geht. Als das Urteil gesprochen ist, drückt die Menge murrend ihr Missfallen aus. Der junge Dieb sagt etwas zu Vorstenbosch, und Kobayashi fragt: «Sie wünschen, ich übersetze?»
«Ich bitte darum», sagt der Faktor.
«Verbrecher sagt: ‹Erinnern Sie sich an mein Gesicht, wenn Sie Tee trinken.›»
Vorstenbosch verschränkt die Arme. «Versichern Sie ihm, dass ich sein Gesicht in zwanzig Minuten für immer vergessen haben werde. In zwanzig Tagen werden sich nur noch einige Freunde vage an sein Gesicht erinnern. In zwanzig Monaten wird selbst seine Mutter nicht mehr wissen, wie ihr Sohn ausgesehen hat.»
Kobayashi übersetzt mit ernster, genüsslicher Miene.
Die nahe stehenden Zuschauer hören mit und werfen dem Niederländer hasserfüllte Blicke zu.
«Ich übersetze», versichert Kobayashi an Vorstenbosch gewandt, «sehr treu.»
Während Wachtmeister Kosugi den Henker auffordert, sich bereitzumachen, wendet sich Vorstenbosch an seine Landsleute. «Unter unseren Gastgebern, meine Herren, befinden sich einige, die nur darauf warten, dass uns die rechtmäßig geübte Vergeltung im Halse steckenbleibt: Ich bitte Sie, gönnen Sie ihnen dieses Vergnügen nicht.»
«Verzeihung, Herr Faktor», sagt Baert, «ich versteh nicht, was Sie meinen.»
«Du sollst vor dem gelben Gastgeber», sagt Arie Grote, «weder kotzen noch aus den Latschen kippen.»
«Genau so ist es, Grote», sagt Vorstenbosch. «Wir stehen hier als Botschafter unseres Volkes.»
Der ältere Dieb, dessen Kopf in einer Kapuze steckt, ist als Erster dran. Er wird hinunter auf die Knie gedrückt.
Der Trommler trommelt einen eintönigen Rhythmus: Der Henker zieht das Schwert.
Urin färbt den Boden unter dem zitternden Opfer dunkel.
Ivo Oost, der neben Jacob steht, malt mit der Schuhspitze ein Kreuz in den Sand.
Zwei Hunde oder mehr stimmen auf dem Edo-Platz wildes Gebell an.
Gerritszoon murmelt: «An die Arbeit, meine Schöne ...»
Das erhobene Henkersschwert ist blank poliert und schwarz von Öl.
Jacob bemerkt einen Ton, kaum hörbar, aber durchdringend.
Der Trommler schlägt die Trommel zum vierten oder fünften Mal.
Das Geräusch eines Spatens, der in nackte Erde stößt ...
... und der Kopf des Diebes fällt samt Kapuze in den Sand.
Mit einem leisen Pfeifton spritzt Blut aus dem Hals.
Der klaffende Rumpf des Enthaupteten kippt blutspeiend vornüber auf seine Knie.
Gerritszoon murmelt: «Bravo, meine Schöne!»
Ich hin ausgeschüttet wie Wasser, zitiert Jacob mit geschlossenen Augen, meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub.
«Famuli», weist Marinus seine Studenten an, «sehen Sie die Aorta, die Jugularvene und das Rückenmark und beachten Sie, dass das venöse Blut dunkel und pflaumenfarben ist, das Arterienblut hingegen scharlachrot wie eine Hibiskusblüte. Sie unterscheiden sich auch im Geschmack: Das arterielle Blut schmeckt metallisch, während das venöse Blut eine fruchtige Note aufweist.»
«Um Himmels willen, Marinus», raunzt van Cleef ihn an. «Muss das sein?»
«So profitiert wenigstens irgendjemand von dieser sinnlosen, barbarischen Tat.»
Jacob beobachtet Unico Vorstenbosch, der sich abseitshält. Peter Fischer schnaubt verächtlich. «Der Schutz von Kompaniebesitz ist eine ‹sinnlose barbarische Tat›? Was wäre, wenn es sich bei dem gestohlenen Gegenstand um Ihr geliebtes Cembalo gehandelt hätte?»
«Ich würde mich von ihm trennen.» Der kopflose Leichnam wird auf den Karren geworfen.
«Vergossenes Blut würde die Hebel verkleben, und es würde nie mehr so klingen wie vorher.»
Ponke Ouwehand fragt: «Was passiert mit den Leichen, Herr Doktor?»
