XXVI
Hinter der Harubayashi-Herberge, östlich von Kurozane im Lehen Kyōga
Der zweiundzwanzigste Morgen des ersten Monats
Uzaemon kommt vom Abtritt hinter dem Haus und blickt über das Gemüsebeet. Im Dämmerlicht entdeckt er eine Gestalt. Sie beobachtet ihn aus dem Bambushain. Uzaemon kneift die Augen zusammen. Otane, die Kräuterheilerin? Sie trägt die gleiche schwarze Kapuze und die gleiche Bergkleidung. Es wäre möglich. Ihr Rücken ist ebenso gebeugt. Ja. Uzaemon hebt behutsam die Hand, aber die Gestalt schüttelt langsam und traurig den weißhaarigen Kopf und dreht sich um.
«Nein», sie darf sich nicht zu erkennen geben? Oder «nein», die Rettung ist zum Scheitern verurteilt?
Der Dolmetscher tritt auf die Veranda, schlüpft in ein Paar Strohsandalen und eilt durch das zerfurchte Beet. Ein Pfad aus schwarzem Schlamm und weißem Frost schlängelt sich über den Bambushain.
Auf dem Platz vor der Herberge kräht der Hahn.
Shuzai und die anderen, denkt er, werden mich vermissen.
Strohschuhe bieten den zarten Füßen eines geistig arbeitenden Samurai wenig Schutz.
Vor ihm, auf einem abgebrochenen Bambusrohr, sitzt ein Seidenschwanz: Er öffnet den Schnabel ...
... speit Uzaemon mit vibrierender Kehle ein unmelodisches Lied entgegen und fliegt davon ...
Von Ast zu Ast hüpft er in kleinen Bögen durch den dichten Hain.
Uzaemon folgt ihm durch das schräge Gitter aus hellem und dunklem Schwarz ...
... immer tiefer hinein in die erdrückende Enge; die dünne Eisschicht bricht unter seinen Füßen.
Der Seidenschwanz lockt ihn vorwärts. Oder zur Seite?
Oder sind es zwei Seidenschwänze, fragt sich Uzaemon, die ihre Späße mit mir treiben?
«Ist da jemand?» Er wagt es nicht, die Stimme zu erheben. «Otane-sama?»
Die Bambusblätter rascheln wie Papier. Der Weg endet an einem rauschenden Fluss, braun und dick wie niederländischer Tee.
Am anderen Ufer erhebt sich unter gespreizten Ästen und knorrigen Wurzeln eine zerklüftete Felswand.
Ein Zeh des Shiranui, denkt Uzaemon. Und auf seinem Kopf erwacht Orito aus dem Schlaf
Flussaufwärts oder flussabwärts ruft ein Mann in einem buckligen Dialekt.
Der Weg zurück zur Herberge führt Uzaemon an eine verborgene Lichtung. Auf einem Bett aus dunklen Kieseln stehen, umgeben von einer kniehohen Steinmauer, Dutzende kopfgroße, vom Meerwasser glattgeschliffene Steine. Es gibt keinen Schrein, kein Torī-Tor, keine mit Papierschnipseln behängten Strohseile, und so dauert es einen Augenblick, bis der Dolmetscher begreift, dass er sich auf einem Friedhof befindet. Er steigt fröstelnd über die Mauer, um sich die Grabsteine genauer anzusehen. Der Kies knirscht und gibt unter seinen Füßen nach.
Nicht Namen, sondern Nummern sind in die Steine gemeißelt: bis zur Zahl einundachtzig.
Der wuchernde Bambus ist zurückgeschnitten, und die Steine sind von Flechten befreit.
Uzaemon überlegt, ob die Frau, die er für Otane gehalten hat, die Friedhofswärterin ist.
Vielleicht hat sie es mit der Angst zu tun bekommen, denkt er, als sich ein Samurai ihr näherte.
Aber welche buddhistische Sekte verweigert den Verstorbenen sogar einen Totennamen auf dem Grabstein? Jedes Kind weiß doch, dass eine Seele, die keinen Namen für König Enmas Verzeichnis der Toten besitzt, am Tor zur Nächsten Welt abgewiesen wird. Die Geister der Namenlosen irren für immer umher. Uzaemon vermutet, dass es sich bei den Beerdigten um Fehlgeburten, Verbrecher oder Selbstmörder handelt, aber diese Erklärung stellt ihn nicht zufrieden. Selbst Unberührbare werden mit einem Namen beerdigt.
Im Käfig des Winters, fällt ihm auf, gibt es keinen Vogelgesang.
«Bestimmt haben Sie die Köhlerstochter gesehen», sagt der Wirt in der Herberge zu Uzaemon. «Sie wohnt in einer morschen Kate hinter den Zwölf Feldern, zusammen mit ihrem Vater, ihrem Bruder und einer Million Stare. Stromert ständig durch die Gegend, meistens unten am Fluss. Schwerfällig und nicht ganz richtig im Kopf, das Mädchen. Zwei- oder dreimal hat sie was Kleines erwartet, aber die haben nie Wurzeln gefasst, weil der Papa ihr eigener Papa war oder ihr Bruder, und sie wird allein in der morschen Kate sterben, denn welche Familie will schon, dass ihr Blut von so viel Unreinheit geschwächt wird?»
«Aber ich habe kein Mädchen gesehen, sondern eine alte Frau.»
«Bei uns in Kyōga haben die Stuten breitere Hüften als die Prinzessinnen in Nagasaki: Ein dreizehn-, vierzehnjähriges Mädchen geht hier leicht als ’ne alte Mähre durch, besonders in der Dämmerung ...»
Uzaemon hat seine Zweifel. «Und was ist mit dem geheimen Friedhof?»
«Ach, da ist nichts Geheimes dran: Im Herbergsgewerbe nennen wir ihn das ‹Quartier für Dauergäste›. Viele Reisende werden unterwegs krank, besonders auf Pilgerwegen, und schlafen in Herbergen ihren letzten Schlaf. Das kostet uns Wirte ein Vermögen, und Vermögen heißt Vermögen: Wir können die Toten ja schlecht am Straßenrand ablegen. Was ist, wenn ein Verwandter vorbeikommt? Was ist, wenn sein Geist die Gäste verscheucht? Aber eine anständige Beerdigung kostet Geld, so wie überall auf der Welt: Geld für Priester und Gesänge, ein hübsches Grab vom Steinmetz und für einen Flecken Erde im Tempel ...» Der Wirt schüttelt den Kopf. «Also hat einer meiner Vorfahren für die Gäste, die im Harubayashi entschlafen, den Friedhof im Wäldchen angelegt. Wir führen eine Liste mit den Gästen, die dort liegen, und wir nummerieren die Steine, und die Namen von den Gästen schreiben wir auch auf, wenn sie einen genannt haben, und ob’s ein Mann ist oder ’ne Frau und das ungefähre Alter und was weiß ich nicht alles. Falls mal irgendein Verwandter vorbeikommt, können wir vielleicht behilflich sein.»
