12
Move on up …
Am darauffolgenden Samstag war Sophies Geburtstag. Zusätzlich zu dem für den Abend geplanten Essen hatten Wren und ich einen »Mädelstag« organisiert, also Shoppen, Quatschen und Essen – oder, wie Sophie es nannte: »die heilige Dreieinigkeit des Mädchenseins«. Nachdem Tom verraten hatte, dass Cayte noch immer das Gefühl habe, uns nicht richtig zu kennen, lud Sophie sie kurzerhand ein, sich uns anzuschließen. Also trafen wir vier Mädels uns um neun Uhr zu einem schicken Frühstück.
Eine der liebenswertesten Eigenschaften von Sophie (und glaubt mir, es gibt eine Menge davon) war die geradezu kindliche Freude, mit der sie ihren Geburtstag feierte. Ich hatte noch nie jemanden kennengelernt, der diesem besonderen Tag so entgegenfieberte. Ganz egal, wie und wo sie ihn feierte, sie verwandelte sich in ein aufgeregtes kleines Mädchen, das mit staunenden Augen die Welt betrachtete.
Dieser Geburtstag war da keine Ausnahme. Sobald Sophie die rosa und grünen Luftballons entdeckte, die wir an ihrem Stuhl festgebunden hatten, begann sie so laut zu juchzen, dass der ältere Herr, der am Fenster saß, fast seinen Tee verschüttet hätte. Der Kellner, den Wren vorher bezirzt hatte, uns zu helfen (und dem sie auf diesem Wege auch gleich seine Telefonnummer abgeluchst hatte), zauberte einen herzförmigen Cookie und einen Cappuccino mit einem aus Kakaopulver gezeichneten »S« herbei und wurde von Sophie mit einem Kuss belohnt.
Nach einer Maniküre, die wir Sophie schenkten, einem zweiten Sahnetortenfrühstück in einer edlen Konditorei und einem gut zweistündigen Einkaufsbummel war Sophie nur noch ein übersprudelndes, plapperndes, kicherndes Etwas. Erst beim Mittagessen legte sie dann eine kleine Verschnaufpause ein.
»Was für ein wunderschöner Tag. Ich danke euch, ihr Lieben.«
Wren umarmte sie: »Hauptsache, du hast Spaß.«
»Ist sie immer so?«, flüsterte mir Cayte zu, als sich Sophie und Wren begeistert über die körperlichen Vorzüge des sexy Kellners ausließen, bei dem wir gefrühstückt hatten.
Ich grinste: »Immer. Geburtstage haben diese Wirkung auf sie – das ist so süß.«
»Es ist anstrengend«, bemerkte Cayte lachend und fügte rasch hinzu: »Aber auch süß.«
Vielleicht kannte ich Cayte nicht gut genug, doch ihre unverblümte Art und ihre Angewohnheit, über alles und jeden ein ironisches Urteil abzugeben, waren etwas gewöhnungsbedürftig. Auch Wren und ich machten ironische Bemerkungen über unsere Umwelt, doch Cayte ging immer noch einen Schritt weiter, sezierte gnadenlos alles, was ihr unterkam. Das fiel sogar Sophie inmitten ihres seligen Glückstaumels auf, wie sie uns später erzählte.
Wir schlenderten durch die Ikon-Galerie, bewunderten die Kunstwerke und beobachteten die Leute, als eine Gruppe von drei Frauen in den Vierzigern hereinkam, die sich angeregt unterhielten und laut lachten. Wren knuffte mich in die Seite.
»Das sind Sophie, du und ich in zwanzig Jahren.«
Ich lachte. »Also, ich bin die Dame in Grün, mit der Dauerbräune und dem Fendi-Kostüm.«
»Und mit dieser peinlich lauten Stimme, die durch die ganze Galerie hallt. Grauenvoll«, fügte Cayte hinzu. Ihr Lächeln erlosch augenblicklich, als Sophie, Wren und ich sie empört ansahen.
Sophies stets heitere Miene verdüsterte sich. »Du bist immer gnadenlos, was?«
Cayte gab ein nervöses Kichern von sich: »Ich meinte doch nur … Das war einfach so dahingesagt, ich …«
»Nein, ich habe es schon richtig verstanden. Aber wir sind hier, um uns zu amüsieren, und nicht, um irgendwelche Leute niederzumachen.«
»Okay, hör zu, es tut mir leid. Ich wollte dir deinen Geburtstag nicht verderben.«
Schlagartig kehrte Sophies Lächeln wieder zurück. »Das hast du auch nicht. Lass uns einfach Spaß haben, okay?«
Nachdem diese kleine Missstimmung beseitigt war, machten wir weiter mit unserem Programm, und Cayte hielt sich von nun an auffällig zurück mit ihren spitzen Kommentaren.
Eine Stunde später sanken wir erschöpft auf die riesigen Sofas einer Bar am Brindley Place, um uns zum Abschluss noch einen Drink zu genehmigen, bevor wir nach Hause gehen und uns für den Abend fertig machen würden.
Sophie stapelte ihre Einkaufstüten neben sich und strahlte uns an: »Was für ein herrlicher Tag. Danke, Mädels, das habe ich wirklich gebraucht.«
»Schön, dass es dir gefallen hat – und der Tag ist ja noch nicht vorbei«, sagte ich.
Sophies Augen funkelten. »Ich weiß. Und, was macht deine Suche?«
Alle Blicke richteten sich auf mich. »Die plätschert so dahin. Es gab ein paar frustrierende Rückschläge, aber ich bleibe optimistisch.«
»Ich habe neulich wieder deinen Blog gelesen. Ist ja unglaublich, wie viele Fans du mittlerweile hast«, sagte Sophie und trank einen Schluck sonnenuntergangsrosanen Bellini.