«Die Galle entnimmt man für die Arzneimittelherstellung, dann werden die sterblichen Überreste zur Gaudi eines zahlenden Publikums von Tieren zerfleischt. Das sind die Schwierigkeiten, denen die einheimischen Gelehrten ausgesetzt sind, die hier die Lehre von Anatomie und Chirurgie einführen wollen ...»
Der junge Dieb weigert sich offenbar, die Kapuze aufzusetzen.
Er wird zu der blutgetränkten Stelle gebracht, wo sein Freund enthauptet wurde.
Der Trommler schlägt die Trommel einmal ...
«Das Kopfabhacken», wirft Gerritszoon in die Runde, «ist eine hohe Kunst: Der Scharfrichter muss an das Gewicht des Klienten und die Jahreszeit denken, denn im Sommer sitzt mehr Fett im Genick als zum Ende des Winters, und er muss auch beachten, ob die Haut trocken ist oder nass vom Regen ...»
Der Trommler schlägt die Trommel ein zweites Mal ...
«Ein Pariser Philosoph», erzählt der Arzt seinen Studenten, «wurde in der jüngsten Schreckensherrschaft zum Tode durch die Guillotine verurteilt ...»
Der Trommler schlägt die Trommel ein drittes Mal ...
«... und führte ein faszinierendes Experiment durch: Er verabredete mit einem Henkersknecht, dass er blinzeln würde, wenn die Schneide falle ...»
Der Trommler schlägt die Trommel ein viertes Mal.
«... und so lange weiterblinzeln würde, wie es ihm möglich sei. Der Henkersknecht zählte die Lidschläge und konnte so ermitteln, wie lange oder, besser gesagt, wie kurz ein abgetrennter Kopf weiterlebt.»
Cupido spricht einige Worte auf Malaiisch, vielleicht, um den bösen Blick zu bannen.
Gerritszoon dreht sich zu ihm um und sagt: «Hör auf mit dem Schwarzengebrabbel, Junge.»
Der designierte Stellvertreter de Zoet bringt es nicht über sich, ein zweites Mal zuzusehen.
Er begutachtet seine Schuhe und entdeckt einen Blutspritzer auf der Spitze.
Der Wind streicht über den Fahnenplatz, sanft wie der Saum eines Gewandes.
«Und damit», sagt Vorstenbosch, «kommen wir zum Ende ...»
Die Almelo-Uhr im Kontor des scheidenden Faktors zeigt elf Uhr.
Vorstenbosch schiebt den letzten Stapel Papiere beiseite, holt die Ernennungsurkunden hervor, taucht die Feder ein und unterzeichnet das erste Dokument. «Möge das Schicksal Sie mit einem Lächeln durch Ihre Amtszeit begleiten, Faktor Melchior van Cleef von der Handelsstation Dejima ...»
Der Bart in van Cleefs Gesicht zuckt, als er lächelt. «Vielen Dank.»
«... und zu guter Letzt», Vorstenbosch unterschreibt das zweite Dokument, «stellvertretender Faktor Jacob de Zoet.» Er legt die Feder aus der Hand. «Wenn ich mir vorstelle, de Zoet, dass Sie im April noch ein kleiner Angestellter waren, schon fast auf dem Weg in die Sumpfhölle von Halmahera.»
«Ein offenes Grab», stößt van Cleef hervor. «Entkommt man den Krokodilen, tötet einen das Sumpffieber. Entkommt man dem Sumpffieber, wird man von einem Giftpfeil erledigt. Sie verdanken Herrn Vorstenbosch nicht nur eine glänzende Zukunft, Sie verdanken ihm Ihr Leben.»
Und du, du elender Betrüger, denkt Jacob, verdankst ihm, dass du nicht dasselbe Schicksal nimmst wie Snitker.
«Meine Dankbarkeit gegenüber Herrn Vorstenbosch ist tief und aufrichtig.»
«Wir haben noch Zeit für einen kurzen Abschiedstrunk. Philander!»
Philander betritt mit einem Silbertablett das Zimmer. Darauf stehen drei langstielige Weingläser.
Jeder der drei Männer nimmt ein Glas: Sie stoßen an.
Als Vorstenbosch sein Glas geleert hat, überreicht er Melchior van Cleef die Schlüssel für die Speicher Eik und Doorn und für den Safe mit der Handelserlaubnis, die vor hundertfünfzig Jahren vom großen Shōgun ausgestellt wurde. «Möge Dejima unter Ihrer Leitung blühen, Faktor van Cleef. Ich hinterlasse Ihnen einen fähigen, vielversprechenden Stellvertreter. Nächstes Jahr, so hoffe ich, werden Sie beide meine Erfolge übertreffen und zwanzigtausend Pikol aus unseren knauserigen schlitzäugigen Gastherren herausquetschen.»