Shuzai fragt: «Kommt es häufig vor, dass Angehörige nach verstorbenen Gästen fragen?»
«Noch nie, seit ich hier Wirt bin; aber wir tun’s trotzdem. Meine Frau putzt die Steine an jedem Obon-Fest.»
«Wer wurde zuletzt dort beigesetzt?», fragt Uzaemon.
Der Gastwirt schürzt die Lippen. «Jetzt, wo die Omura-Straße so viel besser ist, kommen nicht mehr so viele Alleinreisende durch Kyōga ... Der letzte war ein Drucker, drei Jahre ist das her: Ging kerngesund ins Bett, und am nächsten Morgen war er kalt wie Stein. Gibt einem zu denken, was?»
Uzaemon ist über den Ton des Wirts verstimmt. «Was gibt Ihnen das zu denken?»
«Es sind nicht nur die Alten und Schwachen, die der Tod in seine schwarze Sänfte zieht ...»
Die Kyōga-Straße führt vom schlammigen Ufer des Ariake-Meeres landeinwärts durch einen Wald. Hane, einer der Söldner, lässt sich zurückfallen, während sein Kollege Ishi vorausläuft. «Nur eine Vorsichtsmaßnahme», sagt Shuzai aus der Sänfte, «um sicherzugehen, dass uns niemand gefolgt ist oder uns weiter vorne auflauert.» Ein paar Biegungen weiter aufwärts überqueren sie den Mekura und nehmen einen laubbedeckten Weg, der hinauf zum Eingang der Schlucht führt. Bei einem moosbewachsenen Torī-Tor fordert eine Anschlagtafel vorbeikommende Wanderer auf umzukehren. Die Sänfte wird abgesetzt, die Waffen werden aus dem doppelten Boden geholt, und vor Uzaemons Augen verwandeln sich Deguchi aus Osaka und seine leidgeprüften Diener in Söldner. Shuzai stößt einen scharfen Pfiff aus. Uzaemon hört nichts - nur das Knacken eines Zweiges -, aber die Männer vernehmen ein Signal, dass die Luft rein ist. Sie laufen mit der leeren Sänfte bergan um enge Kurven. Der Dolmetscher ist schnell außer Atem. Das Dröhnen eines Wasserfalls wird lauter, und bei einem Steinschlag jüngeren Datums gelangen sie zum unteren Eingang der Mekura-Klamm: eine etwa neun Mann hohe, in den Steilhang gehauene Treppe, überwuchert von langzüngigen Farnen und einem dichten Rankennetz. Aus den vorspringenden Felsen stürzt der kalte Strom hinab und ergießt sich in einen schäumenden, brodelnden Teich.
Uzaemon starrt gebannt auf die ewig stürzenden Wassermassen ...
Sie trinkt aus diesem Fluss, denkt er, wo er noch ein Gebirgsbach ist.
... bis in einer Wand aus wilden Kamelien eine Drossel pfeift. Shuzai pfeift zurück. Die Blätter teilen sich, und fünf Männer kommen zum Vorschein. Sie sind gekleidet wie gemeine Leute, aber ihre Gesichtszüge haben dieselbe militärische Härte wie die der anderen herrenlosen Samurai. «Lasst uns die Kiste», Shuzai zeigt auf die angeschlagene Sänfte, «aus dem Weg schaffen.»
Während sie die Sänfte in einer Senke hinter den Kamelien mit Zweigen und Blättern abdecken, stellt Shuzai die Neuankömmlinge mit ihren Decknamen vor: Tsuru, der mondgesichtige Anführer, Yagi, Kenka, Muguchi und Bara; Uzaemon, der immer noch seine Pilgerkleidung trägt, bekommt den Namen Junrei. Die Neuen behandeln ihn mit zurückhaltendem Respekt, aber es ist unverkennbar, dass für sie Shuzai der Anführer ist. Ob sie Uzaemon für einen vernarrten Tölpel oder einen Ehrenmann halten - vielleicht, denkt Uzaemon, schließt das eine das andere nicht aus -, ist nicht zu ergründen. Der Samurai namens Tanuki liefert einen kurzen Bericht ihrer Reise von Saga nach Kurozane, und der Dolmetscher denkt an die Ereignisse, die diesen Stoßtrupp zusammengeführt haben: Otane die Kräuterheilerin, die erriet, wem sein Herz gehört, Jiritsu der Novize, der sich von den Geboten des Ordens distanzierte, Enomotos frevelhaftes Treiben und noch andere teils bekannte, teils unbekannte Ereignisse und Wendungen, und Uzaemon staunt über den selbsttätigen Webstuhl des Schicksals.
«Den ersten Abschnitt unseres Aufstiegs», sagt Shuzai, «absolvieren wir in sechs Zweiergruppen mit einem Zeitabstand von jeweils fünf Minuten. Zuerst Tsuru und Yagi, dann Kenka und Muguchi, drittens Bara und Tanuki, dann Kuma und Ishi, gefolgt von Hane und Shakke und zum Schluss Junrei», er sieht Uzaemon an, «und ich. Unterhalb des Torhauses, das diese Verhöhnung der Natur sichert ...», die Männer versammeln sich um eine getuschte Karte des Berghangs, und ihr dampfender Atem vermischt sich, «... formieren wir uns neu. Ich führe Bara, Tanuki, Tsuru und Hane über diesen Steilhang, und kurz nach dem Wachwechsel stürmen wir das Tor von oben - aus unerwarteter Richtung. Wir fesseln und knebeln die Wächter und ziehen ihnen Säcke über den Kopf. Es sind nur Bauernburschen, also tötet sie nicht, es sei denn, sie bestehen darauf. Bis zum Kahlen Gipfel ist es noch einmal ein zweistündiger strammer Marsch, das heißt, die Mönche werden sich zur Nachtruhe begeben, wenn wir dort eintreffen. Kuma, Hane, Shakke und Ishi: Ihr steigt hier über die Mauer ...», Shuzai breitet seine Zeichnung des Schreins aus, «... an der Südwestseite, wo die Bäume am höchsten sind und besonders dicht stehen. Dann geht ihr zu diesem Tor hier und lasst uns rein. Wir verlangen nach dem höchstgestellten Meister und teilen ihm mit, dass Schwester Aibagawa mit uns kommen wird. Entweder er lässt sie freiwillig gehen, oder der Innenhof verwandelt sich in ein Meer aus toten Novizen. Er hat die Wahl.» Shuzai sieht Uzaemon an. «Eine Drohung, die du nicht auch ausführen würdest, ist keine Drohung.»
