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We are family?
Als ich am nächsten Morgen mein Fahrrad aus dem Bahnhof schob, hing dichter Nebel über der Innenstadt. Nach den emotionalen Turbulenzen der letzten Tage wollte ich endlich wieder einen klaren Kopf bekommen. Und was wäre da besser geeignet als eine ausgedehnte Fahrradtour?
Die sanften Wiesen und Felder und die malerischen Dörfer, die sich entlang der Straße erstreckten, waren sogar im trüben Dezemberlicht ein großartiger Anblick. Seit mich Jack überredet hatte, bei den Radtouren der Pinstripes mitzumachen, war ich die Strecke nach Kingsbury schon etliche Male gefahren. Jack, Charlie und Tom waren seit der Uni totale Fahrradfreaks und nutzten jede Gelegenheit, um durch möglichst unwegsames Gelände zu radeln. Nachdem mich die »Schrecklichen Drei« wochenlang beschwatzt und mit ihrer Pro-Fahrrad-Propaganda weichgeklopft hatten, verbrachte ich auf der Suche nach einem passenden Drahtesel einen sehr amüsanten Einkaufstag mit Jack, der wie ein Kind mit mir durch die zahllosen Geschäfte hüpfte. Mit Mountainbiketouren über Stock und Stein hatte ich mich zwar nicht anfreunden können, aber dafür liebte ich es, über Land zu fahren – vor allem an Tagen wie diesem, wenn ich zeitlich völlig ungebunden war. Außerdem hatte diese spezielle Strecke einen großen Vorteil: Eine köstliche Kuchenpause in Gesellschaft zweier geliebter Menschen war stets inklusive.
Doch als ich durch das hübsche Örtchen Shustoke fuhr, hatte ich nur einen Gedanken im Kopf: den Fremden vom Weihnachtsmarkt. Die Erinnerung an das aufregende Gefühl seiner Nähe und seines unglaublichen Kusses hatte mich seit Samstag jede Nacht in meinen Träumen heimgesucht und trieb mich schier in den Wahnsinn. Ich musste ihn finden … aber wie? Letztlich waren wir uns am vermutlich hektischsten Einkaufstag des Jahres auf einem überfüllten Weihnachtsmarkt begegnet, umringt von zahllosen Leuten, die ich nie wiedererkennen würde. Die Chancen auf ein Wiedersehen standen also denkbar schlecht. Doch wie Mr Williams, mein früherer Mathelehrer, zu sagen pflegte, enthielt jede winzige Chance eine Möglichkeit, und sei diese auch noch so unwahrscheinlich.
Ich gehörte zu den Menschen, die prinzipiell alles für möglich hielten, weshalb auch die Suche nach meinem »Phantomküsser« für mich kein von vorneherein ausweglos erscheinendes Unterfangen war, wie es für die meisten anderen Leute vermutlich der Fall gewesen wäre. In dieser Hinsicht bin ich meinem Onkel Dudley sehr ähnlich. Er war der positivste Mensch, den ich kannte, immer begeistert von den Möglichkeiten, die das Leben bot, und ohne Angst vor Herausforderungen. Manchmal fragte ich mich, ob ich nicht eher seine Tochter hätte sein sollen als die meines Dads. Der schloss jegliche Risiken nämlich immer erst mit Hilfe seitenlanger Berechnungen aus. Onkel Dudleys Lebensphilosophie lautete, dass am Ende immer alles gut würde. Mit seiner Gesundheit stand es nicht zum Besten, daneben hatten Tante Mags und er im Lauf ihrer Ehe mit einer ganzen Reihe von Problemen fertigwerden müssen (unter anderem mit der Tatsache, dass sie keine Kinder bekommen konnten – was für beide, wie ich weiß, ein schwerer Schlag gewesen war), und sie waren auch nicht reich genug, um ihren Ruhestand völlig sorglos genießen zu können, aber dennoch waren sie ohne Zweifel das glücklichste Paar, das ich kannte.
Auf dem Weg zu meinem Ziel überquerte ich eine kleine gewölbte Brücke über einen Kanal. Am anderen Ende der Brücke bog ich von der Straße auf den Treidelpfad ab, der zu einigen Liegeplätzen führte. Würziger Holzofenrauch kitzelte mich in der Nase, als ich abstieg und das Fahrrad an den Kanalbooten, den sogenannten Narrowboats, vorbeischob, deren Namen ich auswendig kannte: Taliesin, The King, Barely-A-Wake, Adagio, Tith, Llamedos. Die winzigen Rasenflächen neben den Booten gaben wie Schnappschüsse die Persönlichkeit des jeweiligen Eigners wieder und reichten von einem gut bestellten Gemüsebeet über einen aus Ziegeln erbauten Grillplatz mit einem alten Campingtisch davor bis hin zu etwas, das sich nur als »Gartenzwergschrein« beschreiben ließ. Am Ende der Reihe der bunt gestrichenen Boote lag Our Pol – ein wunderbares, knapp zwanzig Meter langes, grün und rot gestrichenes Kanalboot, dekoriert mit traditionell bemalten Emaillekannen, Schüsseln und Blumentöpfen mit Stiefmütterchen.
Ein vergnügtes Pfeifen ertönte aus dem Inneren des Bootes. Ich klopfte dreimal an die Kabinentür. »Jemand an Bord?«
Abrupt brach das Pfeifen ab, die Tür flog auf und Onkel Dudley erschien, die blaue Kappe verwegen schief auf dem Kopf und das Gesicht ein einziges Strahlen. »Mags, Liebling! An der Tür ist eine Radfahrerin mit rotem Gesicht, die dringend ein Tässchen Tee braucht!«
»Ich setz schon mal den Teekessel auf!«, erklang Tante Mags’ Stimme aus dem Inneren.
