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XIV

Oberhalb des Dorfes Kurozane im Lehen Kyōga

Spät am zweiundzwanzigsten Tag des zehnten Monats

 

Die Dämmerung ist kalt, die Luft riecht schon nach Schnee. Der Waldrand verschwimmt und löst sich auf. Auf einem Felssporn wartet ein schwarzer Hund. Er wittert scharfen Fuchsgestank. Seine silberhaarige Besitzerin steigt mühevoll den gewundenen Pfad hinauf.

Auf der anderen Seite des tosenden Baches knackt unter den Hufen eines Hirsches ein toter Zweig.

Im Zedernbaum oder dort drüben in der Tanne schreit eine Eule ... einmal, zweimal, nah ... fort.

Otane trägt ein Zwanzigstel Koku Reis mit sich, genug für einen Monat.

Ihre jüngste Nichte hat auf sie eingeredet, sie möge unten im Dorf überwintern.

Die Ärmste, denkt Otane. Sie braucht Verbündete gegen ihre Schwiegermutter.

«Und schwanger ist sie auch wieder, hast du gesehen?», fragt sie den Hund.

Die ganze Familie müsse sich wegen ihres Starrsinns Sorgen um sie machen, hat die Nichte ihr vorgehalten. «Mir passiert nichts», wiederholt die alte Frau ihre Antwort, diesmal zu den wurzelbewachsenen Stufen. «Ich bin zu alt für Banditen und zu welk für Mordgesellen.»

Darauf führte ihre Nichte an, dass es für die Patienten doch bequemer sei, sie unten im Dorf aufzusuchen. «Wer will schon mitten im Winter den halben Shiranui hinaufwandern?»

«Niemand muss irgendwo hinaufwandern! Bis zu meinem Haus ist es kaum mehr als ein Kilometer.»

Eine Singdrossel in einer Eberesche erzählt von Dingen, die zu Ende gehen.

Ein kinderloses altes Weib, gibt Otane zu, kann sich glücklich schätzen, Verwandte zu haben, die es bei sich aufnehmen ...

Aber sie weiß auch, dass es einfacher ist, ihre Hütte zu verlassen, als dorthin zurückzukehren.

«Im Frühling», murmelt sie, «heißt es dann: ‹Tante Otane kann unmöglich in diese Bruchbude zurückgehen!›»

Weiter oben knurren zwei Waschbären mörderische Drohungen.

Die Kräuterheilerin von Kurozane setzt den Aufstieg fort, der Sack wird mit jedem Schritt schwerer.

 

Otane kommt zu der bepflanzten Felsplatte, auf der ihr kleines Haus steht. Unter der niedrigen Traufe wachsen Zwiebeln, dahinter ist Feuerholz aufgeschichtet. Sie stellt den Reissack auf die erhöhte Veranda. Alles tut ihr weh. Sie sieht nach den Ziegen im Stall und legt einen halben Ballen Heu hinein. Zuletzt wirft sie einen Blick zu den Hühnern. «Ob wohl jemand ein Ei für die Tante gelegt hat?»

Im dunklen Stall findet sie eins. Es ist noch warm. «Vielen Dank, meine Damen.»

Sie verriegelt die Haustür für die Nacht, kniet sich mit der Zunderbüchse vor die Kochstelle und entfacht ein Feuer. In einem Topf bereitet sie eine Suppe aus Yams und Klettenwurzel. Als sie heiß ist, gibt sie das Ei hinein.

Der Arzneischrank ruft sie ins hintere Zimmer.