Uzaemon nickt, aber innerlich betet er: Bitte gib, dass niemand sein Leben verliert ...
«Enomoto», erläutert Shuzai den anderen, «kennt Junreis Gesicht aus der Shirandō-Akademie. Unser zuvorkommender Gastwirt hat uns zwar mitgeteilt, dass der Fürstabt gegenwärtig in Miyako weilt, aber Junrei darf nicht riskieren, erkannt zu werden, nicht einmal auf Umwegen. Darum wirst du nicht an dem Überfall teilnehmen.»
Es ist untragbar, denkt Uzaemon, dass ich mich draußen verstecke wie eine Frau.
«Ich weiß, was du jetzt denkst», sagt Shuzai, «aber du bist kein Mörder.»
Uzaemon nickt, entschlossen, Shuzais Meinung im Laufe des Tages zu ändern.
«Vor dem Abmarsch warne ich die Mönche, dass jeder Verfolger erbarmungslos niedergemetzelt wird. Dann treten wir mit der befreiten Frau den Rückzug an. Wir kappen die Todoroki-Brücke, um für morgen Zeit zu gewinnen. In der Stunde des Ochsen passieren wir das Torhaus auf halber Strecke, steigen in die Schlucht hinab und sind zur Stunde des Kaninchens wieder an diesem Punkt. Wir tragen die Frau in der Sänfte bis Kashima. Dort zerstreuen wir uns und verlassen das Lehen, bevor Reiter entsandt werden. Noch Fragen?»
Knorriges Gehölz knarrt und knackt. Winterlich verwehtes Laub türmt sich zu hohen Haufen. Vögel durchwirken die vielen Schichten des Dickichts mit nadelfeinem Gesang. Shuzai und Uzaemon steigen schweigend bergauf. Der Mekura ist ein tosendes, wirbelndes, dröhnendes Wesen. Der granitgraue Himmel begräbt das Tal.
Am späten Vormittag hat Uzaemon sich Blasen gelaufen.
Der Mekura ist jetzt grün und glatt wie fremdländisches Glas.
Shuzai gibt Uzaemon Öl für die schmerzenden Waden und Füße und sagt: «Die wichtigste Waffe eines Schwertkämpfers sind seine Füße.»
Auf einem runden Stein wartet ein Reiher reglos auf Fische.
«Die Leute, die du angeheuert hast», sagt Uzaemon vorsichtig, «scheinen dir blind zu vertrauen.»
«Ein paar von uns haben beim selben Meister in Imabari gelernt; fast alle haben wir bei einem niederen Fürsten im Lehen Iyo gedient, der einige heftige Gefechte mit seinen Nachbarn heraufbeschwor. Sich auf einen anderen Menschen verlassen zu müssen, damit man überlebt, schweißt enger zusammen als eine Blutsverwandtschaft.»
Ein Spritzer durchsticht den jadegrünen Wasserspiegel: Der Reiher ist fort.
Uzaemon denkt an einen Onkel, der ihm vor langer Zeit beigebracht hat, wie man Steine übers Wasser hüpfen lässt. Er denkt an die alte Frau, die er bei Sonnenaufgang gesehen hat. «Manchmal kommt es mir so vor, als hätte unser Geist einen eigenen Geist. Er zeigt uns Bilder. Bilder der Vergangenheit und von den Dingen, die eines Tages vielleicht geschehen. Dieser Geistesgeist hat sogar einen eigenen Willen und eine eigene Stimme.» Er sieht seinen Freund an, der einen Raubvogel am Himmel beobachtet. «Ich rede wie ein betrunkener Priester.»
«Keineswegs», murmelt Shuzai. «Keineswegs.»
Weiter oben wird die Schlucht von Kalksteinfelsen eingerahmt. Uzaemon erblickt in dem verwitterten Gestein Teile von Gesichtern. Eine Ausbuchtung ähnelt einer Stirn, ein vorstehender Grat stellt eine Nase dar, Zerklüftungen und Bergstürze sind Falten und hängende Haut. Sogar Berge, denkt er, waren einmal jung: Sie altern, und eines Tages sterben sie. Ein schwarzer Spalt unter einem buschbewachsenen Felsvorsprung ähnelt einem zusammengekniffenen Auge. Er stellt sich zehntausend Fledermäuse vor, die an diesem Vorsprung hängen ...
... und auf einen Frühlingsabend warten, der das Feuer in ihren kleinen Herzen neu entfacht.
Je höher sie kommen, erkennt der Bergsteiger, desto tiefer muss sich das Leben vor dem Winter verstecken. Pflanzensaft ist in die Wurzeln hinuntergesunken, Bären schlafen, die Schlangen des nächsten Jahres sind noch nicht geschlüpft.
Mein Leben in Nagasaki, denkt Uzaemon, ist ebenso vorbei wie meine Kindheit in Shikoku.
Uzaemon denkt an seine Adoptiveltern und an seine Frau, die jetzt ihren Angelegenheiten, Ränken und Zankereien nachgehen, ohne zu ahnen, dass sie ihren Adoptivsohn und Ehemann verloren haben. So wird es viele Monate lang gehen.
Er legt die Hand auf die Stelle über seinem Zwerchfell, wo er Oritos Briefe verwahrt.
Bald, Geliebte, bald, denkt er. Nur noch wenige Stunden ...
Indem er versucht, nicht an die Gebote des Ordens zu denken, denkt er an sie.
Seine Hand hat sich so fest um den Schwertgriff gelegt, dass die Fingerknöchel weiß sind.
Er fragt sich, ob Orito bereits schwanger ist.
Ich werde für sie sorgen, gelobt er, und das Kind wie mein eigenes großziehen.
Weißbirken zittern. Ihre Wünsche sind das Einzige, was zählt.
«Wie war es», Uzaemon hat Shuzai diese Frage noch nie gestellt, «als du zum ersten Mal einen Menschen getötet hast?» Die Berghorne klammern sich mit ihren Wurzeln an die steile Böschung. Shuzai führt die Gruppe schweigend weiter, bis sie zu einem plätschernden See kommen. Er sucht mit Blicken das steile Gelände ab, als würde er mit Angreifern rechnen ...
... und neigt den Kopf zur Seite wie ein Hund. Er hört etwas, das Uzaemons Ohren entgeht.
