XXVIII

Kapitän Penhaligons Kajüte an Bord der Phoebus, Ostchinesisches Meer
Gegen drei Uhr am 16. Oktober 1800
Und so [liest John Penhaligon] ist also das japanische Reich durch die Natur selbst zu einer eigenen kleinen Welt von allen Ländern abgesondert, befestigt, und mit allen Bedürfnissen des Lebens so versorgt, dass es ganz für sich allein, ohne Hülfe andrer Nationen, bestehen kann ...
Der Kapitän gähnt, und sein Kiefer knackt. Nach Leutnant Hovells Worten ist Engelbert Kaempfers Buch trotz seines Alters immer noch die beste Beschreibung Japans, doch wenn Penhaligon sich mühsam bis zum Ende eines Satzes durchgekämpft hat, ist ihm der Anfang schon entfallen. Durch das Heckfenster beobachtet er den unheilvollen, bewegten Horizont. Der Walzahn, der ihm als Briefbeschwerer dient, rollt vom Tisch, und an Deck erteilt Wetz, der Navigator, den Befehl, die Bramsegel zu trimmen. Nicht zu früh, denkt der Kapitän. Heute Morgen schimmerte das Gelbe Meer noch blau wie das Ei eines Rotkehlchens - jetzt ist es schmutzig grau, und der Himmel ist trüb und fleckig wie angelaufenes Zinn.
Wo bleibt nur Chigwin, denkt er, und wo bleibt verdammt noch mal mein Kaffee?
Er hebt den Briefbeschwerer auf und verspürt einen stechenden Schmerz im rechten Knöchel.
Er blickt zum Barometer. Die Nadel steht auf «Veränderlich».
Der Kapitän wendet sich wieder Engelbert Kaempfer zu, um einen Denkfehler aufs Korn zu nehmen: Die Formulierung «mit allen Bedürfnissen des Lebens» impliziert, dass die Bedürfnisse aller Menschen gleich sind, doch in Wahrheit unterscheiden sich die Bedürfnisse eines Königs so grundlegend von denen eines Reetschneiders, wie die eines Freigeistes von denen eines Erzbischofs oder wie seine eigenen Bedürfnisse sich von denen seines Großvaters unterscheiden. Er klappt sein Notizbuch auf und schreibt, während er sich gegen den Seegang stemmt:
Welcher prophetische Handelsherr hätte, sagen wir im Jahr 1700, vorhersehen können, dass der einfache Bürger einst Tee und Zucker in rauen Mengen konsumieren wird? Welcher Untertan Williams und Marys hätte das «Bedürfnis» des Volkes nach baumwollenen Betttüchern, Kaffee und Schokolade vorausahnen können? Die Ansprüche der Menschen unterliegen der jeweils herrschenden Mode, und indem neue, lautstark angepriesene Bedürfnisse die alten verdrängen, verändert die Welt ihr Gesicht ...
Es ist zu stürmisch, um weiterzuschreiben, aber John Penhaligon ist zufrieden, und auch die Gicht hat sich einstweilen beruhigt. Eine Goldader. Er nimmt den Rasierspiegel aus dem Sekretär. Der Mann im Spiegel ist durch süßes Backwerk fett geworden, das Gesicht ist vom Brandy gerötet, Gram hat seine Augen ausgehöhlt, und Stürme haben ihm den Schopf vom Haupt gepustet, aber was stellt die Lebenskraft eines Mannes - und seinen Ruf - besser wieder her als der Erfolg?
Er probt seine erste Rede vor dem Parlament. «Man bedenke, dass es sich bei der Phoebus», wird er den entzückten Lords erklären, «man bedenke, dass es sich bei meiner Phoebus nicht um ein gewaltiges, mit donnernden Kanonen bestücktes Linienschiff handelte, sondern um eine bescheidene Fregatte mit vierundzwanzig 18-Pfündern. Der Kreuzmast war in der Formosastraße geborsten, das Tauwerk ausgefranst, die Segel zerschlissen, die Hälfte unserer Vorräte aus Fort Cornwallis waren verfault, und die altersschwache Pumpe keuchte wie mein lieber Freund Lord Falmouth auf seiner schmollenden Hure - und das ebenso ertraglos ...», der Saal wird toben vor Gelächter, während sein alter Erzfeind sich vor Scham in seinen Hermelinbau flüchtet. «Aber ihr Herz, Mylords, war aus englischer Eiche geschnitzt, und als wir an die verschlossenen Tore Japans klopften, geschah dies mit der Entschlossenheit, für die unser Volk zu Recht berühmt ist.» Die Lords werden ehrfurchtsvoll verstummen. «Das Kupfer, das wir den hinterlistigen Niederländern an jenem Oktobertag abnahmen, war nur ein Andenken. Der wahre Gewinn, verehrte Herren - und das Vermächtnis der Phoebus -, war ein Markt für die Früchte Ihrer Mühlen, Minen, Pflanzungen und Manufakturen sowie die Dankbarkeit des japanischen Reiches, weil wir es aus dem Tiefschlaf der Feudalherrschaft geweckt und in unser modernes Jahrhundert geholt hatten. Es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass meine Phoebus die politische Landkarte Ostasiens neu gezeichnet hat.» Die Lords nicken mit wirren Köpfen und rufen: «Bravo! Sehr richtig!» Lord Admiral Penhaligon fährt fort: «Diese erlauchte Kammer kennt die vielfältigen Mittel historischen Wandels: die geschliffene Sprache der Diplomatie, das Gift des Verrats, die Gnade des Monarchen, die Tyrannei des Papstes ...»
Mein Gott, denkt Penhaligon, das ist wirklich gut. Ich muss es später niederschreiben.
«... und es ist fürwahr die größte Ehre meines Lebens, dass im ersten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts eine Fregatte Seiner Majestät, die tapfere Phoebus, von der Geschichte auserwählt wurde, die Tür zum verschlossensten Reich der modernen Welt zu öffnen - zum Ruhme Seiner Majestät und des britischen Empires!» Spätestens jetzt wird jeder Perückenträger, ob Whig, Tory oder Parteiloser, Bischof, General oder Admiral, von seinem Sitz aufspringen und lautstark applaudieren.
