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People get ready

Der erste Weihnachtsfeiertag bei den Parkers war so spannungsgeladen wie eh und je. Mum und Dad hatten sich den ganzen Vormittag über angegiftet, und bis dann das Weihnachtsessen serviert wurde (selbstverständlich erst nach dem königlichen Jahresrückblick Ihrer Majestät im Fernsehen), war die Stimmung von gehässigem Gezänk und gegenseitigen Vorwürfen verpestet.

Während ich im Stillen meine älteren Brüder Niall und Spence verfluchte, weil sie es geschafft hatten, sich mit plausiblen Ausreden vor dem alljährlichen Parker-Tollhaus zu drücken, und mir von Herzen wünschte, meine Eltern hätten dieses Jahr Onkel Dudley und Tante Mags eingeladen, statt sie traditionell durch Nichtbeachtung zu brüskieren, konzentrierte ich mich grimmig auf mein im Waitrose-Supermarkt gekauftes Weihnachtsessen im beigefarbenen Esszimmer. Mum erzählte gerade, wie knapp das Essen einer Katastrophe entgangen sei, weil Dad am Heiligen Abend an dem neuen Zeitschalter für den Herd »herumgefummelt« habe.

»Dein Vater musste natürlich ausgerechnet an dem Abend, an dem ich den glasierten Schinken zubereiten wollte, mit diesem Schalter herumexperimentieren. Wir hatten die ganze Nacht die Küchenfenster offen stehen, damit der Geruch nach verbranntem Fleisch verschwindet. Unsere Metzger haben über die Feiertage natürlich geschlossen, so dass man kein neues Fleisch kaufen kann. Ich habe ihm gesagt, dass es einzig und allein seine Schuld sei, wenn wir zum Abendessen keinen Schinken haben.«

Dad zuckte die Achseln. »Ich habe sowieso nie behauptet, dass ich dieses kalte Fleischzeug mag. Außerdem haben wir wahrscheinlich bis März noch genügend kalten Truthahnbraten, dank diesem superfetten und superteuren Biovogel, für den wir praktisch eine Hypothek auf unser Haus aufnehmen mussten.«

»Oh, als hätten wir nicht schon herzlich wenig Zeit, die Früchte unserer Arbeit zu genießen, musst du dich jetzt auch noch beschweren, wenn ich mir ein Mal was gönne! Wen kümmert es, dass ich sieben Tage in der Woche für das Familienunternehmen arbeite? Wen kümmert es, dass ich kaum rauskomme, mal abgesehen von meinem Literaturkreis am Donnerstagabend bei Moriarty’s, was man ja wohl kaum als ›Ausgehen‹ bezeichnen kann!«

Ich blickte zu Gran hinüber, die offenbar ihr Hörgerät abgeschaltet hatte und jetzt über den Weihnachtsfilm im Fernsehen kicherte, ohne zu merken, dass um sie herum der Dritte Weltkrieg tobte. Hätte ich doch nur meine Ohrstöpsel mitgenommen.

Als wir beim Dessert saßen, beschloss Mum, sich bei der Gattenschelte eine Atempause zu gönnen und stattdessen mir die Ehre ihrer mütterlichen Aufmerksamkeit zu gewähren.

»Hältst du es in diesem Job immer noch aus?«

»Ja, doch. Der Intendant hat meiner Abteilung für unsere Arbeit in diesem Jahr einen Bonus zukommen lassen.«

»Doppelt verglast, einfach bezahlt, so was in der Art, oder?«, feixte mein Vater, sichtlich stolz auf seinen messerscharfen Witz.

»Entgegen der hier verbreiteten Meinung schreibe ich nicht nur Werbesongs für Doppelglasfenster«, protestierte ich. Aber natürlich stieß das auf taube Ohren (und damit waren nicht nur die von Gran gemeint).

»Das mag ja sein«, fuhr Mum fort, während sie zur Vervollkommnung der Puddingpampe, die traurig in unseren Kristallschälchen schwappte, eine Schüssel mit zu lange geschlagener, flockiger Sahne herumreichte. »Trotzdem ist das Komponieren von kleinen Werbesongs für Birminghams drittbeliebtesten Radiosender nicht gerade eine glanzvolle Karriere, oder?«

Auf dieses Thema hatte ich schon den ganzen Tag gewartet. Tatsächlich war ich ziemlich beeindruckt, dass sich meine Mutter bis jetzt – fast vier Uhr nachmittags – zurückgehalten hatte. Niemand wollte eine Enttäuschung für seine Eltern sein, auch wenn sich das manchmal nicht vermeiden ließ. Bei mir – Werbesongkomponistin und Wochenendpartybandsängerin, ohne irgendetwas, das auch nur ansatzweise einem Fünf-Jahre-Karriereplan ähnelte – war das praktisch ein Dauerzustand. Meine Mutter wurde nicht müde, mich wie stetes Wasser den Stein zu bearbeiten, und variierte nie ihre Taktik: Es war jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam, dieselbe Leier.