Das leise Lächeln des Schwertkämpfers sagt: Einer der Unsrigen. «Beim Töten kommt es, wie du dir denken kannst, auf die Umstände an: Ist es ein kaltblütig geplanter Mord, das Ergebnis eines erbitterten Kampfes, oder tötet man aus Ehre oder niederen Beweggründen? Aber ganz gleich, wie oft du tötest, entscheidend ist das erste Mal. Wenn ein Mann das erste Mal Blut vergossen hat, ist er aus der gewöhnlichen Welt verbannt.» Shuzai kniet sich ans Ufer, schöpft Wasser aus dem See und trinkt. Ein gefiederter Fisch schwebt in der Strömung; eine leuchtende Beere schwimmt vorbei. «Erinnerst du dich an den rücksichtslosen Fürsten, von dem ich dir erzählt habe?» Shuzai erklimmt einen Felsen. «Ich war sechzehn und schwor, dem gierigen Tölpel zu dienen. Die Hintergründe des Zwists lasse ich jetzt beiseite, sie sind zu kompliziert, und beginne mit einer drückenden Nacht im sechsten Monat, als ich, getrennt von meinen Kameraden, am Berg Ishizuchi durchs Dickicht irrte. Es war stockfinster, und das Quaken der Frösche übertönte jedes Geräusch. Plötzlich gab der Boden unter meinen Füßen nach, und ich fiel in ein Erdloch. Der feindliche Späher, der sich darin versteckt hielt, war so überrascht wie ich, und eingezwängt in dem engen Erdloch versuchten wir vergeblich, nach unseren Schwertern zu greifen. Wir wanden uns, tasteten blind umher, aber beide riefen wir nicht um Hilfe. Seine Hände legten sich um meinen Hals und drückten zu, unerbittlich wie der Tod. Röchelnd rang ich nach Atem, mir wurde schwarz vor Augen, und ich dachte verzweifelt: Es ist vorbei ..., aber das Schicksal wollte es anders. Vor langer Zeit hatte die Vorsehung bestimmt, dass der feindliche Fürst einen Halbmond als Wappen tragen solle. Das Abzeichen war so lose am Helm des Würgers befestigt, dass es unter meiner Hand abbrach, und so bohrte ich das scharfe Metall durch den Schlitz der Augenmaske in das weiche Gewebe dahinter und bewegte es hin und her, bis sein Griff sich lockerte und er von mir abließ.» Uzaemon wäscht sich im Wasser die Hände und löscht seinen Durst.
«Seitdem denke ich in jeder Stadt», sagt Shuzai, «in jedem Dorf, auf jedem Marktplatz ...»
Das eiskalte Wasser lässt Uzaemons Kiefer zittern wie eine niederländische Stimmgabel.
«... und an jeder Wegkreuzung: Ich bin auf dieser Welt, aber nicht mehr von dieser Welt.»
Eine Wildkatze schleicht an einer entwurzelten Ulme entlang, die quer über den Weg gestürzt ist.
«Man sieht es in unseren Augen, dass wir nirgendwo hingehören ...» Shuzai runzelt die Stirn.
Die Wildkatze blickt die Männer unerschrocken an und gähnt.
Sie springt hinunter auf einen Felsen, trinkt aus dem See und verschwindet.
«Manchmal wache ich nachts auf», sagt Shuzai, «und seine Hände würgen mich.»
Uzaemon hat sich oberhalb des Weges in einem tiefen Krater versteckt, der von der Witterung ausgehöhlt wurde wie der Abdruck eines Backenzahns. Bei ihm sind zwei der Söldner: Kenka, ein geschmeidiger Mann mit schnellen, flüssigen Bewegungen, und Muguchi, ein untersetzter, wortkarger Geselle mit gespaltener Lippe. Aus dem Krater sehen sie ein Stück vom Torhaus auf halber Strecke, das nur einen Pfeilschuss weit entfernt liegt. Weiter oben, über dem Steilhang, warten Shuzai und vier seiner Männer auf den Wachwechsel. Am anderen Flussufer prescht etwas durch den Wald.
«Ein Wildschwein», murmelt Kenka. «Wird wohl ein alter dicker Keiler sein.»
In der Ferne erklingt kaum vernehmbares Glockenläuten, vermutlich vom Shiranui-Schrein.
Der Kahle Gipfel hängt unter dicken, zerklüfteten Wolken am Himmel, unwirklich wie eine Theaterkulisse.
«Regen ist gut», bemerkt Kenka, «sofern er sich Zeit lässt, bis die Sache abgeschlossen ist: Er wischt unsere Spuren fort, lässt die Flüsse ansteigen, erschwert den Pferden das Vorankommen und ...»
«Stimmen?» Muguchi gibt ihnen ein Zeichen, still zu sein. «Horcht - drei Männer ...»
Mindestens eine Minute lang hört Uzaemon nichts, aber dann ist die verbitterte Stimme unter ihnen auf dem Weg ganz nahe. «Vor der Hochzeit hieß es: ‹Nein, ich gehöre erst dir, wenn wir verheiratet sind.› Jetzt sind wir verheiratet, und es heißt: ‹Nein, ich bin nicht in Stimmung, Pfoten weg.› Ich habe doch nur versucht, ein bisschen Vernunft in sie reinzuprügeln, so wie es jeder Ehemann tun würde, aber seitdem ist der Dämon, der in der Frau des Schmieds sitzt, auf meine übergesprungen, und sie würdigt mich keines Blickes mehr. Ich kann mich nicht mal von der Giftschlange scheiden lassen, denn dann holt ihr Onkel sich sicher sein Boot zurück, und was mache ich dann?»
«Dann sitzt du auf dem Trocknen», sagt einer seiner Begleiter, «ganz einfach.»
Die drei nähern sich dem Tor. «Mach auf, Buntarō», ruft einer. «Wir sind’s.»
«Ach so, ‹wir›!?» Der Schrei klingt gedämpft. «Und wer ist ‹wir›?»
«Ichirō, Ubei und Tōsui», antwortet einer, «und Ichirō schimpft über seine Frau.»
«Für die ersten drei haben wir Platz, aber die Frau bleibt draußen.»
Zehn Minuten später kommen die drei abgelösten Wachen aus dem Torhaus. «Mach schon, Buntarō», sagt der eine, als sie in Hörweite sind, «erzähl uns die deftigen Einzelheiten.»
«Die gehen nur mich, Ichirōs Frau und seinen ehrenwerten Futon etwas an.»
«Verschlossen wie eine Jungfrau, du ...» Die Stimmen werden leiser und verklingen in der Ferne. Uzaemon, Kenka und Muguchi beobachten das Tor und lauschen.
Minuten folgen auf Minuten, folgen auf Minuten, folgen auf Minuten ...
Es wird langsam dunkler, aber die Sonne geht doch nicht unter.
Hier stimmt etwas nicht!, zischt die Angst in Uzaemon.
Muguchi meldet: «Geschafft!» Ein Torflügel öffnet sich. Eine Gestalt erscheint und winkt. Als Uzaemon den Abhang hinuntergeklettert ist, sind die anderen schon fast beim Torhaus. Kenka wartet am Eingang und flüstert: «Kein Wort.» Uzaemon betritt einen geschützten Vorraum. Dahinter erstreckt sich ein länglicher, auf Pfählen über den Fluss gebauter Raum. Er sieht einen Ständer mit Spießen und Streitäxten, einen umgestülpten Kochtopf und ein schwelendes Feuer. Von einem Balken baumeln an Seilen drei große Säcke. Der erste Sack bewegt sich, im zweiten zeichnet sich ein Ellbogen oder ein Knie ab. Nur der dritte Sack hängt still, als wären Steine darin.
