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Help!

Wenn man sich bei meinen Freunden auf eines verlassen kann, dann darauf, dass sie jede Gelegenheit wahrnehmen, sich gegenseitig aufzuziehen. Toms präpotentes Gockelgehabe – eine Kreuzung zwischen einem zappeligen, sich in den Schritt greifenden Mick Jagger (in seinen späteren Jahren) und einem halbnackt herumtobenden Angus Young von AC/DC – gegenüber der schönen Cayte hätte normalerweise ein Feuerwerk an Sticheleien entfacht. Doch aufgrund meines abrupten Abgangs von der Bühne war Toms Verhalten zur Bedeutungslosigkeit verblasst.

Dafür wurde ich nun zur Zielscheibe des Spotts, und Anfang März, mit dem beginnenden Frühling, waren Witze auf meine Kosten quasi an der Tagesordnung.

»Hey, Rom, bleibst du zum Mittagessen da?«, fragte Jack unschuldig, als ich auf der kleinen Wiese eintraf, wo meine Freunde sich getroffen hatten, um das milde Wetter auszunutzen.

»Klar. Was meinst du, warum ich hier bin?«, erwiderte ich arglos.

»Na ja, ich wollte nur nachfragen, für den Fall, dass du plötzlich wegrennen musst …«

Genervt schüttelte ich den Kopf, während sich meine lieben Freunde vor Lachen ausschütteten. »Sehr witzig! Mich wundert nur, dass euch das nach drei Wochen noch nicht langweilig geworden ist!«

»Wir haben noch nicht mal richtig angefangen.« Grinsend streckte Tom die langen Beine aus und lockerte seine Krawatte.

Es war immer etwas seltsam, meine Freunde in ihren Arbeitsklamotten zu sehen – vor allem Charlie und Tom, die in ihrer Freizeit eigentlich nur in T-Shirt, Jeans und Kapuzenjacke herumliefen. Für unsere Gigs warfen sie sich natürlich in Schale, doch unsere Outfits waren aufeinander abgestimmt, um eine Gesamtwirkung zu erzeugen, so dass der individuelle Stil dahinter zurückbleiben musste. Die Arbeitskleidung hingegen betonte die Unterschiede. Tom wurde von uns nur als »Werbeträger für Next« bezeichnet, weil die Klamotten für seine Arbeit bei einer IT-Firma fast ausschließlich von Next stammten. Charlie hatte von allen Jungs die originellste Berufskleidung – was bei seiner Arbeit in der Galerie seines Vaters auch kein Wunder war. Sein blauer Anzug, das blau karierte Hemd, die silberfarbene Krawatte und die Converse-Sneakers waren typisch für seine eklektische Arbeitsgarderobe. Jack war der Einzige von uns, der keinem Dresscode unterworfen war, doch auch er spielte manchmal gern mit verschiedenen Stilen und kombinierte Jeans mit Hemd und Krawatte. Wren stellte uns mit ihrer Garderobe natürlich alle in den Schatten, doch sie hatte heute keinen Unterricht und war deshalb nicht gekommen. Aus sicherer Quelle wusste ich jedoch, dass ihre Arbeitskleidung genauso bunt zusammengewürfelt war wie die Outfits, in denen wir sie abends und an Wochenenden sahen.

»Komm, setz dich, Rom«, sagte Jack und zog mich auf seinen Schoß. »Wie gemein von uns, dich zu verspotten, nur weil du mitten in einem Auftritt die Bühne verlässt, was?«

»Ha, ha. Vielen Dank für dein Verständnis.«

»Keine Ursache. Der Typ war also wirklich da?«

Ich bemerkte, wie Charlie, der am anderen Ende der Bank saß, seine Zeitung aufschlug und sich darin vertiefte. »Ich glaube … Nein, ich bin mir sicher.«

Tom setzte sich auf die Wiese und zupfte die Krümel des riesigen Sandwichs, das er gerade verdrückte, von seinem Hemd. »Schade, dass wir ihn nicht gesehen haben. Eigentlich würde ich gern alle Typen, mit denen du dich triffst, zuerst unter die Lupe nehmen.«

»Welche Typen, bitte schön? Ich hatte seit über einem Jahr kein Date mehr.«

Er feixte. »Also, wenn du irgendwann einen Kerl findest, der genügend Mumm hat, um es mit dir auszuhalten, Rom, bin ich gern bereit, ihn auf Herz und Nieren zu prüfen.«

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Was bin ich doch froh, dass ich meine Mittagspause geopfert habe, um mit euch zusammen zu sein.«

Jack umarmte mich. »Es ist doch nur, weil wir dich alle so lieben. Ich finde es gut, dass du den Typen suchst.«

»Oh, lieb von dir, Jack.«

Ein gefährliches Glitzern trat in Jacks Augen, das nur eines bedeuten konnte – und leider war es auch so: »Es ist wirklich an der Zeit, dass mal jemandem auffällt, wie wunderbar du bist. Findest du nicht auch, Chas?«

Angesichts von Jacks brachialem Vorpreschen, das ungefähr so sensibel war wie ein Vorschlaghammer, ruckte Charlies Kopf in die Höhe, und seine Wangen färbten sich tiefrot. »Wie bitte?«

Ach, du liebe Zeit. Bitte nicht noch einmal! Aber: »Ich sagte, Rom sollte jemanden finden, der sie wirklich wertschätzt.«

Charlies mitternachtsblauer Blick glitt von Jack zu mir, und wir sahen uns einen Moment intensiv in die Augen, ehe Charlie diesen Augenblick mit einem Blinzeln zunichtemachte. »Entschuldige, Jack, ich hatte gar nicht richtig zugehört. Wann wollen wir diese Woche proben?«

Seine brüske Art verletzte mich, und ich biss in mein Sandwich, um es zu überspielen. Tom war meine Reaktion nicht entgangen. Er zwinkerte mir zu und klopfte einladend neben sich auf die Wiese. Dankbar nahm ich das Angebot an und überließ Jack und Charlie sich selbst.