«Cap-», Chigwin niest draußen vor der Tür, «-tain?»
«Du störst mich hoffentlich, um Kaffee zu bringen, Chigwin.»
Sein junger Steward, Sohn eines Schiffbauermeisters in Chatham, der von Schulden erdrückt wurde, späht in die Kajüte. «Jones mahlt gerade die Bohnen, Sir: Der Koch hatte große Mühe, das Herdfeuer in Gang zu halten.»
«Ich hatte Kaffee bestellt, Chigwin, nicht einen Haufen Ausreden!»
«Jawohl, Sir: Verzeihung, Sir. Der Kaffee müsste gleich fertig sein ...», auf Chigwins Ärmel glitzert Schleim, «... aber die Felsen, von denen Mr. Snitker sprach, wurden steuerbords gesichtet, und Mr. Hovell meinte, Sie würden sie sich vielleicht gerne ansehen.»
Reiß dem Jungen nicht den Kopf ab. «Ja, das sollte ich wohl tun.»
«Haben Sie Anweisungen für das Abendessen, Sir?»
«Die Offiziere und Mr. Snitker speisen heute Abend mit mir. Bitten Sie ...»
Die Phoebus taucht in ein Wellental, und beide halten sich fest.
«... Jones, uns die Hühner aufzutischen, die keine Eier mehr legen. Auf meinem Schiff ist kein Platz für Faulenzer, auch nicht für gefiederte.»
Penhaligon steigt schwerfällig den Niedergang hinauf. Auf dem Spardeck peitscht ihm der Wind ins Gesicht, und seine Lungenflügel blähen sich wie neue Blasebalge. Wetz steht am Steuerrad und hält einer schwankenden Traube Kadetten einen Vortrag über störrische Ruderpinnen bei schwerer See. Sie salutieren dem Kapitän, der gegen den Wind anschreit: «Wie sind die Wetteraussichten, Mr. Wetz?»
«Die gute Nachricht ist, dass die Wolken im Westen auseinandertreiben, Sir. Die schlechte Nachricht ist, der Wind hat leicht nach Norden gedreht und weht um ein paar Knoten stärker. Und was die Pumpe betrifft, Sir, Mr. O’Loughlan baut gerade eine neue Kette, aber er glaubt, dass es ein neues Leck gibt - die Ratten haben sich über das hintere Pulvermagazin hergemacht.»
Wenn sie nicht unsern Proviant auffressen, denkt Penhaligon, fressen sie mein Schiff.
«Der Bootsmann soll eine Rattenjagd veranstalten. Für zehn Schwänze gibt es eine Extraration Rum.»
Wetz niest und besprüht einen in Windrichtung stehenden Kadetten. «Die Männer werden ihre Freude daran haben.»
Penhaligon geht über das schwankende Achterdeck. Es ist ungewohnt schmutzig: Snitker bezweifelt zwar, dass die japanischen Beobachtungsposten ein verwahrlostes Yankee-Handelsschiff von einer Fregatte der Royal Navy mit geschwärzten Stückpforten unterscheiden können, aber der Kapitän hält nichts für unmöglich. Leutnant Hovell steht mit dem abgesetzten ehemaligen Faktor an der Heckreling. Er spürt, dass der Kapitän auf sie zukommt, dreht sich um und salutiert.
Snitker nickt ihm zu, wie ein Gleichrangiger, und zeigt auf die kleine Felseninsel, die in sicherer Entfernung von vier-, fünfhundert Metern zügig vorbeizieht. «Torinoshima.»
Torinoshima, Captain, denkt Penhaligon und richtet den Blick auf die Insel. Torinoshima, mehr großer Felsen als kleines Gibraltar, ist gepflastert mit Guano und belagert von kreischenden Meeresvögeln. Die Insel besteht rundherum aus Steilküste, bis auf ein schmales Geröllfeld an der Leeseite, wo ein mutiges Schiff vielleicht vor Anker gehen könnte. Penhaligon wendet sich an Hovell. «Fragen Sie unseren Gast, ob ihm bekannt ist, dass hier je ein Schiff angelegt hätte.»
Snitker benötigt mehrere Sätze für die Antwort.
Was für eine kehlige, blubbernde Sprache das Niederländische doch ist, denkt Penhaligon.
«Er glaubt, nein, Sir: Er hat noch nie von einem Landeversuch gehört.»
«Seine Antwort war ausführlicher.»
«‹Nur ein starrsinniger Dummkopf würde sein großes Beiboot aufs Spiel setzen›, Sir.»
«Ich bin nicht zart besaitet, Mr. Hovell. Übersetzen Sie in Zukunft vollständig.»
Der Leutnant macht ein betretenes Gesicht. «Ich bitte um Verzeihung, Captain.»
«Fragen Sie ihn, ob Holland oder eine andere Nation Anspruch auf Torinoshima erhebt.»
Snitkers Antwort enthält das Wort «Shōgun» und ein höhnisches Grinsen.
«Unser Gast empfiehlt», übersetzt Hovell, «dass wir uns mit dem Shōgun beraten, bevor wir den Union Jack in Vogelscheiße stecken.» Snitker fährt fort. Hovell hört aufmerksam zu und fragt ein-, zweimal nach. «Des Weiteren sagt Mr. Snitker, dass Torinoshima gemeinhin als Wegweiser nach Japan gilt. Wenn der Wind weiter so bläst, bekommen wir morgen die ‹Gartenmauer› zu Gesicht, die Goto-Inseln, die wie Nagasaki zum Herrschaftsbereich des Fürsten von Hizen gehören.»
«Fragen Sie ihn, ob die Niederländische Kompanie je auf den Goto-Inseln vor Anker gegangen ist.»
Diese Frage bedarf einer längeren Antwort.
«Er sagt, die Kapitäne der Kompanie hätten davon abgesehen ...»
Die Phoebus stampft und bockt, und die drei Männer halten sich an der Reling fest.