»Hi, Onkel Dud«, sagte ich lächelnd. »Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, dass ich unangemeldet vorbeikomme.«
»Natürlich nicht, Schätzchen! Wir freuen uns immer, dich zu sehen. Schmeiß dein Rad irgendwohin und komm rein.«
Onkel Dudley war schon als kleiner Junge ein Fan von Kanalbooten gewesen. Von Dad wusste ich, dass das Lieblingsspielzeug seines jüngeren Bruders ein kleines hölzernes Kanalboot war (ein Geschenk meines Ururgroßvaters), das er auf jeden Ausflug und jede Familienfeier mitschleppte. In seiner Zeit als Ingenieur an den Fließbändern von Leyland und Rover hatte mein Onkel dann erstmals Bekanntschaft mit einem realen Objekt seiner Begierde gemacht, als sein langjähriger Arbeitskollege Eddie das rostige Wrack eines alten Kohlenschiffs kaufte und dieses nach und nach restaurierte, bis es wieder voll funktionstüchtig war. Von diesem Zeitpunkt an war es Onkel Dudleys einziges Bestreben gewesen, irgendwann ein eigenes Kanalboot, oder vielmehr ein Hausboot, zu besitzen. Als er dann im Alter von zweiundfünfzig in den freiwilligen Vorruhestand ging, verwirklichte er seinen Traum und kaufte von Eddies Cousin The Star, die er nach Tante Mags’ geliebter Tante in Our Pol umbenannte.
Die andere große Liebe in seinem Leben, Tante Mags, war von der ganzen Hausboot-Idee bei weitem nicht so angetan gewesen wie ihr Gatte, doch weil es sein Traum war und weil sie – trotz ihrer gegenteiligen Behauptungen – Onkel Dudley aufrichtig liebte, fügte sie sich. Und seitdem fügte sie sich an jedem Wochenende und an allen Feiertagen oder wann immer es Onkel Dudley juckte, mal nach dem »alten Mädchen« zu sehen. Ihre Frustration über die viele Zeit, die sie auf dem Boot verbrachte, äußerte sich nicht direkt, sondern auf ganz subtile Weise – vor allem in ihrem Backverhalten. Konkret verhielt sich ihr Stresslevel direkt proportional zur Menge der Backwaren, die sie in dem kleinen Holzofen in der Kombüse produzierte.
Gemessen an den Backblechen, die waghalsig auf jeder glatten Oberfläche im Bootsinneren balancierten, hatte Tante Mags heute einen besonders schlechten Tag.
»Backst du wieder mal, Tante Mags?«, fragte ich grinsend, als ich die warme Kajüte betrat.
Mags verzog das Gesicht: »Nur ein bisschen. Komm her und umarme deine arme alte Landrattentante!«
Ich liebte Tante Mags’ Umarmungen. Sie nahm einen auf diese resolute, aber liebevolle Art in die Arme, die alles sofort leichter erscheinen ließ. Ganz anders als bei Mum. Meine Mutter verstand unter einer Umarmung einen Luftkuss mit minimalem Körperkontakt. Auf diese Weise knitterte die Kleidung nicht so sehr, und man ersparte sich die Peinlichkeit öffentlicher Zuneigungsbekundungen. Ich war auch nicht der »Knuddeltyp«, der ständig allen um den Hals fiel, aber bei meiner Tante war es anders. Ihre Umarmungen vermittelten Wärme und Freude (ganz ähnlich wie ihre Backwaren).
Mit einem Winseln machte sich Elvis bemerkbar, der aus den Händen von Tierquälern befreite winzige Pudel meiner Tante und meines Onkels. Elvis mochte das Bootsleben noch weniger als Tante Mags, und wann immer er an Bord von Our Pol war, verwandelte er sich in ein zitterndes, verschrecktes grau gelocktes Fellbündel.
Ich löste mich aus der Umarmung und bückte mich, um den armen, verängstigten Elvis zu streicheln. »Hey, Elvis, wie geht’s, alter Knabe?« Elvis leckte zögerlich meine Hand, um sich sofort wieder in die Sicherheit seines Schlafplatzes neben dem Herd zu flüchten, der mit einer verblichenen bunt karierten Wolldecke gepolstert war.
Tante Mags packte mich an den Schultern und hielt mich auf Armeslänge von sich entfernt. »So, lass dich erst einmal ansehen.« Ihre Augen wurden schmal. »Hmmm. Oh je. In diesem hübschen Köpfchen herrscht ja ein ziemliches Durcheinander. So viele Fragen und Probleme. Da hilft nur eins …«
Sie ging zu den Kuchenformen und Backblechen, die kreuz und quer auf den Bänken und dem eingebauten Tisch des sogenannten Speisesaals übereinandergestapelt waren, hob Deckel an und zog Bleche hervor, bis sie das Gesuchte gefunden hatte.
»Ah, da ist er ja!« Sie hielt mir die Kuchenform unter die Nase. »Mokka-Walnuss-Kuchen. Das ist genau das, was du jetzt brauchst.«
Und sie hatte Recht – wie jedes Mal.