»Ignorier ihn, Süße. Er ist nun mal ein ausgemachter Trottel.«

»Ich weiß.«

»Gut. Aber irgendwie finde ich es auch cool. Ziemlich borderlinemäßig, aber trotzdem cool. Und, was macht dein Blog?«

»Alles bestens. Ich hatte ungefähr zehn Nachrichten von Leuten, die mich unterstützen, was mich riesig gefreut hat.«

Toms Lächeln war wie warmer Honig. Kein Wunder, dass er so gut bei Frauen ankommt. »Ich finde es total gut, dass du den Typen auf unserem Gig gesehen hast.«

»Echt?«

»Klar. Weil du jetzt weißt, dass es möglich ist, ihn wiederzufinden. Er lebt in dieser Stadt, vielleicht sogar in deiner Nähe. Er könnte über Ricky WahWah’s wohnen.« Er deutete auf das bekannte Musikgeschäft, wo er und Charlie gelegentlich Musikunterricht gaben. »Er könnte abends auf ein paar Drinks in The Garter gehen. Wahrscheinlich trinkt er irgend so einen angesagten Scheiß wie belgisches Leffe-Bier oder mexikanisches Sol-Bier – kein Ale, was richtige Kerle wie wir bevorzugen.« Er blickte zu einer älteren Dame hinüber, die einen struppigen Hund an der Leine führte. »Und das könnte seine Omi sein …«

Tom verfügte über die wunderbare Gabe, mich mit einem einzigen gut platzierten Satz jeden Stress und Zorn vergessen zu lassen. Er hatte einen erstaunlichen Blick für Situationskomik. Früher wollte er das sogar zu seinem Beruf machen. Vor seinem Universitätsstudium hatte er einen Auftritt als Stand-up-Comedian auf dem Kulturfestival von Edinburgh, dem berühmten Edinburgh Fringe, und war ziemlich gut angekommen. Aber der Wunsch, Musik zu machen, war dann doch stärker gewesen, und jetzt kamen nur noch wir in den Genuss seines komischen Talents.

»Danke, Tom.«

Er streichelte meine Hand. »Weißt du, wenn dieser Typ auch nur einen Funken von Verstand hat, wird er dich ebenfalls suchen. Also drücken wir die Daumen, dass sich bald irgendetwas tut, okay?«

Erfreut über seine Zuversicht, nickte ich. Doch ich ahnte natürlich nicht, welche durchschlagende Wirkung sein Wunsch haben sollte …

Ich wollte dir nur sagen, dass ich deine Suche klasse finde. Bleib dran! Maisie x

Eine Freundin hat mir von deinem Blog erzählt, und ich bin ihr dafür wirklich dankbar. Deine Suche ist wie ein Märchen, das hoffentlich wahr werden wird. C. Smith

Mach dir keine Sorgen, weil du ihn noch nicht gefunden hast. Irgendwas wird bestimmt passieren. Alle meine Arbeitskollegen drücken dir die Daumen. Wir sind wahnsinnig gespannt, was bei deiner Suche herauskommen wird! Kathy96

Du bist verrückt, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Viel Glück! GR007

Die ermutigenden Nachrichten hatten mit dem vierten Blogeintrag begonnen und wurden ständig mehr. Ich fand es erstaunlich, dass völlig fremde Menschen auf meinen Blog stießen und mir den Rücken stärkten. Es schenkte mir Hoffnung, dass meine Suche vielleicht nicht vergebens sein würde: Wenn all diese Leute mich finden konnten, könnte mich auch PK ebenso gut finden.

Während ich an meinen Jingles arbeitete, inspirierte mich die Aufregung über die wachsende Popularität meines Blogs zu beinahe lyrischen Ergüssen über die Vorzüge von Jalousien, Kutschfahrten und Hämorridensalben.

Wrens Augen wurden groß wie Suppenteller, als ich ihr eines Abends im Petito’s, einem hellen, modernen Lokal am Brindley Place unweit ihrer Wohnung, einen dieser Jingles zum Besten gab.

»Ich fasse es nicht, dass du über Hämorriden singen musst«, rief sie, was uns missbilligende Blicke von dem älteren Paar am Nebentisch einbrachte.

»Schrei noch ein bisschen lauter, Süße. Die Enten auf der anderen Kanalseite haben es noch nicht richtig verstanden!«, zischte ich ihr zu und versteckte mich hinter der Speisekarte.

Kichernd hob Wren ihr Rotweinglas: »Romily Parker, ich trinke auf dich. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der einen Song über peinliche körperliche Vorgänge schreiben kann. Was kommt als Nächstes? Durchfall?«

»Der war letzten Monat dran.«

»Respekt!« Sie stieß mit mir an. »Genug von der Arbeit. Wie geht es mit der Suche voran?«

»Ich bekomme jede Woche mehr Leser hinzu, die mich unterstützen. Irgendjemand muss wissen, wer PK ist.«

»Hoffentlich. Ich meine, inzwischen haben wir März, und du bist noch keinen Schritt weitergekommen. Mal abgesehen von dem flüchtigen Blick auf diesen Mann, der vielleicht, aber nur vielleicht PK gewesen sein könnte.«

»Das Jahr hat gerade erst begonnen. Es ist noch genügend Zeit.«

»Richtig. Aber auch genügend Zeit, um dir Gedanken darüber zu machen, ob das Ganze nicht einfach nur eine nette, romantische Geschichte war, die der Wirklichkeit womöglich nicht standhält. Wir haben alle unsere Was-wäre-wenn-Erinnerungen, Rom. Zum Beispiel denke ich immer noch an den Typen, den ich mit achtzehn im Urlaub in New York kennengelernt habe. Er hat mit mir eine Kutschfahrt durch den Central Park gemacht und mir eine gelbe Rose geschenkt. Aber das war ein einziger Tag, und ich wusste, ich würde ihn danach nie wiedersehen. Es ist einfach nur eine schöne Erinnerung. Und wir brauchen schöne Erinnerungen für die Zeiten, in denen wir uns einsam und ungeliebt fühlen.« Sie drückte meine Hand. »Ich wollte wirklich nicht diejenige sein, die dir das sagt, weil ich dir von ganzem Herzen wünsche, dass alles gut ausgehen wird. Aber ich habe einfach Angst, dass du irgendwie verletzt wirst.«