Patienten und Besucher staunen über den schönen Schrank, der fast bis zur Decke ihres bescheidenen Häuschens reicht. Sechs bis acht starke Männer hatten ihn zu Lebzeiten ihres Ururgroßvaters aus dem Dorf heraufgetragen, aber als Kind war es einfacher gewesen, zu glauben, er sei hier im Haus gewachsen wie ein alter Baum. Sie öffnet die gutgeölten Schubladen und atmet die verschiedenen Gerüche ein. Toki-Petersilie, gut gegen Koliken bei Kindern, bittere Yomogiblätter, getrocknet und zermahlen für die Moxibustion, und als Letztes in dieser Reihe Dokudamibeeren oder «Fischwurz», um Gifte auszuschwemmen. Der Schrank ernährt sie und ist der Hort ihres Wissens. Sie riecht seifige Maulbeerblätter und hört die Stimme ihres Vaters: «Gut gegen Augenleiden ... und in Verbindung mit Ziegenkraut gegen Geschwüre, Würmer und Furunkel ...» Dann kommt Otane zum bitteren Herzgespann. Das Kraut erinnert sie an Fräulein Aibagawa, und sie geht zurück zum Feuer.

 

Sie legt ein großes Holzscheit ins glimmende Feuer. «Eine zweitägige Reise von Nagasaki», sagt sie, «um ‹Otane aus Kurozane um eine Audienz zu bitten›. Das waren Fräulein Aibagawas Worte. Ich grub gerade Mist unter meine Kürbisse ...»

Das Feuer spiegelt sich in den klaren Hundeaugen.

«... als der Dorfvorsteher höchstpersönlich und der Priester an meinem Zaun auftauchten.»

Die alte Frau kaut auf einer zähen Klettenwurzel und erinnert sich an das verbrannte Gesicht.

«Ist das wirklich schon drei Jahre her? Es kommt mir vor, als wären es höchstens drei Monate.»

Der Hund dreht sich auf den Rücken und legt den Kopf auf die Füße seiner Herrin.

Er kann die Geschichte auswendig, denkt Otane, aber er lässt sie mich gerne noch einmal erzählen.

«Ich sah das verbrannte Gesicht und dachte, sie wolle sich behandeln lassen, aber dann stellte sie der Dorfvorsteher als die Tochter des berühmten Doktor Aibagawa und Anwenderin der niederländischen Geburtshilfe vor - als wüsste er, was das bedeutet! Dann fragte sie mich, ob ich ihr Kräuterbehandlungen für die Entbindung empfehlen könne, und ich dachte, meine Ohren treiben Scherze mit mir.»

Otane rollt ein gekochtes Ei über den Holzteller.

«Als sie sagte, der Name Otane ans Kurozane gelte bei Apothekern und Gelehrten in Nagasaki als Siegel für Reinheit, war ich entsetzt, dass so erhabene Leute meinen niederen Namen kannten ...»

Die alte Frau pult mit ihren von Beeren rot gefärbten Fingernägeln die Eierschale ab und denkt daran zurück, wie würdevoll Fräulein Aibagawa den Dorfvorsteher und den Priester fortschickte und wie aufmerksam sie Otanes Ausführungen niederschrieb. «Sie schrieb so flüssig wie ein Mann. Für Yakumosō interessierte sie sich besonders. ‹Schmieren Sie es auf Risse im Schoß›, erklärte ich ihr, ‹das schützt vor Fieber und lässt die Haut heilen. Es hilft auch, wenn die Brustwarzen vom Stillen entzündet sind ...›» Otane beißt in das gekochte Ei, und ihr wird warm ums Herz, als sie sich daran erinnert, wie wohl sich die Samuraitochter in der ärmlichen Hütte zu fühlen schien, während ihre beiden Diener den Ziegenstall reparierten und eine Wand ausbesserten. «Weißt du noch, als der älteste Sohn des Dorfvorstehers uns mittags zu essen heraufbrachte?», sagt sie zu dem Hund. «Geschälter weißer Reis, Wachteleier und gedämpfte Seebrasse in Bananenblättern ... Wir kamen uns vor, als wären wir im Palast der Mondprinzessin!» Otane hebt den Deckel vom Kessel und wirft eine Handvoll großblättrigen Tee hinein. «Ich habe an diesem Nachmittag mehr geredet als das ganze Jahr. Fräulein Aibagawa wollte mir ‹Studiengebühr› bezahlen - aber wie hätte ich ihr auch nur einen Sen berechnen können? Also kaufte sie meinen gesamten Vorrat an Herzgespann, aber für das Dreifache des üblichen Preises ...»