Vielleicht lag es daran, dass sie so oft backte – oder dass sie (wie ich insgeheim vermutete) eine Art von kulinarischer Hellsichtigkeit besaß –, doch Tante Mags’ Fähigkeit, für jede Gemütslage immer den genau richtigen Kuchen zu verordnen, ist praktisch legendär. Liebeskummer? »Zitronenkuchen, schlicht und einfach.« Sorgen? »Obstkuchen. Das Einzige, was funktioniert.« Erschöpft? »Cappuccinocreme-Kuchen – der macht dich munter, Schätzchen.«
»Du bist ein Genie, Tante M«, sagte ich lächelnd, als Onkel Dudley den Tee einschenkte und Tante Mags ein riesiges Stück Kuchen mit einem altertümlichen Buttermesser abschnitt, das sie todsicher einem von Onkel Dudleys zahllosen Flohmarktbesuchen zu verdanken hatte.
»Unsinn. Jeder weiß, dass Mokka-Walnuss-Kuchen bei wichtigen Entscheidungen unerlässlich ist. Stimmt’s, Dudley?«
Onkel Dudley nickte weise: »Absolut.«
So dubios diese Logik auch sein mochte, ich ertappte mich dabei, wie ich dümmlich vor mich hingrinste. »Und welche wichtigen Entscheidungen habe ich eurer Meinung nach zu fällen?«
»Kuchen können einem nicht alles sagen«, erwiderte meine Tante und drohte mir mit dem Buttermesser. »Also klär uns auf, liebste Nichte.«
Ich täuschte Protest vor, war in Wahrheit aber froh, dass sie gefragt hatte. Tatsache war, ich brauchte den Rat der beiden. Von allen Menschen, die ich kannte, waren sie wahrscheinlich die einzigen, die die Fähigkeit (und die Bereitschaft) besaßen, mich wirklich zu verstehen.
Aufmerksam hörten sie zu, als ich von den Ereignissen jenes schicksalhaften Tages erzählte, und unterbrachen mich nur gelegentlich, um etwas nachzufragen.
»Warum bist du quer über den Weihnachtsmarkt gerannt?«
»Weil ich Charlie kurz davor eröffnet hatte, dass ich ihn liebe.«
Meine Tante und mein Onkel tauschten einen beredten Blick. »Oh.«
»Aber das ist nicht wichtig, weil es ein Irrtum war. Dieser Typ, der mich küsste, hat alles verändert.«
»Er hat dich geküsst?«
»Ja. Es war nur kurz, aber …« Ich hielt inne, war mir plötzlich unsicher, ob es sich für eine Nichte schickte, dieses Thema mit Onkel und Tante zu besprechen. Doch der erwartungsvolle Ausdruck, der sich nahezu identisch in ihren Mienen spiegelte – und mich spontan an die beiden Staffordshire-Porzellanhunde erinnerte, die jeweils eine Seite von Mums Marmorsims aus Alabasterimitat bewachten –, bewegte mich dazu fortzufahren: »Es war atemberaubend.«
Onkel Dudley tätschelte aufgeregt die Hand seiner Gattin. »Magie! Genau wie bei uns beiden, Schatz!«
Tante Mags verdrehte die Augen und schnaubte laut: »Ignorier ihn, Romily, er macht sich da was vor. Erzähl weiter.«
»Das war schon alles. Ich weiß, ich sollte es einfach als Erlebnis abhaken, als einen dieser packenden, flüchtigen Momente, die einem immer eine Gänsehaut verursachen werden, wenn man daran zurückdenkt. Aber ich überlege ständig …«
»Der Reiz des Möglichen«, rief Onkel Dudley dazwischen. »Wie unwahrscheinlich es auch sein mag, du wirst das Gefühl nicht los, dass es passieren könnte.«
Mein Herzschlag setzte einen Takt lang aus. »Genau!«
»Und du willst ihn wiederfinden«, bemerkte Tante Mags nickend. »Aber du weiß nicht, wo du mit der Suche anfangen sollst.«
»Ach, ich liebe euch! Also, was soll ich tun?«
Onkel Dudley stand auf, um frisches Teewasser aufzusetzen. »Ich finde, du solltest die Sache angehen. Was könnte schlimmstenfalls passieren, hm?«
»Demütigung, Enttäuschung und der wenig attraktive Ruf einer verzweifelten Frau?« Ich aß einen Bissen Kuchen und musterte meine Tante, die tief in Gedanken versunken war.
»Pah, das ist doch gar nichts!«, brummte Onkel Dudley. »Ich habe viel schlimmere Dinge durchstehen müssen, und ich lächle immer noch.«
»Dich hat jemand für eine verzweifelte Frau gehalten?«
»Hä? Oh, der ist gut. Unsere Romily ist ganz schön schlagfertig, was, Magsie?«
»Sei still, Dudley, ich denke nach.« Mags stützte die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände und legte ihr Kinn darauf.
Begeistert klatschte mein Onkel in die Hände. »Ooh, diesen Blick kenne ich, Romily. Wenn deine Tante diesen Gesichtsausdruck hat, kannst du dich auf einen guten Ratschlag gefasst machen.«
Schweigend warteten wir. Nur das Geräusch des Wassers, das gegen das Boot schwappte, und das Tuckern eines sich von fern nähernden Kanalboots waren zu hören, bis das schrille Pfeifen des Teekessels die Stille zerriss.