»Schon klar, aber es ist nur ein Jahr meines Lebens. Wenn ich die Sache durchziehe, ob nun erfolgreich oder nicht, ist das für mich die Bestätigung, dass ich das, was ich mir vornehme, auch zu Ende bringen kann.«

Nachdenklich sah Wren mich an: »Du hast wirklich viel darüber nachgedacht, was?«

»Ja, das habe ich.«

»Dann müssen wir den Einsatz erhöhen. Ich werde mir was überlegen.«

Als ich am folgenden Abend The Garter betrat, war der Pub brechend voll. Wie immer war das Publikum bunt gemischt: betuchte Gäste, die sich das teure Essen schmecken ließen, Leute aus der Nachbarschaft, die sich nach der Arbeit ein paar Bierchen gönnten, sowie zahlreiche Studenten, die dicht gedrängt um die kleinen Tische saßen oder Dart spielten.

»Was tun wir hier?«, fragte ich Wren, die sich beherzt durch das Gewühl schob, um einen Tisch in der Ecke neben dem Spielautomaten zu ergattern.

»Wir sind hier, weil die Möglichkeit besteht, dass dein hübscher junger Mann auch hier ist.«

»Wie kommst du darauf?«

Wren hängte ihren Mantel über die Stuhllehne. »Wenn er in Birmingham wohnt, muss er eine Stammkneipe haben – und das könnte The Garter sein.«

Ich lachte über ihre ernsthafte Miene. »Es könnte auch jede andere Kneipe in der Stadt sein. Heißt das etwa, dass wir die alle abklappern werden? Ich glaube, dafür reicht ein Jahr nicht aus. Ganz zu schweigen davon, dass wir wahrscheinlich als Alkoholikerinnen enden würden.«

Wren ließ sich nicht beirren. »Nun, in diesem Fall könntest du ihm auf einem Treffen der Anonymen Alkoholiker begegnen, also hätte sich das Trinken gelohnt.«

Ich sah mich in der vollen Kneipe um. »Ich glaube nicht, dass er hier ist, Wren.«

»Du hast auch nicht geglaubt, dass du ihn am Valentinstag in diesem Supermarkt sehen würdest, aber er war da, oder? Es geht um die Möglichkeit, Rom! So, ich hole uns jetzt was zu trinken, und du hältst weiter nach ihm Ausschau, okay?«

Lächelnd blickte ich ihr nach, als sie zur Bar ging. Die Chance, dass wir PK hier zufällig treffen würden, war gleich null, doch Wrens Zuversicht steckte mich an. Ich checkte auf meinem Handy die E-Mails und entdeckte, dass ich auf meinen letzten Blog-Eintrag drei Reaktionen erhalten hatte. Ich wollte die Mails gerade öffnen, als die Tür aufging und Charlie und Jack hereinspazierten.

Natürlich entdeckten sie mich sofort. Charlie wirkte eher überrascht als erfreut, wohingegen Jack über das ganze Gesicht strahlte und sofort auf mich zusteuerte.

»Ich wusste gar nicht, dass du heute Abend hier sein würdest«, sagte Jack, als er sich mit Charlie zu mir durchgedrängt hatte.

»Umgekehrt genauso«, erwiderte ich. »Wren meinte, wir sollten uns hier mal umsehen.«

»Äh«, stammelte Jack verwirrt. »Und warum?«

»Wir sind im Rahmen meiner Suche hier.«

Charlie trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und blickte zur Bar hinüber.

»Hast du ihn noch einmal gesehen?«

Als ich antwortete, sah ich verstohlen zu Charlie hinüber, der sich sichtlich unwohl fühlte. »Nein, nichts dergleichen. Wren dachte einfach …«

»Aha! Ihr spioniert uns also nach!«, rief Wren, die mit zwei Drinks – Jack Daniels mit Cola – zurückkam.

Jack erhob sich von Wrens Platz und stellte sich zu Charlie. »Das hättest du wohl gern! Nein, wir hatten Lust auf einen Männerabend, nicht wahr, Chas?«

Charlie murmelte irgendetwas Unverständliches und vermied beharrlich jeden Blickkontakt mit mir.

Wren und Jack sahen sich vielsagend an, während ich stur in meinen Drink starrte.

Jack klopfte Charlie auf den Rücken. »Tja, Mädels«, sagte er eine Spur zu fröhlich, »wir werden euch jetzt wieder allein lassen und uns ein schönes Ale genehmigen.«

»Schönen Abend«, murmelte ich.

Charlie streifte mich mit einem kurzen Blick. »Euch auch.« Und weg waren sie, verschwunden im Getümmel rund um die Bar.

Kichernd beugte sich Wren zu mir: »Liebe Güte, wie peinlich war das denn?«

Mürrisch drehte ich mein Glas in der kleinen feuchten Pfütze auf der dunklen, glänzenden Tischoberfläche herum.

»Vergiss ihn, Rom. Er muss noch erwachsen werden. Ha, stell dir vor, wie dumm er aus der Wäsche schauen wird, wenn du den geheimnisvollen Fremden findest und ihr glücklich lebt bis ans Ende eurer Tage.«

Ich erwiderte Wrens Lächeln. Doch im Verlauf des Abends, der für mich letztlich ergebnislos war (wenigstens nicht für Wren, die es schaffte, dem sehr süßen Barkeeper seine Telefonnummer abzuluchsen), musste ich immer wieder an Charlies abweisendes Verhalten denken. Ich hatte gehofft, dass sich zwischen uns wieder alles normalisieren würde, doch seine Reaktion heute Abend erinnerte mich wieder an den schrecklichen Streit, den wir auf der Rückfahrt von dem Silvesterauftritt gehabt hatten. Würde es von nun an so mit uns weitergehen?

