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Let there be love
Die Woche vor Weihnachten verging in atemberaubendem Tempo. Ich hatte kaum Zeit für mich, geschweige denn die Muße, um über die demnächst anstehende Entscheidung nachzudenken. Bei Brum FM herrschte Hochbetrieb, da Mick und ich uns durch die Flut von Aufträgen für das neue Jahr kämpfen mussten.
Am Tag vor Weihnachten trafen sich The Pinstripes vor der Abfahrt bei Jack und Sophie, völlig aufgekratzt vor Vorfreude. Sophie und Wren hatten bereits einen Plan für unsere Londonreise ausgetüftelt und plauderten angeregt über die Läden, die sie besuchen wollten, und ihr Pflichtprogramm an weihnachtlichen Aktivitäten während unseres kurzen Aufenthalts.
Ich wurde seit zwei Tagen von einer flatternden Nervosität geplagt – eine Mischung aus kindlicher Aufregung wegen der bevorstehenden Reise und der bangen Gewissheit, dass danach nichts mehr so sein würde wie es war, ganz egal, wie meine Entscheidung auch ausfiele. Charlies Lächeln, das er mir bei meiner Ankunft schenkte, verriet seine eigene Nervosität. Während sich die anderen draußen unterhielten, zog er mich beiseite.
»Wie geht’s dir?«, fragte er mit leicht geröteten Wangen.
»Gut – glaube ich. Irgendwie ist das alles verrückt?«
»Ich weiß.« Er öffnete die Arme. »Wie wäre es mit einer Umarmung?«
Dankbar nahm ich das Angebot an und genoss es, als er mich länger als üblich festhielt.
Als wir in einem von D’Wayne (der seit seiner Liaison mit Wren auffallend großzügig war) gestifteten Minibus auf der M40 unterwegs waren, gefolgt von Jack und Sophie im Van, schweiften meine Gedanken zu der Suche ab. Am Vorabend hatte ich PKs Foto und die Christbaumkugel hervorgeholt, mich damit aufs Bett gesetzt und in PKs Augen geblickt, die nichts preisgaben. So gering meine Aussicht auf Erfolg auch sein mochte, der Traum, ihn doch noch zu finden, war unvermindert in mir lebendig. Inzwischen war meine Suche nicht mehr auf Tage befristet, sondern auf Stunden, Minuten und Sekunden. Die Zeit zerrann mir zwischen den Fingern.
Ich griff nach meinem Laptop und schrieb den letzten Blog-Eintrag, bevor meine Suche enden würde.
Morgen ist der große Tag, an dem meine Suche zu Ende geht. Nein, ich habe ihn nicht gefunden. Aber vielleicht habe ich stattdessen etwas viel Wichtigeres entdeckt …
Es ist komisch, aber ich fühle mich nicht als Verliererin, sondern als Gewinnerin. Ich hatte mir für mein neunundzwanzigstes Lebensjahr vorgenommen, meinem Herzen zu folgen, und genau das habe ich getan. Sicher, es war eine ziemliche Achterbahnfahrt – obskure Verabredungen, öffentliche Demütigung und zweifelhafte Twitter-Prominenz, um nur einige Highlights zu nennen –, aber ich habe unglaublich viel gelernt und hatte eines der aufregendsten, positivsten Jahre meines Lebens.
Ich möchte mich bei euch bedanken, weil ihr mich auf dieser verrückten Reise begleitet habt. Wahrscheinlich werde ich meinen Blog im nächsten Jahr fortsetzen – falls es irgendjemanden interessieren sollte, wie es mit mir weitergeht. Das Thema des Blogs wird sich natürlich ändern, und es wird wohl weniger um die Suche nach einem Mann gehen, als um tolle Musik (und natürlich um Tante Mags’ Kuchen, die in diesem Jahr der Wahnsinnshit waren).
Übrigens habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Es kann ja sein, dass ich den Richtigen irgendwo finden werde, wo ich es gar nicht vermutet hätte.
Frohe Weihnachten euch allen!