»Ich will ja nur darauf hinweisen, dass du in etwas über einem Jahr dreißig wirst und dich langsam um einen seriöseren Beruf bemühen solltest. Du weißt, es gibt im Familienbetrieb immer einen Platz für dich. Dein Vater hat gesagt, er würde gern in deine Ausbildung als Buchhalterin investieren …«

»Habe ich das?«, fragte Dad erstaunt und zuckte gleich darauf zusammen. Zweifellos hatte Mum ihm unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein verpasst. »Äh, natürlich, das tue ich gern.«

»Du musst dir überlegen, was du mit deinem Leben anfangen willst. Dreißig ist ein Meilenstein, und du näherst dich ihm schneller, als du denkst. Deshalb solltest du die Zeit nutzen, um zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, wer und was du sein möchtest.«

Obwohl ich es ungern zugab, trafen mich die Worte meiner Mutter bis ins Mark. Vielleicht gingen sie mir auch deshalb so nah, weil ich in den vergangenen Tagen wegen der Begegnung mit dem Fremden und der angespannten Situation mit Charlie so viel Innenschau betrieben hatte – doch der Gedanke, mein neunundzwanzigstes Lebensjahr sinnvoll zu nutzen, begann zunehmend zu einem zentralen Thema zu werden.

Als ich später am Abend wieder in meinem friedvollen Zuhause weilte, eingelullt von den beruhigenden Klängen von Bing, Frank und Nat im Hintergrund und dem Anblick meines bunt geschmückten Weihnachtsbaums, dessen Lichterkette mein Wohnzimmer mit einem sanften Leuchten erhellte, schenkte ich mir das längst überfällige Glas Rotwein ein und betrachtete die tränenförmige Christbaumkugel. Vielleicht waren die Ereignisse dieser Woche bedeutungsvoller, als ich anfangs gedacht hatte. Vielleicht waren sie Teil eines noch unsichtbaren Musters, das sich im nächsten Jahr herauskristallisieren und meinem Leben eine neue Richtung geben würde? Je mehr ich darüber nachdachte, desto überzeugter wurde ich, dass dies alles nicht nur eine Aneinanderreihung von Zufällen sein konnte. Wollte mir das Universum etwas mitteilen?

Ich schnappte mir meinen Laptop und loggte mich bei Facebook ein, um zu sehen, ob jemand von der Band online war. Das war nicht der Fall, aber dafür fiel mir der Pinnwandeintrag einer alten Schulfreundin ins Auge, mit der ich erst vor kurzem über Facebook wieder in Kontakt getreten war: Nächstes Jahr um diese Zeit wird vieles anders sein. Ich werde alles tun, um das Jahr sinnvoll zu nutzen.

Ich trank einen großen Schluck Wein und starrte auf den Monitor. Plötzlich schienen die Wörter frei in der Luft zu schweben, und ihre Sentimentalität stieß eine Saite in mir an.

Das war es! Auch ich würde mich bemühen, das kommende Jahr – mein letztes in den Zwanzigern – sinnvoll zu nutzen. Ich hatte keine Ahnung, wie das geschehen sollte oder welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde, doch plötzlich überfiel mich die blitzartige Erkenntnis, was ich zu tun hatte: Meine Reise musste mit jenem Kuss beginnen, der alles verändert hatte. Ich würde den Fremden finden.

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr – halb zehn Uhr abends – beschloss ich, meinen Onkel und meine Tante anzurufen. Ich war mir sicher, dass sie heute, am ersten Weihnachtsfeiertag, noch wach sein würden, und ich brauchte dringend jemanden, dem ich meine Gedanken mitteilen konnte.

»Hey! Frohe Weihnachten, Schätzchen!«, sagte Onkel Dudley. »Warte, ich stell dich auf die Freisprechanlage …« Leise vor sich hinbrummend, fummelte Onkel Dudley an den Tasten seines neuen Telefons herum. »So, jetzt können wir dich beide hören, Kleines. Wie war dein Weihnachten bisher?«

»Ganz okay. Ich war zum Essen bei Mum und Dad. Gran hat es allerdings geschafft, beim Nachtisch einzuschlafen.«

Das dröhnende Gelächter meines Onkels hallte durchs Zimmer. »Das glaub’ ich gern! Arme Nancy! Ich hoffe, sie hat wieder ihren Trick mit dem Hörgerät angewandt.«

»Na, klar. Recht hat sie. Mum und Dad waren heute Nachmittag nämlich in Hochform. Mit euch beiden wäre es viel lustiger gewesen.«

»Zweifellos! Und wie geht es sonst so? Hast du das Wiedersehen mit Charlie gut überstanden?«

An der Geschichte mit Charlie hatte ich nach wie vor zu knabbern, doch im Moment war ich total beflügelt von meinem neuen Vorsatz. »Ich habe beschlossen, mir für nächstes Jahr ein paar sinnvolle Aufgaben vorzunehmen«, erzählte ich. »Und als Erstes möchte ich den Mann finden, der mich geküsst hat.«

»Eine wunderbare Idee, Romily!«, rief meine Tante begeistert. »Erst vorhin habe ich zu deinem Onkel gesagt, dass du das unbedingt tun solltest.«

»Ich dachte einfach, wenn ich ihn fände, könnte das der Anfang von etwas sein.«

»Wie in diesem Song von Hot Chocolate«, fiel mein Onkel ein und sang: »It Started With a Kiss«, wobei er sich bemühte, Eroll Brown zu imitieren. »Ich finde, du solltest dir eine Frist setzen, Schätzchen, und ein Tagebuch über deine Suche nach dem mysteriösen Küsser führen.«