«... hätten davon abgesehen, die Behörden auf derart offene Weise zu provozieren, da auf den Inseln ...»
Ein Schwall Gischt spritzt über den Bug; ein durchnässter Matrose flucht auf Walisisch.
«... da dort noch versteckte Christen leben und jede Bewegung von ...»
Einer der Kadetten stürzt mit einem Aufschrei den Niedergang hinunter.
«... von Regierungsspitzeln überwacht wird. Es werden sich uns auch keine Proviantschiffe nähern, denn die Seeleute müssen befürchten, dass sie samt ihren Familien wegen Schmuggelei hingerichtet werden.»
Mit jedem Stampfen des Schiffes verschwindet Torinoshima weiter in der Ferne. Der Kapitän, sein Leutnant und der Verräter geben sich schweigend ihren Gedanken hin. Sturmvögel und Seeschwalben schweben am Himmel und stoßen herab. Die Schiffsglocke schlägt das Ende der ersten Hundewache, und die Männer der Backbordwache kommen unverzüglich an Deck: Es hat sich herumgesprochen, dass der Kapitän draußen ist. Die abgelösten Männer verschwinden für zwei Stunden Freiwache unter Deck.
Am südlichen Horizont schlägt der Himmel ein bernsteingelbes Auge auf.
«Da, Sir!», ruft Hovell begeistert wie ein Kind. «Zwei Delphine!»
Penhaligon sieht nur wogende schieferblaue Wellen. «Wo?»
«Noch einer! Ein herrliches Tier!» Hovell zeigt aufs Wasser, setzt zu einem weiteren Ausruf an und sagt enttäuscht: «Jetzt sind sie weg.»
«Dann bis zum Abendessen», sagt Penhaligon und entfernt sich.
«Ah, Abendessen», wiederholt Snitker auf Englisch und vollführt eine Trinkgeste.
Gib mir Geduld, Penhaligon lächelt gequält, und Kaffee.
Der Proviantmeister hat den Tagesverbrauch aufgerechnet und verlässt die Kajüte. Seine dröhnende Stimme und der Leichenhausgeruch seines Atems haben Penhaligon Kopfschmerzen beschert, die sich mit dem Schmerz in seinem Knöchel messen können. «Nur eines ist schlimmer, als mit einem Proviantmeister zu verhandeln», hatte sein einstiger Förderer Kapitän Golding ihn vor vielen Jahren gelehrt. «Ein Proviantmeister zu sein! Jede Gemeinschaft braucht einen Buhmann. Seien Sie froh, wenn der Hass sich gegen ihn und nicht gegen Sie richtet.»
Penhaligon trinkt die schlickige Neige in seiner Kaffeetasse. Kaffee schärft meinen Verstand, denkt er, aber er brennt mir im Magen und stärkt meinen alten Feind. Seit sie die Prince-of-Wales-Insel verlassen haben, lässt sich die unliebsame Wahrheit nicht mehr leugnen: Die Gicht hat zum zweiten»Mal zugeschlagen. Der erste Schub ereilte ihn vergangenen Sommer in Bengalen: Die Hitze war mörderisch, und ebenso mörderisch waren die Schmerzen. Vierzehn Tage lang ertrug sein Fuß keinerlei Berührung, nicht einmal durch ein Baumwolllaken. Der erste Angriff der Krankheit lässt sich noch mit einem Lachen als Tribut an das Leben in der Marine abtun, aber beim zweiten besteht Gefahr, dass man als gichtkranker Kapitän abgestempelt wird, und das könnte seine Hoffnungen zerschlagen, in die Admiralität aufzusteigen. Hovell wird vielleicht Verdacht schöpfen, denkt Penhaligon, aber er wird es nicht wagen, ihn öffentlich zu äußern: Die Offiziersmessen der Marine sind voll mit Ersten Leutnants, die durch den frühen Tod ihres Protektors verwaist sind. Andererseits könnte sich Hovell von einem gesunden Förderer abwerben lassen und auf ein anderes Schiff wechseln, wodurch Penhaligon nicht nur seines besten Offiziers, sondern auch der Dankesschuld eines künftigen Kapitäns beraubt wäre. Sein Zweiter Leutnant, Abel Wren, der seit seiner Heirat mit Flottillenadmiral Joys gewissenloser Tochter über beste Verbindungen verfügt, wird sich bei diesen unerwarteten Karriereaussichten die Lippen lecken. Das heißt, folgert Penhaligon, ich befinde mich im Wettlauf gegen meine Gicht. Gelingt es mir, den Niederländern ihr Kupfer abzujagen, bevor die Gicht mich niederstreckt - und ich bitte dich, lieber Gott, stemme Nagasakis Schatztruhen für mich auf -, ist meine finanzielle und politische Zukunft gesichert. Andernfalls werden Hovell oder Wren den Ruhm einheimsen, dass die Engländer sich das Kupfer und die Handelsniederlassung geschnappt haben - oder aber das gesamte Vorhaben misslingt, und John Penhaligon setzt sich, von der Welt vergessen, mit einer nur widerwillig und stets zu spät gezahlten Pension in der Provinz zur Ruhe. In düsteren Stunden ist mir, als habe Fortuna mich vor acht Jahren nur zum Kapitän gemacht, damit sie sich voller Wonne auf mich setzen und ihren Darm über mir entleeren kann. Zuerst verpfändet Charlie die Reste des Familienanwesens, häuft im Namen seines jüngeren Bruders Schulden an und verschwindet; dann setzt sich sein Finanzmakler und Bankier nach Virginia ab, dann stirbt Meredith, seine geliebte Meredith, an Typhus, und zuletzt fällt Tristram, der kraftstrotzende, lebensfrohe, angesehene, gutaussehende Tristram in der Schlacht bei Kap Vincent und hinterlässt seinem gramgebeugten Vater nur das Kruzifix, das der Schiffsarzt geborgen hat. Und nun kommt die Gicht, denkt er, und droht, auch noch meine Laufbahn zu zerstören ...