»Wenn du es durchziehen willst, solltest du möglichst viele Leuten von deiner Suche in Kenntnis setzen«, sagte Tante Mags schließlich. »Je mehr Leute davon wissen, umso größer sind deine Chancen, ihn zu finden.«
Erneut klatschte Onkel Dudley in die Hände. »Brillant, unsere Mags!«
»Gut. Das werde ich tun. Aber wie soll ich es anfangen?«
Onkel Dudley tippte sich an die Seite der Nase. »Mach dir darüber keine Gedanken, Schätzchen. Überlass es einfach deinem Onkel Dudley.«
Als ich gerade zur jährlichen Weihnachtsfeier der Band aufbrechen wollte, rief Mum an.
»Ich wollte nur nachfragen, ob du auch sicher am ersten Weihnachtsfeiertag kommst«, sagte sie. Im Hintergrund hörte ich die Titelmusik von Gesprengte Ketten – zweifellos saß Dad gebannt vor dem Fernseher und sah sich den Film zum x-ten Mal an.
»Klar, ich freu mich schon«, log ich und klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter, um meine High Heels anzuziehen.
»Gut. Ich dachte, du wolltest heute Abend mit deinen Musikerfreunden ausgehen.«
»Das tue ich auch«, erwiderte ich, während ich im Badezimmerspiegel mein Aussehen überprüfte.
»Dann gehst du ja ziemlich spät los. Es ist schon Viertel nach sieben.«
Ich grinste in mich hinein. Mit dem Leben von Musikern war Mum eindeutig nicht vertraut.
Meine Musikerfreunde hatten viele wundervolle Eigenschaften, aber Pünktlichkeit gehörte nicht dazu. Ich konnte gar nicht zählen, bei wie vielen Proben wir zu zweit über eine Stunde hatten warten müssen, bis endlich alle auf der Matte standen. Jack und ich waren in der Regel ziemlich pünktlich, doch Charlie, Wren und Sophie verspäteten sich gerne mal um zwanzig Minuten bis über eine Stunde. Und wir fingen fast immer ohne Tom an, der dafür bekannt war, dass er erst in der letzten Dreiviertelstunde der Probe aufkreuzte.
Jedes Jahr trafen sich die Bandmitglieder und ihre Partner zum Weihnachtsessen, meist im The Old Gate, einer Restaurantbar mit ausgezeichnetem Essen und Ale aus einer örtlichen Brauerei. Dieses Jahr hatte Jack mit der Tischreservierung bis zur letzten Minute gewartet und – Überraschung! – entdecken müssen, dass das Restaurant total ausgebucht war. Um nicht als völlig unzuverlässig dazustehen (obwohl man ihm dieses Versäumnis sicher jahrelang unter die Nase reiben würde), hatten Sophie und er hastig ein Essen in ihrem Haus organisiert, sich von der Familie und Freunden Stühle ausgeliehen und zur Verlängerung des Esstischs den weißen Plastikklapptisch aus dem Garten hereingeholt, damit wir alle Platz hätten. Aufgrund ihrer tapferen Bemühungen (und weil wir die beiden trotz der ständigen Spötteleien wahnsinnig gern hatten), erklärten wir restlichen Bandmitglieder uns bereit, etwas Ess- oder Trinkbares mitzubringen. Ich war zum Glück dazu bestimmt worden, für das Dessert zu sorgen, was absolut problemlos war, da ein hervorragend sortierter Waitrose-Supermarkt auf dem Weg zu unseren Gastgebern lag.
Ich wählte also zwei tiefgefrorene Käsekuchen mit Himbeerkompott aus und für Sophie, die ständig auf Diät zu sein scheint, zwei Schälchen fertigen Obstsalat.
Erwartungsgemäß war ich der erste Gast, obwohl ich erst nach neun bei Jack und Sophie eintraf. Eine ernst dreinblickende Sophie in Küchenschürze und mit Geschirrtuch über der Schulter öffnete mir die Tür.
»Bin ich froh, dich zu sehen!«, rief sie und umarmte mich. »Jack dreht total durch.«
»Oh, nein. Was ist los?« Ich folgte ihr durch die Diele ins Esszimmer.
»Eigentlich nichts, außer dass mein Freund zum Putzteufel mutiert ist. Mann, so wie er sich aufführt, könnte man meinen, die Königsfamilie käme zu Besuch. Ich schwör’ dir, er hat die Küche drei Mal geputzt, obwohl sich von uns ganz sicher niemand dort aufhalten wird, weil sie viel zu winzig ist.«
»Ich habe alles gehört«, sagte Jack und kam durch den Türbogen, der zur Küche führte. »Keine Ahnung, was daran verkehrt sein soll, wenn ich unser Haus in einem guten Licht präsentieren möchte.«
»Ich würde ja nichts sagen, aber alles, was er für das Essen kocht, sind irgendwelche Würstchen«, fuhr Sophie fort und zog eine Grimasse. »Wenn es wenigstens Cordon bleu wäre.«
»Es sind nicht irgendwelche Würstchen, sondern pikant mit Kräutern gewürzte Schweinswürstchen im Blätterteigmantel.«
Sein ernsthafter Ausdruck brachte uns zum Lachen. Sophie warf das Geschirrtuch nach ihm. »Jetzt bist du Gordon Ramsay, oder wie?«
Jack verschränkte die Arme und funkelte uns an. »Spottet nur! Aber wartet, bis ihr die Würstchen gekostet habt. Dann werden wir ja sehen, wer zuletzt lacht.« Er gab mir einen Kuss auf die Wange. »Romily, du siehst wie immer großartig aus. Hübsches Kleid.«
Grinsend vollführte ich eine kleine Pirouette, damit Sophie und er mein schwarzes paillettenbesetztes Minikleid und die silberblauen High Heels bewundern konnten. Ich hatte beschlossen, an diesem Abend etwas anzuziehen, worin ich mich atemberaubend schön fühlte, um meine Nervosität wegen des Wiedersehens mit Charlie zu bekämpfen – und bis jetzt funktionierte es auch.