Meine Tante stieß einen spitzen Schrei aus: »Ooh, du bist so rückständig, Dudley! Schreib doch einen Blog, Romily. Es gibt zahllose Frauen, die auf die dreißig zugehen und mit ihrem neunundzwanzigsten Lebensjahr etwas Sinnvolles anfangen wollen. Ich glaube, du könntest mit einem Blog vielen Leuten Mut machen. Meine Freundin Oonagh hat einen Blog und erhält dazu aus der ganzen Welt Kommentare. Ich habe mir auch schon überlegt, ob ich deinen Onkel bitten soll, mir einen einzurichten, damit ich meine Kuchenrezepte weitergeben kann, obwohl mir Computer ziemlich suspekt sind.«

Es war eine großartige Idee (wobei meine Begeisterung sicher auch durch das zweite große Glas Rotwein, das ich während des Gesprächs gedankenlos in mich hineingekippt hatte, angeheizt wurde). »Genau! Ich schreibe einen Blog und gebe mir bis Weihnachten nächstes Jahr Zeit, um den Mann meiner Träume zu finden!«

Meine Tante und mein Onkel schienen ähnlich angeschickert zu sein wie ich, denn sie brachen in spontanen Jubel und Applaus aus.

Und so wurde am ersten Weihnachtsfeiertag um Viertel nach zehn Uhr abends mein erster Blogeintrag geboren.

It Started With a Kiss – Es begann mit einem Kuss

Willkommen zu meinem Blog!

Dieser Blog ist eine völlig neue Erfahrung für mich und soll der Auftakt sein zu einem Jahr, das hoffentlich von vielen neuen Erkenntnissen und aufregenden Entdeckungen geprägt sein wird.

Wie der Titel schon andeutet, fing alles mit einem Kuss an. Und mit einem umwerfenden Mann, der mir in einer misslichen Situation zu Hilfe kam. Er küsste mich aus heiterem Himmel, musste jedoch gleich darauf gehen, und ich hatte keine Gelegenheit, ihn nach seinem Namen zu fragen. Es klingt vielleicht verrückt, aber ich muss ihn wiederfinden, und sei es auch nur, um zu beweisen, dass mir tatsächlich etwas so Unglaubliches passiert ist.

Deshalb gebe ich mir jetzt ein Jahr lang Zeit, ihn zu finden. Ich kenne weder seinen Namen noch seine Adresse. Ich weiß nur, dass ich ihm am letzten Samstag vor Weihnachten auf dem Weihnachtsmarkt in Birmingham begegnet bin, als ich aus Versehen einen Plüschtierstand – in der Nähe der Town Hall – demoliert habe (eine lange Geschichte, die ich später erklären werde). Jedenfalls war ich von dem Mann völlig hingerissen. Er sieht extrem gut aus, ist ungefähr eins achtzig groß, hat braune Augen und rostbraunes, gewelltes Haar. An dem Tag trug er einen schwarzen Mantel und einen grün-beige-braun gestreiften Schal. Er half mir, die Plüschtiere wieder einzusammeln. Wir unterhielten uns eine Weile, und dann gab er mir den unglaublichsten Kuss, den ich jemals bekommen habe. Leider musste er ganz plötzlich los, weil ein Freund ihn rief.

War jemand von euch an diesem Samstag auf dem Weihnachtsmarkt? Erinnert sich jemand, den Mann gesehen zu haben?

Ich bin keine verzweifelte Frau und auch keine durchgeknallte Stalkerin. Ich will ihn einfach nur wiedersehen, weil ich glaube, dass er unsere Begegnung ähnlich intensiv empfunden hat wie ich. Ich gebe mir für diese Suche ein Jahr Zeit – mein letztes Jahr als Twen. Bis zum nächsten Heiligen Abend muss ich ihn gefunden haben.

Wenn ihr helfen könnt – und sei es auch nur mit ein paar aufmunternden Worten, um mir zu zeigen, dass ich nicht komplett verrückt bin –, dann meldet euch bitte bei mir.

So, das Jahr der Suche hat begonnen … Drückt mir die Daumen!

Romily xx

Am Tag danach traf ich mich mit Wren auf einen Kaffee. Wir spazierten von ihrer Wohnung am Kanal entlang zu George, dem schwimmenden Kanalbootcafé am Brindley Place.

»Tut mir echt leid wegen gestern«, sagte Wren und tunkte ein Zimtplätzchen in den Milchschaum ihres Kaffees. Sie sah so zerknirscht aus, dass man ihr unmöglich böse sein konnte – aber ich war es auch gar nicht.