»Das sind keine Fans …«, wandte ich ein.
»Was ist das für eine Suche?«, erkundigte sich Cayte interessiert.
»Romily sucht nach dem supertollen Typen, der sie letztes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt gerettet hat«, quiekte Sophie. »Das ist so romantisch!«
»Ach? Erzählt mir mehr davon.«
Sophie und Wren übertrafen sich gegenseitig voller Begeisterung mit den Details meiner Suche, sparten nichts aus, keine überraschende Wendung oder Enttäuschung. Cayte saß währenddessen mucksmäuschenstill da und lauschte gebannt jedem Wort.
»Und du willst ein ganzes Jahr lang nach ihm suchen?«
Ich nickte. »Es ist nicht nur die Suche nach irgendeinem Fremden. Es geht mir darum, dem eigenen Herzen zu folgen. Seit ich den Blog schreibe, weiß ich, dass viele Menschen etwas Ähnliches erlebt haben, der Sache aber nicht nachgegangen sind. Sicher, viele Leute werden mich für verrückt halten, aber wenn ich nicht versuche, ihn zu finden, werde ich mich mein Leben lang fragen, was gewesen wäre, wenn.«
Während ich Cayte mein Anliegen erklärte, fühlte ich mich wieder an die aufregende Anfangszeit meiner Suche erinnert, noch vor dem enttäuschenden Foto und dem noch enttäuschenderen Sebastian. Mit einem jähen Gefühl von Freude bemerkte ich, dass mein Wunsch, ihn zu finden, unvermindert anhielt, und die Rückschläge der letzten Wochen meine Entschlossenheit nur verstärkt hatten.
Am Abend versammelten wir uns um den großen runden Tisch im Bella, einem italienischen Restaurant, um den Höhepunkt von Sophies Geburtstag zu feiern. Nach den jüngsten Spannungen in Bezug auf D’Wayne genoss ich es, meine Freunde wieder in glücklicher Eintracht zu erleben. Nach dem Essen juchzte sich Sophie durch ihre Geschenke, für die wir alle zusammengelegt hatten. Danach stimmte Jack – der ständig gegen diverse Gläser, Weinflaschen und Vasen geschlagen hatte, in die er Wasser hinein- und ausgoss, um die richtigen Töne zu erzielen – ein instrumentales »Happy Birthday« für seine glückliche Sophie an, begleitet von unserem vierstimmigen Gesang, was die anderen Gäste sichtlich amüsierte. Dieser eine Moment charakterisierte genau das, was ich an meinen Freunden liebte. Und in dem Restaurant geschah es wahrscheinlich zum ersten Mal, dass auf ein Geburtstagsständchen laute Rufe nach einer Zugabe erschallten …
Während Wren und Charlie die Rechnung auseinanderdividierten, tauschte Cayte mit Tom den Platz, um neben mir zu sitzen.
»Das war ein toller Tag, Rom. Danke, dass ich dabei sein durfte.«
»Ach, keine Ursache.«
»Und hey, es tut mir leid, wenn ich euch verärgert haben sollte. Ich bin manchmal etwas überheblich – wahrscheinlich eine Berufskrankheit.« Sie strich sich das lange blonde Haar hinter die Ohren und wirkte plötzlich so reumütig, dass ich Mitleid mit ihr hatte. Ich vergaß oft, wie unangenehm es für neue Partner sein musste, in unsere verschworene Gemeinschaft hineinzukommen, vor allem, wenn man die unausgesprochenen Regeln nicht kannte.
»Du hast niemanden verärgert. Es war schön, dich etwas besser kennenzulernen.«
Sie lächelte: »Danke. Pass auf, Rom, ich habe über das, was du heute Nachmittag erzählt hast, nachgedacht. Du weißt schon, deine Suche. Ich glaube, du kannst noch viel mehr dafür tun. Je mehr Publicity du erlangst, desto besser stehen deine Chancen auf Erfolg.«
Neugierig sah ich sie an. »Woran denkst du?«
Caytes babyblaue Augen leuchteten auf, und sie klatschte in die Hände. »Okay. Wie du vielleicht weißt, schreibe ich ab und an Artikel für Newsfast – dieser Gruppe gehören die meisten Zeitungen hier in der Region an. Meine Artikel werden in den Midlands veröffentlicht, und zwar gedruckt und online. Wenn du einverstanden bist, könnte ich einen Artikel über dich und deine Suche schreiben. Wie du sagst, scheint es etwas zu sein, das viele Frauen schon einmal erlebt haben, aber nur die wenigsten haben den Mut, aktiv zu werden. Und für diese Frauen ist deine Geschichte sicher inspirierend.«
Der Vorschlag kam etwas unerwartet, war aber in jedem Fall reizvoll. »Also, was soll ich tun?«
Mit einem bezaubernden Lächeln, das ihr ohnehin perfektes Gesicht noch schöner machte, zog Cayte Notizblock und Kugelschreiber aus ihrer Handtasche. »Erzähl mir alles.«
Als ich am nächsten Tag mit dem Fahrrad den Treidelpfad entlangfuhr, glitzerte das Sonnenlicht auf den kleinen Wellen des Kanals. Nach einer Nacht im Haus meiner Eltern – da sich ihr Haus in der Nähe des italienischen Lokals befand, hatte ich dort übernachtet – war eine Fahrradtour jetzt genau das Richtige. Ich freute mich schon darauf, meiner Tante und meinem Onkel meine Neuigkeiten zu berichten. Gestern hatten Cayte und ich sicher eine Stunde lang über die Suche geredet, erst im Restaurant und danach bei Jack und Sophie.