«Wir werden tun», verspricht van Cleef, «was in unserer Macht steht.»
«Ich werde für Ihre sichere Überfahrt beten, Herr Vorstenbosch», sagt Jacob.
«Danke! Und nun, da die Frage der Nachfolge geregelt ist ...», Vorstenbosch zieht ein Kuvert aus dem Mantel und faltet ein Dokument auseinander, «... müssen die drei obersten Beamten Dejimas die Auflistung aller ausgeführten Waren unterzeichnen, so wie Gouverneur van Overstraten es neuerdings verlangt.» Er setzt seinen Namen unter das dreiseitige Verzeichnis aller Handelsgüter im Laderaum der Shenandoah, unterschieden nach «Kupfer», «Kampfer» und «Sonstiges» und unterteilt in nummerierte Posten, Stückzahlen und Qualitätsbezeichnungen.
Van Cleef unterzeichnet die von ihm zusammengestellte Liste, ohne einen Blick daraufzuwerfen.
Jacob nimmt die ihm angebotene Feder und geht aus berufsmäßiger Gewohnheit aufmerksam die einzelnen Posten durch: Es ist das einzige Dokument an diesem Vormittag, das er nicht selbst angefertigt hat.
«Stellvertreter», tadelt ihn van Cleef, «Sie wollen Herrn Vorstenbosch doch sicher nicht warten lassen!»
«Die Kompanie verlangt von mir, dass ich in allen Belangen gründlich verfahre.»
Sein Einwand, stellt Jacob fest, stößt auf frostiges Schweigen.
«Die Sonne», sagt van Cleef, «zeigt sich heute als strahlende Siegerin, Herr Vorstenbosch.»
«So ist es.» Vorstenbosch leert sein Glas. «Falls Kobayashi die Absicht hatte, mit den Hinrichtungen heute Morgen Unheil heraufzubeschwören, ist er wieder einmal gescheitert.»
Jacob entdeckt einen überraschenden Fehler. Kupferausfuhr gesamt: 2600 Pikol.
Van Cleef räuspert sich. «Ist etwas nicht in Ordnung, Herr Stellvertreter?»
«Hier ... bei der Gesamtmenge. Die Neun sieht aus wie eine Zwei.»
Vorstenbosch sagt mit entschiedener Stimme: «Die Menge ist absolut korrekt, de Zoet.»
«Aber wir führen neuntausendsechshundert Pikol aus.»
Van Cleefs unbeschwerter Ton bekommt einen drohenden Beiklang. «Unterschreiben Sie einfach, de Zoet!»
Jacob sieht van Cleef an, der ihn finster anstarrt. Er wendet sich an Vorstenbosch. «Jemand, der nicht weiß, dass Sie überall für Ihre Unbestechlichkeit bekannt sind, und diese Zahlen sieht ...», er bemüht sich um eine diplomatische Wortwahl, «könnte möglicherweise zu der Annahme gelangen, dass siebentausend Pikol Kupfer vorsätzlich unterschlagen wurden.»
Vorstenboschs Miene ist die eines Vaters, der nicht länger gewillt ist, seinen Sohn beim Schach gewinnen zu lassen.
«Haben Sie die Absicht», Jacobs Stimme zittert leicht, «das Kupfer zu stehlen?»
«Snitker hat gestohlen, mein Junge: Ich beanspruche nur meinen rechtmäßigen Anteil.»
«Aber die Worte ‹rechtmäßiger Anteil›», platzt es aus Jacob heraus, «stammen aus Snitkers Mund.»
«Im Interesse Ihres Vorankommens: Setzen Sie mich nicht mit dieser Kanalratte gleich!»
«Das habe nicht ich getan.» Jacob klopft auf das Ausfuhrdokument. «Diese Liste tut es.»
«Die widerwärtigen Enthauptungen, denen wir heute Morgen beiwohnen mussten», sagt van Cleef, «haben Ihren Verstand getrübt, Herr de Zoet. Glücklicherweise ist Herr Vorstenbosch nicht nachtragend. Entschuldigen Sie sich für Ihre Hitzköpfigkeit, setzen Sie Ihren Namen unter das Papier und lassen Sie uns die kleine Meinungsverschiedenheit vergessen.»
Vorstenbosch ist sichtlich verstimmt, aber er widerspricht van Cleef nicht.