»Schwamm drüber«, sagte ich lächelnd, während ich zwei Enten beobachtete, die langsam am Fenster vorbeiflogen. »Jack hatte ohnehin schon vermutet, dass zwischen Charlie und mir irgendwas nicht stimmt.«

»Und wie kommst du inzwischen mit ihm klar?«

»Wir kriegen das hin. Ehrlich gesagt haben wir uns nach dem Weihnachtsessen gar nicht mehr gesprochen, aber er hat mir gestern eine SMS geschickt, um sich für sein Geschenk zu bedanken, und es war eine ganz normale Charlie-SMS.«

»Hm, lass mich raten, was du ihm geschenkt hast: ein Yellowjackets-Album?«

»Ooh, du bist so schlau!«

»Stimmt!«, sagte sie grinsend. »Aber ihr beiden seid auch sehr vorhersehbar.«

»Danke.«

»Gerne. Und was ist mit der … der anderen Geschichte?«

Natürlich wusste ich, worauf sie anspielte, stellte mich jedoch dumm. »Welche andere Geschichte?«

Wrens Wangen röteten sich. »Oh, bitte! Der Phantomküsser!«

Bei der bloßen Erwähnung meines gut aussehenden Fremden überlief mich innerlich ein Freudenschauer. Außerstande, mich noch länger zu beherrschen, wollte ich der ganzen Welt meinen Plan verkünden – selbst wenn sich die ganze Welt in diesem Moment auf Wren, ein älteres Paar am Tisch gegenüber und die Kellnerin beschränkte.

»Ich werde mich auf die Suche nach ihm machen und gebe mir dafür ein Jahr lang Zeit. Einen Plan habe ich übrigens auch schon.«

Neugierig sah Wren mich an. »Erzähl!«

»Okay. Also, bis nächstes Jahr zu Heiligabend muss ich den Mann finden, der mich geküsst hat. Ich weiß, es ist verrückt, und die Chancen stehen schlecht, aber einen Versuch ist es allemal wert. Auch wenn du das verrückt findest, ich glaube ernsthaft, dass es möglich ist, ihn zu finden.« Ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper rauschte und mein Herz schneller schlug.

Wren schüttelte den Kopf, so dass ihre kastanienroten Locken wild um ihre porzellanweißen Wangen wippten. »Wow! Du bist also fest entschlossen!«

»Ja. Und ich schreibe darüber auch einen Blog.«

»Nein! Seit wann?«

»Seit gestern Abend. Während des Weihnachtsessens hat Mum etwas gesagt, das mich nachdenklich gestimmt hat.«

»Hey, das sind ja völlig neue Töne! Was hat sie denn gesagt?«

»Dass ich im neunundzwanzigsten Lebensjahr stehe und mit diesem Jahr etwas Vernünftiges anfangen sollte. Ich sehe das genauso, und die Suche nach diesem Typen vom Weihnachtsmarkt wäre doch ein guter Anfang. Tante Mags hat mir erzählt, dass sie gern Kuchenrezepte bloggen würde, und da dachte ich mir, dass ein Blog eine super Sache wäre, um mein letztes Jahr als Twen zu dokumentieren.«

Mit einem amüsierten Lächeln lehnte sich Wren zurück. »Mensch, Rom, ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich dich das letzte Mal derart aufgekratzt erlebt habe.«

»Ich glaube wirklich, dass es klappen könnte!«

»Das ist toll …« Ihr Lächeln schwand, und ich wusste, dass ein »Aber« folgen würde. »Aber was ist mit Charlie? Du hast mir erzählt, dass du seit drei Jahren in ihn verknallt bist und er die Liebe deines Lebens ist, und plötzlich ist keine Rede mehr davon. Woher willst du wissen, ob es dir bei dem anderen Typen nicht genauso ergehen wird?«

»Natürlich kann das passieren. Aber das ist Teil des Abenteuers, verstehst du? Es spielt keine Rolle, ob ich die Suche bis zum Schluss durchziehe oder nicht. Entscheidend ist, dass ich es überhaupt versucht habe.«

Wren seufzte. »Du willst dich also wirklich auf die Suche machen, du verrücktes Huhn. Versprich mir bitte, dass du nichts Dummes tun wirst, okay? Und dass du mir alles erzählst. Irgendjemand muss schließlich auf dich aufpassen.«

»Onkel Dudley hat mir seine Hilfe angeboten«, sagte ich rasch, doch das schien Wren keineswegs zu beruhigen.

»Trotzdem musst du mich ständig auf dem Laufenden halten. Versprochen?« Sie hielt mir die Hand entgegen.

Ich schlug ein. »Versprochen.«

Am nächsten Morgen goss es in Strömen. Der Regen hüllte alles in einen dichten Dunst, nur die Weihnachtsbeleuchtung auf den Straßen und an den Häusern kämpfte tapfer gegen das trübe Grau an. Nach einer ermüdenden Fahrt durch endlose Verkehrsstaus kam ich schließlich bei der alten Schuhfabrik an, wo Tom einen Proberaum gemietet hatte. Charlie und Jack waren bereits da und hockten mit mürrischen Mienen auf den geschwungenen Stufen des heruntergekommenen Art-déco-Gebäudes.

»Lasst mich raten: Wir warten auf Tom, richtig?«

Jack zog eine Grimasse. »Korrekt.«

»Wie lange seid ihr schon da?«

»Seit achtundzwanzig Minuten«, antwortete Charlie und deutete auf seine Uhr.