Zwanzig Minuten später kündigte ein lautes Klopfen an der Haustür die Ankunft von Charlie, Wren und Tom an, die sich ein Taxi geteilt hatten, damit sie sich, wie Tom es ausdrückte, »nach Lust und Laune volllaufen« lassen konnten. Charlie und ich begrüßten einander höflich und vermieden sorgsam jeden Blickkontakt, während Wren – in ein gelbes Cocktailkleid gehüllt, das zu ihren roten Haaren fantastisch aussah – mit ihrem witzigen Geplapper die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich wusste genau, warum sie das machte, und ich liebte sie dafür.
Nach weiteren fünf Minuten erschien unser Manager, Dwayne McDougall, bepackt mit einer Kiste Rotwein, die von den versammelten Pinstripes mit deutlich mehr Wärme und Enthusiasmus begrüßt wurde als er selbst. Es ist nicht so, dass wir ihn nicht mochten – das taten wir wirklich sehr –, aber wir erinnerten ihn immer wieder gern daran, dass sein Job als unser Bandmanager etwas völlig anderes war als sein Job als Eventmanager, mit dem er hauptsächlich sein Geld verdiente. Zum Beispiel fanden die Events, die er für das Hotel seines älteren Bruders organisierte, immer an einem Ort statt, wohingegen wir ständig unterwegs waren.
»Hallo, Pinstripes!«, rief er dröhnend, als er ins Esszimmer kam, wo die erste Runde Drinks schon ausgeschenkt worden war. »Wie geht’s meiner Lieblingshochzeitsband heute?«
»Deiner einzigen Hochzeitsband, lieber Dwayne«, bemerkte Wren sarkastisch.
Dwaynes selbstsichere Haltung geriet ein wenig ins Wanken. »Mit einer muss man anfangen, Wren«, murmelte er.
Es sorgte in der Band immer für viel Heiterkeit, dass Wren mit ihrem gerade mal einem Meter fünfundfünfzig den weit über einen Meter achtzig großen ehemaligen Judokämpfer in der englischen Nationalmannschaft mit nur wenigen Worten zu einem absoluten Volltrottel zusammenfalten konnte. Zum Glück für Dwayne war Wren heute Abend nicht in Angriffslaune.
Sie zwinkerte Dwayne nur zu, ehe sie in die Küche spazierte, um sich mit Jack zu unterhalten. Dwayne erholte sich rasch von dem Dämpfer, griff wichtigtuerisch in die Tasche seiner Lederjacke und holte ein kleines silbernes Visitenkartenkästchen heraus. »Ehe ich es vergesse, ich habe neue Visitenkarten drucken lassen. Ihr solltet immer welche dabeihaben – für den Notfall.« Er überreichte uns die Karten.
Tom begann lauthals zu lachen. »Steht hier wirklich D’Wayne? Hast du dir einen Künstlernamen zugelegt?«
Wir lasen nun alle den Namen auf der Karte, was zu einem gewaltigen Heiterkeitsausbruch führte.
»Ich habe ihn letzte Woche offiziell mit einer sogenannten einseitigen Rechtserklärung geändert«, erklärte er würdevoll. »Hey, der Name hat Klasse. Er wird uns ganz neue Türen öffnen. Hochkarätige Aufträge. Anständige Gagen, die ausreichen, damit ihr eure lästigen Rechnungen bezahlen könnt …«
Eine tiefe Stille legte sich über den Raum. Spaß beiseite, die Aussicht auf gut bezahlte Auftritte war für uns alle ein Antriebsmotor, und niemand wusste das besser als Dwayne – Verzeihung: D’Wayne.
»Gut und schön, aber es hört sich trotzdem bescheuert an«, bemerkte Jack trocken, worauf wieder alle losprusteten.
Vor etwas über einem Jahr beschlossen wir, dass The Pinstripes einen Manager brauchten, der sich um unsere Vermarktung und die Buchungen kümmerte. Ich wusste immer noch nicht genau, wie wir auf D’Wayne McDougall gestoßen waren, aber vermutlich hatten wir uns wie oft in solchen Fällen an die Empfehlung irgendeines Musikers gehalten, den einer von uns im Pub kennengelernt hatte. Wer immer ihn empfohlen hatte, er sollte einen Tritt in den Allerwertesten kriegen, da D’Wayne mit dem Vermarkten von Bands keinerlei Erfahrung hatte. Weder mit Band-PR noch mit Bandmanagement oder – da wir schon einmal dabei sind – mit der Planung von Auftritten. Dafür verstand er es ausgezeichnet, den Eindruck zu erwecken, dass die richtig fetten Aufträge nur ein Telefongespräch entfernt wären. Und er besaß ein meisterliches Talent dafür, den Ruhm für erfolgreiche Auftritte einzuheimsen, obwohl wir schlussendlich alles selbst organisiert hatten. (Immerhin hatte er beeindruckende schwarze Afrolocken, die wie dunkel züngelnde Flammen abstanden und an den Seiten zu eindrucksvollen Mustern ausrasiert waren.) Doch da wir Pinstripes nun mal unerschütterliche Optimisten waren, hofften wir, dass unser Manager an diesem Abend mit frohen Botschaften aufwarten würde.