Die Dunkelheit gegenüber bewegt sich und nimmt die Gestalt einer Katze an.

«Wo hast du dich denn versteckt? Wir haben uns gerade über Fräulein Aibagawas ersten Besuch unterhalten. Am folgenden Neujahrstag schickte sie uns getrocknete Seebrasse. Ihr Diener kam extra den weiten Weg aus der Stadt.» Der rußige Kessel pfeift, und Otane denkt an den zweiten Besuch im sechsten Monat des folgenden Jahres, als die Pestwurz blühte. «Sie war verliebt in diesem Sommer. Ich habe nicht gefragt, aber sie ließ es sich nicht nehmen, einen jungen Niederländischdolmetscher aus einer guten Familie namens Ogawa zu erwähnen. Ihre Stimme veränderte sich» - die Katze blickt auf -, «als sie seinen Namen sagte.» Draußen ächzen die Bäume in der Nacht. Otane schenkt sich Tee ein, bevor das Wasser kocht und die Blätter bitter werden. «Ich betete dafür, dass Ogawa-sama ihr nach der Hochzeit erlauben würde, weiter ins Lehen Kyōga zu kommen, um mein Herz zu erfreuen, und hoffte, dass ihr zweiter Besuch nicht der letzte gewesen war.»

Sie trinkt den Tee und denkt an den Tag zurück, als sie auf Umwegen über Diener und Verwandte die Nachricht erhielt, das Familienoberhaupt der Ogawas habe seinem Sohn untersagt, Doktor Aibagawas Tochter zu heiraten. Im neuen Jahr erfuhr sie dann, dass Dolmetscher Ogawa sich mit einer anderen Frau vermählt hatte. «Trotz dieser unglücklichen Wendung», Otane schürt das Feuer, «vergaß mich Fräulein Aibagawa nicht. Sie schickte mir einen Schal aus wärmster fremdländischer Wolle, als Neujahrsgeschenk.»

Der Hund windet sich auf dem Rücken, weil ihn die Flohstiche jucken.

Otane erinnert sich an den Besuch im vergangenen Sommer, der sonderbarste von Fräulein Aibagawas drei Ausflügen nach Kurozane. Zwei Wochen zuvor, als die Azaleen blühten, hatte ein Salzhändler in der Harubayashi-Herberge berichtet, Doktor Aibagawas Tochter hätte dem totgeborenen Kind von Statthalter Shiroyama durch ein «niederländisches Wunder» Leben eingehaucht. Als sie schließlich kam, wanderte das halbe Dorf hinauf zu Otanes Haus, in der Hoffnung auf weitere Wunder. «Medizin ist Wissen», erklärte Fräulein Aibagawa den Dorfbewohnern, «und keine Zauberei.» Sie gab den Leuten Ratschläge, und die Leute bedankten sich, aber sie zogen enttäuscht davon. Als die beiden allein waren, vertraute ihr die junge Frau an, sie habe ein schwieriges Jahr hinter sich. Ihr Vater war krank gewesen, und dass sie sorgfältig vermied, Ogawa den Dolmetscher zu erwähnen, zeugte von einem tief verletzten Herzen. Erfreulich war hingegen, dass der dankbare Statthalter ihr die Erlaubnis erteilt hatte, beim niederländischen Arzt auf Dejima zu studieren. «Ich muss wohl sehr besorgt ausgesehen haben.» Otane streichelt die Katze. «Man hört so viele Geschichten über Fremdländer. Aber sie versicherte mir, dass der niederländische Arzt ein hervorragender Lehrer sei und dass sogar Fürstabt Enomoto seinen Namen kenne.»

Neben dem Rauchfang schlagen Flügel.