»Er zählt die Sekunden«, bemerkte Jack. »Ich wurde jede Minute auf den neuesten Stand gebracht. Wie bei einer Live-Übertragung von CNN.«

Ein eisiger Wind kam auf und blies Regen in den Hauseingang. Fröstelnd schob ich meine Hände tiefer in die Taschen und verfluchte mich selbst, weil ich meine Handschuhe vergessen hatte. »Ich wäre früher hier gewesen, aber der Verkehr war wirklich mörderisch.«

»Du hast nicht unbedingt etwas verpasst, Rom. Wren verspätet sich auch, aber das ist ja nichts Neues … Na endlich«, rief Charlie und blickte über meine Schulter auf die Straße. Als ich mich umdrehte, sah ich Tom, der über die Pfützen hüpfend auf uns zueilte. »Hast du deine Uhr verloren?«, fragte Charlie süffisant.

»Tschuldigung«, zirpte Tom. »Romily, wie immer bezaubernd.« Er gab mir einen Kuss auf die Wange, umarmte mich und begrüßte dann die Jungs mit erhobener Hand. »Jack, Charlie, alles klar?« Rasch schloss er die Haustür auf, klatschte in die Hände und grinste uns zu: »Bereit zum Entladen?«

Jack lachte, doch Charlie wandte sich mit verdrießlicher Miene um, fluchte leise vor sich hin und ging auf seinen Wagen zu, in dem sich die Ausrüstung befand. Tom verdrehte die Augen.

»Wie ist der denn drauf? Weißt du, was er hat?«

Jack zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«

Nachdem die Ausrüstung sicher ins Haus gebracht worden war, wechselten wir uns beim Be- und Entladen des alten Lastenaufzugs ab. Charlie und ich bildeten ein Team: Wir packten den Lastenaufzug voll, gingen zu Fuß in den ersten Stock, um die Sachen (Gitarren, Trommeln, Verstärker, Kabeltaschen) auszuladen, rannten dann wieder nach unten und wiederholten das Ganze.

Die stupide Tätigkeit machte jede Unterhaltung überflüssig, was mir nur recht war, denn unerklärlicherweise hatte ich in Charlies Gegenwart Schmetterlinge im Bauch.

Inzwischen war auch Wren aufgetaucht, und nachdem alles in den ersten Stock befördert worden war, schnappte sich jeder ein Teil der Ausrüstung und trug es durch die hohen, staubigen Flure in Toms Proberaum, der durch eine schwere Stahltür gesichert war.

Seit der Gründung von The Pinstripes hatten wir schon etliche Proberäume, von winzigen »schallisolierten« Garagen bis hin zu dubiosen Hinterzimmern in Musikgeschäften, wo die Mikrofonständer mit Bolzen am Fußboden verankert waren. Dagegen war Toms Proberaum ein wahrer Palast: Sein Inneres stand in starkem Kontrast zu dem nüchternen Industriedesign des Hauses, sobald man durch die dicke Stahltür trat. Mit den langen weißen Vorhängen, den wuchtigen Sofas, die um einen alten chinesischen Läufer gruppiert waren, und der Kommode aus den vierziger Jahren, die als Tisch für das Mischpult diente, ähnelte der Raum einem Secondhandladen. Ein Tablett mit verblichener Rosenbemalung, das auf einer mit Klebeband umwickelten Kiste stand, bot Platz für den Teekessel, einige bunt zusammengewürfelte Tassen, Kaffee, Tee und eine leicht ramponiert aussehende Packung Zucker. Überall hingen Lichterketten, und ein Sammelsurium an Tischlampen war auf dem Boden verteilt. Tom teilte sich die Miete mit einer Heavy-Metal-Band namens »Disaffection«, und Wren und ich bogen uns jedes Mal vor Lachen, wenn wir uns vorstellten, wie eine Gruppe tätowierter harter Kerle inmitten von Lichterketten und gemütlichen Möbeln herumbrüllte und auf ihre Instrumente einprügelte.

Während sich die anderen um den Aufbau kümmerten, kochte ich Tee. Jack bezeichnete das als den »Fluch der Sängerin«, weil man als Sänger in einer Band viel Zeit mit Herumstehen verbrachte, während die anderen Bandmitglieder ihre Instrumente aufbauten.

Mit einer Handbewegung bat Jack um unsere Aufmerksamkeit. »Wie üblich war unser D’Wayne mal wieder so nützlich wie ein Furz in einem Hurrikan und hat es nicht für nötig befunden, uns darüber aufzuklären, was die Organisatoren der Silvesterhochzeit für Wünsche haben, mal abgesehen von dem Rock-’n’-Roll-Medley. Ich schlage vor, wir halten uns an das übliche Set, fügen wegen der Authentizität ›Auld Lang Syne‹ hinzu und spielen nach Mitternacht ›Celebration‹ von Kool and the Gang – so richtig schmalzig.«

»Zumindest ist es ein bisschen funky«, sagte Charlie und sah geflissentlich über Wren hinweg, die so tat, als würde sie sich ihre Pulsadern aufschlitzen.