Während wir unser bunt zusammengewürfeltes Festmahl verspeisten, wanderte mein Blick der Reihe nach über meine besten Freunde. Tom mit seinem dunklen Haar und der durchtrainierten Radlerfigur war wie immer urkomisch und gab bei jeder Gelegenheit spontane Comedyeinlagen zum Besten. Wren mit ihren flammend roten Haaren und ihrer elfenhaften Statur verwirrte die Jungs mit ihrer Schlagfertigkeit und ihren (es muss einmal gesagt werden!) wirklich dreckigen Witzen. Jack war groß und witzig, hatte grünblaue Augen, kurz geschorenes braunes Haar und ein so lautes und markantes Lachen, dass man ihn schon von weitem heraushörte, noch bevor man ein Zimmer betrat. Sophie, ruhig und nachdenklich und eine tolle Zuhörerin, steckte ihr langes blondes Haar immer auf diese nachlässig-schicke Art hoch, die so mühelos aussah, aber vermutlich stundenlanges Styling erforderte. Und dann war da Charlie mit seinem nussbraunen Haar und den mitternachtsblauen Augen, die sich, je nach der Farbe seiner Kleidung, zu verändern schienen. Er war durch und durch Musiker und wie Jack ein Fan von ziemlich schrägem Jazz. Obwohl mich sein Anblick schmerzte und das Gefühl von Scham noch sehr präsent war, tat es mir dennoch gut, mit ihm und meinen anderen Freunden zusammen zu sein. In ihrer Gesellschaft konnte ich immer ich selbst sein, ich fügte mich mühelos ein, als schlüpfte ich in ein Paar bequeme Lieblingsschuhe, konnte mit ihnen über dieselben Witze lachen und enthusiastisch über Musik diskutieren. Die Sache mit Charlie hatte definitiv einen Missklang hineingebracht, doch zum Glück schienen die anderen nichts davon zu merken.
Nach dem Vier-Gänge-Menü, bestehend aus einer Vorspeise (Jacks vornehme Würstchen), gebratenen Lachsfilets mit Zitronensaft und Bockshornklee von Charlie, einem hervorragenden würzigen Schmorbraten mit knusprigen Kräuterkartoffeln von Tom (eindeutig von Nigel Slater beeinflusst, den er anbetet), meinen Nachspeisen und Kaffee mit Pfefferminzbonbons von Wren (deren Vorstellung von Kochkunst darin bestand, genau zu wissen, wo man was in der Lebensmittelabteilung von Marks & Spencer fand – doch sie kam damit immer durch, weil wir sie so gern hatten), zogen wir ins Wohnzimmer um.
Ich liebte Jacks und Sophies Haus – eine alte edwardianische Villa mit großzügigen Räumen, hohen Decken, Stuckrosen und Bilderleisten. Sie hatten es vor vier Jahren gemietet, und jede Woche landeten wir alle an irgendeinem Abend dort. Ich besuchte die beiden oft am Samstagnachmittag, wenn wir nicht gerade einen Auftritt hatten, oder wochentags nach der Arbeit, wenn Jack kochte und die Aussicht auf ein herzhaftes Abendessen zu verführerisch war, um zu widerstehen.
Zum Glück hatte Jack mir angeboten, im Gästezimmer zu übernachten, so dass ich mir den Luxus erlauben konnte, an diesem Abend etwas mehr zu trinken als sonst.
Jack legte ein Album von den Yellowjackets auf, während Sophie und ich Schüsselchen mit Schokolade, Nüssen und Keksen auf den niedrigen Holzcouchtisch stellten. Wie immer nahmen Charlie und Tom das Sofa in Besitz, Wren thronte auf der Armlehne und D’Wayne lümmelte in dem abgewetzten Armlehnsessel, den Sophie seit vier Jahren erfolglos zu restaurieren versuchte.
»Da wir jetzt alle zusammen sind, werde ich euch erzählen, was ich für nächstes Jahr angeleiert habe«, sagte D’Wayne. Er schenkte sich ein großes Glas Rotwein ein und warf einen Blick auf sein iPhone.
Tom fegte ein paar Kekskrümel von seiner Hose. »Da bin ich aber neugierig.«
Wren knuffte ihn in die Rippen: »Sch!«
D’Wayne schoss ihm einen tadelnden Blick zu. »Mach dich auf eine Überraschung gefasst, mein Freund.«
»Oh, ich kann es kaum erwarten, Alter!«
»Gut. Wie ihr wisst, haben wir nächste Woche an Silvester die Hochzeitsfeier im Excelsior in Solihull. Ich fände es gut, wenn das Rock-’n’-Roll-Medley eingebaut wird.« Der Vorschlag stieß bei uns allen auf lautstarken Protest, den D’Wayne zum Verstummen brachte, indem er seine großen Hände hob. »Ich weiß, ihr hasst das, aber genau das wünschen sich die Kunden nun mal. Die meisten Hochzeitsgäste entstammen der Nachkriegsgeneration. Ihr müsst die demografischen Gegebenheiten beachten, Leute.«
»Das ist todlangweilig!«, maulte Tom. »Sechs Songs mit identischem Akkordaufbau. Das könnte ich genauso gut Jack zum Sequenzieren überlassen und während des gesamten Medleys an die Bar gehen.«
Ich lachte: »Dir ist wohl jede Ausrede recht, Tom.«
»Nun ja. Es ist eine Berufung.«
»Vielleicht sollten wir nach Gigs mit jüngerem Publikum Ausschau halten«, murmelte Jack, während Wren und Charlie aufstöhnten. Über dieses Thema herrschten innerhalb der Band große Meinungsverschiedenheiten, die sich in absehbarer Zeit wohl auch nicht klären lassen würden.