Dann, vor sechs Wochen, erreichte Otane die schrecklichste Nachricht der letzten Zeit.

Fräulein Aibagawa sollte Ordensschwester im Shiranui-Schrein werden.

 

Am Abend bevor Fräulein Aibagawa auf den Berg gebracht wurde, wollte Otane sie in der Harubayashi-Herberge besuchen, aber weder ihre Freundschaft mit der Samuraitochter noch die Arzneien, mit denen Otane den Schrein zweimal jährlich belieferte, konnten den Mönch dazu bewegen, sich über das Verbot hinwegzusetzen. Nicht einmal einen Brief durfte sie hinterlassen. Man sagte ihr, die jüngste der Schwestern hätte für die nächsten zwanzig Jahre mit der Unteren Welt nichts zu schaffen. Was für ein Leben, denkt Otane, wird sie dort führen? «Niemand weiß es», murmelt sie vor sich hin, «und das macht mir Sorgen.»

Sie zählt das wenige auf, das über den Shiranui-Schrein bekannt ist.

Er ist der geistliche Sitz von Fürstabt Enomoto, dem Daimyō des Lehens Kyōga.

Die Göttin des Schreins sorgt dafür, dass die Flüsse und Reisfelder Kyōgas fruchtbar bleiben.

Niemand darf den Schrein betreten außer den Meistern und Novizen des Ordens.

Insgesamt leben dort ungefähr sechzig Mönche und etwa zwölf Schwestern. Die Schwestern wohnen in einem eigenen Haus innerhalb der Schreinmauern, beaufsichtigt von einer Äbtissin. Die Diener der Harubayashi-Herberge berichten von Verunstaltungen und Gebrechen, die so schrecklich sind, dass die meisten Mädchen verdammt wären zu einem Leben als Sensation in einem Bordell, und sie preisen Abt Enomoto dafür, dass er diesen Unglückseligen ein besseres Leben schenkt...

... ein besseres Leben, denkt Otane beunruhigt, für die Tochter eines Arztes und Samurai?

«Mit einem verbrannten Gesicht ist es schwieriger, einen Mann zu finden», murmelt sie, «aber nicht unmöglich ...»

Das spärliche Wissen ist Nährboden für zahlreiche Gerüchte. Viele Dorfbewohner haben gehört, dass ehemalige Shiranui-Schwestern bis zu ihrem Tod Unterkunft und Ruhegeld erhalten, da die pensionierten Nonnen aber nie in Kurozane haltmachen, hat auch noch nie jemand mit einer gesprochen. Buntarō, der Sohn des Schmieds, der am Mitteltor in der Mekura-Klamm Wache hält, behauptet, dass Meister Kinten die Mönche zu Mördern ausbilde und dass der Schrein sich deshalb so verschlossen gebe. Ein kokettes Zimmermädchen in der Herberge war einmal einem Jäger begegnet, der beteuerte, er habe geflügelte Ungeheuer in Nonnentracht gesehen, die um den Kahlen Gipfel des Shiranui geflogen wären. Erst heute Nachmittag hatte die Schwiegermutter von Otanes Nichte gesagt, der Samen der Mönche sei so fruchtbar wie der anderer Männer, und sich gleich darauf erkundigt, wie viele Scheffel «Engelmacherkräuter» Meister Suzaku denn bei Otane bestellt habe. «Gar keine», hatte diese wahrheitsgemäß geantwortet, und erst dann war ihr aufgegangen, dass die Schwiegermutter wohl genau das hatte herausfinden wollen.

Die Dorfbewohner stellen Mutmaßungen an, aber sie hüten sich davor, nach Antworten zu suchen. Sie sind stolz auf die Verbindung mit dem einsiedlerischen Kloster, und sie leben davon, es mit Nahrungsmitteln zu versorgen: Zu viele Fragen zu stellen würde bedeuten, einem großzügigen Geldgeber in die Hand zu beißen. Wahrscheinlich sind die Mönche tatsächlich nur Mönche, denkt Otane hoffnungsvoll, und die Schwestern leben wie Nonnen ...