Bara säubert sein Wurfmesser mit einem blutbeschmierten Lappen ...
Unter ihnen stößt der Fluss menschliche Sprachfetzen aus.
Er ist nicht durch dein Schwert gestorben, denkt Uzaemon, aber er ist gestorben, weil du hier bist.
Shuzai führt Uzaemon durch das hintere Tor. «Wir haben ihnen gesagt, dass wir ihnen nichts tun wollen und dass niemand verletzt werden muss. Und dass Samurai sich nicht ergeben können, Bauern und Fischer aber schon. Daraufhin ließen sie sich bereitwillig fesseln und knebeln, aber einer versuchte, uns zu überlisten. Da drüben an der Seite gibt es eine Falltür in den Fluss. Er sprang darauf zu und hätte sie fast erreicht. Wäre er entkommen, wäre das verheerend für uns gewesen. Baras Wurfmesser hat ihm den Hals durchbohrt, und Tsuru konnte gerade noch verhindern, dass er durch die Falltür fiel und nach Kurozane hinuntergespült wurde.»
Ob Ichiros Frau, überlegt Uzaemon, jetzt Ehebrecherin und Witwe gleichzeitig ist?
«Er hat nicht gelitten.» Shuzai fasst ihn am Arm. «Er war innerhalb von Sekunden tot.»
Nachts wird die Mekura-Klamm zu einem urzeitlichen Ort. Der zwölfköpfige Stoßtrupp bewegt sich im Gänsemarsch vorwärts. Der Weg schmiegt sich oberhalb des Flusses an die steilen Felsen. Das schmerzvolle Knarren der Birken und Eichen weicht schwer atmendem Immergrün. Shuzai hat eine Neumondnacht gewählt, aber die Wolken lösen sich auf, und das Leuchten der Sterne überzieht die Finsternis mit einem goldenen Schimmer.
Er hat nicht gelitten, denkt Uzaemon. Er war innerhalb von Sekunden tot.
Er setzt einen wunden Fuß vor den anderen und versucht, nicht zu denken.
Ein ruhiges Leben als Lehrer, Uzaemon erblickt eine mögliche Zukunft, an einem ruhigen Ort ...
Er setzt einen wunden Fuß vor den anderen und versucht, nicht zu denken.
Vielleicht hat sich der getötete Wachmann auch nichts als ein ruhiges Leben gewünscht ...
Seine Begeisterung, an dem Angriff beteiligt zu sein, ist verschwunden.
Der Geist seines Geistes spielt ihm immer wieder die Szene vor, wie Bara das Messer am blutbeschmierten Lappen abwischt - wieder und wieder, bis der Trupp zur Todoroki-Brücke kommt.
Shuzai und Tsuru beraten sich, wie sie die Brücke später am besten zerstören.
Im Zedernbaum oder dort drüben in der Tanne schreit eine Eule ... einmal, zweimal, nah ... fort.
Die Schreinglocke schlägt laut und nah die späte Stunde des Hahns. Noch vor dem nächsten Läuten, denkt Uzaemon, ist Orito frei. Die Männer maskieren sich mit schwarzen Tüchern; nur ein Schlitz für Augen und Nase bleibt frei. Sie gehen vorsichtig weiter. Sie rechnen zwar nicht mit einem Hinterhalt, aber sie kalkulieren die Möglichkeit ein. Als unter Uzaemons Fuß ein Zweig knackt, drehen sich die anderen mit finsteren Blicken zu ihm um. Der Anstieg wird flacher. Ein Fuchs bellt. Sie kommen zu Torī-Toren, die wie ein Tunnel den Berg hinaufführen. Der Wind bläst von der Seite. Die Männer bleiben stehen und versammeln sich um Shuzai. «Der Schrein liegt vierhundert Schritte weiter den Berg hinauf ...»
«Junrei-san.» Shuzai wendet sich an Uzaemon. «Du wartest hier. Denke an die weisen Worte: ‹Man bezahlt eine Armee für tausend Tage, um sie einen Tag einzusetzen.› Dieser Tag ist heute. Versteck dich abseits des Weges, aber halte dich warm. Du bist weiter gekommen als die meisten ‹Kunden›, es ist also keine Schande, hier zu warten. Sobald unser Vorhaben abgeschlossen ist, lasse ich dich holen, doch bis dahin halte dich fern vom Schrein. Sei unbesorgt. Wir sind Krieger. Sie sind nur eine Handvoll Mönche.»
Uzaemon steigt über steiniges Eis und verwehte Piniennadeln zu einer nahen Senke, die ihm Schutz vor dem scharfen Wind bietet. Um sich warm zu halten, macht er so lange Kniebeugen, bis seine Schenkel schmerzen. Der Nachthimmel ist ein nicht zu entzifferndes Manuskript. Das letzte Mal hat er in den Sternenhimmel geblickt, als er mit de Zoet auf dem Wachtturm von Dejima stand. Das war im vergangenen Sommer, als das Leben noch einfach war. Er stellt sich eine Abfolge von Bildern mit dem Titel Die unblutige Befreiung von Aibagawa Orito vor: Er sieht, wie Shuzai und drei Samurai die Mauer erklimmen. Das nächste Bild sind drei überrumpelte Mönche, dann sieht er den obersten Mönch, der durch den alten Innenhof eilt und murmelt: «Fürst Enomoto wird verärgert sein, aber was bleibt uns anderes übrig?» Orito wird geweckt und gebeten, sich wandertaugliche Kleidung anzuziehen. Sie bindet sich ein Kopftuch um das schöne, verbrannte Gesicht. Das letzte Bild zeigt ihren Gesichtsausdruck, als sie ihren Retter erkennt. Uzaemon vollführt zitternd ein paar Schwertübungen, aber es ist zu kalt, um sich zu konzentrieren, und so macht er sich daran, sich einen Namen für sein neues Leben auszudenken. Den Vornamen hat ihm, ohne es zu wissen, Shuzai gegeben - Junrei, der Pilger -, aber welchen Familiennamen soll er wählen? Er könnte darüber mit Orito sprechen: Vielleicht kann er den Namen Aibagawa annehmen. Du forderst das Schicksal heraus, ermahnt er sich, dir dein Glück zu stehlen. Er reibt sich die steifgefrorenen Hände und überlegt, wie viel Zeit schon vergangen ist, seit Shuzai den Überfall begonnen hat. Er weiß es nicht. Eine Achtelstunde? Eine Viertel? Die Schreinglocke hat nicht mehr geläutet, seit sie die Todoroki-Brücke überquert haben. Für die Mönche gibt es keinen Grund, die Nachtstunden anzuzeigen. Wie lange soll er warten, bevor er zu dem Schluss kommen muss, dass die Rettung gescheitert ist? Und was dann? Wenn die Mönche Shuzais herrenlose Samurai überwältigt haben, welche Aussichten hat dann ein ehemaliger Dolmetscher dritten Ranges?