«Nein», Penhaligon greift nach dem Rasierspiegel. «Wir werden das Spiel zu unseren Gunsten wenden!»
Als der Kapitän die Kajüte verlässt, wird der Wachposten - sein Name ist Banes oder Panes - vom Schotten Walker, einem anderen Seesoldaten, abgelöst. Die beiden salutieren. Auf dem Batteriedeck kauern Waldron, der Hauptkanonier, und Moff Wesley, ein Junge aus Penzance, bei einer Kanone. Wegen der Dunkelheit und der tosenden See bemerken sie den lauschenden Kapitän nicht. «Wiederhol’s noch mal, Moff», sagt Waldron. «Erstens?»
«Mit dem nassen Schwabber das Rohr von innen auswischen, Sir.»
«Und wenn ein versoffener Esel sich dämlich dabei anstellt?»
«Dann bleibt glühende Asche vom letzten Schuss im Rohr, Sir, und wenn das nächste Mal geladen wird ...»
«... reißt es dem Kanonier die Arme weg: Ich hab’s einmal miterlebt, und das genügt. Zweitens?»
«Wir legen die Kartusche ein, Sir, oder wir schütten das Pulver lose rein.»
«Und wird das Schießpulver von kleinen hüpfenden Kobolden gebracht?»
«Nein, Sir: Ich hol’s aus dem hinteren Magazin, immer eine Ladung auf einmal.»
«Richtig, Moff. Und wir halten keinen großen Vorrat bereit, weil?»
«Weil ein einziger sprühender Funke uns den A-..., uns in Stücke reißen würde, Sir. Drittens ...», Moff zählt an den Fingern ab, «... rammen wir mit dem Ansetzer das Pulver fest, tun das Geschoss rein und drücken einen Stopfen obendrauf, Sir, weil, wenn das Schiff stampft, fällt die Kugel wieder raus und platscht ins Meer.»
«Und dann stehen wir da wie eine Mannschaft Franzmänner. Sechstens?»
«Die Kanone nach vorne schieben, bis die Lafette an das Schanzkleid stößt. Siebtens: Gänsekiel in den Zündkanal stecken. Achtens: Es wird mit dem Steinschloss gezündet, und der Zündkanonier ruft: ‹Feuer!› Dann setzt das Zündkraut das Pulver im Lauf in Brand, und der Schuss wird abgefeuert, und alles, was der Kugel in die Quere kommt, wird in die Luft gejagt, Sir.»
«Und die Lafette», wirft Penhaligon dazwischen, «tut was?»
Waldron ist ebenso erschrocken wie Moff: Er springt zum Gruß auf und stößt sich den Kopf an der Kanone. «Hab Sie gar nicht bemerkt, Captain, Verzeihung!»
«Und die Lafette», wiederholt Penhaligon, «tut was, Mr. Wesley?»
«Durch den Rückstoß läuft sie zurück, bis die Brooktaue sie auffangen.»
«Was geschieht, wenn eine zurücklaufende Kanone das Bein eines Matrosen trifft, Mr. Wesley?»
«Also ... dann ist von seinem Bein nicht mehr viel übrig, Sir.»
«Fahren Sie fort, Mr. Waldron.» Penhaligon hält sich an einem oberhalb laufenden Tau fest und setzt, in Gedanken an seine eigene Zeit als Pulveräffchen, seinen Gang am Schanzkleid fort. Mit seinen eins dreiundsiebzig ist er deutlich größer als der durchschnittliche Matrose, und er muss achtgeben, dass er sich in den niedrigen Decks nicht skalpiert. Er bedauert, dass er nicht über das nötige Privatvermögen oder Prisengeld verfügt, um Schwarzpulver für Schießübungen zu kaufen. Kapitäne, die mehr als ein Drittel ihres Kontingents zu diesem Zweck verwenden, gelten bei den Seelords als leichtsinnig. Sechs Hannoveraner, die er vor Saint Helena von einem Walfänger geholt hat, geben sich alle Mühe, bei dem stürmischen Wetter die überzähligen Hängematten zu waschen, auszuwringen und zum Trocknen aufzuhängen. Sie rufen im Chor: «Kepptn!», und setzen schweigend ihre Arbeit fort. Ein Stück weiter lässt Leutnant Wren ein paar Matrosen das Deck mit heißem Essig und Scheuersteinen schrubben. Das Oberdeck ist zur Tarnung geschwärzt, aber die übrigen Decks müssen vor Schimmel und schlechten Gerüchen geschützt werden. Wren schlägt einen Matrosen mit dem Rattanstock und brüllt: «Nicht streicheln, schrubben, du Mädchen!» Er tut so, als würde er den Kapitän erst jetzt bemerken, und grüßt. «Guten Tag, Sir!»
«Guten Tag, Mr. Wren. Alles bestens?»
«Könnte nicht besser sein, Sir!», antwortet der schneidige, aber hässliche Zweite Leutnant.
Penhaligon kommt zur abgeteilten Kombüse und späht durch einen Spalt im Segeltuch in den verrußten, dampfenden Raum. Die Stewards helfen dem Koch und dem Küchenjungen beim Schnippeln, schüren das Feuer und passen auf, dass die Töpfe nicht umkippen. Der Koch legt gepökeltes Schweinefleisch - Donnerstag ist Schweinefleischtag - in die brodelnde Brühe. Dann kommen Chinakohl, Yams und Reis hinzu, um den Eintopf anzudicken. Söhne des Landadels würden bei der salz- und stärkehaltigen Kost vielleicht die Nase rümpfen, aber Matrosen essen und trinken mehr als Landeier. Jonas Jones, Penhaligons Leibkoch, klatscht mehrmals in die Hände, bis die Männer in der Kombüse ihm Gehör schenken. «Die Einsätze sind gemacht, Leute.»
«Das heißt», ruft Chigwin, «das Spiel ist eröffnet!»
Chigwin und Jones greifen sich jeder ein Huhn und schütteln es, bis die Tiere in Panik geraten.
Rund ein Dutzend Männer rufen im Chor: «Und eins, und zwei, und drei!»