Nachdem wir mit dem Bus zurück zu Wren gefahren waren, verabschiedete ich mich und winkte ein Taxi heran. Während die Lichter der Stadt in einem flirrenden Nebel vorbeizogen, ließ ich mich tief in den Sitz sinken und dachte an PK. Sollte Charlie Wakeley doch denken, was er wollte! Ich würde meine Suche fortsetzen. Wren hatte Recht: Ich musste daran glauben, dass ich ihm irgendwo, irgendwann zufällig begegnen würde. Wenn das ein Mal geschehen war, warum nicht ein zweites Mal?

Ich zog mein Handy aus der Handtasche, dessen Display zu meiner Überraschung eine SMS von Charlie anzeigte: Ich hoffe, die Suche geht voran. Tut mir leid, dass ich so ein Depp war. Bis morgen, Cx

Immer mehr Leute kommentierten voller Begeisterung meinen Blog, und es berührte mich ungemein, dass völlig fremde Menschen unbeirrt an meine Sache glaubten.

Auch auf Jacks Freundin, Sophie, traf das zu. Nach der Probe am nächsten Tag kam sie zu unser aller Freude mit drei großen Pizzaschachteln vorbei.

»Ernsthaft, Rom, inzwischen lesen alle auf der Arbeit deinen Blog. Ich habe letzte Woche im Lehrerzimmer davon erzählt, und es stellte sich heraus, dass die meisten Lehrer bereits davon gehört hatten. Zwei Kollegen haben heute sogar ganz von selbst deine Suche erwähnt und mir danach ihre eigenen Was-wäre-wenn-Geschichten erzählt.«

Diesen Ausdruck hörte ich in dieser Woche bereits zum zweiten Mal. »Wren hat diesen Ausdruck auch benutzt. Sie glaubt, mein Fremder ist mein Was-wäre-wenn.«

Sophie lächelte: »Gut möglich. Aber offenbar haben viele Frauen solche Geschichten erlebt. Nur war keine mutig genug, sich einfach auf die Suche zu machen.«

»Wow! Ich hatte ja keine Ahnung.«

»Wenn du ihn wirklich findest, wirst du eine Heldin sein für all die Frauen, die noch an die große romantische Liebe glauben.«

Ich schüttete aus dem Teekessel kochendes Wasser in Toms angeschlagene gelbe Teekanne und rührte um. »Tja, wenn ich Wrens Vorschlag befolge, werden wir uns in Zukunft hauptsächlich in Kneipen herumtreiben, um PK zu finden.«

Sophies dunkle Augen funkelten. »Ah, davon habe ich gehört. Jack und Charlie haben sich heute Morgen ausgiebig darüber ausgelassen.«

»Oh. Was haben sie gesagt?«

»Na ja, als Charlie dich allein im Pub sitzen sah, dachte er, du hättest den Typen aufgespürt und dich in der Kneipe mit ihm verabredet. Ich glaube, das hat ihn ziemlich gewurmt, obwohl er das natürlich nicht zugegeben hat, zumal sich seine Vermutung als Irrtum herausstellte. Jack hat ihn offenbar den ganzen Abend über damit aufgezogen, und das ging heute Morgen weiter.«

Charlie alberte gerade mit Tom und Jack am anderen Ende des Proberaums herum. Ich senkte die Stimme, damit er mich nicht hören konnte: »Ich verstehe gar nicht, wie er auf diese Idee gekommen ist. Er müsste nur meinen Blog lesen, dann wüsste er, dass ich PK seit dem Valentinstag nicht mehr gesehen habe.«

»Es kann dir egal sein, was Charlie denkt, Rom. Mach einfach weiter mit deiner Suche.«

»Danke, Sophie. Hast du denn auch eine Was-wäre-wenn-Geschichte?«

Ein verträumter Ausdruck trat auf Sophies Gesicht: »Ungefähr ein Jahr bevor ich Jack kennenlernte, war ich auf einer Theaterreise in London. Als wir in Covent Garden waren, stand vor dem Eingang von Neil’s Yard ein Typ mit unglaublich blauen Augen und verneigte sich vor mir. Das war alles, was er machte: eine formvollendete, elegante Verneigung wie in einem Shakespeare-Drama. Und dann ging er. Aber ich war völlig hingerissen. Und noch heute frage ich mich manchmal, was geschehen wäre, wenn er etwas gesagt oder wenn ich ihn wiedergesehen hätte.«

Ich weiß nicht, ob Charlie etwas von dem Gespräch mitbekommen hatte, doch als wir anschließend die Pizzas aßen und dazu Unmengen von Tee tranken, war sein Verhalten mir gegenüber auffallend verändert. Er rang sich ein Lächeln ab, wann immer ich seinem Blick begegnete, und bot mir sogar an, mich am Samstag zu dem Hochzeitsgig mitzunehmen. Obwohl ich immer noch sauer auf ihn war, akzeptierte ich sein Friedensangebot und stimmte zu. Trotz der Unstimmigkeiten, die seit Weihnachten zwischen uns herrschten, konnte ich nicht leugnen, dass Charlie einfach unwiderstehlich war, wenn er seinen Charme einsetzte.

Nachdem wir samstags noch vor Anbruch der Dämmerung – also kriminell früh – den Van beladen hatten, hielten wir gegen acht ausgehungert an einer Tankstelle an der M6. Der Veranstaltungsort der Hochzeit, zu der wir unterwegs waren, war ein mittelalterliches Herrenhaus in Northumberland, und man hatte uns gebeten, möglichst früh dort anzutanzen. Die Fahrt von Haustür zu Haustür würde ungefähr fünf Stunden dauern, aber wenigstens hatte D’Wayne in der Nähe eine Unterkunft für uns organisiert.