Todesgedanken schleichen sich durch die Pinien an ihn heran.
Er wünscht sich, der menschliche Geist wäre eine Schriftrolle, die man beiseitelegen könnte ...
«Junrei-san, wir haben ...»
Ein sprechender Baum: Uzaemon fährt zusammen und verliert das Gleichgewicht.
«Haben wir dich erschreckt?» Der Schatten eines Felsblocks verwandelt sich in den Söldner Tanuki.
«Ein wenig, ja.» Uzaemon beruhigt seinen Atem.
«Wir haben die Frau», Kenka steigt aus dem Baum. «Sie ist in Sicherheit.»
«Gut», sagt Uzaemon. «Sehr, sehr gut.»
Eine schwielige Hand greift Uzaemons Hand und hilft ihm aufzustehen. «Wurde jemand verletzt?» Eigentlich wollte Uzaemon fragen: «Wie geht es Orito?»
«Niemand», sagt Tanuki. «Meister Genmu ist ein Mann des Friedens.»
«Das heißt», fügt Kenka hinzu, «er duldet wegen einer Nonne kein Blutvergießen in seinem Schrein. Aber er ist ein schlauer alter Fuchs, und Deguchi-san sagt, bevor wir abziehen und sie das Tor verrammeln, sollst du dich überzeugen, dass uns der Mann des Friedens nicht mit einem Köder prellt.»
«Es gibt nämlich zwei Nonnen mit verbranntem Gesicht.» Tanuki zieht den Stopfen aus einer kleinen Flasche und trinkt. «Ich war im Haus der Schwestern. Eine kuriose Menagerie hat Enomoto sich dort zusammengestellt! Hier, trink: Das schützt vor der Kälte und gibt dir Kraft. Warten ist schlimmer als handeln.»
«Nein, danke.» Uzaemon zittert. «Mir ist warm genug.»
«Du hast drei Tage Zeit, um dich hundertfünfzig Kilometer vom Lehen Kyōga zu entfernen. Am besten, du setzt nach Honshu über. Mit einer Erkältung in der Lunge kommst du nicht so weit. Trink!»
Uzaemon nimmt die schroffe, gutgemeinte Geste an. Der Alkohol brennt ihm in der Kehle. «Danke.»
Die drei gehen zurück zu dem Tunnel aus Torī-Toren.
«Vorausgesetzt, ihr habt die richtige Aibagawa-san gesehen, in welchem Zustand habt ihr sie vorgefunden?»
Die beiden Söldner zögern, und Uzaemon befürchtet das Schlimmste.
«Mager», antwortet Tanuki, «aber wohlauf, würde ich sagen. Gefasst.»
«Ihr Verstand ist klar», fährt Kenka fort. «Sie hat nicht gefragt, wer wir sind: Sie wusste, dass ihre Geiselnehmer uns vielleicht belauschen. Ich kann verstehen, dass ein Mann für diese Frau so viel Zeit und Geld aufwendet.»
Sie erreichen den Weg und beginnen den letzten Aufstieg durch die Torī-Tore.
Uzaemon verspürt ein eigenartiges Schwächegefühl in den Beinen. Die Aufregung, denkt er, das ist ganz normal.
Doch schon bald wogt der Weg wie steigender Seegang.
Die letzten beiden Tage waren anstrengend. Er versucht, gleichmäßig zu atmen. Aber das Schlimmste ist vorüber.
Hinter den Torī-Toren wird der Boden eben. Vor ihnen erhebt sich der Shiranui-Schrein.
Dächer ducken sich hinter hohen Mauern. Durch einen Spalt im Tor dringt schwaches Licht.
Er hört Dr. Marinus’ Cembalo. Er denkt: Das kann nicht sein.
Seine Wange drückt sich in den überfrorenen Laubkompost, weich wie der Bauch einer Frau.
Das Bewusstsein regt sich in den Nasenschleimhäuten und breitet sich in seinem Kopf aus, aber er kann sich nicht bewegen. Fragen und Feststellungen drängen sich um ihn wie eine Schar Besucher am Bett eines Kranken: «Du bist wieder ohnmächtig geworden», sagt jemand. «Du bist im Shiranui-Schrein», sagt ein anderer, und dann reden alle durcheinander: «Hat man dich betäubt?», «Du sitzt aufrecht auf kalter nackter Erde», «Ja, man hat dich betäubt: Tanukis Getränk?», «Deine Hände sind hinter einer Säule zusammengebunden, und deine Füße sind gefesselt», «Wurde Shuzai von einem seiner Männer verraten?»
«Er kann uns jetzt hören, Abt», sagt eine unbekannte Stimme.
Die Spitze einer Glasflasche berührt Uzaemons Nase.
«Danke, Suzaku», sagt eine bekannte Stimme, die er noch nicht zuordnen kann.
Es riecht nach Reis, Sake und eingelegtem Gemüse: Er muss in einem Speicher sein.
Oritos Briefe. Die Stelle auf seinem Bauch fühlt sich leer an. Sie sind weg.
Stechender Schmerz dringt wie ein Wespenschwarm in sein taubes Hirn.
«Öffnen Sie die Augen, Ogawa der Jüngere», sagt Enomoto. «Wir sind keine Kinder mehr.»
Er gehorcht, und im Licht der Laternen taucht das Gesicht des Fürsten von Kyōga auf
«Sie sind ein achtenswerter Gelehrter», sagt das Gesicht. «Aber ein lachhaft miserabler Dieb.»
An den Seiten sind schemenhaft drei oder vier Gestalten zu erkennen.
«Ich bin nicht hergekommen, um etwas zu stehlen», erklärt Uzaemon seinem Bezwinger, «das Euch gehört.»
«Warum nötigen Sie mich, deutlicher zu werden? Der Shiranui-Schrein ist ein Organ im Körper des Lehens Kyōga. Die Schwestern gehören dem Schrein.»
«Weder hatte ihre Stiefmutter das Recht, sie zu verschachern, noch hattet Ihr das Recht, sie zu kaufen.»
«Schwester Aibagawa ist eine freudige Dienerin der Göttin. Sie hat nicht den Wunsch, das Kloster zu verlassen.»
«Das würde ich gern von ihr selbst hören.»