Tom riss eine Packung Schokokekse auf und reichte sie herum. »Kitsch ist an Silvester ein notwendiges Übel«, sagte er grinsend. »Vor allem, wenn an diesem Tag eine Hochzeit gefeiert wird. Wie auch immer, jegliche künstlerische Integrität, die wir einst hatten, ist nur noch eine blasse Erinnerung. Stellen wir uns der Tatsache, Brüder und Schwestern: Wir sind Huren für unsere Kunst.«

Tom war für seine sehr direkte Art bekannt, doch dies ging mir zu weit. »Das ist schrecklich, was du da sagst, Tom!«

»Ja, aber leider wahr, Romily. Wir prostituieren unser musikalisches Selbst für die schäbige Unterhaltung anderer Leute.« Er blickte in die Runde, sichtlich zufrieden über die betretenen Mienen, die seine Worte hervorgerufen hatten. »Okay, Jack, der erste Song im Set?«

»›Love Train‹. Zähl ein, Chas.«

Charlie stöpselte seine Kopfhörer ein. Wren und ich taten es ihm nach und sahen ihn abwartend an. »Two, three, four …«

Meine Mum konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum wir vor jedem Gig proben mussten. »Wenn ihr jedes Mal dieselben Songs spielt, solltet ihr die doch mittlerweile in- und auswendig können!« Aber Fakt war nun mal, dass während eines Gigs eine Menge Dinge entsetzlich schieflaufen konnten. Wie damals, als wir auf einer besonders lärmigen Hochzeit spielten und Tom fast einen Aufstand verursacht hätte, weil er bei der zweiten Strophe von »Love Shack« den Text für den männlichen Sängerpart vergessen hatte und den Anschluss verpasste. Also spielten wir immer wieder dasselbe, bis Jack einsprang und die Sache zu Ende brachte. Seitdem hatten wir es uns zur Pflicht gemacht, vor jedem Auftritt zu proben.

Als wir zwischen dem ersten und zweiten Set eine Pause einlegten, holte Tom aus seinem Rucksack ein in Alufolie gewickeltes Päckchen heraus, während Charlie Kaffee kochte.

»Hey, Leute, es gibt Kuchen!«, verkündete Tom, worauf wir uns erwartungsvoll um ihn versammelten.

»Bitte, sag mir, dass es der grandiose Weihnachtskuchen deiner Mutter ist!«, rief Wren und stieß einen Freudenschrei aus, als der üppige Obstkuchen mit dem Marzipanboden und dem Zuckerguss enthüllt wurde.

»Ganz genau«, sagte Tom grinsend. »Greift zu!«

Ich schlenderte zu dem jadegrünen Sofa und checkte mein Handy. Während ich durch meine E-Mails scrollte, ließ sich Jack neben mir aufs Sofa plumpsen.

»Und?«

»Was, und?«

Er tätschelte mein Knie. »Also, was ist mit diesem Typen?«

Ein Blick auf ihn genügte, um meine schlimmsten Vermutungen zu bestätigen. Fassungslos blickte ich zu Wren hinüber, die sich gerade angeregt mit Tom unterhielt. »Wann hat sie es dir erzählt?«

»Gestern, nach eurem Treffen.«

»Na toll.«

»Sie macht sich einfach Sorgen um dich.«

Allmählich wurde ich richtig sauer. »Sie sollte ihre Sorgen lieber mal für sich behalten.«

»Hey, reg dich ab. Soweit ich weiß, hat sie es nur mir erzählt. Und Sophie natürlich. Aber sonst niemandem.«

»Oh, da bin ich ja beruhigt! Also weiß nur die Hälfte meiner Freunde davon.«

»Und du gibst dir ein Jahr Zeit für die Suche, was?«

Ich konzentrierte den Blick auf mein Handy. »Richtig.«

Jack knuffte mich in die Seite. »Ich finde das gut.«

»Echt?«

»Echt. Zumindest lenkt es dich davon ab, dass du Charlie dummerweise deine unsterbliche Liebe gestanden hast.«

»Das hat sie auch ausgeplaudert?«

»Nein. Das weiß ich von Charlie.« Jacks warmes Lächeln linderte die Panik, die in mir aufstieg. »Du verdienst es, glücklich zu sein, Rom. Und wenn es dich glücklich macht, diesen Typen zu suchen, dann solltest du das auch tun. Selbst wenn man dich deshalb für leicht durchgeknallt halten wird. Außerdem wird es Seiner Gnaden von und zu Charlie Stoff zum Nachdenken geben.«

Irritiert sah ich ihn an. »Wie meinst du das?«

Jack gab mir einen Kuss auf die Wange. »Vergiss es. Folge einfach deinem Herzen, Rom. Und pass auf dich auf, okay?«

Zunächst ärgerte ich mich tierisch über Wrens Indiskretion, doch als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ich meine Freunde sowieso früher oder später hätte in meinen Plan einweihen müssen. Wenn ich die Sache wirklich durchziehen wollte, sollte ich sie von Anfang an laut und stolz in die Welt hinausposaunen. Plötzlich schnappte ich vom anderen Ende des Raums einen Blick von Charlie auf, und mein Herz schlug einen Purzelbaum. Sein Lächeln war so flüchtig, dass man es selbst mit einer Zeitlupenkamera nur schwer hätte einfangen können, doch wenigstens war es ein Lächeln.

An diesem Abend sandte mir Onkel Dudley eine SMS, die so viel Begeisterung versprühte, dass mein Handy förmlich zu strahlen schien.