»Ältere Leute haben mehr Geld«, warf Sophie ein und schenkte sich Wein nach. »Wenn man sich nur auf eine junge Zielgruppe konzentriert, braucht man mehr Gigs, damit es irgendwie rentabel ist.«
»Dann ist es ja ein Glück, dass alle Gigs, die für nächstes Jahr im Terminkalender stehen, gut bezahlt sein werden«, meldete sich D’Wayne erneut zu Wort, sichtlich zufrieden mit sich selbst. »Könnten wir jetzt also wieder zum Programm für nächstes Jahr zurückkehren?«
Tom zuckte die Achseln und schnappte sich eine Handvoll Nüsse. »Wir sind ganz Ohr, großer D’Wayne.«
»Okay. Im Januar haben wir am vierzehnten einen fünfzigsten Geburtstag und am einundzwanzigsten eine Hochzeit auf dem Elston Farm Estate in Somerset, eine kleinere Gesellschaft, aber die Gäste sind alle auf dem Anwesen untergebracht, sind also wahrscheinlich in guter Partylaune. Im Februar habe ich für euch einen Auftritt bei einer exklusiven Valentinstagsparty organisiert, der Veranstaltungsort muss noch bestätigt werden. Es geht um zwei Fünfundvierzig-Minuten-Sets, bevor der DJ übernimmt, und die Auftraggeber sind bereit, einen Zuschlag zu zahlen, insgesamt also um die zweihundertfünfzig Pfund für jeden.«
Überraschtes Gemurmel wurde laut. Der Februar ist in Bezug auf Gigs traditionell ein toter Monat. Nach Weihnachten sind alle Leute – auch wir – ziemlich pleite, und alles, was im Februar hereinkommt, ist ein wahrer Segen.
»Der März ist momentan noch etwas ruhig, aber ich bin gerade an etwas dran – ein Gig auf einem mittelalterlichen Hochzeitsbankett in Northumberland. Braut und Bräutigam arbeiten beide für eine große Londoner Anwaltsfirma, die Gagen sollten also entsprechend ausfallen. Nächsten Monat kann ich darüber hoffentlich schon mehr sagen.«
»Da müssen wir wohl schnell ein paar Madrigale einstudieren«, witzelte Jack.
Tom lachte: »Und ich muss den Staub von meiner Mandoline entfernen.«
»Die Leute wollen das normale Repertoire«, entgegnete D’Wayne. »Und es handelt sich um ein jüngeres Publikum, wie du es bevorzugst, Tom.« Er trank seinen Wein aus und klickte sich durch den Terminkalender in seinem iPhone. »Zwei Hochzeiten im April, der ganze Mai ist dann mehr oder weniger mit Hochzeiten ausgebucht – drei Samstage und ein Sonntag, einmal auch in einem hübschen schottischen Schloss in der Nähe von Fort William. Im Juni ist eine Hochzeitsfeier im Regency, im Juli ein Sommerball für eine große Londoner Steueranwaltskanzlei und Ende Juli eventuell eine Strandhochzeit in Devon, aus der wir vielleicht einen kostenlosen Wochenendurlaub für uns herausschlagen können. Ich habe noch mehr Sachen am Laufen, aber ich finde, das lässt sich bisher sehr gut an.«
»Es ist ein Anfang«, sagte Charlie. »Aber ideal wäre es, wenn wir von Mai bis Ende September ausgebucht wären.«
D’Wayne setzte eine arrogante Miene auf. »Hey, wenn du glaubst, du kannst es besser als ich, nur zu!«
»Ich habe tatsächlich auch etwas an Land gezogen«, erwiderte Charlie cool, doch ich sah ihm an, wie gereizt er war. Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf ihn, auch der unseres Managers, der leicht beunruhigt zu sein schien. »Meine Schwester heiratet in der zweiten Septemberwoche in der Combermere Abbey in Shropshire, und sie hat uns für den ganzen Tag gebucht. Für die Zeremonie hat sie ein Streichquartett engagiert, aber für den Nachmittagsempfang wünscht sie sich etwas Smooth Jazz. Ich schlage also vor, dass Rom, Jack und ich das American-Songbook-Set spielen, das wir letztes Jahr für den Fünfzigsten von Sophies Mutter zusammengestellt haben, und am Abend tritt dann die ganze Band auf. Wir kriegen jeder zweihundertfünfzig Pfund plus zwei Übernachtungen und Spesen. Außerdem ist die Eventmanagerin eine alte Schulfreundin meiner Schwester und will uns als Partyband in ihre Liste aufnehmen, was definitiv mehr Buchungen nach sich ziehen wird. Ist das für Sie in Ordnung, Mr McDougall?«
»Klar. Gut gemacht«, sagte D’Wayne mit ungewohnt leiser Stimme.
»Warum hast du uns bisher nichts davon erzählt, Charlie?«, fragte Sophie. »Hast du davon gewusst, Rom?«
Von einer jähen Traurigkeit erfasst, schüttelte ich den Kopf. Normalerweise wäre ich die Erste gewesen, der er es erzählt hätte. Gehörte unsere einstige Vertrautheit nun für immer der Vergangenheit an?
»Die beiden reden im Moment nicht miteinander«, warf Wren ein.