Wie ausgemacht fuhr ich bei Charlie mit, und die Reise war bisher überraschend entspannt verlaufen. Sorgfältig vermieden wir potenziell gefährliche Themen und hielten uns an Anekdoten von Auftritten und Erinnerungen an unsere Schul- und Universitätszeiten – ein sicheres Territorium für uns beide. Während die Landschaft vorbeirauschte, kuschelte ich mich in den beheizten Sitz von Charlies dunkelgrünem Volvo-Transporter und genoss die lockere Unterhaltung.

Da die Restaurants gerade erst aufmachten, holten wir uns bei WHSmith Chips, Schokolade, Fruchtsäfte und Dosen mit Softdrinks. Als echte Kaffeesnobs wollten Charlie und Jack lieber warten, bis das italienische Café öffnete, statt sich mit Automatenkaffee aus dem Laden zu begnügen. Wren wurde von Tom mit Spott überhäuft, weil sie sich die Times kaufte, um das Kreuzworträtsel zu lösen.

»Und du willst eine bodenständige Frau aus der Arbeiterklasse sein?«, frotzelte er. »Jeder andere würde ein Rätselheft kaufen, aber du – oh, nein, niemals! Dafür ist Madame zu intellektuell!«

Eine halbe Stunde später standen wir alle an der Theke des italienischen Cafés, wo unser Sortiment an Junkfood neben Charlies und Jacks Essens- und Kaffeeauswahl völlig verblasste.

»Warum haben die eigentlich eine Band gebucht, wenn es eine mittelalterliche Hochzeit werden soll?«, fragte Wren, während sie in einen Schokoladenmuffin biss, der fast so groß war wie ihr Kopf.

Tom lächelte. »Offenbar ist es ein Kompromiss, den die Braut ihrem Bräutigam zuliebe gemacht hat. Sie kriegt das mittelalterliche Ambiente, und er kriegt die Musik, zu der seine Freunde und er tanzen können.«

»Dann scheint die Ehe ja auf einem guten, soliden Fundament erbaut zu sein«, warf ich ein.

»Schade, dass D’Wayne noch nicht da ist«, sagte Jack, »denn sonst hätte er uns mit seinem untrüglichen Gespür verraten können, wie lange diese Ehe vorausichtlich halten wird.« Er zog die Schultern hoch wie ein muskelbepackter Gorilla, schlug einen breiten Handsworth-Akzent an und sagte mit weisem Kopfschütteln: »Ich gebe ihnen maximal ein Jahr!«

»Glaubst du, die Leute kommen verkleidet?«, fragte Wren. »Ich kann mir nämlich nur schwer vorstellen, wie hundertfünfzig Leute in mittelalterlichen Gewändern zu ›I Kissed a Girl‹ rumhüpfen.«

»Das ist noch so eine komische Sache: Wer wünscht sich für eine Hochzeit ›I Kissed a Girl‹? Mit seinen homosexuellen Andeutungen ist das ja kaum ein Song, zu dem Omi und Opi schunkeln wollen, oder?«, gab Jack zu bedenken, worauf wir alle losprusteten.

»Es ist der Lieblingssong des Bräutigams«, teilte uns Tom mit. Sein nahezu enzyklopädisches Wissen über die Einzelheiten dieser Hochzeit verblüffte uns. »Es war seine Hymne beim Junggesellenabschied.«

»Hat dich D’Wayne inzwischen auf seine Gehaltsliste gesetzt?«, fragte Charlie verwundert. »Sollen wir dich jetzt T’Om nennen?«

Der schwache Witz löste einen enormen Heiterkeitsausbruch aus, der wohl der Kombination aus Schlafmangel, Koffein und einer Überdosis Zucker geschuldet war. Als das Gelächter schließlich abebbte, klärte uns Tom auf. »Das weiß ich nur deshalb, weil Cayte für das Brides Magazine eine Hintergrundgeschichte über die Hochzeit schreibt.«

Seit dem Auftritt am Valentinstag hatte sich zwischen Tom und Cayte eine echte Beziehung entwickelt, und Cayte war jetzt regelmäßig dabei, wenn wir abends zum Essen oder in eine Bar gingen. Tom bezeichnete sie gern als »kleine Delikatesse, die ich beim Lebensmitteleinkauf erstanden habe« – ein Witz, der für beide nie an Reiz zu verlieren schien, obwohl er für Jack und Charlie inzwischen ein alter Hut war.

»Ehrlich, Rom, wenn er diesen Spruch noch einmal bringt, wenn wir zusammen auf einer Radtour sind, schubse ich ihn von seinem Drahtesel«, knurrte Charlie, als wir wieder im Auto saßen und Richtung Norden fuhren.

»Sei nicht so hart mit ihm. Er ist wieder glücklich – das ist doch schön, oder?«

Charlie zog eine Grimasse. »Wahrscheinlich.«

Ich lehnte mich zurück und lauschte dem Geklapper der Ausrüstung, wenn der Wagen über Unebenheiten auf dem Asphalt ruckelte. »Wahrscheinlich wird der heutige Auftritt wieder eine von D’Wayne McDougalls opulenten Veranstaltungen – mittelalterliche Hochzeit, Braut und Bräutigam streiten sich über das Unterhaltungsprogramm, die Gäste total blau … Der Gig weist schon jetzt alle Anzeichen eines Klassikers auf.«

Charlie lachte: »Da kannst du Recht haben. Lass uns lieber an den bevorstehenden Millionärs-Gig denken.«

Der Gedanke an den Gig-der-alles-verändern-könnte genügte, um mir einen erwartungsvollen Schauer über den Rücken zu jagen. »Weiß Tom schon Näheres darüber?«