Komm morgen früh um 6 zum Furnace End Flohmarkt. Gibt eine MENGE zu erzählen! Xx

Als ich am nächsten Morgen an der matschigen Wiese eintraf, wartete mein Onkel bereits ungeduldig neben dem Eingangstor zum Markt. In den Händen hielt er eine klobige Taschenlampe, seine Wangen waren knallrot von der Kälte, und er trug einen dicken Schal um den Hals und auf dem Kopf eine flache Tweedkappe. Zusammen stapften wir über den steilen Pfad auf die unförmigen Schatten der Autos und Vans zu, die sich auf der dunklen Wiese abzeichneten.

»Wollte Tante Mags nicht mitkommen?«, fragte ich. Mein Atem stieg beim Sprechen in weißen Dampfwölkchen empor.

»Sie ist mit Elvis im Wagen geblieben und hat die Heizung voll aufgedreht. Sie sagt, sie steigt erst um sieben aus, wenn der Donutstand aufmacht. Du kennst deine Tante. Ihr liegt mehr an ihrem Komfort als am Herumstöbern.«

Trotz der frühen Stunde herrschte auf dem Flohmarkt bereits lebhafter Betrieb.

»Ich dachte, wir würden die Ersten hier sein.«

»Nie im Leben! Die meisten kommen schon um fünf, wenn das Tor geöffnet wird. Je früher, desto besser stehen die Chancen auf ein Schnäppchen. Die Händler sind immer als Erste da, damit ihnen niemand die guten Sachen wegschnappt. Wenn du nach acht eintriffst, kriegst du nur noch Ramsch und ungenießbare Hot Dogs.«

»Wow.«

»So, jetzt gehen wir erst mal zu meinem Kumpel Trev am Stand mit den Militaria, und danach genehmigen wir uns ein Tässchen Kaffee.«

Für die meisten Leute war so ein Flohmarktbesuch ein netter Wochenend-Zeitvertreib. Für Onkel Dudley war es eine hoch komplizierte Angelegenheit aus ungeschriebenen Gesetzen, die alle dazu geschaffen waren, ihn zum Heiligen Gral zu führen – dem Fund, der ihn irgendwann einmal steinreich machen würde. Und fairerweise musste man zugeben, dass dieses Konzept in der Vergangenheit bereits Früchte getragen hatte. Als er vor einigen Jahren in einem alten Koffer voller vergilbter Zeitungen und Zeitschriften wühlte, stieß er auf ein unscheinbares Notizheft, in dem sich Aquarellstudien von Tieren, Kindern und ländlichen Szenen befanden. Der Verkäufer, der sein Zeug loswerden wollte, erklärte sich bereit, Onkel Dudley den Koffer samt Inhalt für zehn Pfund zu verkaufen. Als mein Onkel das Notizheft zu einem Antiquitätenhändler brachte, stellte sich heraus, dass es einmal einem Töpfer gehörte, der diese Studien für eine bedeutende Töpferei in Stoke-on-Trent angefertigt hatte. Auf der Auktion brachte das Heft siebenhundert Pfund ein – genug, um Onkel Dudley und Tante Mags eine Traumreise nach Brügge und für Our Pol einen neuen Anstrich zu finanzieren.

Meinem Onkel bei der Arbeit zuzusehen, war eine anschauliche Strategielehrstunde. Während der zufällige Beobachter lediglich einen Mann in den Fünfzigern sehen würde, der mit den Marktverkäufern nette kleine Schwätzchen hielt, war es für das geübte Auge offenkundig, dass Onkel Dudley ein erfahrener Verhandlungspartner war, der das Gespräch geschickt zu seinen Gunsten lenkte, um das Supergeschäft zu machen.

»Entscheidend sind List und Geduld, Romily«, erklärte er, nachdem er den Preis für einen Christbaumschmuck in Form eines winzigen stilisierten Panzers von fünfunddreißig auf fünfzehn Pfund heruntergehandelt hatte. »Ich bin wie ein Flohmarkt-Ninja – bereit zuzuschlagen, wenn es am wenigsten erwartet wird. Diese kleine Schönheit wurde während des Ersten Weltkriegs in einer berühmten Birminghamer Waffenfabrik hergestellt. Dürfte ungefähr fünfzig Pfund wert sein. Der Ausgangspreis war fünfunddreißig, und hätte der Händler höher angefangen, hätte ich auch vierzig gezahlt. Tja, die Typen, die behaupten, sich mit der Ware am besten auszukennen, haben meistens keine Ahnung. Wenn ein Händler aber nicht herumprahlt und sich auch der Preis nicht bewegt, kann man davon ausgehen, dass er den Wert seiner Ware kennt.«

Wir gingen zu »Dave’s Diner« – dem schäbig aussehenden Snack-Wagen in der Mitte der Wiese – und tranken aus Styroporbechern brühheißen Tee, aus dem graue Dampfschwaden aufstiegen. Der heller werdende Himmel und der anschwellende Vogelgesang kündeten das Nahen der Morgendämmerung an.