Chigwin und Jones schneiden den Hühnern mit Gartenscheren die Köpfe ab und stellen sie dann auf die Holzplanken. Die Männer feuern die blutspritzenden, kopflosen Tiere an, die flügelschlagend durch die Kombüse torkeln. Dreißig Sekunden später, Jones’ umgekipptes Huhn zuckt noch mit den Füßen, erklärt der Schiedsrichter Chigwins Gockel für tot. Münzen wandern von den finster Dreinblickenden in die Hände der diebisch Feixenden, und das Geflügel wird zum Rupfen und Ausnehmen auf den Tisch geworfen.
Penhaligon könnte das Küchenpersonal wegen respektlosen Umgangs mit Offiziersessen bestrafen, aber er geht weiter zum Lazarett. Die hölzernen Trennwände reichen nicht ganz bis zur Decke, damit Tageslicht hereinfällt und die nach Krankheit riechende Luft entweichen kann. «Nein, nein, nein, du Spatzenhirn, das geht so ...» Der Sprecher ist Michael Tozer, der ebenfalls aus Cornwall stammt und von Charlie, dem Bruder des Kapitäns, vor elf Jahren als Freiwilliger auf die Dragon geschickt wurde, die Brigg, auf der Penhaligon damals Zweiter Leutnant war. Tozer und seine zehn Kumpane - inzwischen alle taugliche Seeleute - sind ihrem Förderer seitdem treu gefolgt. Er krächzt mit brüchiger Stimme:
Siehst du nicht die Schiffe
kommen?
Stolz blähen sich die Segel überm Deck.
Siehst du nicht die Schiffe kommen
Mit fetten Prisen im Gepäck?
Ach, mein schwankender Seemann,
Ach, mein hübscher Mann vom Meer,
Wenn sie heiter sind und lustig,
Lieb ich die Matrosen sehr.
«Es heißt nicht ‹heiter›, Michael Tozer», widerspricht eine Stimme. «Es heißt ‹fröhlich›.»
«‹Heiter›, ‹fröhlich›, wen juckt das? Das Entscheidende kommt erst, also halt den Rand.»
Der Seemann schwimmt im
Zaster,
Soldaten müssen arm verrecken,
Ein blauer Seemann ist mein Laster,
Soldaten könn' am Arsch mich lecken.
Ach, mein schwankender Seemann,
Ach, mein hübscher Mann vom Meer,
Soldaten soll'n zur Hölle gehen,
Matrosen aber lieb ich sehr.
«So nämlich singen es die Huren in Gosport, und ich muss es wissen, weil, nach dem Glorreichen Ersten Juni habe ich einer meinen Stößel in die Feige -»
«Und am nächsten Morgen», sagt die Stimme, «war sie mit seinem Prisengeld getürmt.»
«Darum geht’s doch gar nicht: Es geht darum, dass wir ’n holländisches Handelsschiff aufbringen wollen, das voll ist mit dem rötesten, goldensten Kupfer auf Gottes schöner Erde.»
Kapitän Penhaligon betritt mit eingezogenem Kopf die Krankenstation. Die sechs bettlägerigen Patienten nehmen eine steife, schuldbewusste Körperhaltung ein, und der Schiffsarztgehilfe, ein pockennarbiger Londoner namens Rafferty, springt auf und stellt rasch die Schale mit den Pinzetten, Spaten und Knochenfeilen beiseite, die er gerade ölen wollte. «Tag, Sir: Der Arzt ist unten im Orlopdeck. Soll ich ihn holen lassen?»
«Nein, Mr. Rafferty: Ich mache nur meinen Rundgang. Geht es Ihnen besser, Mr. Tozer?»
«Kann nicht behaupten, dass meine Brust seit letzter Woche zusammengewachsen ist, aber ich bin schon froh, dass ich überhaupt am Leben bin. War ein hübscher Sturz so ohne Flügel. Und Mr. Waldron sagt, er findet einen Platz für mich an den Kanonen, also nehm ich’s als Gelegenheit, was Neues zu lernen.»
«Bravo, Tozer, das ist die richtige Einstellung.» Penhaligon wendet sich an Tozers jungen Nachbarn. «Jack Fletcher, richtig?»
«Verzeihung, Sir, Jack Thatcher.»
«Ich bitte um Verzeihung, Jack Thatcher. Und was führt Sie in die Krankenstation?»
Rafferty antwortet für den errötenden jungen Mann: «Reimt sich auf Diarrhö, Captain.»
«Ein Tripper? Sicher ein Andenken aus Penang. Wie weit fortgeschritten?»
Wieder übernimmt Rafferty das Antworten: «Seine Gießkanne ist rot wie die Mütze eines römischen Bischofs und sondert Käse ab, Sir. Auf einem Auge sieht er nur verschwommen, und das Pinkeln tut höllisch weh, hab ich recht, Jack? Sein Quecksilber hat er schon bekommen, aber der Hühnerstall bleibt wohl eine Weile geschlossen für ihn ...»
Schuld daran, denkt Penhaligon, ist die Marineführung, die den Matrosen die Behandlung von Geschlechtskrankheiten in Rechnung stellt und die Männer dadurch förmlich ermuntert, es mit den Hausmitteln jedes alten Seebären zu probieren, bevor sie sich an den Schiffsarzt wenden. Wenn ich ins Oberhaus berufen werde, denkt Penhaligon, schaffe ich diesen scheinheiligen Unsinn ab. Er selbst hat sich die Franzosenkrankheit einmal eingefangen, in einem Badehaus für Offiziere auf St. Kitts, und auch er vertraute sich aus Angst und Scham dem Schiffsarzt der Trincomolee erst an, als das Wasserlassen unerträglich wurde. Wäre er noch Unteroffizier, würde er Jack Thatcher die Geschichte jetzt erzählen, aber ein Kapitän muss seine Autorität wahren. «Sie haben hoffentlich gelernt, welchen Preis man als Leichtfuß bezahlt, Thatcher?»