Bei meiner Ankunft befand sich Tante Mags gerade mitten in einer Backorgie. Mehlstaub wirbelte durch die Luft, und der köstliche Duft nach frisch gebackenem Kuchen erfüllte Our Pol. Elvis lag zitternd auf seinem Schlafplatz neben dem Herd, sein graues pelziges Kinn auf einen Schuh meines Onkels gebettet und einen verängstigten Ausdruck in den braunen Hundeaugen.
»Alles in Ordnung bei euch?«, erkundigte ich mich besorgt, während ich vorsichtig um die auf dem Boden ausgelegten Backbleche herumging.
Meine Tante wischte sich die mehligen Hände an ihrer blau getupften Schürze ab und umarmte mich. »Dein Onkel macht mich wahnsinnig.«
Ich verbiss mir ein Grinsen. »Wieso? Was hat er denn angestellt?«
»Er hat eine Website für ›Unwahrscheinliche Liebesgeschichten‹ aufgetan. Äh, mehrere Websites, um genau zu sein. Drei Tage lang hat er sich im Schlafzimmer verkrochen und Unmengen von Sachen ausgedruckt, so dass unser Drucker fast krepiert wäre. Ich kann den sturen alten Esel einfach nicht zur Vernunft bringen. Ich sag dir eines, Romily, er ist besessen.«
»Ach, herrje. Soll ich Wasser aufsetzen?«
Tante Mags seufzte: »Ja, nur zu. Ich weiß im Moment gar nicht, wo mir der Kopf steht.«
»Bist du das, Schätzchen?«, ertönte Onkel Dudleys Stimme aus dem Schlafzimmer am anderen Ende des Boots.
»Guten Morgen, Onkel Dudley«, rief ich zurück.
»Bin gleich bei dir. Ich muss nur noch ein paar Sachen fertigstellen.«
Tante Mags verdrehte die Augen. »Mein Gott, so wichtig, wie er tut, könnte man meinen, er recherchiert für die Regierung. So, und jetzt lass dich mal anschauen.«
Folgsam vollführte ich eine kleine Drehung. »Und, was siehst du?«
Liebevoll lächelte sie mich an. »Nun, ich sehe eine sehr entschlossene Nichte.« Sie bückte sich, schob ein paar Backbleche zur Seite und ergriff eine rechteckige Tupperware-Dose. »Perfekt. Genau das brauchst du, wenn du so wild entschlossen bist wie heute.«
Ich hätte Millionaire’s Shortbread, ein feines Buttergebäck mit Schoko-Karamell-Überzug, niemals mit Entschlossenheit in Verbindung gebracht, doch als ich die reichhaltige Schokolade, den cremigen Karamell und den salzig-süßen Teigboden kostete, fand ich die unheimliche Gabe meiner Tante wieder mal bestätigt.
»Ich hatte gestern ein interessantes Gespräch.« Ich erzählte meiner Tante von der Unterhaltung mit Cayte und deren Plan, einen Artikel über meine Suche zu schreiben. »Klingt vielversprechend, finde ich.«
Nachdenklich biss Tante Mags in ihr Shortbread. »Stimmt, daraus könnte etwas werden. Aber bist du sicher, dass Cayte die richtige Person dafür ist?«
»Warum nicht? Schließlich ist sie eine sehr gute Journalistin. Tom meint, sie würde innerhalb der nächsten fünf Jahre sicher bei einem nationalen Nachrichtensender landen. Sie scheint ihr Metier zu beherrschen, und ein Artikel von ihr könnte mir die dringend benötigte Publicity bringen.«
»Wann soll der Artikel erscheinen?«
»Das steht noch nicht fest. Im Moment ist sie sehr beschäftigt, also muss ich warten, bis sie es irgendwie einschieben kann. Es eilt ja auch nicht. Schließlich läuft die Suche noch sieben Monate.«
Ein lautes Krachen ertönte, gefolgt von einem gedämpften Fluch, und gleich darauf tauchte Onkel Dudley aus dem Schlafzimmer auf, bepackt mit einem Riesenstapel von Ausdrucken. »Ich habe mir schon wieder an deinem dämlichen Deko-Steuerrad den Zeh angestoßen.«
Tante Mags verschränkte die Arme und sah ihren Gatten streng an: »Erstens ist es nicht mein dämliches Steuerrad, Dudley, sondern das dämliche Steuerrad, das du auf deinem dämlichen Flohmarkt gekauft hast, weil du der Meinung warst, ich würde so ein Teil brauchen. Und zweitens würdest du nicht ständig über irgendwelche Sachen stolpern, wenn du endlich mal deine Brille aufsetzen würdest.«
Derart gescholten, ließ sich Onkel Dudley neben mir auf die Bank sinken. »Du bist bezaubernd, wenn du wütend bist, Magsie.«
»Ach, hör auf!« Rasch schenkte ihm Tante Mags eine Tasse Tee ein, um ihr Erröten zu überspielen.
Ich nippte an meinem Tee, während die Wellen gegen das Boot klatschten und meine Tante und mein Onkel einen lächelnden Blick austauschten, der eine ganze Geschichte in sich barg.