Mattes Sonnenlicht fällt auf das Papier in den Fenstern.
Welcher de Zoet aus Domburg, denkt Jacob, hat je sein Gewissen verkauft?
Melchior van Cleef riecht nach Kölnisch Wasser und Schweineschmalz.
«Was ist aus ‹Meine Dankbarkeit gegenüber Herrn Vorstenbosch ist tief und aufrichtig› geworden, hä?»
Eine Schmeißfliege ertrinkt in seinem Wein. Jacob hat die Liste einmal ...
... und dann noch einmal zerrissen, in vier Teile. Sein Herz klopft wie das eines Mörders nach der Tat.
Ich werde dieses Geräusch des Zerreißens hören, weiß Jacob, solange ich lebe.
Die Almelo-Uhr schlägt mit ihren winzigen Hämmern die Zeit.
«Ich hatte de Zoet ...», Vorstenbosch wendet sich an van Cleef, «... für einen jungen Mann mit gesundem Urteilsvermögen gehalten.»
«Ich hatte Sie», sagt Jacob, «für einen Mann gehalten, dem es sich nachzueifern lohnt.»
Vorstenbosch nimmt Jacobs Ernennungsurkunde und reißt sie einmal ...
... und dann noch einmal durch. «Ich hoffe, das Leben auf Dejima gefällt Ihnen, de Zoet: Sie werden in den nächsten vier Jahren nichts anderes kennenlernen. Herr van Cleef: Wählen Sie Fischer oder Ouwehand als Ihren Stellvertreter?»
«Eine dürftige Auswahl. Ich will keinen von beiden. Aber nehmen wir Fischer.»
Im Empfangszimmer sagt Philander: «Verzeihung, aber Herren sind noch beschäftigt.»
«Gehen Sie mir aus den Augen», sagt Vorstenbosch, ohne Jacob anzusehen.
«Angenommen», denkt Jacob laut, «Gouverneur van Overstraten erführe ...»
«Wenn Sie mir drohen, Sie scheinheiliger zeeländischer Taugenichts», antwortet Vorstenbosch ruhig, «werden wir Sie schlachten, wo Snitker nur gerupft wurde. Sagen Sie mir, Faktor van Cleef: Welche Strafe steht auf das Fälschen eines Briefes Seiner Exzellenz, des Generalgouverneurs von Niederländisch-Ostindien?»
Jacob spürt, wie ihm Knie und Waden weich werden.
«Das hängt von den Motiven des Täters und den Umständen ab.»
«Was wäre, wenn ein gewissenloser Schreiber einen Brief an niemand Geringeren als den Shōgun von Japan gefälscht hätte, in dem er damit droht, den ehrwürdigen Außenposten der Kompanie zu schließen, sofern dieser nicht zwanzigtausend Pikol Kupfer nach Nagasaki entsendet - zwanzigtausend Pikol, die er offenkundig auf eigene Rechnung verkaufen wollte -, oder warum sonst hätte er seine Verfehlung vor seinen Kollegen verheimlicht?»
«Zwanzig Jahre Gefängnis», sagt van Cleef, «wären wohl die mildeste Strafe.»
«Sie ...», Jacob reißt entsetzt die Augen auf, «haben diese Falle schon im Juli aufgestellt?»
«Man muss sich gegen Enttäuschungen versichern. Raus, habe ich gesagt!»
Ich werde so mittellos nach Europa zurückkehren, erkennt Jacob, wie ich gekommen bin.
Als Jacob die Tür öffnet, ruft Vorstenbosch: «Philander!»
Der Malaie tut so, als hätte er nicht am Schlüsselloch gelauscht. «Herr?»
«Hole sofort Herrn Fischer. Wir haben erfreuliche Nachrichten für ihn.»
«Ich werde es Fischer sagen!», ruft Jacob über die Schulter. «Dann kann er meinen Wein austrinken!»
«Erzürne dich nicht über die Bösen, sei nicht neidisch auf die Übeltäter.» Jacob liest den 37. Psalm. «Denn wie das Gras werden sie bald abgehauen, und wie das grüne Kraut werden sie verwelken. Hoffe auf den Herrn und tu Gutes, bleibe im Lande und nähre dich redlich ...»
Die Sonne taucht die Wohnung im Obergeschoss des Großen Hauses in rostrotes Licht.
Die Seepforte ist bis zur nächsten Handelszeit geschlossen.
Peter Fischer wird in die geräumige Residenz des Stellvertreters umziehen.