Sie hört das uralte Schweigen von fallendem Schnee.

«Nein», sagt Otane zu der Katze. «Wir können nichts weiter tun, als die Mutter Gottes darum zu bitten, sie zu beschützen.»

 

Der Holzkasten, der in die Wand aus Lehm und Bambus eingelassen ist, sieht aus wie ein gewöhnlicher Hausaltar. Darin stehen die Tafeln mit den Namen von Otanes verstorbenen Eltern und eine angestoßene Vase mit ein paar grünen Zweigen. Nachdem sie sich zweimal vergewissert hat, dass der Türriegel vorgelegt ist, nimmt Otane die Vase aus dem Kasten und schiebt die Rückwand hoch. An diesem kleinen, geheimen Ort steht der wahre Schatz von Otanes Haus und ihrer Familie: eine weiß glasierte, von dunklen Rissen durchzogene Figur mit blauem Schleier. Es ist Maria-sama, die Mutter Jesu-samas und Königin des Himmels, vor langer Zeit so gefertigt, dass sie Kannon, der Göttin des Mitgefühls, ähnelt. Sie hält ein Kind in den Armen. Der Großvater von Otanes Großvater, heißt es, bekam sie von einem Heiligen namens Xavier geschenkt, der auf einem fliegenden, von goldenen Schwänen gezogenen Zauberschiff aus dem Paradies nach Japan segelte.

Otane geht vor dem Altar auf die schmerzenden Knie, in den Händen einen Rosenkranz aus Eicheln.

«Heilige Maria-sama, Mutter Adans und Ewas, die Deusu-donos heilige Persimone gestohlen hat; Maria-sama, Mutter Pappa Marujis mit seinen sechs Söhnen in sechs Kanus, der die große Sintflut überlebte, die alle Länder reinigte; Maria, Mutter Iesu-samas, der für vierhundert Silbermünzen gekreuzigt wurde; Maria-sama, erhöre mein ...»

War das ein Zweig, Otane hält den Atem an, der unter den Schritten eines Mannes knackt?

Die meisten der ältesten zehn oder zwölf Familien in Kurozane sind wie Otanes Familie verborgene Christen, aber dennoch muss sie beständig auf der Hut sein. Niemand würde sie ihres silbergrauen Haares wegen begnadigen, wenn man ihren Glauben entdeckte; die einzige Möglichkeit, die Hinrichtung in eine Ausweisung aus dem Land umzuwandeln, wäre, ihrem Glauben abzuschwören und andere Christen zu verraten, aber dann würden San Peitoro und San Pauro sie an der Pforte zum Paradies abweisen, und wenn das Meerwasser sich in Öl verwandelt und die Welt in Flammen aufgeht, würde sie hinunter in die Hölle, genannt Benbō, stürzen.

Die Kräuterheilerin ist sicher, dass niemand draußen ist. «Mutter Gottes, hier bin ich, Otane aus Kurozane. Wieder einmal bitte ich altes Weib Unsere Liebe Frau, über Fräulein Aibagawa im Shiranui-Schrein zu wachen, sie vor Krankheiten und bösen Geistern zu schützen ... und gefährliche Männer von ihr fernzuhalten. Bitte gib ihr zurück, was man ihr genommen hat.»

Kein Gerücht, denkt Otane, hat je von einer freigelassenen jungen Nonne erzählt.

«Aber wenn das alte Weib zu viel von Maria-sama verlangt ...»

Der Schmerz in Otanes steifen Knien breitet sich auf Hüften und Fußgelenke aus.

«... dann richte Fräulein Aibagawa bitte aus, dass ihre Freundin Otane aus Kurozane glaubt ...»

Es klopft an der Tür. Otane stockt der Atem. Der Hund ist aufgestanden und knurrt ...