»Ich war ein wenig im Web unterwegs«, erzählte Onkel Dudley und breitete die Ausdrucke auf dem Tisch aus. »Nach diesem schrecklichen Treffen mit dem falschen Fremden dachte ich, du könntest ein kleines Hochihoch gebrauchen.«
Ich kannte die Kreativität meines Onkels, wenn es um neue Wörter ging, doch auf dieses konnte ich mir keinen Reim machen. »Hochihoch?«
Verdutzt sah mich Onkel Dudley an. »Sag bloß, du weißt nicht, was ein Hochihoch ist? Das ist das Einzige, was hilft, wenn das Leben seinen Müll über dich ausschüttet.«
»Du und deine erfundenen Wörter«, murmelte meine Tante.
»Das ist nicht erfunden! Meine Mutter hat das ständig gesagt!«
»Ach, wenn deine Mutter es gesagt hat, muss es natürlich ein richtiges Wort sein, da sie ja bekanntermaßen keine Spinnerin war!«
Onkel Dudley schüttelte den Kopf und redete unbeirrt weiter. »Ein Hochihoch ist, wenn sich Sachen auftun, die deine düstere Stimmung vertreiben. Zum Beispiel, wenn ich wegen meiner Arthritis eine schwere Woche hatte und dann auf dem Flohmarkt irgendwas Besonderes entdecke. Oder als ich damals erfuhr, dass die Belegschaft in meiner Abteilung um die Hälfte gestrichen werden sollte, dann aber herausfand, dass ich ohne irgendwelche finanziellen Einbußen in den vorzeitigen Ruhestand gehen konnte. Es ist so, als würde man an einem trüben Tag einen schimmernden Penny finden, oder wenn Tante Mags einen neuen Kuchen backt, der genau das ist, was ich gerade brauche. Du hattest in letzter Zeit ein paar schwere Niederlagen. Also ist es höchste Zeit für ein kleines Hochihoch.«
Manchmal liebte ich meinen Onkel so sehr, dass ich ihn hätte auffressen können. »Welches Hochihoch schlägst du mir also vor?«
Er strahlte so hell wie die Maisonne, die durch die Fenster von Our Pol hereinschien. »Gute Frage! Also, nach diesen Rückschlägen hast du dich bestimmt gefragt, wie deine Chancen stehen, den Burschen zu finden. Ich habe ein wenig im Netz recherchiert, und du wirst nicht glauben, was ich entdeckt habe!« Er nahm ein Blatt von dem Papierstapel. »Hör dir das an: ›Ein Mann aus Solihull ist mit seiner Jugendliebe wieder vereint, nachdem er auf einen Brief gestoßen war, den sie ihm vor dreißig Jahren geschrieben hatte. Al Cunningham hatte den Kontakt zu seiner ersten großen Liebe, Ruth Lucas, verloren, als ihre Familie nach Leicestershire zog. Nachdem er sechs Monate nichts von ihr gehört hatte, nahm er an, sie hätte ihn vergessen, und so heiratete er eine andere Frau und bekam Kinder mit ihr. Nach dem Tod seiner Mutter entdeckte Alan, der mittlerweile geschieden war, in einer Kommode einen Brief von seiner Jugendliebe, der dreißig Jahre dort gelegen hatte. »Meine Mutter war mit Ruth nicht einverstanden gewesen und hat den Brief vor mir versteckt, in der Hoffnung, ich würde Ruth vergessen«, erzählte der nunmehr sechsundvierzig Jahre alte Mr Cunningham. Als er die Adresse aufsuchte, die Ms Lucas in ihrem Brief angegeben hatte, traf er auf einen Nachbarn, der noch Kontakt zu der Familie hatte. Seit fünf Monaten ist das Paar nun wieder vereint und will noch in diesem Jahr auf St. Lucia seine Traumhochzeit feiern. »Ich konnte es nicht glauben, als Alan mich anrief«, sagte Ms Lucas, die inzwischen bei ihrem Verlobten in Solihull lebt. »Als wir uns wiedersahen, war es, als wären wir all die Jahre gar nicht getrennt gewesen. Ich habe nie aufgehört, an ihn zu denken, obwohl er nicht auf meinen Brief geantwortet hatte. Er ist mein Seelenverwandter, und wir freuen uns, den Rest unseres Lebens gemeinsam verbringen zu dürfen.«‹ Siehst du? Wahre Liebe überwindet alle Schranken!«
Ich musste zugeben, dass diese Kostprobe eines Hochihoch ausgesprochen reizvoll, wenn auch nur schwer zu überbieten war. Und es gab noch mehr Geschichten, die Onkel Dudley zu meiner Ermutigung gesammelt hatte – mindestens fünfzig Beispiele, in denen die Liebe entgegen aller Wahrscheinlichkeit triumphiert hatte. Die nächsten eineinhalb Stunden lang lasen wir gebannt diese wahren Liebesgeschichten, die manchmal so schön waren, dass wir alle drei vor Rührung weinten.
»Ach, herrje«, bemerkte Tante Mags lachend und wischte sich mit einem Schürzenzipfel die Augen. »Was sind wir drei doch für Heulsusen!«
»Wenn wir so weitermachen, wird Our Pol auf den Grund des Kanals absaufen«, sagte Onkel Dudley schmunzelnd und fügte dann, an mich gewandt, hinzu: »Wichtig ist vor allem eines, Romily: All diese Geschichten haben sich wirklich zugetragen. Also bewahre dir deinen Glauben und deine Zuversicht, dann kann nichts schiefgehen.« Er klopfte auf den Papierstapel an Beweisen. »Bis Weihnachten könnte eine dieser Geschichten deine sein.«
Ebenso wie Tante Mags’ Backwaren immer perfekt zu meiner Stimmungslage passten, war Onkel Dudleys Wahre-Liebe-Recherche genau das, was ich in diesem Moment brauchte. Bei so vielen Menschen, die mich unterstützten, der verheißungsvollen Aussicht auf Caytes Artikel und noch knapp sieben Monaten Zeit war ich optimistischer denn je, dass der Erfolg in Reichweite war.