«Ich hab’s mir hinter beide Ohren geschrieben, Sir, Ehrenwort.»
Und dennoch wirst du bald mit einer anderen schlafen, weiß Penhaligon, und dann mit der nächsten und immer so weiter ... Er unterhält sich kurz mit den anderen Patienten: ein fiebernder Mann vom Land, der in St. Ives gepresst wurde und dessen gequetschter Daumen vielleicht amputiert werden muss, ein Mann von den Bermudas mit einem vereiterten Backenzahn und vor Schmerz glasigen Augen, und ein Shetlander mit wucherndem Bart, der so schlimm an Elefantiasis leidet, dass seine Hoden schon auf Mangogröße angeschwollen sind. «Ich bin gesund wie ein Fisch an Land», berichtet er, «Gott segne Sie fürs Nachfragen, Captain.»
Penhaligon erhebt sich.
«Verzeihung, Sir», sagt Michael Tozer, «ob Sie wohl einen Streit für uns schlichten würden?»
Ein stechender Schmerz schießt durch Penhaligons Fuß. «Wenn ich kann, Mr. Tozer.»
«Bekommen Matrosen ihren rechtmäßigen Anteil am Prisengeld, wenn sie im Lazarett liegen, Sir?»
«Die Marinevorschriften, denen ich folge, sagen, ja.»
Tozer wirft Rafferty einen triumphierenden Blick zu. Penhaligon ist versucht, das Sprichwort vom Spatz in der Hand anzuführen, aber er will der guten Stimmung der Mannschaft keinen Dämpfer versetzen. Er wendet sich an den Arztgehilfen. «Es gibt doch noch einige Dinge, die ich gerne mit Doktor Nash besprechen würde. Sie sagten, er hält sich unten in seiner Kajüte auf?»
Ein Haufen übler Gerüche schlägt dem Kapitän entgegen, als er langsam die Treppe zum Kojendeck hinabsteigt. Im Winter ist es dort dunkel, feucht und kalt, im Sommer dunkel, feucht und stickig: Kuschelig, nennen es die Matrosen. Auf schlecht geführten Schiffen sind verhasste Offiziere gut beraten, sich nicht allzu weit von den jedermann zugänglichen Bereichen wegzubewegen, aber John Penhaligon kann unbesorgt sein. Die Männer von der Backbordwache, ungefähr einhundertzehn Leute, machen Schnitzarbeiten oder bessern im fahlen Licht der Luftschächte ihre Kleidung aus, nörgeln, rasieren sich oder liegen zwischen den Seekisten zu einem Nickerchen zusammengerollt, denn die Hängematten werden nur nachts aufgespannt. Noch bevor Penhaligon unten ist, erkennen sie seine Schnallenschuhe, und jemand ruft: «Captain auf Deck, Jungs!» Die vorderen Matrosen nehmen Haltung an, und der Kapitän stellt zufrieden fest, dass sie ihren Ärger über die Störung wenigstens nicht offen zeigen. Er lässt sich die Schmerzen in seinem Fuß nicht anmerken. «Ich bin auf dem Weg zum Orlopdeck, Männer ...»
«Brauchen Sie eine Laterne oder Hilfe, Sir?», fragt ein Seemann.
«Nicht nötig. Ich finde mich auf der Pboebus mit verbundenen Augen zurecht.»
Er steigt hinab zum Orlopdeck. Es stinkt nach Kieljauche, aber nicht nach verfaulten Leichen, wie er es einmal bei der Inspektion eines gekaperten französischen Schiffes erlebt hat. Wasser klatscht, die See stampft, die Pumpen rattern und glucksen. Penhaligon stöhnt erleichtert auf, als er das Deck erreicht, und tastet sich durch den schmalen Gang. Er erkennt das Pulvermagazin, das Käselager, das Rumlager mit dem schweren Schloss, die Kajüte von Mr. Woods, dem abgehärmten Lehrer der Kinder, das Kabelgatt, die Schiffsapotheke, und schließlich gelangt er zu einer Kajüte, die nicht größer ist als seine Toilette. Bronzefarbenes Licht dringt durch die Tür, und dahinter werden Kisten geschoben. «Ich bin es, Mr. Nash, der Kapitän.»
«Captain», ertönt eine raue Stimme mit breitem südwestenglischem Akzent. Der Schiffsarzt öffnet die Tür. «So eine Überraschung.» Sein Gesicht, das im fahlen Licht der Lampe dem eines zähnefletschenden Maulwurfs ähnelt, wirkt allerdings keineswegs überrascht.
«Mr. Rafferty sagte, ich würde Sie hier finden.»
«Ja, ich wollte Sulfid und Blei holen.» Er legt eine gefaltete Decke auf eine der Seekisten. «Bitte sehr, entlasten Sie Ihre Füße. Die Gicht hat wieder zugeschlagen, Sir?»
Der große Mann füllt die winzige Kajüte aus. «Ist das so offensichtlich?»
«Berufsinstinkt, Sir ... Darf ich mir die Stelle ansehen?»
Der Kapitän zieht unbeholfen Schuh und Strumpf aus und legt den Fuß auf die Truhe. Nash, dessen Schürze steif ist von geronnenem Blut, hält die Lampe an den Fuß und betrachtet stirnrunzelnd die bräunlichen Schwellungen. «Ein böser Tophus am Metatarsus ... ist bereits Sekret ausgetreten?»
«Noch nicht, aber der Fuß sieht fast so schlimm aus wie vor einem Jahr.»
Nash drückt auf die Schwellung, und Penhaligon zuckt vor Schmerz zusammen.
«Unser Einsatz in Nagasaki lässt nicht zu, dass ich dienstuntauglich bin.»
Nash putzt sich die Brille an der schmutzigen Manschette. «Ich verordne Dover’sches Pulver: In Bengalen hat es Ihre Genesung beschleunigt, vielleicht kann es den Anfall diesmal hinauszögern. Außerdem muss ich Ihnen sechs Unzen Blut abzapfen, um die Reibung an den Arterienwänden zu verringern.»