Beim zweiten Klopfen schiebt Otane die hölzerne Trennwand herunter.

Der Hund bellt. Sie hört eine Männerstimme. Eilig bringt sie den Altar in Ordnung.

Beim dritten Klopfen geht sie zur Tür und ruft: «Hier gibt es nichts zu stehlen.»

«Ist hier», fragt eine schwache Männerstimme, «das Haus von Otane der Kräuterheilerin?»

«Darf ich meinen ehrenwerten Gast zu dieser späten Stunde bitten, seinen Namen zu nennen?»

«Früher», sagt der Besucher, «nannte man mich Jiritsu aus Akatokiyamu ...»

Otane ist überrascht, den Namen von Meister Suzakus Novizen zu hören.

Ob Maria-sama, denkt sie, ihre Hände im Spiel hat?

«Wir begegnen uns zweimal jährlich an der Schreinpforte.»

Sie öffnet die Tür. Vor ihr steht eine verschneite Gestalt mit Bambushut und dicker Bergwandererkleidung. Er stolpert über die Türschwelle, und Schnee wirbelt ins Haus. «Setzt Euch ans Feuer, Novize.» Otane schließt schnell die Tür. «Die Nacht ist eisig.» Sie führt ihn zu einem Holzblock, der als Hocker dient.

Er befreit sich umständlich von Hut und Kapuze und bindet sich die Wanderstiefel auf.

Er ist erschöpft, das Gesicht angespannt, und seine Augen sind nicht von dieser Welt.

Fragen haben Zeit bis später, denkt Otane. Zuerst muss er sich aufwärmen.

Sie schenkt ihm Tee ein und legt seine steifgefrorenen Finger um die Schale.

Dann löst sie das feuchte Mönchsgewand und legt ihm ihren Wollschal um die Schultern.

Seine Kehle macht beim Trinken ein knirschendes Geräusch.

Vielleicht hat er Pflanzen gesammelt, denkt Otane, oder in einer Höhle meditiert.

Sie macht sich daran, den Rest der Suppe aufzuwärmen. Beide sprechen nicht ein Wort.

 

«Ich bin vom Berg Shiranui geflohen», platzt es plötzlich aus Jiritsu heraus. «Ich habe meinen Eid gebrochen.»

Otane ist verblüfft, aber ein falsches Wort könnte ihn verstummen lassen.

«Meine Hand, diese Hand, mein Pinsel: Sie wussten es, bevor ich selbst es wusste.»

Sie zerstößt ein Stück Yogiwurzel und wartet, dass seine Worte einen Sinn ergeben.

«Ich habe mich auf den ... den Unsterblichen Weg eingelassen, aber sein wahrer Name ist ‹Sünde›.»

Das Feuer knistert, die Tiere atmen, Schneeflocken rieseln.

Jiritsu hustet, als müsste er nach Luft ringen. «Sie sieht so weit! So unendlich weit ... Mein Vater war ein Tabakverkäufer und Spieler aus Sakai. Wir standen nur eine Stufe über den Ausgestoßenen ... und als es eines Abends schlecht beim Kartenspiel lief, verkaufte er mich an einen Gerber. Einen Unberührbaren. Ich verlor meinen Namen und schlief über dem Schlachthaus. Viele, viele Jahre lang schlitzte ich Pferdegurgeln auf, um mir mein Essen zu verdienen. Ratsch ... ratsch ... ratsch. Die Söhne des Gerbers quälten mich so sehr, dass ich mich danach sehnte, jemand würde ... mir die Gurgel durchschneiden. Im Winter spendete der Kessel, in dem ich Leim aus Knochen kochte, die einzige Wärme. Im Sommer flogen uns die Fliegen in die Augen und in den Mund, und wir kratzten getrocknetes Blut und schleimigen Kot vom Boden und vermischten beides mit Seetang aus Ezo zu Dünger. So wie dort muss es in der Hölle riechen ...»

Der Dachstuhl knarrt. Schnee türmt sich auf.