Ich stehe vielleicht vor einem Durchbruch. Ja, ich weiß, das habe ich schon einmal behauptet, doch diesmal ist es wirklich realistisch. Einer meiner Bandkollegen ist mit einer Journalistin liiert, und sie möchte einen Artikel über meine Suche schreiben. Ich nehme an, sie wird auch diesen Blog erwähnen – ihr werdet also alle Stars sein (irgendwie).
Im Verlauf der letzten Wochen ist etwas mit mir passiert, das direkt mit meiner Suche nach PK zusammenhängt und womit ich nie gerechnet hätte. Ich höre von allen möglichen Leuten, wie sehr ich mich durch die Suche verändert hätte. Und die Veränderung gefällt ihnen. Ich habe mich immer für einen positiven Menschen gehalten, doch vor kurzem haben mir meine Freunde gesagt, dass ihnen das erst jetzt so richtig auffällt. Es scheint mir also gutzutun, meinem Herzen zu folgen. Ich bin weniger bereit, Enttäuschungen einfach hinzunehmen, und trotz der Rückschläge, die ich bisher erfahren habe, ist meine Hoffnung stärker denn je.
Als sich nun diese Chance mit dem Artikel auftat, bin ich sofort darauf angesprungen. Ich weiß noch nicht, wann genau er veröffentlicht wird, aber wenn es so weit ist, werdet ihr die Ersten sein, die es erfahren.
Spannend, was?
Rom x
»Ich glaube, du hast gerade den Trauzeugen aufgerissen!«, rief Wren mit Augen groß wie Suppenteller.
»Blödsinn!«
»Doch! Er war total hin und weg von dir!«
»Er hat doch nur gesagt, dass er sich darauf freut, mich singen zu hören«, wandte ich ein, während wir über den Personalparkplatz zu Jacks Van gingen.
»Es geht darum, wie er es gesagt hat. ›Sie singen zu hören‹ war nur ein Euphemismus für das, was er in Wahrheit von dir will …«
»Wren!«
Tom kam mit einem Arm voller Mikrofonständer an ihnen vorbei. »Was ist los?«
»Der Trauzeuge hat sich gerade an Rom rangemacht«, erzählte Wren vergnügt.
»Tja, dazu gibt es ja eine bestimmte Theorie«, bemerkte Jack grinsend. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er hinter uns getreten war, und sah nun ratlos zu Wren hinüber, die mit dem Mischpultkoffer auf den steinernen Torbogen des unglaublich eindrucksvollen schottischen Schlosses zuging, dem Veranstaltungsort für unseren heutigen Auftritt.
»Was für eine Theorie?«
»Es ist die Theorie der Anziehung.«
Ich war bereits in Richtung Torbogen unterwegs, blieb jetzt aber stehen und drehte mich zu Jack um. »Und weiter?«
»Die Theorie besagt, dass man auf das andere Geschlecht unwiderstehlich wirkt, sobald man sich in jemanden verknallt hat.«
»Warum ist das so?«
Er zuckte die Achseln. »Ich vermute mal, wenn du nicht jeden Typen als potenziellen Freund abcheckst, bist du einfach entspannt, mehr du selbst. Und hat ein Typ das Gefühl, die Frau fährt nicht sofort auf ihn ab, ist das die ultimative Herausforderung. Wir mögen die Rom, die ihren Traummann sucht. Sie ist der Hammer.«
Es freute mich, dass mich meine Freunde so positiv wahrnahmen.
»Cayte meint, ihr Artikel wird Anfang Juni erscheinen«, erzählte mir Tom, als wir unsere Instrumente zwischen zwei riesigen rosafarbenen Cadillacs aus Pappe aufbauten, die fast den gesamten Platz auf der kleinen Bühne beanspruchten. »Ihr Redakteur ist von der Idee begeistert. Der Artikel wird vielleicht sogar umfangreicher, als sie anfangs gedacht hat.«
Das waren hervorragende Neuigkeiten. Je mehr Text, desto größer die Chance, dass PK darauf aufmerksam wurde.
Als D’Wayne erzählt hatte, dass wir für eine Hochzeit in einem idyllischen schottischen Schloss gebucht waren, inmitten von mit Heidekraut bewachsenen Bergen, an einem silbrig glitzernden See, hatte ich wahrlich nicht mit einem Rockabilly-Ambiente gerechnet. Im Inneren des Schlosses erstrahlte alles im kitschigen Fünfziger-Jahre-Look, angefangen bei den Barhockern bis hin zu den Outfits à la Rat Pack and Teddy Boy, die von den Freunden des Bräutigams getragen wurden – allen voran der Trauzeuge, dessen nette Bemerkung Wren so erheitert hatte.
»Ich hoffe, du hast deine gestreiften Söckchen dabei, Rom«, lästerte Charlie, während er eine Kabelrolle neben meinen Mikrofonständer fallen ließ.
»Klar. Wren und ich haben in einem Kostümverleih gestöbert. Du wirst beeindruckt sein.«
»Das werde ich bestimmt.« In seinen Augen lag definitiv ein Funkeln, als er mich ansah. Ich verspürte ein leichtes Flattern in der Magengegend, doch ich ignorierte es energisch und sprang von der Bühne, um Wren zu suchen.