Nach fünfzehn Wochen Ankerzeit wird die Shenandoah die Segel setzen, die Matrosen sehnen sich schon nach der offenen See und einer prall gefällten Börse in Batavia.
Bemitleide dich nicht, denkt Jacob. Bewahre wenigstens deine Würde.
Jacob hört Hanzaburos Schritte auf der Treppe. Er klappt den Psalter zu.
Selbst Daniel Snitker freut sich gewiss auf die Reise ...
... denn im Gefängnis von Batavia kann er Besuch von seiner Frau und Freunden empfangen.
Hanzaburo macht sich in seiner Nische im Vorraum zu schaffen.
Orito zog die Gefangenschaft in einem Kloster, flüstert Jacobs Einsamkeit ...
Im Lorbeerbaum füllt ein Vogel die Zeit mit seinem kunstlosen Lied.
... einer Dejima-Ehe mit dir vor. Hanzaburo geht die Treppe hinunter.
Jacob macht sich Sorgen um seine Briefe an Anna, an seine Schwester und seinen Onkel.
Vorstenbosch, fürchtet er, wird sie weiterleiten, aber durch den Abtritt der Shenandoah.
Hanzaburo, stellt der Sekretär fest, ist gegangen, ohne sich zu verabschieden.
Einseitige Berichte über seine Schmach werden die Runde machen: zuerst in Batavia, dann in Rotterdam.
«In Ostasien», wird Annas Vater dafürhalten, «erweist sich der wahre Charakter eines Mannes.»
Jacob schätzt, dass sie frühestens im Januar 1801 von ihm hören wird.
Bis dahin wird jeder reiche, geile, standesgemäße Sohn Rotterdams Anna den Hof machen ...
Jacob schlägt den Psalter wieder auf, aber er ist zu aufgewühlt für Davids Verse.
Ich bin ein rechtschaffener Mann, denkt er, aber nun sehe ich, wohin Rechtschaffenheit führt!
Die Vorstellung, aus dem Haus zu gehen, ist unerträglich. Drinnen zu bleiben auch.
Die anderen werden denken, du fürchtest dich, dein Gesicht zu zeigen. Er zieht die Jacke an.
Auf der untersten Treppenstufe tritt Jacob auf etwas Glitschiges. Er rutscht aus, fällt nach hinten ...
... und schlägt mit dem Steißbein auf die Treppenkante. Er sieht und riecht, dass sein Sturz von einem großen menschlichen Kothaufen verursacht wurde.
Die Lange Straße ist leer bis auf zwei Kulis, die den rothaarigen Fremdländer angrinsen und mit den Zeigefingern Koboldhörner andeuten, dieselbe Geste, die bei den Franzosen Hahnrei bedeutet.
Die Luft wimmelt von Insekten, geboren aus Herbstwärme und feuchter Erde.
Arie Grote schlurft die Treppe vor dem Haus von Faktor van Cleef hinunter. «Herr de Zoet hat bei Vorstenboschs Abschied durch Abwesenheit geglänzt.»
«Wir ...», Jacobs Weg ist versperrt, «... hatten uns bereits voneinander verabschiedet.»
«Mir ist die Kinnlade bis hier runtergeklappt ...», Grote führt es mit einer Handbewegung vor, «... als ich die Neuigkeiten hörte.»
«Wie ich sehe, hat Ihre Kinnlade wieder in ihre alte Lage zurückgefunden.»
«Dann sitzen Sie Ihre Strafe also im Großen Haus ab und nicht im Haus des Vize ... ‹Eine Meinungsverschiedenheit über die Rolle des Stellvertreters›, habe ich gehört?»
Jacob weiß nicht, wo er hinsehen soll, auf die Häuserwände, in den Rinnstein oder in Arie Grotes Gesicht.
«Es heißt, flüstern mir die Ratten, Sie wollten die getürkte Ausfuhrliste nicht unterschreiben. Teure Angewohnheit, die Ehrlichkeit. Pflichttreue ist keine leichte Sache. Hab ich Sie nicht gewarnt? Ein böswilliger Halunke, Herr de Zoet, der noch unter dem Verlust seiner Siegerspielkarten leidet, könnte in Versuchung kommen, über das Unglück seines Gegners schadenfroh zu grinsen ...»