«Nein. Wir mussten einige Denkweisen ihres alten Lebens aus ihr ...», Enomoto tut so, als suche er nach dem treffenden Wort, «... herausbrennen. Die Wunden sind verheilt, doch nur ein gleichgültiger Fürstabt würde zulassen, dass ein fahriger ehemaliger Geliebter darin herumstochert.»
Die anderen, denkt Uzaemon. Was ist mit Shuzai und den anderen?
«Shuzai ist wohlauf», sagt Enomoto. «Er und die übrigen zehn meiner Leute schlürfen Suppe in der Küche. Ihr Komplott hat ihnen einiges abverlangt.»
Uzaemon will es nicht glauben. Ich kenne Shazai seit zehn Jahren.
«Er ist ein getreuer Freund», Enomoto verkneift sich mühsam ein Lächeln, «aber nicht Ihr getreuer Freund.»
Er lügt, beharrt Uzaemon, er lügt. Er sucht nur nach dem passenden Schlüssel zu meinen Gedanken ...
«Warum sollte ich lügen?» Mitternachtsblaue Moireseide wogt auf, als Enomoto sich näher zu ihm setzt. «Nein, dies ist die beachtenswerte Geschichte von Ogawa Uzaemon und seiner Unzufriedenheit. Als Adoptivsohn einer einst berühmten Familie erlangte er dank seiner Begabungen eine hohe Stellung, erfreute sich der Achtung der Shirandō-Akademie, eines sicheren Einkommens, einer hübschen Gattin und beneidenswerter Handelsmöglichkeiten mit den Niederländern. Wer könnte mehr verlangen? Ogawa Uzaemon verlangte mehr! Er war mit der Krankheit infiziert, die die Welt ‹wahre Liebe› nennt. Am Ende ist er daran gestorben.»
Die schemenhaften Gestalten am Rand bewegen sich.
Ich werde nicht um mein Lehen betteln, gelobt sich Uzaemon, aber ich will wissen, warum ich sterben muss. «Wie viel habt Ihr Shuzai bezahlt, damit er mich verrät?»
«Kommen Sie! Die Gunst des Fürsten von Kyōga ist mehr wert als die Prämie eines Kopfgeldjägers.»
«Ein junger Mann, ein Wachposten, der am Tor auf halber Strecke gestorben ist ...»
«Ein Spitzel im Dienst des Fürsten von Saga: Ihr gewagtes Unterfangen gab uns eine gute Gelegenheit, ihn aus dem Weg zu schaffen.»
«Warum habt Ihr so viel Aufwand betrieben, mich auf den Shiranui zu locken?»
«Ein Mord in Nagasaki hätte unangenehme Fragen zur Folge haben können, und die Vorstellung, dass Sie sterben, so nah Ihrer Geliebten - nur ein paar Zimmer von ihr entfernt! -, war unwiderstehlich poetisch.»
«Ich will sie sehen», der Wespenschwarm schwirrt durch Uzaemons Hirn, «oder ich werde Euch töten, wenn ich auf der anderen Seite bin.»
«Wie hübsch: ein Todesfluch von einem Shirandō-Gelehrten! Leider verfüge ich über ausreichend empirische Beweise, um einen Descartes und sogar einen Marinus davon zu überzeugen, dass Todesflüche wirkungslos sind. Im Laufe der Jahrhunderte haben unzählige Männer, Frauen und selbst kleine Kinder gelobt, mich hinunter in die Hölle zu ziehen. Wie Sie sehen, wandle ich noch immer auf unserer wunderbaren Erde.»
Er will meine Angst auskosten. «Dann glaubt Ihr also an die irrsinnigen Gebote Eures Ordens?»
«Aber ja! Wir haben bei Ihnen einige schöne Briefe gefunden, aber nicht eine gewisse Hartriegelschatulle. Ich möchte nicht vorgeben, dass Sie Ihr Leben retten könnten: Ihr Tod war vorherbestimmt, seit die Kräuterheilerin an Ihre Tür klopfte. Aber Sie können den verheerenden Brand verhindern, der das Haus der Ogawas im sechsten Monat dieses Jahres vernichten wird. Was halten Sie davon?»
«Zwei Briefe», lügt Uzaemon, «wurden heute an Ogawa Mimasaku gesandt. Mit dem ersten wird mein Name aus dem Stammbuch der Ogawas gelöscht. Mit dem zweiten werde ich von meiner Frau geschieden. Warum ein Haus vernichten, das in keiner Verbindung zu mir steht?»
«Aus reiner Boshaftigkeit. Geben Sie mir die Schriftrolle, oder sterben Sie mit der Gewissheit, dass auch die anderen sterben werden.»
«Sagen Sie mir, warum Sie Dr. Aibagawas Tochter entführt haben.»
Enomoto beschließt, ihm den Gefallen zu tun. «Weil ich fürchtete, sie zu verlieren. Dank der guten Dienste Ihres Kollegen Kobayashi kam ich in den Besitz einer Seite aus dem Zeichenbuch eines Niederländers. Schauen Sie. Ich habe sie mitgebracht.»
Enomoto faltet ein europäisches Blatt Papier auseinander und hält es hoch:
Bewahre dieses Bild von ihr, befiehlt Uzaemon seinem Gedächtnis. Und zeige sie mir am Ende.
«De Zoet hat sie recht gut getroffen.» Enomoto faltet die Zeichnung zusammen. «So gut, dass Aibagawa Seians Witwe befürchtete, der Niederländer hätte es auf den wertvollsten Besitz der Familie abgesehen. Das Wörterbuch, das Ihr Diener Orito heimlich übergab, bewirkte die Entscheidung. Mein Verwalter überredete die Witwe, sich über die Trauervorschriften hinwegzusetzen und die Zukunft ihrer Stieftochter ohne weiteren Aufschub zu besiegeln.»
«Wusste das elende Weib von Ihren irrsinnigen Bräuchen?»
«Sie wissen über die Gebote so wenig wie ein Regenwurm von Kopernikus.»
«Sie halten sich einen Harem mit entstellten Frauen zum Vergnügen Ihrer Mönche ...»
«Merken Sie nicht, dass Sie sich anhören wie ein Kind, das nicht zu Bett gehen will?»
«Warum legt Ihr der Akademie nicht eine Abhandlung vor», sagt Uzaemon, «in der ...»
«Wie kommt ihr sterblichen Insekten nur darauf, dass eure Ungläubigkeit von Belang sein könnte?»
«... in der Ihr erklärt, dass Ihr die Gaben tötet, um ihre Seelen zu destillieren ...»
«Es ist nun Ihre letzte Möglichkeit, das Haus der Ogawas vor dem Untergang ...»