Nachdem ich eine Weile erfolglos in dem riesigen Ballsaal mit dem Fünziger-Jahre-Dekor herumgeirrt war, entdeckte ich sie schließlich auf dem Parkplatz. Sie telefonierte gerade auf dem Handy, kichernd, gurrend und flirtend, so dass kein Zweifel daran bestand, weshalb sie sich mit einem Mann unterhielt.
Als sie das Gespräch beendet hatte, sah sie mich überrascht an: »Ich dachte, du wärst drinnen.«
»War ich auch. Aber dann habe ich mich auf die Suche nach dir gemacht. Na, wer ist diesmal der Glückliche?«
Sie schob die Hände in die Hosentaschen und warf mir einen verzweifelten Blick zu. »Was soll das? Wann immer ich telefoniere, unterstellt ihr mir, dass ich mit einem Kerl spreche. Was haltet ihr denn von mir?«
Ich wartete, bis sie ihre flammende Rede beendet hatte. »Okay. Also, wie heißt er?«
Ihre blassen Wangen erblühten wie Rosenknospen. »Seth. Der Kellner aus dem Restaurant, wo wir an Sophies Geburtstag gefrühstückt haben.«
»Wren Malloy, gehört sich das etwa?«
»Oh, ich weiß, aber er ist so süß, da konnte ich einfach nicht widerstehen. Dieser Kaffeeduft beim Aufwachen!«
»Oh Mann, das will ich gar nicht hören!«
»Na gut.«
»Ist D’Wayne schon aufgetaucht?«, fragte ich. »Ich habe ihn heute beim Frühstück im Hotel gar nicht gesehen.«
»Wahrscheinlich ist er etwas mitgenommen, weil ihn Tom gestern Abend in der Bar zu einer Whiskyprobe überredet hat.« Wren verdrehte die Augen. »Ich glaube, das macht er nur, um irgendwie dazuzugehören.«
»Der Arme. Niemand sollte sich mit Tom auf einen Trinkwettkampf einlassen.«
»Tja, das wird er mittlerweile auch erkannt haben.« Sie blickte einem Lieferanten nach, der eine Fender-Gitarre aus Glasfaser ins Schloss trug. »Die Frage ist nur, wie werden Jack und Tom mit unserem Fünfziger- und Sechziger-Jahre-Set zurechtkommen? In der ersten Stunde ist nonstop Rock ’n’ Roll angesagt.«
»Ach, sie werden einfach an die Kohle denken, genauso wie wir, wenn wir ›Nine to Five‹ und ›Copacabana‹ singen müssen.«
Missbilligend rümpfte Wren die Nase. »Oh Gott! Aber da wir gerade von Geld reden – was hältst du von einem Mädelswochenende in Paris, wenn wir die Kohle von dem Millionärs-Gig kriegen?«
Sparen ist für Wren in etwa so absurd wie für mich die Quantenphysik. »Wolltest du mit dem Geld nicht dein überzogenes Konto und deine Kreditkartenrechnungen begleichen?«, erinnerte ich sie, während wir durch den Notausgang in die Halle zurückgingen.
»Ja, schon. Aber die Rechnungen laufen mir nicht davon, wohingegen man nicht oft die Gelegenheit hat, ein wenig europäische Kultur zu erleben. Außerdem … Hilfe, was ist das denn?« Sie deutete mit dem Finger zur Bühne.
»Oh, das. Das ist die Hochzeitstorte.«
Wren kicherte. »Eine dreistöckige Elvisbüste!«
So etwas hatte ich noch nie gesehen. Auf dieser Rock-’n’-Roll-Hochzeit war auf jedes relevante Thema aus den Bereichen Musik und Kultur Bezug genommen worden, von den High-Society-Champagnerflöten und den Postern der jungen Audrey Hepburn bis hin zu den Tischkarten, die den Speisekarten aus Happy Days nachempfunden waren, und der gigantischen Wurlitzer-Jukebox neben der Haupttafel. Auf unserer heutigen Setlist befanden sich Retro-Highlights wie Little Richards »Good Golly Miss Molly«, Jerry Lee Lewis’ »Great Balls of Fire« sowie Medleys aus Songs von Elvis, Buddy Holly und Eddie Cochran.
Während die Gäste nach und nach hereinströmten, versammelten wir uns eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn an der Bar und besprachen mit Ailsa, der Hochzeitsplanerin, die letzten Details unseres Auftritts.
»Lucy und Rick wollen Fotos von allen ankommenden Gästen haben. Es wäre also gut, wenn ihr vor dem ersten Tanz drei, vier Songs spielt.«
»Kein Problem«, sagte Jack. »Wir haben mehr als genug Bebop auf Lager.«
»Eine klasse Hochzeitsgesellschaft«, bemerkte Ailsa, als ein paar Gäste, die wie Statisten aus Grease aussahen, vorbeigingen. »Die Planung für diese Hochzeit hat unglaublich Spaß gemacht.«
»Haben Sie hier viele ausgefallene Hochzeiten?«
Ailsa lächelte: »Nein, nur sehr selten. Die meisten Leute wollen das volle schottische Programm mit Kilt und Haggis, allerdings hatten wir vor zwei Jahren auch eine Hochzeit unter dem Motto Herr der Ringe. So etwas ist immer eine nette Abwechslung.«
Ein Mann in den Fünfzigern kam zu uns an die Bar und legte seinen sichtlich unerwünschten Arm um die Hochzeitsplanerin. »Aah, die hübsche Ailsa«, hauchte er und verströmte dabei eine Dunstwolke aus Zigarren und Whisky. »Kümmert sich um alles, damit dieser Tag wunderschöööön wird, was? Die Frau ist ein Wunder. Hätte nichts dagegen, wenn sie auch mich glücklich machen würde.«
Der Mann stieß ein kehliges Lachen aus, doch Ailsas Lächeln blieb bewundernswert professionell.