»Er hat mir gestern Abend die neuesten Infos gegeben. Der Veranstaltungsort ist ein Landschloss in den Kew Gardens, direkt oberhalb der Themse. Es heißt Syon Park und soll ziemlich eindrucksvoll sein. Etliche Prominente haben dort geheiratet, und es wurde als Kulisse für Film- und Fernsehproduktionen benutzt. Ich glaube, es ist immer noch im Besitz eines Dukes und dessen Familie. Tom ist richtig ins Schwärmen geraten. Ich glaube, er freut sich so sehr darauf, dort aufzutreten, dass ihm die Gage ziemlich egal ist.« Er hielt inne, und ich nahm eine subtile Veränderung in der Atmosphäre wahr. »Hör zu, Rom, ich habe mich am Mittwochabend ziemlich blöd benommen. Aber ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dich dort zu sehen. Offen gestanden dachte ich, du hättest ein Date. Verstehst du jetzt, warum ich etwas zugeknöpft war?«

Nein, eigentlich verstand ich das nicht. Da Charlie mir deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass ihm an einer Beziehung mit mir nicht gelegen war, ging es ihn nichts an, ob und mit wem ich mich verabredete. Von mir aus konnte er denken, was er wollte, solange er mir nicht in mein Leben reinredete. Doch seine Aufrichtigkeit rührte mich, und so schluckte ich meine Einwände hinunter und lächelte ihm stattdessen zu.

»Danke für deine offenen Worte. Ich weiß das zu schätzen.«

Diese höfliche Antwort schien ihm zu genügen, und er entspannte sich merklich.

»Allerdings glaube ich nicht, dass du in The Garter jemanden finden könntest«, fügte er hinzu.

»Nun, Wren hat jemanden gefunden. Sie hat die Telefonnummer des Barkeepers gekriegt. Wie auch immer – der gute Wille zählt. Wren ist fest entschlossen, mir zu helfen, meinen Fremden zu finden.«

Sein Grummeln war nicht zu überhören. »Du hältst das also immer noch für möglich?«

»Ja, sicher. Immerhin habe ich ihn bei diesem Auftritt am Valentinstag wiedergesehen.«

»Tja, dann.«

Um dieses heikle Thema nicht noch weiter zu vertiefen, begann ich, über andere Dinge zu reden.

Charlie schien das nur recht zu sein, denn auf der Weiterfahrt nach Beauforden Manor beschränkten wir uns ausschließlich auf unverfängliche Themen. Während wir über dies und das plauderten, erwachte plötzlich wieder die alte Magie. Die Scherze flogen zwischen uns hin und her und beflügelten uns zu einem geistigen Schlagabtausch. Es war fast so, als hätte es dieses Gespräch an Weihnachten niemals gegeben. Fast …

Das mittelalterliche Herrenhaus war von düsterer Schönheit. Das alte Gemäuer ragte inmitten eines wildromantischen Parks mit Zedern, Weiden, Eichen und einem silbrig schimmernden Fluss hoch, der sich um den Hügel wand, auf dem das Gebäude thronte. Wir bauten unsere Ausrüstung in der zentralen Halle auf, die von seinen Besitzern während der viktorianischen Ära mit gotischen Stilelementen deutlich verschönert worden war. Kerzen brannten in jedem Fenster und entlang der drei fünfundzwanzig Meter langen Tafeln, die sich an die obere Haupttafel anschlossen. Auf den Tischen standen golden bemalte Platten und Tonkrüge mit Pfingstrosen, Efeu und Rosen. Es war ein unglaublicher Anblick, obwohl Wren, Jack und Tom Mühe hatten, ernst zu bleiben, sobald sie die Angestellten entdeckten, die mit verdrossenen Mienen in ihren mittelalterlichen Gewändern herumliefen.

»Man kann nur hoffen, dass sie anständig bezahlt werden für diese Schmach, sich in der Öffentlichkeit in einer derart peinlichen Verkleidung zeigen zu müssen«, meinte Jack und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Kein Wunder, dass sie alle so mürrisch dreinschauen.«

»In manchen Momenten wird mir bewusst, wie glücklich ich mich schätzen kann, bei der Arbeit keine Uniform tragen zu müssen«, stimmte Tom mit gesenkter Stimme zu, da gerade ein besonders missmutig wirkender älterer Herr in einem weiten Kittel und erbsengrünen Strumpfhosen mit einem Stapel Stühle vorbeiging. »Und dies ist so ein Moment.«

»Guten Tag, meine Damen und Herren.« Ein brummig aussehender Mann in einem Edelmann-Outfit kam auf uns zu. Mit einem sehr unmittelalterlichen Klemmbrett in den Händen betrachtete er den halbfertigen Bühnenaufbau. »Mein Name ist Gary. Ich bin der Veranstaltungsleiter in Beauforden. Der Aufbau sieht ja ganz gut aus. Haben Sie alles, was Sie brauchen?«

Jack schüttelte ihm die Hand. »Ja, alles bestens. Ich bin Jack Williams. Wir haben, glaube ich, miteinander telefoniert, richtig?«

Ein breites Lächeln erhellte Garys Züge: »Ah, der Keyboardspieler mit dem unzuverlässigen Navi! Keine Bange, Sie sind nicht der Erste, der von so einem Teil in die Irre geführt wurde.«

Verlegen gestand Jack: »Ich bin auf einem Feld gelandet! Da blieb mir nichts anderes übrig, als hier anzurufen und mich von Ihnen lotsen zu lassen. Nochmal vielen Dank.«

»Keine Ursache. Das Zimmer hinter der Tür dort hinten können Sie als Garderobe benutzen. Ihre Kostüme habe ich schon bereitgelegt. Wenn irgendwelche Probleme auftauchen, rufen Sie mich einfach!« Mit diesen Worten ging er weiter.

Entsetzt sahen wir einander an. »Kostüme?«, wiederholte Charlie fassungslos.