«Dann wollen wir keine Zeit verlieren.» Penhaligon zieht den Rock aus und rollt den Hemdsärmel auf, während Nash aus verschiedenen Arzneifläschchen drei Flüssigkeiten abgießt. Niemand kann behaupten, der Chirurg ziere die Offiziersmesse mit wissenschaftlicher Begeisterung und gelehrten Reden wie die akademisch geschulten Ärzte, die man zuweilen bei der Marine antrifft - dafür kann der verlässliche Mann aus Devon bei Kampfhandlungen ein Körperglied pro Minute amputieren, er zieht mit ruhiger Hand Zähne, manipuliert seine Rechnungen nie über ein vertretbares Maß hinaus und plaudert bei der Mannschaft nicht über die Leiden der Offiziere. «Helfen Sie mir auf die Sprünge, Mr. Nash, woraus besteht das Dover’-sche Pulver?»
«Es ist eine Abart des Ipecacuanha-Pulvers, Sir, und enthält Opium, Brechwurzel, Salpeter, Weinstein und Süßholz.» Er misst einen Spatel des fahlen Pulvers ab. «Bei den Matrosen würde ich noch Rizinus hinzugeben - Mediziner nennen es auch Castoröl -, damit sie die Behandlung auch richtig spüren. Aber den Offizieren erspare ich solche Tricks.» Das Schiff stampft, und das Gebälk knarrt wie eine Scheune im Sturm.
«Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich an Land als Apotheker zu verdingen, Mr. Nash?»
«Kommt nicht in Frage, Sir!» Nash lächelt nicht über den nett gemeinten Scherz.
«Ich sehe schon die Porzellanfläschchen mit Nashs patentiertem Elixier in den Regalen.»
«Den meisten Händlern ...», Nash träufelt Laudanum in einen Zinnbecher, «... wurde bei der Geburt das Gewissen entfernt. Lieber in Ehren untergehen, als durch Heuchelei, Schulden oder das Gesetz langsam dahinzusterben.» Er rührt die Mischung um und gibt den Becher dem Patienten. «Mit einem Schluck, Captain.»
Penhaligon gehorcht und schüttelt sich. «Rizinusöl kann den Geschmack nur verbessern.»
«Sie bekommen täglich eine Dosis, Sir. Und jetzt zum Aderlass.» Er holt eine Auffangschale und ein rostiges Skalpell und nimmt den Unterarm des Kapitäns. «Meine schärfste Klinge: Sie werden ...»
Penhaligon verkneift sich das «Aua!», einen Fluch und das Zusammenzucken.
«... nicht das Geringste spüren.» Nash führt den Katheter ein, damit die Wunde sich nicht verschließt. «Und jetzt ...»
«Stillhalten. Ich weiß.» Blut tropft in die Schale und bildet langsam eine Pfütze.
Um sich abzulenken, denkt Penhaligon ans Abendessen.
«Bezahlte Informanten», sagt Leutnant Hovell, nachdem man den angetrunkenen Daniel Snitker zur Erholung von der abendlichen Völlerei in seine Kajüte gebracht hat, «tischen ihren Kunden das auf, was sie ...», das Schiff schwankt und zittert, und die Lampen drehen sich in ihrer Aufhängung, «... gerne hören wollen. Während seiner Dienstzeit als Botschafter in Den Haag stellte mein Vater die Worte eines gewissenhaften Informanten stets über die eidesstattlichen Versicherungen zehn gewinnsüchtiger Spitzel. Das soll nicht heißen, dass Snitker uns in jedem Fall betrügt, aber wir täten gut daran, seine ‹wertvollen Auskünfte› nicht bedenkenlos zu schlucken - das gilt besonders für die sonnige Prognose, dass die Japaner wortlos zusehen werden, wenn wir den Besitz ihres alten Verbündeten beschlagnahmen.»
Auf ein Zeichen Penhaligons räumen Chigwin und Jones den Tisch ab.
«Der Krieg in Europa ...», Major Cutlip, dessen Gesicht fast so rot ist wie seine Uniformjacke, nagt den letzten Fetzen Fleisch von seinem Hühnerschlegel, «... geht die verfluchten Asiaten nichts an.»
«Eine Ansicht», erwidert Hovell, «die von den verfluchten Asiaten möglicherweise nicht geteilt wird, Major.»
«Dann muss man ihnen eben beibringen, sie zu teilen, Mr. Hovell», schnaubt Cutlip.
«Angenommen, das Königreich Siam unterhielte seit anderthalb Jahrhunderten eine Handelsstation in, sagen wir in Bristol ...»
Cutlip wirft Leutnant Wren ein triumphierendes Grinsen zu.
«... in Bristol», fährt Hovell unbeirrt fort, «und eines Tages segelte eine chinesische Kriegsdschunke herein, beschlagnahmte ohne Erlaubnis den gesamten Besitz unseres Verbündeten und verkündete London, dass China von nun an den Platz der Siamesen einnehme. Würde Mr. Pitt sich das gefallen lassen?»
«Wenn Mr. Hovells Kritiker», sagt Wren, «das nächste Mal über seine Humorlosigkeit spotten ...»
Penhaligon stößt das Salzfass um und wirft sich eine Prise über die Schulter.
«... werde ich sie mit seiner phantastischen Geschichte von einer siamesischen Faktorei in Bristol verblüffen.»
«Es geht hier um Fragen der Landeshoheit», beharrt Robert Hovell. «Der Vergleich ist absolut zutreffend.»