»Gehört alles zum Service«, erwiderte sie, was angesichts des zweideutigen Grinsens des Mannes etwas unglücklich formuliert war.
»Ha! Davon gehe ich aus!«
Erschaudernd sah ihm Ailsa nach, als er sich zum Brautpaar begab, das die Gäste am Eingang des Ballsaals in Empfang nahm.
»Berufsrisiko, was?«, bemerkte Charlie.
»Kann man so sagen. Er ist der Stiefvater der Braut und hatte heute Morgen bei der Trauungszeremonie schon ordentlich Schlagseite. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viel er inzwischen intus hat.« Sie zwinkerte Wren und mir zu: »Vor dem sollten Sie sich in Acht nehmen.«
Wren lachte: »Keine Bange. Rom und ich sind schon mit ganz anderen Lüstlingen fertiggeworden.«
Dank der begeisterten Reaktion auf unsere Rock-’n’-Roll-Darbietung bereitete uns der Auftritt einen Mordsspaß. Als Sängerin freute ich mich immer, wenn ich ausnahmsweise einmal derart bekannte Songs singen durfte, besonders vor einem so enthusiastischen Publikum wie an diesem Abend. Die Hochzeitsfeier hatte echtes Retro-Flair – die Damen mit weiten Petticoats und Ringelsöckchen oder in Grace-Kelly-Roben und die Herren in maßgeschneiderten Anzügen und mit Filzhüten. Lucy, die Braut, trug ein trägerloses Vintage-Brautkleid von Dior mit weitem Tüllrock, einer Korsage, die mit Spitzenrosen gesäumt und mit Perlen bestickt war, und dazu lange weiße Seidenhandschuhe. Rick wiederum, ihr frisch angetrauter Gatte, sah in seinem grauen Flanellanzug wie der junge Gregory Peck aus. Es war ein zauberhafter Anblick, wie die beiden mit ihren Gästen zu unserer Rock-’n’-Roll-Musik tanzten.
Um uns nicht von der Menge abzuheben, hatten Wren und ich uns im Kostümverleih zwei Petticoat-Kleider ausgesucht, in denen wir aussahen, als wären wir geradewegs der Kulisse von Happy Days entsprungen. Diese Aufmachung half uns, in das Motto des Abends hineinzufinden. Die Frontsängerin einer Band zu sein, hat sehr viel mit Schauspielerei zu tun. Man schlüpft in eine Rolle, die man sich unter anderen Umständen womöglich niemals zutrauen würde. Auf der Bühne konnte ich selbstbewusst, kokett und souverän sein – weit mehr als im wirklichen Leben. Es machte mich glücklich, wenn ich das Publikum auf die Tanzfläche lockte, die obligatorischen Zwischenrufe schlagfertig parierte und die Stimmung anheizte. Sobald die Leute auf der Tanzfläche waren, mussten die Band und ich dafür sorgen, dass sie dort bleiben wollten. Diese Aufgabe fiel mir mit Wrens Unterstützung wesentlich leichter, und mit ihr zu singen, war eine echte Freude. Brauchte eine von uns eine Pause, konnte die andere die Melodie übernehmen, vergaß eine den Text, sprang die andere ein. Wir nannten das »gegenseitiges Auffangen«, und es war ein großartiges Gefühl, meine Freundin auf der Bühne an meiner Seite zu wissen.
In der Pause zwischen den beiden Sets spazierten Wren und ich durch das Schlossgelände, um uns abzukühlen. Die Luft war so frisch, dass sie mir beinahe in den Lungen schmerzte, als ich auf die herrliche Landschaft hinausblickte. Die Sonne ging rot glühend hinter dem See unter, und am Himmel funkelten bereits die ersten Sterne.
»Was für ein wunderbarer Ort. Wie gemacht für eine Hochzeit.«
Wren knuffte mich. »Denkst du etwa gerade an deinen geheimnisvollen Fremden?«
So war es tatsächlich. In einer derart romantischen Umgebung war es unmöglich, nicht auf diese Art an den Mann meiner Träume zu denken. Als ich in Charlie verliebt gewesen war, hatte ich nie auch nur entfernt daran gedacht, ihn eines Tages zu heiraten. Doch seit der Begegnung mit PK war dieser Gedanke bei unseren Hochzeitsauftritten ein ständiger Begleiter. Total bescheuert, aber so war es nun mal. Allein der Blick, mit dem er mich angesehen hatte, ließ den Gedanken, den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen, irgendwie plausibel erscheinen.
»A-haaa!«, dröhnte hinter uns eine heisere männliche Stimme. Wir drehten uns um und sahen den widerlichen Stiefvater der Braut, der über den Rasen auf uns zuwankte. »Hier also verstecken sich die hübschen Frauen! Ganz schön frech!«
Wren stöhnte auf, bedachte ihn aber mit ihrem strahlendsten Lächeln. »Wir sind gerade auf dem Weg nach drinnen zum nächsten Set.«
Leider ließ sich der betrunkene Mann nicht so leicht abspeisen. »Keine Eile«, nuschelte er und umklammerte Wrens Arm. »Schließlich werdet ihr bezahlt, um uns zu unterhalten! Wie wäre es also mit einer kleinen Privatshow?«
»Tut mir leid, wir müssen jetzt wirklich rein …« Wren wich vor seinem Atem zurück, als er sich mit geschürzten Lippen zu ihr beugte und ekelhafte Schmatzlaute von sich gab.