Gary drehte sich um. »Ja. Die Sachen, die Ihr Manager geschickt hat.«

Wren erbleichte. »Hat jemand davon gewusst?«

»Nein«, erwiderte Jack, »obwohl ich erst heute Morgen mit D’Wayne geredet habe. Er hat nichts davon erwähnt.«

Tom wurde so rot wie die Rosen, die unsere Bühne umrahmten. »Ich bring ihn um!«

»Vielleicht sind die Kostüme gar nicht so schlimm«, sagte ich, obwohl ich selbst nicht daran glaubte. »Schauen wir uns die Sachen doch einfach mal an, bevor wir hier Panik schieben.«

Kurz darauf starrten wir entgeistert auf die knalligste Sammlung an pseudomittelalterlichen Gewändern, die jemals zusammengetragen wurde. Gegen diese Monstrositäten wirkten die Kostüme der Angestellten, über die wir noch vor zehn Minuten gelästert hatten, beinahe schon modisch.

»D’Wayne ist für mich gestorben!«, knurrte Tom. »Wenn jemand glaubt, er könnte mich in kanariengelbe Strumpfhosen stecken, überlebt er das nicht.«

»Du hast Probleme!« Jack hielt eine dunkellila Samttunika in die Höhe. »Darin werde ich aussehen wie eine Aubergine.«

»Die grünen Strumpfhosen und der grüne Hut passen ja dann bestens dazu«, kicherte Wren.

»Alles okay?« Garys lächelndes Gesicht schob sich durch die Tür.

Hoffnungsvoll sagte Tom: »Wir müssen das doch nicht anziehen, wenn wir nicht wollen, oder?«

»Leider schon«, antwortete Gary mit kaum verhohlener Belustigung. »Steht alles im Vertrag. Ihr Manager hat diesem Punkt zugestimmt, als wir Sie gebucht haben. Die Strumpfhosen sind übrigens überraschend bequem, wenn man sich daran gewöhnt hat.« Grinsend ging er von dannen und ließ uns ratlos zurück.

Seufzend ergriff Wren ihr senfgelbes Samtkleid, das burgunderrote Stirnband und den Schleier. »Tja, dann bleibt uns wohl keine andere Wahl. Ich schlage vor, wir setzen uns nach dem Gig zusammen und schmieden Rachepläne gegen D’Wayne.«

Das einzig Gute an diesen absonderlichen Kostümen war, dass wir nicht fehl am Platz wirkten. Welche sadistischen Kostümverleiher für unsere grellbunte Ausstattung auch verantwortlich sein mochten, es schienen dieselben zu sein, die auch die Hochzeitsgäste eingekleidet hatten.

Auf der Hälfte des zweiten Sets legten wir mit »Love Shack« los, worauf die versammelten Gäste in ihren lächerlichen Kostümen auf die Tanzfläche stürmten. Deren Lust zu tanzen, war sicher auch dem Met zuzuschreiben, den sie in rauen Mengen in sich hineinkippten. Die eine Hälfte formierte sich zu einer schwungvollen Polonaise um die Tanzfläche, wobei die Nachzügler am Ende Mühe hatten, in ihren Schnabelschuhen bei dem schnellen Tempo mitzuhalten, während die restlichen Gäste wie auf einem Punkkonzert herumtobten, wild herumhüpften und sich gegenseitig anrempelten. Beim Anblick dieser bizarren Szene wurde uns allen plötzlich die unglaubliche Komik dieser Situation bewusst. Charlie hinter seinem Schlagzeug prustete als Erster los und schaffte es kaum, seinen Part als männlicher Leadsänger durchzustehen. Wren und ich waren die nächsten, die einstimmten, dicht gefolgt von Tom, der sein Gitarrenspiel wegen eines Lachanfalls unterbrechen musste. Bis wir am Ende des Songs angelangt waren, liefen uns allen Lachtränen über die Wangen, und wir vermieden es strikt, einander anzusehen, um nicht völlig aus dem Häuschen zu geraten. Am Ende des Auftritts waren wir alle in Hochstimmung.

»Ich glaube, schmutziges Orange ist genau meine Farbe«, rief Tom und wirbelte mit seiner Tunika und den gelben Strumpfhosen über die Bühne, während wir unsere Sachen verstauten.

»Genau, es passt zu deinen Augen«, erwiderte Charlie hinter seinen übereinandergestapelten Trommelkoffern.

Ich ging in die Garderobe, um mich der hellblauen Samtrobe und des hohen lila Schleierhuts zu entledigen. Was die Kostümvergabe betraf, so hatte ich eindeutig am meisten Glück gehabt. Wrens Kreation aus Senfgelb und Burgunderrot glich dem Erzeugnis einer Beschäftigungstherapiegruppe für depressive farbenblinde Näherinnen, und Charlies braun-beige-rote Tunika und die schiefergrauen Strumpfhosen schienen derselben trübseligen Quelle zu entstammen.

Während ich mein Kostüm zusammenfaltete, begann in den Tiefen meiner Handtasche Stevie Wonder zu trällern. Ich holte mein Handy heraus und sah, dass ich drei Anrufe verpasst sowie eine Mailboxnachricht von Onkel Dudley erhalten hatte.

»Schätzchen, es ist so weit! Baz hat mich heute Abend angerufen, um mir zu sagen, dass er von dir und deinem Knaben eine Standaufnahme hat! Er bringt sie morgen Nachmittag zum Boot, also setz dich in Bewegung, so schnell du kannst! Es könnte der Durchbruch sein, auf den wir gewartet haben und …« Er brach ab, und im Hintergrund war gedämpft Tante Mags’ Stimme zu hören. »Ja … Ich weiß, das habe ich gesagt, Magsie … Was? Gut, gut. Entschuldige, Rom. Deine Tante sagt, sie habe heute ein neues Rezept ausprobiert, und das sei genau der Kuchen, den du brauchst, wenn du dir das Foto ansiehst. Also, wo bleiben die Jubelschreie?«

»Alles okay?«, fragte Charlie plötzlich von der Tür aus.