Sjako humpelt vorbei, er trägt einen Käfig mit einem Tukan. «... aber ich glaub, die Schadenfreude überlass ich Fischer.» Der lederhäutige Koch legt sich die Hand aufs Herz. «Für mich immerhin heißt’s, Ende gut, alles gut. Herr V. hat mir erlaubt, dass ich für zehn Prozent Provision meine ganze Ware verschiffe: Snitker, der gierige Raffzahn, hat letztes Jahr für ne schimmlige Ecke auf der Octavia fünfzig verlangt - und angesichts ihres Schicksals war’s ein Segen, dass wir uns damals nicht geeinigt haben! Die treue Shenandoah ...», Grote deutet mit dem Kopf auf die Seepforte, «... segelt mit der Ernte von drei Jahren ordentlicher Plackerei. Faktor V. gibt mir sogar ein Fünftel von vier Gros Arita-Figuren, anstelle meiner Maklergebühren.»
Ein Fäkaliensammler geht vorbei: Aus den Eimern, die an seiner Tragestange baumeln, steigen stinkende Dünste.
«Ich wüsste zu gerne», denkt Grote laut, «wie genau die Abgreifer den kontrollieren.»
«Vier Gros Figuren», Jacob registriert die Zahl, «und nicht zwei?»
«Achtundvierzig Dutzend. Die bringen bei der Auktion ein hübsches Sümmchen ein. Wieso fragen Sie?»
«Nur so.» Vorstenbosch, denkt Jacob, hat von Anfang an gelogen. «Wenn ich nichts weiter für Sie tun kann ...»
«Eigentlich ...», Grote zieht etwas aus der Jacke, «... kann ich ...»
Jacob erkennt seinen Tabaksbeutel, den Orito William Pitt gegeben hat.
«... etwas für Sie tun. Ich glaube, das hübsch gemachte Ding gehört Ihnen.»
«Wollen Sie mir etwa meinen eigenen Tabaksbeutel verkaufen?»
«Ich geh ihn nur an seinen rechtmäßigen Besitzer zurück, Herr de Z., ganz und gar kostenlos ...»
Jacob wartet, dass Grote mit dem wahren Preis herausrückt.
«... obwohl es vielleicht der rechte Augenblick ist, Sie dran zu erinnern, dass ein kluger Mann unsere letzten beiden Kisten Syphilispulver so schnell wie möglich an Enomoto verkaufen würde. Bald kommen die Dschunken der Chinesen, voll beladen mit jeder Unze Quecksilber, die sie in ihrem Handelsreich aufgetrieben haben, und entre nous, die Herren Lacy und V-bosch werden im nächsten Jahr eine ganze deutsche Tonne davon schicken, und wenn der Markt erst überschwemmt ist, weichen die Preise auf.»
«Ich verkaufe nicht an Enomoto. Suchen Sie einen anderen Käufer. Egal wen.»
«Schreiber de Zoet!» Peter Fischer tritt aus der Knochengasse auf die Lange Straße. Er glüht vor Rachlust. «Schreiber de Zoet. Was ist das?»
«Auf Niederländisch nennen wir es ‹Daumen›.» Jacob kann sich nicht zu einem ‹Herr Fischer› durchringen.»
«Ich weiß, dass das ein Daumen ist. Aber was ist das an meinem Daumen?»
«Ich würde sagen ...», Jacob merkt, dass Arie Grote verschwunden ist, «... ganz gewöhnlicher Schmutz.»
«Die Kontoristen und Arbeiter ...», Fischer schließt zu ihm auf, «... nennen mich Stellvertreter Fischen oder ‹Herr Stellvertreter›. Haben Sie verstanden?»
Wenn er Faktor wird, denkt Jacob, werden zwei Jahre sein wie fünf.
«Ich verstehe Sie sehr gut, Stellvertreter Fischer.»
Fischer setzt ein triumphales Siegerlächeln auf. «Schmutz! Jawohl, Schmutz. Er liegt auf den Regalen im Kontor. Deshalb weise ich Sie an, die Regale zu putzen.»
«Gewöhnlich ...»Jacob schluckt, «... übernimmt das einer der Diener.»
«Ganz recht, aber da Ihnen Sklaven, Diener und Ungleichheit gegen den Strich gehen ...», Fischer drückt Jacob den schmutzigen Daumen ans Brustbein, «... weise ich Sie an, die Regale zu putzen. Und zwar jetzt gleich.»
Ein Mutterschaf, das aus seiner Koppel ausgebrochen ist, trottet die Lange Straße hinunter.
Er will, dass ich ihn schlage, denkt Jacob. «Ich putze sie später.»
«Sie haben den Stellvertreter stets mit Stellvertreter Fischer anzusprechen.»
So geht das jetzt jahrelang, denkt Jacob. «Ich putze sie später, Stellvertreter Fischer.»