Cutlip schwenkt den Hühnerschlegel. «Wenn mich acht Jahre Neusüdwales etwas gelehrt haben, dann, dass gelehrte Begriffe wie ‹Landeshoheit› oder ‹Gesetz›, ‹Eigentum›, ‹Jurisprudenz› oder ‹Diplomatie› für uns Weiße etwas anderes bedeuten als für die unterentwickelten Rassen. Der arme Philip legte sich in Sydney Cove verdammt ins Zeug, um mit dem zurückgebliebenen schwarzen Gesindel, auf das wir dort trafen, zu ‹verhandeln›. Haben seine hehren Ideale die faulen Hunde davon abgehalten, uns die Vorräte zu klauen, als gehörte die Bucht ihnen?» Cutlip spuckt in den Spucknapf. «Tatkräftige Engländer und Londoner Musketen haben in den Kolonien das Sagen und nicht feige Diplomatie, und auch in Nagasaki werden vierundzwanzig Kanonen und vierzig gutgedrillte Seesoldaten den Sieg davontragen. Man kann nur hoffen», er zwinkert Wren zu, «dass die entzückende Chinesin, die unserem Ersten Leutnant in Bengalen das Bett gewärmt hat, nicht auf seine makellos weiße Haut abgefärbt hat.»
Was ist bloß los mit der Marineinfantrie?, stöhnt Penhaligon innerlich.
Eine Flasche rutscht vom Tisch. Der junge Dritte Leutnant Talbot fängt sie auf.
«Wollen Sie mit Ihrer Bemerkung», fragt Hovell seelenruhig, «meinen Mut als Seeoffizier in Zweifel ziehen, oder verunglimpfen Sie meine Treue gegenüber dem König?»
«Ach, kommen Sie, Robert ...», manchmal, denkt Penhaligon, bin ich mehr Kindermädchen als Kapitän, «... dafür kennt Cutlip Sie doch viel zu gut: Er ... er hat nur ...»
«... einen freundschaftlichen Seitenhieb ausgeteilt», ergänzt Leutnant Wren.
«Eine harmlose Stichelei!», beteuert Cutlip liebenswürdig. «Ein freundschaftlicher Seitenhieb ...»
«Mit scharfer Zunge formuliert», urteilt Wren, «aber ohne jede Böswilligkeit.»
«... und ich entschuldige mich vorbehaltlos», fügt Cutlip hinzu, «wenn ich Sie beleidigt haben sollte.»
Die bereitwilligsten Entschuldigungen, weiß Penhaligon, sind immer auch die wertlosesten.
«Major Cutlip sollte auf seine scharfe Zunge achten», sagt Hovell, «damit er sich nicht selbst daran schneidet.»
«Haben Sie vor», fragt Penhaligon, «die Flasche aus meiner Kajüte zu schmuggeln, Mr. Talbot?»
Im ersten Augenblick nimmt Talbot die Frage ernst, dann lächelt er erleichtert und schenkt der Tischgesellschaft nach. Penhaligon weist Chigwin an, noch zwei Flaschen Chambolle Musigny zu holen. Der Steward ist überrascht über die Großzügigkeit zu so später Stunde, aber er folgt dem Befehl.
«Wäre unser einziges Ziel», Penhaligon spürt, dass eine Entscheidung notwendig ist, «die niederländische Kompanie aus Nagasaki zu verdrängen, könnten wir so direkt vorgehen, wie es der Major vorschlägt. Unsere Befehle verlangen jedoch, dass wir obendrein einen Vertrag mit den Japanern aushandeln. Wir müssen als Diplomaten und als Krieger handeln.»
Cutlip bohrt sich in der haarigen Nase. «Geschütze sind die besten Diplomaten, Captain.»
Hovell tupft sich den Mund ab. «Diese Eingeborenen werden sich durch Kriegslust nicht beeindrucken lassen.»
«Haben wir die Inder etwa mit Sanftmut unterworfen?» Wren lehnt sich zurück. «Haben die Niederländer Java erobert, indem sie Edamer verschenkt haben?»
«Ihr Vergleich hinkt», wendet Hovell ein. «Japan ist zwar in Asien, aber nicht wie Asien.»
Wren fragt: «Ist das wieder eine Ihrer kryptischen Weisheiten, Lieutenant?»
«Von ‹den Indern› und ‹den Javanern› zu sprechen ist europäische Überheblichkeit: In Wahrheit handelt es sich um bunt zusammengewürfelte Völker, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Japan hingegen wurde bereits vor vierhundert Jahren geeint. Es hat die Spanier und die Portugiesen aus dem Land gejagt, als die Iberer auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen.»
«Stellen Sie unsere Artillerie, unsere Kanonen und Grenadiere ihren putzigen mittelalterlichen Kriegern gegenüber, und -» Der Major ahmt eine Explosion nach.
«Putzige mittelalterliche Krieger», entgegnet Hovell, «die Sie noch nie gesehen haben.»
Lieber einen Schiffsbohrwurm im Rumpf denkt Penhaligon, als zankende Offiziere.
«Ebenso wenig wie Sie, Mr. Hovell», kontert Wren. «Snitker dagegen -»
«Snitker hat nichts weiter im Sinn, als sein kleines Königreich zurückzuerobern und die Thronräuber zu demütigen.»
Unter ihnen, in der Offiziersmesse, spielt Mr. Waldrons Geige eine Gigue auf.
Wenigstens einer, denkt Penhaligon, der sich heute Abend amüsiert.
Leutnant Talbot setzt zum Sprechen an, zögert und schweigt.
Penhaligon fragt: «Möchten Sie etwas sagen, Mr. Talbot?»
Die Blicke der anderen nehmen ihm den Mut. «Nichts von Belang, Sir.»
Jones lässt unter lautem Scheppern ein Tablett mit Besteck fallen.
«Übrigens, Captain ...», Cutlip schmiert seinen Schnodder in die Tischdecke, «... ich habe zufällig gehört, wie zwei Ihrer cornwallischen Landsleute einen Witz über Mr. Hovells Heimatgrafschaft gerissen haben: Jetzt, da wir wissen, dass er Manns genug ist, einen freundschaftlichen Seitenhieb mit Humor zu nehmen, kann ich ihn ohne Bedenken wiederholen: ‹Was, bitte schön, ist ein Mann aus Yorkshire?›»
Robert Hovell spielt an seinem Trauring.
«‹Ein Schotte, aus dem man die Großzügigkeit herausgequetscht hat!›»
Der Kapitän bereut, dass er den 91er Jahrgang hat holen lassen.
Warum nur, denkt er, dreht sich alles ewig im selben dummen Kreis?