Ich spürte ein seltsames Flattern in der Magengrube. »Ja, alles bestens.«

Er sah mich an, und einen Moment lang dachte ich, er würde noch etwas sagen, doch er nickte nur und ging weg. Ich war mir nicht sicher, ob ich darüber erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Die Tatsache, dass ich ihm nichts von dieser unglaublichen Neuigkeit erzählte, zeigte mir wieder einmal, wie sehr sich unser Verhältnis verändert hatte. Doch damit konnte ich mich jetzt nicht befassen: Onkel Dudleys Neuigkeiten waren viel zu aufregend, um sie zu ignorieren.

Wieder allein in dem dunklen holzvertäfelten Raum, ließ ich mich auf der Eichenholzbank nieder, die an drei der vier Wände entlangverlief. Ich konnte es kaum fassen. Endlich würde ich ihn wiedersehen – nicht nur flüchtig wie am Valentinstag, sondern in Form eines richtigen Bildes, das mit der Zeit auch nicht verblassen würde.

In den letzten Wochen war so vieles geschehen, das sich nun auf sinnvolle Weise ineinanderfügte: der kurze Blick auf den Fremden am Valentinstag, die wachsende Unterstützung für meine Suche, die Was-wäre-wenn-Geschichten von Sophie und ihren Kolleginnen. War das nicht alles eine Bestätigung dafür, dass ich auf dem richtigen Weg war?

Es gab nur eine Möglichkeit, diese Theorie zu testen: Ich musste mir das Foto ansehen.

An die Fahrradfahrt am nächsten Tag rüber nach Kingsbury konnte ich mich kaum erinnern. Unzählige Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, kämpften drängelnd um einen guten Platz wie Pendler in überfüllten Morgenzügen. Zunächst war ich versucht gewesen, von zu Hause mit dem Zug direkt zum Boot weiterzufahren, doch aus Pflichtgefühl gegenüber meinen Eltern und aus schlechtem Gewissen, weil ich seit zwei Wochen keine anständige Radtour mehr gemacht hatte, fuhr ich mit dem Rad als Erstes zum sonntäglichen Mittagessen ins beigefarbene Königreich.

Zum Glück hatten meine Eltern keine Ahnung von meinem Blog und Onkel Dudleys Ein-Mann-Mission. Und das würde in absehbarer Zeit auch so bleiben, da Mum und Dad (die ihren altertümlichen PC nur für die Ausarbeitung ihrer Tabellenkalkulationen benutzten und nie auf die Idee kämen, etwas zu googeln) entschieden gegen jede Form von »Social Media« waren.

Es bereitete mir eine diebische Freude, eine unartige Tochter zu sein, die ihren Eltern etwas verheimlichte. Natürlich berichtete ich meinen Eltern immer von den neusten Entwicklungen in meinem Leben, aber nicht unbedingt sofort …

Als ich die Kanalbrücke überquerte und auf den Treidelpfad einbog, zitterte ich innerlich vor Anspannung, und mein Magen verkrampfte sich zu einem eisigen Klumpen, da nun der Augenblick der Wahrheit unaufhaltsam näherrückte. Ich klopfte an die Bugklappe von Our Pol, hievte mein Fahrrad auf das Kanalbootdach, zog die Handschuhe aus, nahm den Fahrradhelm ab und trat ein.

Sollte jemals ein Oscar für die »unglaubwürdigste Darstellung von Gelassenheit« verliehen werden, wären meine Tante und mein Onkel die Ehrengäste auf Elton Johns Gewinner-Aftershow-Party. Sie saßen beide stocksteif neben der Küchenspüle, ein identisches festgefrorenes Grinsen im Gesicht.

»Eine Tasse Tee?«, fragte Tante Mags mit gepresster, fast quietschiger Stimme, während sie gegen die Aufregung ankämpfte, die ihre gesamte Körpersprache jedoch unmissverständlich verriet.

Ich bemühte mich, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Ja, gern. Das ist nach der Fahrradtour genau das Richtige. Geht es dir gut, Onkel Dudley?«

Mein Onkel war sogar noch schlimmer. Er vibrierte wie eine Sprungfeder, die jeden Moment in die Höhe schnellen würde. »Alles in Ordnung, Schätzchen, ganz wunderbar.«

»Geduld ist nicht unbedingt eure Stärke, was?«, bemerkte ich amüsiert, als meine Tante und mein Onkel aufsprangen und mir quer über den Tisch einen braunen DIN-A4-Umschlag zuschoben.

Das Kinn in die Hände gestützt, sah mich Tante Mags mit starrem Blick an. »Bist du bereit?«

»Ja.« Ich hob den Umschlag auf und merkte, wie meine Hände zitterten. Meinen flatternden Puls bewusst ignorierend, atmete ich tief durch, ehe ich den Umschlag umdrehte und das Siegel aufbrach.

Bitte, lass es ihn sein!

Nervös legte Onkel Dudley den Arm um meine Tante. In dem Lächeln der beiden lagen so viel Hoffnung und Liebe, dass ich einen Moment die Augen schließen musste, um nicht von der Rührseligkeit überrollt zu werden.

Ungeduldig öffnete ich den Umschlag, wobei mir der typische Salz-und-Essig-Geruch von braunem Papier in die Nase stieg. Ich fühlte die kühle Glätte von Fotopapier und zog langsam das Bild heraus, dessen weißer Rand als Erstes zum Vorschein kam.

Der große Moment

Mit wild pochendem Herzen beugte ich mich über das leicht unscharfe Schwarz-Weiß-Foto. Ich erblickte die vertrauten Umrisse der Weihnachtsmarktbuden, wo wir uns begegnet waren, die verschwommenen Gesichter der Weihnachtsmarktbesucher, die sich um uns scharten. Und inmitten dieser ganzen Szene befanden sich zwei Personen, von denen ich eine sofort wiedererkannte …

»Und?«

»Es ist … ein wunderbares Foto …« Ich blickte zu meinem gebannten Publikum auf und hob mit Tränen in den Augen das Foto in die Höhe. »… von mir

Die Stille in Our Pol war ohrenbetäubend.