Protagonist und Gegenspieler starren einander an; das Schaf stellt sich hin und pisst.
«Ich befehle Ihnen, die Regale jetzt zu putzen, Schreiber de Zoet. Wenn Sie nicht ...»
Jacob stockt vor Zorn der Atem, und er weiß, dass er sich nicht mehr lange wird beherrschen können: Er geht einfach weiter.
«Faktor van Cleef und ich», ruft Fischer ihm nach, «werden uns über Ihr unverschämtes Benehmen unterhalten!»
«Es ist ein weiter Weg», Ivo Oost steht rauchend in einem Hauseingang, «bis ganz nach unten ...»
«Ihr Gehalt», brüllt Fischer ihm hinterher, «wird durch meine Unterschrift bewilligt!»
Jacob steigt den Wachtturm hinauf und betet innerlich, dass niemand auf der Plattform ist.
Zorn und Selbstmitleid stecken ihm im Hals wie Gräten.
Wenigstens dieses eine Gebet, er erreicht die leere Plattform, wurde erhört.
Die Shenandoah segelt draußen in der Bucht von Nagasaki. In ihrem Kielwasser ziehen Schlepper wie unerwünschte Gössel. Die zum offenen Meer hin sich verjüngende Bucht, die dichten Wolken und die wogenden Segel der Brigg erwecken den Eindruck, als würde ein Buddelschiff aus seiner Flasche gezogen.
Jetzt weiß ich, denkt Jacob, warum ich den Wachtturm, für mich allein habe.
Die Shenandoah feuert mit ihren Geschützen Salut für die Küstenwache.
Welcher Gefangene will schon zusehen, wie die Kerkertür zugestoßen wird?
Der Wind pflückt Rauchfahnen wie Blütenblätter aus den Stückpforten der Shenandoah ...
... und die Schüsse hallen wider wie der knallende Deckel eines Cembalos.
Der weitsichtige Sekretär nimmt die Brille ab.
Der burgunderrote Fleck auf dem Achterdeck ist ganz sicher Kapitän Lacy ...
... dann muss der olivgrüne der unbestechliche Unico Vorstenbosch sein. Jacob stellt sich vor, wie sein einstiger Mentor den Untersuchungsbericht der Misswirtschaft dazu benutzt, die Beamten der Kompanie zu erpressen. «Die Münzstätte der Kompanie», könnte er jetzt sehr überzeugend anführen, «braucht einen Direktor, der über meine Erfahrung und meine Diskretion verfügt.»
Landwärts sehen die Bewohner Nagasakis von ihren Dächern aus der Abfahrt des niederländischen Schiffes zu und träumen von seinem Zielhafen. Jacob denkt an Schicksalsgenossen und seine Mitreisenden aus Batavia, an Kollegen in den zahlreichen Kontoren, in denen er als Expedient gearbeitet hat, an Klassenkameraden in Middelburg und Domburger Freunde aus Kindertagen. Sie sind in die weite Welt hinausgezogen, um ihr Glück und eine liebevolle Ehefrau zu finden, während ich mein sechsundzwanzigstes, siebenundzwanzigstes, achtundzwanzigstes, neunundzwanzigstes und dreißigstes Lebensjahr - meine letzten guten Jahre - gefangen in einer todgeweihten Faktorei zubringen muss, umgeben von allem menschlichen Treibgut, das ans Ufer gespült wird.
Er hört, wie unter ihm im Haus des Stellvertreters ein klemmendes Fenster geöffnet wird.
«Vorsicht mit den Polstermöbeln», befiehlt Fischer, «du Esel ...»
Jacob sucht in seinem Tabaksbeutel nach ein paar letzten Krümeln, aber der Beutel ist leer.
«... oder willst du, dass ich sie mit deiner kackbraunen Haut flicke. Kapiert?»
Jacob stellt sich vor, dass er nach Domburg zurückkehrt und im Pfarrhaus auf lauter fremde Gesichter trifft.
An der Richtstätte auf dem Fahnenplatz vollziehen Priester Reinigungsrituale.
«Wenn Sie Priester nicht bezahlen», hat Kobayashi van Cleef gestern gewarnt, als Jacob noch einer glänzenden, ja goldenen Zukunft entgegenblickte, «Geister von Dieben finden keine Ruhe und werden zu Dämonen. Dann kein Japaner kommt mehr nach Dejima.»
Krummschnäblige Möwen kämpfen über einem Fischerboot, das seine Netze einholt.
Die Zeit vergeht, und als Jacob wieder hinaus in die Bucht blickt, sieht er eben noch, wie der Bugspriet der Shenandoah hinter dem Tempelhoek verschwindet ...