«Am Neujahrstag kletterte ich über die Mauer, die das Eta-Dorf umschloss, und floh nach Osaka, aber der Gerber schickte mir zwei Männer hinterher, die mich zurückholen sollten. Sie unterschätzten, wie geschickt ich mit dem Messer bin. Niemand sah es, nur sie ... Sie zog mich zu sich ... Tag für Tag für Gerücht für Wegscheide für Traum für Monat für Biegung. Sie trieb mich nach Westen, immer weiter ... über die Meerenge ins Lehen Hizen, von dort ins Lehen Kyōga ... und ...» Jiritsu blickt an die Decke, vielleicht bis zum Gipfel des Berges.

«Spricht Novize-sama ...», Otane dreht den Stößel, «... von jemandem aus dem Schrein?»

«Sie benutzt sie alle ...», Jiritsu stiert durch sie hindurch, «... so wie ein Zimmermann seine Säge.»

«Dann versteht das dumme alte Weib nicht, wer mit dieser ‹Sie› gemeint ist.»

Jiritsus Augen füllen sich mit Tränen. «Sind wir denn nicht mehr als die Gesamtheit unserer Taten?»

Otane entscheidet sich, offen zu sprechen. «Novize-sama, habt Ihr im Shiranui-Schrein Fräulein Aibagawa gesehen?»

Er blinzelt, und sein Blick wird klarer. «Die Jüngste Schwester. Ja.»

«Ist sie ...», Otane weiß nicht recht, was sie fragen soll, «... ist sie gesund?»

Er stößt ein tiefes, trauriges Summen aus. «Die Pferde wussten, dass ich sie töten würde.»

«Wie ...», Otanes Stößel steht still, «... behandelt man Fräulein Aibagawa?»

«Wenn sie mich hört», Jiritsu starrt wieder ins Leere, «bohrt sie seinen Finger durch mein Herz ... morgen ... werde ich von diesem Ort erzählen - nachts hört sie zu gut. Morgen bin ich schon auf dem Weg nach Nagasaki. Ich ... ich ... ich ... ich ...»

Ingwer für den Kreislauf Otane geht zum Arzneischrank, Mutterkraut gegen den Fieberwahn.

«Meine Hand, mein Pinsel: Sie wussten es, bevor ich selbst es wusste.» Jiritsus matte Stimme folgt ihr. «Vor drei Nächten, es kann auch vor drei Zeitaltern gewesen sein, saß ich in der Schreibstube und verfasste den Brief einer Gabe. Die Briefe sind ein minderschweres Vergehen, Genmu nennt sie ‹Briefe der Barmherzigkeit› ... aber ... aber ich verließ meinen Körper, und als ich zurückkehrte, hatte meine Hand, hatte mein Pinsel ...», er zuckt zusammen und flüstert: «... hatte ich die Zwölf Gebote aufgeschrieben. Schwarze Tinte auf weißem Pergament! Sie auszusprechen, ist schon eine Gotteslästerung, außer für Meister Genmu und den Fürstabt, aber sie niederzuschreiben, damit das Auge eines Laien sie lesen kann ... Sie muss mit etwas anderem beschäftigt gewesen sein, sonst hätte sie mich sofort getötet. Meister Yōten ging direkt hinter mir vorbei ... Starr las ich die Zwölf Gebote, und zum ersten Mal erkannte ich, dass ... das Schlachthaus in Saki dagegen das Paradies gewesen war.»

Otane zerstößt Ingwer. Sie versteht nur wenig, aber ihr wird kalt ums Herz.

Jiritsu zieht einen Schriftrollenbehälter aus Hartriegelholz aus seinem Untergewand. «Es gibt ein paar wenige mächtige Männer in Nagasaki, die Enomoto noch nicht gehören. Vielleicht erweist sich Statthalter Shirovama als ein Mensch mit Gewissen ... und Äbte von rivalisierenden Orden lauern erwartungsvoll auf schreckliche Enthüllungen, und das hier ...», er blickt stimrunzelnd auf den Behälter, «... ist schrecklicher als schrecklich.»