«... die Ihr dann wie Parfüm in Flaschen füllt und trinkt wie eine Arznei, um den Tod zu überlisten. Warum teilt Ihr der Welt Eure wunderbaren Erkenntnisse nicht mit?» Uzaemon blickt finster zu den sich bewegenden Gestalten. «Ich sage Euch, warum: weil noch ein Fünkchen Verstand in Euch steckt, der Euch wie ein innerer Jiritsu sagt: ‹Das ist böse.›»
«Ach, böse. Böse, böse, böse. Ihr Sterblichen zückt dieses Wort wie ein Schwert, und dabei ist es nichts als leerer Hochmut. Ist es ‹böse›, wenn Sie das Dotter aus einem Ei saugen? Der Drang zu überleben ist ein Naturgesetz, und mein Orden besitzt - oder besser gesagt, er ist - das Geheimnis, die Sterblichkeit zu überwinden. Neugeborene sind eine unschöne Notwendigkeit, aber nach zwei Lebenswochen ist die Seele bereits so gefangen, dass sie sich nicht mehr destillieren lässt. Ein fünfzigköpfiger Orden benötigt eine regelmäßige Versorgung - für den Eigenbedarf und um sich die Gunst einiger weniger Auserwählter zu sichern. Ihr Freund Adam Smith würde das begreifen. Außerdem gäbe es die Gaben ohne den Orden überhaupt nicht. Sie sind eine Ingredienz, die wir erzeugen. Was ist daran ‹böse›?»
«Wortreicher Irrsinn, Fürstabt Enomoto, bleibt dennoch Irrsinn.»
«Ich bin über sechshundert Jahre alt. Sie werden in wenigen Minuten sterben ...»
Er glaubt an die Gebote, erkennt Uzaemon. Er glaubt jedes einzelne Wort.
«... wer also ist am Ende stärker? Ihre Vernunft? Oder mein wortreicher Irrsinn?»
«Lasst mich gehen», sagt Uzaemon, «lasst Fräulein Aibagawa gehen, und ich verrate Euch, wo die ...»
«Nein, nein, da gibt es kein Feilschen. Niemand außerhalb des Ordens darf von den Geboten wissen und weiterleben. Sie müssen sterben, so wie Jiritsu sterben musste und die aufdringliche alte Kräuterheilerin ...»
Uzaemon stöhnt auf vor Entsetzen. «Sie hat Euch nichts getan!»
«Sie wollte dem Orden schaden. Wir haben uns nur verteidigt. Aber ich möchte, dass Sie sich das hier ansehen - einen Gegenstand, den das Schicksal in Gestalt von Vorstenbosch dem Niederländer mir verkauft hat.» Enomoto hält Uzaemon eine fremdländische Pistole vors Gesicht. «Der Griff ist mit Perlmuttintarsien versehen, und die Arbeit zeugt von so erstklassigem handwerklichem Können, dass sie die Behauptung der Konfuzianer widerlegt, die Europäer hätten keine Seele. Seit ich durch Shuzai von Ihrem heldenhaften Vorhaben erfuhr, wartet sie auf Sie. Sehen Sie - sehen Sie zu, Ogawa, das betrifft Sie! Man spannt den ‹Schlaghammer› bis zur ‹Sicherheitsrast›, und so lädt man: Man füllt das Schwarzpulver in den Lauf, legt die Bleikugel mit einem ‹Schusspflaster› auf die Mündung und schiebt sie mit dem ‹Ladestock› bis auf das Pulver ...»
Jetzt, Uzaemons Herz schlägt an seinen Brustkorb wie eine blutige Faust, jetzt, jetzt ...
«... dann gibt man ein wenig Zündkraut auf die Pfanne, schließt den Deckel, und schon ist unsere kleine Kanone schussbereit. Fertig, in einer halben holländischen Minute. Gewiss, ein meisterlicher Bogenschütze kann innerhalb eines Wimpernschlages den zweiten Pfeil abschießen, aber Handfeuerwaffen sind rascher zu erzeugen als meisterliche Bogenschützen. Jeder Sohn eines Scheißeträgers könnte mit diesem Ding umgehen und einen Samurai von seinem Pferd holen. Der Tag kommt - Sie werden ihn nicht mehr erleben, aber ich -, an dem Feuerwaffen sogar unsere abgeschlossene Welt verändern werden. Wenn man den Abzug drückt, schlägt der Hammer mit dem Feuerstein auf diese Metallklappe. Die Pfanne öffnet sich, der Funke setzt das Zündkraut in Brand, die Flamme dringt durch das Zündloch in den Lauf, entzündet das Schwarzpulver, und das Geschoss bohrt sich durch Ihr ...»
Enomoto drückt die Mündung auf Uzaemons pochendes Herz.
Warmer Urin läuft an Uzaemons Beinen hinunter, aber seine Angst ist zu groß, um sich zu schämen.
Jetzt, jetzt, jetzt, jetzt, jetzt, jetzt, jetzt ...
«... oder vielleicht ...» Die Pistolenmündung küsst Uzaemons Schläfe.
Jetzt jetzt jetzt jetzt jetzt jetzt jetzt
«Viehische Angst», ein Murmeln dringt an Uzaemons Ohr, «zersetzt Ihren Verstand, darum schenke ich Ihnen einen letzten Gedanken. Eine Todesmusik, sozusagen. Die Novizen des Shiranui-Ordens werden in die Zwölf Gebote eingeweiht, aber das dreizehnte lernen sie erst kennen, wenn sie Meister werden - einem von ihnen sind Sie heute Morgen begegnet, nämlich dem Wirt der Harubayashi-Herberge. Das Dreizehnte Gebot widmet sich einem letzten unschönen Punkt. Stiegen unsere Schwestern - und unsere Hausmütter - in die Untere Welt hinab und entdeckten, dass keine ihrer Gaben, keines ihrer Kinder lebt, könnte sie das veranlassen, Fragen zu stellen. Um solche Unannehmlichkeiten zu vermeiden, verabreicht Suzaku ihnen während des Abschiedsrituals eine sanfte Droge. Durch diese Droge sterben sie, lange bevor ihre Sänfte am Grund der Mekura-Klamm ankommt, einen traumlosen Tod. Sie werden in dem Bambushain beerdigt, in den Sie heute Morgen hineingestolpert sind. Und hier kommt Ihr letzter Gedanke: Durch ihren kindischen und dilettantischen Versuch, Aibagawa Orito zu retten, haben Sie sie nicht nur zu zwanzig Jahren Knechtschaft verurteilt - Sie haben sie buchstäblich umgebracht.»
Die Pistole ruht auf Ogawa Uzaemons Stirn ...
Er verwendet seinen letzten Moment auf ein Gebet. Räche mich.
Ein Klicken, ein Zischen, ein ersticktes Wimmern nichts nur
Jetzt Jetzt Jetzt Jetzt jetzt jetzt jetzt jetzt jetztjetztjetzt -
Ein Knall zerreißt den schmalen Lichtspalt, und die Sonne strömt herein.