»Und, wie findest du es hier?«

»Nett. Auf eine merkwürdig feuchte und frostige Art.«

Onkel Dudley boxte mich leicht in den Arm. »Deshalb mag ich dich so, Romily. Du bringst mich zum Lachen.«

»Danke. So, wie ist der neueste Stand bei der ›Operation Phantomküsser‹?«

Seine Augen leuchteten auf. »Richtig. Einen Moment, Kleines.« Er reichte mir seinen Becher, kramte in seinen Taschen herum und zog schließlich ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. »Gestern Abend habe ich im Netz gesurft und diese Sachen hier gefunden …« Er räusperte sich, faltete das Blatt auf und begann vorzulesen. »Ellen Adams, zweiundvierzig, hat ihren Retter wiedergefunden, der sie bei einem Schneesturm am Valentinstag vor zwanzig Jahren aus ihrem Wagen befreit hatte. Eine beiläufige Bemerkung gegenüber einer Freundin führte zu der Idee eines Blogs, um den attraktiven Fremden wiederzufinden, der ihr in all den Jahren nie aus dem Sinn gegangen war. Zufällig las die Schwester des Mannes, die vierundvierzigjährige Janet Milson, in ihrer Lokalzeitung über die Kampagne und ermunterte ihren Bruder, John Ireland, sich mit Ellen in Verbindung zu setzen. Als sich das Paar im August dieses Jahres traf, fühlten sich beide sofort zueinander hingezogen. Sie begannen sich zu verabreden, und vergangene Woche machte John seiner Ellen einen Heiratsantrag. ›Das beweist mal wieder, dass sich wahre Liebe immer durchsetzt‹, meint Ellen strahlend. ›Ich habe ihn nie vergessen, und wunderbarerweise ist es ihm genauso gegangen.‹ Das Paar will nächstes Jahr am Valentinstag heiraten, genau einundzwanzig Jahre nach seiner ersten Begegnung. »Na, Rom, wie findest du das?«

»Wow! Das ist …«

»Im Netz findest du unzählige solcher Geschichten! Paare, die sich nach dreißig, vierzig, ja fünfzig Jahren wiedergefunden haben, oftmals durch seltsame Zufälle. Ist dir klar, was das heißt?«

Offen gestanden war mir das nicht klar. So nett die Geschichte auch war, was hatte sie mit meinem hübschen Fremden und mir zu tun? Ich konnte nicht zwanzig Jahre warten. Ich hatte nur ein Jahr Zeit – nein, inzwischen weniger als ein Jahr –, um ihn zu finden. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Onkel Dudley.«

»Das heißt, es ist möglich, Schätzchen! Es gibt so viele Leute, die ihrem Herzen gefolgt sind und an Träume geglaubt haben, die von ihrer Umwelt als Blödsinn verspottet wurden. Und doch sind diese Träume in Erfüllung gegangen! Ich will damit nicht sagen, dass du dreißig Jahre auf dein Glück warten musst. Ich sage nur, dass die Idee funktioniert! Und wenn wir die Geschichte in die Zeitungen kriegen könnten – umso besser!«

»Lass uns erst mal abwarten, was der Blog bringt«, schlug ich rasch vor, um Onkel Dudley zu bremsen. »Ich glaube nicht, dass ich zu einem peinlichen Aufruf in den Zeitungen bereit bin.«

»Dudley Parker, du hast mir Donuts versprochen!«, schrie Tante Mags, während sie über die matschige Wiese auf uns zustapfte. Im Schlepptau hatte sie Elvis, der in einen kleidsamen babyblauen Steppanzug gehüllt war und ausgesprochen zufrieden dreinblickte, weil er mal wieder terra firma unter den Pfoten hatte.

»Gleich kriegst du deine Donuts, meine Liebe. Einen Tee dazu?«

Tante Mags warf einen Blick auf den Snack-Wagen und schüttelte sich. »Nein, danke. Ich habe eine Thermoskanne Tee im Auto. Wer weiß, was für Bakterien hier herumschwirren.«

Als mein Onkel davonstapfte, um Donuts zu holen, nahm Tante Mags seinen Platz ein und strahlte mich an. »Na, wie geht es meiner Lieblingsnichte?«

»Gut, danke. Mir ist nur ziemlich kalt.« Elvis stieß die Schnauze gegen mein Knie, und als ich mich bückte und ihn tätschelte, rollte er sich auf meinen Füßen zusammen.

»Tja, das hast du davon, wenn du dich von deinem Onkel im Morgengrauen auf eine matschige Wiese locken lässt. Ich nehme an, er hat dir von seinen jüngsten Entdeckungen erzählt.«

Ich nickte und trank einen Schluck Tee. »Er ist ganz schön aufgeregt.«

»Ich weiß.« Tante Mags zog eine Grimasse, doch die tiefe Liebe zu ihrem Gatten stand ihr trotzdem ins Gesicht geschrieben. »Ich glaube, dein Blog könnte funktionieren. Zumindest bringt er Bewegung in die Angelegenheit.«

Sie hatte Recht. Ihre Bemerkung erinnerte mich an ein Sprichwort, das ich im Alter von dreizehn Jahren von Dads Schreibtischkalender abgeschrieben hatte: Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Und genau das war es: der erste Schritt auf einer langen Reise, die ich vor mir hatte. »Auf den Blog!«

Während ich mitten auf einer schlammigen Wiese im ländlichen Warwickshire meinen Teebecher erhob, hatte ich keine Vorstellung von der wilden Achterbahnfahrt, auf die ich mich nichtsahnend eingelassen hatte. Hätte ich es doch nur gewusst …