Entsetzt starrte ich sie an. »Wren!«
»Stimmt doch.«
Alle Blicke richteten sich erst auf mich, dann auf Charlie, der so unbehaglich dreinblickte, wie ich mich fühlte.
»Warum? Was ist passiert?«, fragte Tom.
Charlie senkte den Blick auf den Teppich. »Nichts. Alles okay.«
Jack zog eine Grimasse. »Wie unangenehm!«
Ich spielte mit dem Gedanken, mich mit irgendeiner lahmen Ausrede aus dem Zimmer zu stehlen, doch das hätte das Interesse meiner Freunde nur noch mehr angestachelt. Also blieb ich sitzen und hoffte, dass wider Erwarten niemand nachhaken würde. Und tatsächlich ließ Tom nun eine noch größere Bombe platzen.
»Lassen wir die internen Angelegenheiten der Pinstripes mal beiseite. Ich kann deinen Gig noch übertreffen, Chas.«
Schlagartig wandte sich die Aufmerksamkeit unserem Gitarristen zu, und mir fiel ein Stein vom Herzen.
Sichtlich erleichtert über die unverhoffte Wendung, lachte Charlie: »Echt? Schieß los!«
»Letzte Woche habe ich mit Julian, meinem Boss, über unsere Band geplaudert. Es war einfach nur eine nette Unterhaltung, und ich habe mir absolut nichts davon versprochen. Aber gestern hat mich Julian angerufen und gefragt, ob wir Interesse hätten, bei der Hochzeit seiner Tochter im Juni zu spielen. Tatsache ist, der Typ ist schwerreich – wir reden hier von einem Multimillionär –, und für die Feier hat er ein supertolles herrschaftliches Anwesen in London, in der Nähe von Kew Gardens, gebucht. Er hat dann ganz beiläufig ein paar Namen aus der Gästeliste erwähnt – und das sind richtig bekannte Promis!«
Einige Sekunden waren wir sprachlos vor Staunen. Schließlich brach D’Wayne das Schweigen.
»Wie viel?«
Toms Lächeln spiegelte seine Selbstzufriedenheit wider. »Fünf Riesen für die ganze Band. Und er spendiert uns eine Unterkunft in Central London.«
»Wow«, rief Wren. »Damit kann ich das Loch in meinem Konto stopfen. Und eine Übernachtung in London? Also Shoppen bis zum Umfallen …«
»So viel zum Thema ›Kontoloch stopfen‹, Wren«, bemerkte ich schmunzelnd.
»Wie viele Sets?«
»Zwei Sets à eine Stunde mit einer Pause für das Abendessen.«
»Ah, Musik in meinen Ohren«, grinste Jack.
Sophie beugte sich vor. »Was die Promis betrifft, um welches Kaliber geht es da?«
»Ich sag’s mal so: Das glückliche Paar hat seine Hochzeitsfotos für mehrere Millionen Pfund an das Hello!-Magazin verkauft. Besteht die Chance, dich aus deinem Ruhestand hervorzulocken, damit du uns mit deinem Saxophon beehrst, Soph?«
Mit einem Freudenschrei fiel Sophie Tom um den Hals: »Ja! Ja! Ja!«
»Wie sicher ist die Buchung?«, erkundigte ich mich.
»So sicher wie unsere Zusage. Julian hat sich die Demos auf unserer Website angehört und meint, wir seien perfekt. Was wir ja auch sind! Also habe ich zugesagt. War das okay?«
Natürlich stimmten wir zu, sogar D’Wayne, dessen Begeisterung allerdings etwas verhalten wirkte.
Als ich später mit Jack in der Küche stand und heiße Schokolade zubereitete, drang aus dem Wohnzimmer angeregtes Stimmengemurmel zu uns herüber. Obwohl Jack zwei Monate jünger war als ich, übernahm er immer die Rolle eines großen Bruders, der auf mich aufpasste. Meine Mutter hielt sehr viel von ihm, unter anderem sicher deshalb, weil er sein eigenes Unternehmen leitete (ein erfolgreiches örtliches Tonstudio). Sie hatte sich mehrere Jahre lang eingebildet, Jack und ich wären füreinander bestimmt – selbst dann noch, als ich ihr erzählte, dass Jack bereits mit Sophie liiert sei. Wie dem auch sei, ich fühlte mich in Jacks Gegenwart immer wohl, weil unsere Freundschaft völlig entspannt und frei von jeglichen romantischen Untertönen war. Ganz anders also als bei Charlie und mir …
»Das kann sich zu einer großen Sache auswachsen«, sagte Jack, als die Milch zu kochen begann. »Wenn wir uns in Promikreisen einen Namen machen, können wir richtig Kohle verdienen.«
»Das habe ich mir auch schon überlegt.« Und kaum zu hoffen gewagt. »Das Geld könnte ich jedenfalls gut gebrauchen.«
»Und jetzt erzähl.« Er schüttete mehrere Handvoll belgischer Schokoraspel in die Milch, während ich umrührte. »Was ist mit Charlie und dir?«
»Nichts. Nur ein Missverständnis. Aber wir haben schon alles geklärt.«
»Bist du dir da sicher? Ihr wirkt beide ziemlich daneben.«
»Alles okay, Jack, wirklich. Wir brauchen etwas Zeit, dann wird sich alles wieder normalisieren. Du wirst schon sehen.«
»Na gut. Ich glaube dir zwar nicht, aber wenn du sagst, es ist okay, dann ist es so.«
In Wahrheit war ich von meinen Worten genauso wenig überzeugt wie er, doch ich hoffte inständig, dass sie sich bewahrheiten würden.