«Dann beabsichtigt Novize-sama», fragt Otane, «nach Nagasaki zu gehen?»

«Nach Osten.» Der gealterte junge Mann blickt suchend im Raum umher. «Kinten wird mich verfolgen.»

«Um Novize-sama zu überreden», sagt sie hoffnungsvoll, «in den Schrein zurückzukehren?»

Jiritsu schüttelt den Kopf. «Der Weg für diejenigen, die ... sich abwenden, ist vorgezeichnet.»

Otane sieht hinüber zu ihrem unbeleuchteten Butsudan-Altar. «Versteckt Euch hier.»

Der Novize blickt durch gespreizte Finger ins Feuer. «Als ich durch den Schnee stolperte, dachte ich: Otane aus Kurozane wird mir Unterschlupf gewähren ...»

«Die alte Frau ist froh ...», Ratten scharren im Dachstroh, «... ist froh, dass Ihr so denkt.»

«...für eine Nacht. Bleibe ich auch nur eine Nacht länger, wird Kinten uns beide töten.»

Er sagt es ganz nüchtern, wie jemand, der eine simple Feststellung macht.

Feuer verzehrt Holz, denkt Otane, und die Zeit verzehrt uns.

«Vater nannte mich ‹Junge›», sagt er. «Der Gerber nannte mich ‹Hund›. Meister Genmu nannte seinen neuen Novizen ‹Jiritsu›. Wie heiße ich jetzt?»

«Erinnert Ihr euch noch», fragt sie, «wie Eure Mutter euch genannt hat?»

«Im Schlachthaus träumte ich oft von einer ... mütterlichen Frau, die mich Mohei nannte.»

«Das ist sie bestimmt gewesen.» Otane gießt Tee über das Pulver. «Trinkt.»

«Wenn Fürst Enma mich für sein Höllenbuch nach meinem Namen fragt ...», der Flüchtling nimmt die Schale entgegen, «... werde ich Folgendes sagen: ‹Mohei, der Abtrünnige›.»

Otanes Träume handeln von geschuppten Flügeln, entsetzlicher Blindheit und fernem Klopfen. Sie erwacht unter ihrer Hanfdecke, auf Stroh und Federn. Ihre Wangen und die Nase sind taub vor Kälte. Im schneeblauen Tageslicht, das durch die Fensterritzen sickert, sieht sie Mohei, der zusammengerollt vor dem fast verloschenen Feuer liegt, und auf einmal fällt ihr alles wieder ein. Sie beobachtet ihn eine Weile, unsicher, ob er wach ist oder schläft. Die Katze kriecht unter dem Schal hervor und kommt herüber zu ihr, die sich das nächtliche Gespräch ins Gedächtnis ruft. Sie versucht, Fieberwahn und Einbildung von Hinweisen auf die Wahrheit zu trennen. Er ist vor derselben Sache davongelaufen, entscheidet sie, die Fräulein Aibagawa bedroht ...

Die Lösung befindet sich in der Schatulle. Sie liegt in seiner Hand.

... und vielleicht, denkt Otane, ist er Maria-samas Antwort auf meine Gebete.

Sie könnte ihn überreden, noch einige Tage zu bleiben, bis die Verfolger die Suche aufgeben.

Unterm Dach ist genug Platz für ein Versteck, denkt sie, falls jemand kommt ...

Sie seufzt eine weiße Atemwolke in die Kälte. Die Katze stößt kleinere Wolken aus.

«Gelobet sei Deusu im Himmel», betet sie stumm, «für diesen neuen Tag.»

Auch aus der feuchten Nase des schlafenden Hundes steigen fahle Wölkchen.

Nur Mohei, eingemummelt in den warmen, fremdländischen Schal, zeigt nicht die geringste Regung.

Otane begreift. Er atmet nicht mehr.