Dann wird erst das Vorschiff von der felsigen Landzunge verschluckt, dann die beiden Masten ... ... bis der Flaschenhals so blau und leer ist wie am dritten Tag der Schöpfung.
Eine durchdringende Frauenstimme reißt Jacob aus dem Halbschlaf. Sie ist ganz nah, und sie klingt zornig oder ängstlich oder beides. Neugierig blickt er sich nach dem Grund für das Geschrei um. Auf dem Fahnenplatz sprechen die Priester noch immer Gebete für die Hingerichteten.
Die Landpforte ist geöffnet, um den Ochsen des Wasserhändlers an Land zu lassen.
Vor dem Tor verhandelt Aibagawa Orito mit den Wachposten.
Der Wachtturm schwankt: Jacob hat sich unwillkürlich flach auf den Boden gelegt, damit sie ihn nicht sehen kann.
Sie fuchtelt mit dem hölzernen Passierschein und zeigt auf die Kurze Straße.
Der Hauptmann der Wachen mustert den Passierschein argwöhnisch; sie blickt sich nervös um.
Der Ochse, beladen mit zwei leeren Wasserurnen, wird über die Holland-Brücke geführt.
Sie war ein Fieber. Jacob kneift die Augen zu. Das Fieber ist von mir gewichen.
Er öffnet die Augen. Der Hauptmann mustert noch immer den Passierschein.
Ist sie etwa gekommen, denkt er, um Schutz vor Enomoto zu suchen?
Sein Heiratsantrag kehrt zu ihm zurück wie ein zum Leben erwachter Golem.
Ja, ich wollte sie, gesteht er sich bange ein, solange ich wusste, dass ich sie niemals haben kann.
Der Wasserhändler treibt den schwerfälligen Ochsen mit der Gerte an.
Vielleicht ist sie hier, versucht Jacob sich zu beruhigen, um ins Krankenhaus zu gehen.
Er bemerkt ihr aufgelöstes Äußeres: Sie trägt nur eine Sandale, und die sonst so makellose Frisur ist verrutscht.
Aber wo sind die anderen Studenten? Warum wollen die Wachen sie nicht hereinlassen?
Der Kapitän befragt Orito in scharfem Ton.
Ihre Bestimmtheit schwindet, ihre Verzweiflung wächst: Das ist kein gewöhnlicher Besuch.
Tu etwas!, befiehlt sich Jacob. Zeige den Wachen, dass sie erwartet wird, hole Dr. Marinus, hole einen Dolmetscher: Vielleicht entscheidet dein Eingreifen über ihr Schicksal.
Die drei Priester schreiten langsam im Kreis um die blutbefleckte Erde.
Sie will nicht dich, flüstert der Stolz. Sie will nur der Gefangenschaft entgehen.
Vor der Landpforte wendet der Hauptmann unbeeindruckt Oritos Ausweis.
Stell dir vor, es wäre Geertje, flüstert das Mitgefühl, die Zuflucht in Zeeland sucht!
Aus dem klangvollen Wortschwall des Hauptmanns hört Jacob den Namen «Enomoto» heraus.
Auf der anderen Seite des Edo-Platzes erscheint eine kahlgeschorene Gestalt in himmelblauem Gewand.
Der Mann erblickt Orito, ruft etwas über die Schulter und gibt ihr ein Zeichen: Beeilung!
Eine meergraue Sänfte erscheint: Die acht Träger weisen den Eigentümer als Person von höchstem Rang aus.
Jacob hat das Gefühl, als platze er in den letzten Akt einer Theatervorstellung.
Ich liebe sie, sagt eine innere Stimme, so wahrhaftig wie das Sonnenlicht.
Jacob rast die Treppe hinunter und schürft sich an einem Eckpfosten das Schienbein auf.
Er überspringt die letzten sechs, acht Stufen und rennt über den Fahnenplatz.
Alles geschieht gleichzeitig und zu langsam und zu schnell.
Jacob schneidet einem verdutzten Priester den Weg ab und erreicht die Landpforte, die eben geschlossen wird.
Der Hauptmann schwingt seine Pike und warnt ihn, keinen Schritt weiterzugehen.
Die Pforte schließt sich langsam ...
... und er sieht nur noch Oritos Rücken, als sie über die Holland-Brücke geführt wird.
Jacob will ihren Namen rufen ...
... doch die Landpforte schlägt zu.
Der gutgeölte Bolzen gleitet lautlos in sein Lager.