»Lassen Sie meine Freundin jetzt bitte los«, sagte ich so selbstbewusst, wie ich konnte, doch das Zittern in meiner Stimme verriet meine Unsicherheit.
Statt meiner Aufforderung nachzukommen, packte er mich mit der freien Hand am Handgelenk. »Zwei für den Preis von einer, okay?«
»Bei allem Respekt, aber Sie sollten meine Künstler jetzt in Ruhe lassen«, ertönte plötzlich D’Waynes Stimme. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand er da wie ein Rausschmeißer, mit dem man sich lieber nicht anlegte.
»Was haben Sie denn hier zu melden?«, polterte der Stiefvater.
»Ich bin der Manager der beiden Künstlerinnen«, erwiderte D’Wayne und trat einen Schritt näher. »Und der Umgang mit geilen alten Männern steht nicht in ihrem Vertrag.«
»Kostet extra, was?« Sein Griff um mein Handgelenk verstärkte sich, als ich versuchte, mich zu entziehen.
»Exakt, Sie haben’s erfasst!«
Was nun passierte, ging so schnell, dass ich es nur verschwommen wahrnahm: Mit einer raschen Bewegung drückte D’Wayne seinen Arm zwischen mich und den Stiefvater. Vor Schreck ließ der Mann uns los, um gleich darauf rücklings auf dem Rasen zu landen. Der Länge nach ausgestreckt starrte er D’Wayne dümmlich an.
»Wow! Was war das denn?«, fragte Wren verdutzt.
D’Wayne zuckte die Achseln. »Ich habe vor langer Zeit mal Judo gemacht. Das vergisst man nie.« Er blickte auf den älteren Mann hinunter. »Wir gehen jetzt zu der Feier zurück, Sir, und Ihnen rate ich dasselbe. Haben wir uns verstanden?«
Die Augen erschrocken aufgerissen, nickte dieser benommen. D’Wayne nahm uns bei den Händen und begleitete uns ins Schloss zurück.
»Wo wart ihr?«, fragte Charlie bei unserer Rückkehr. Sein Lächeln verschwand, als er unsere Mienen bemerkte. »Was ist passiert?«
»D’Wayne hat uns gerade gerettet, das ist passiert«, erwiderte Wren. »Er ist ein echter Held. Glaub mir, mit ihm sollte man sich besser nicht anlegen.«
D’Wayne lachte nervös: »Ich habe doch gar nichts gemacht.«
»Oh doch«, sagte sie etwas zu heftig, worauf unser Manager sie nur anstarrte. »Er hat diesen schmierigen Stiefvater der Braut mit einem Karategriff umgehauen. Oh Mann, das war wie in einem Kung-Fu-Film!«
»Es war Judo«, berichtigte D’Wayne sie, doch Wren hörte gar nicht zu, sondern schilderte begeistert ihre Version des Geschehens, während D’Wayne immer verlegener wurde.
Der zweite Teil unseres Auftritts verlief ohne weitere Dramen, und die begeisterte Reaktion unseres Publikums ließ das unschöne Erlebnis mit dem Stiefvater schnell in Vergessenheit geraten. Als unser letztes Lied ausklang, applaudierten und pfiffen die Gäste so lange, bis wir uns erweichen ließen und als Zugabe »Cant’t Take My Eyes Off You« spielten, was von der ganzen Hochzeitsgesellschaft mit der Inbrunst von Fußballfans mitgesungen wurde.
»Vielen, vielen Dank«, sagte die vom Tanzen erhitzte Braut, als wir zusammenpackten. »Ihr habt das ganz super gemacht.«
Sobald alles im Van verstaut war, gab Jack das Zeichen zum Aufbruch. »Job erledigt. Ich schlage vor, wir halten auf dem Weg zum Hotel kurz an einer Pommesbude an.«
D’Wayne verzog das Gesicht: »Fettige Pommes? So spät am Abend finde ich das nicht gut.«
»Tja, du musst ja nicht mitkommen«, gab Tom etwas schroff zurück.
»Ich finde schon, er sollte dabei sein«, warf Wren ein und schlang den Arm um den beeindruckenden Bizeps unseres Managers – eine Geste, die ihn genauso erschreckte, wie sie uns amüsierte.
»Ähm, okay. Cool.«
Als Wren D’Wayne zu seinem Wagen dirigierte, blickte sie sich zu uns um und formte mit den Lippen die Worte: »Wachs in meinen Händen.«
Tom legte den Arm um meine Schulter. »Ja, ja, ein gutes Beispiel für eine Frau, die über die Theorie der Anziehung erhaben ist. Sie nimmt sich einfach, was sie will. Kein Mann ist vor ihr sicher.« Er zerzauste mir die Haare. »Lass dir das eine Lehre sein, Rom.«
In der darauffolgenden Woche grübelte ich immer wieder über Toms Worte nach, ob nun bei der Arbeit oder bei den Proben für unseren nächsten Gig. Tom hatte mit dieser Bemerkung eindeutig auf irgendetwas angespielt, aber ich kam beim besten Willen nicht darauf, was es sein sollte. Eines wusste ich jedoch genau: Wenn ich PK finden sollte, würde ich mit einer Beharrlichkeit an ihm festhalten, die Wrens in nichts nachstehen würde.