Rom xx
Es hat mir großen Spaß gemacht, dich auf deiner Suche zu begleiten, Romily, und ich finde, es spielt keine Rolle, ob du PK gefunden hast oder nicht. Ich werde deinen Blog ganz bestimmt weiter lesen. Ich habe mich jede Woche darauf gefreut und möchte ihn einfach nicht mehr missen. Schöne Weihnachten. Ich hoffe, der Richtige ist schon ganz nah! xx pasha353
Noch ist Zeit! Hör nicht auf zu suchen! Werde glücklich. Du verdienst es! x MissEmsie
Danke, dass du mir deine bezaubernde Tante vorgestellt hast. Ich war letzte Woche in ihrer Teestube, und die Kuchen sind ein Gedicht! Und was die Gabe deiner Tante betrifft: Sie empfiehlt tatsächlich immer den richtigen Kuchen für jede Gemütslage! Frohe Weihnachten! xx cupcakefairy
Romily, du bist für mich eine Inspiration, und ich möchte dir danken, weil du immer so positiv bist. Reich beschenkt mit allem, was ich mir je gewünscht habe, gehe ich ins neue Jahr, und dass ich überhaupt hier bin, habe ich Menschen wie dir zu verdanken, die mich wieder daran erinnert haben, wie schön das Leben ist. Es tut mir so leid, dass du deinen hübschen Fremden nicht gefunden hast. Aber das Leben geht oft seltsame Wege. Du wirst die wahre Liebe finden, und dann wird es so sein, als hättest du ihn schon immer gekannt. Alles Liebe xxx Ysobabe8
Ich war mir so sicher gewesen, dass PK all das verkörperte, wonach ich mich sehnte, doch an diesem Morgen, inmitten des gedämpften Stimmengewirrs, des Motorengeräuschs und der Songs unserer Setlist, die aus den Lautsprechern drangen, fragte ich mich auf einmal, ob PK vielleicht nichts weiter gewesen war als ein Katalysator, durch den ich gelernt hatte, für mich und meine Träume einzustehen.
Hätte ich ohne diese Begegnung das Selbstbewusstsein gehabt, mich gegenüber meinen Eltern zu behaupten? Hätte ich es gewagt, von der Möglichkeit einer Karriere als Songschreiberin zu träumen, und wäre es mir gelungen, meine auf Cayte-gate folgende unliebsame Berühmtheit mit Würde zu ertragen?
Und was war mit Charlie? Es war ein steiniger Weg gewesen von meiner so schmachvoll beantworteten Liebeserklärung über die unausgesprochenen Fragen und Missverständnisse in den Frühlings- und Sommermonaten bis hin zu seiner eigenen Liebeserklärung und der vor mir liegenden Entscheidung. Aber hier war ich nun. Ich hatte das alles durchgestanden, und jetzt lag die Entscheidung über eine gemeinsame Zukunft mit Charlie einzig und allein bei mir, was eine totale Umkehrung der Situation von vor einem Jahr bedeutete. Vielleicht hatte Ysobabe8 Recht – vielleicht kannte ich meine wahre Liebe tatsächlich schon immer …
Gestern hatte ich Onkel Dudley und Tante Mags in der Teestube besucht, wo Lametta und Lichterketten Weihnachtsstimmung verströmten. Tante Mags genügte ein kurzer Blick auf mich, um mir sofort ein dickes Stück Blaubeer-Apfel-Kuchen zu verordnen, »damit du dich auf das Wesentliche konzentrieren kannst, Schätzchen«. Wieder einmal stellte sie damit ihre unheimliche Fähigkeit unter Beweis.
»Das Problem ist, ich kann mich einfach nicht entscheiden«, erklärte ich, als ich ihnen die fast fertigen Listen zeigte. »Aber einen wichtigen Punkt hat Charlie PK in jedem Fall voraus.« Ich deutete auf die entsprechende Spalte: Charlie ist da. PK ist nicht da.
Tante Mags seufzte und sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Onkel Dudley merkte es auch und legte ihr den Arm um die Schultern.
»Schätzchen, du hast alles getan, was du konntest. Das haben wir alle. Wir und all die Menschen da draußen, die mit uns gehofft haben, er würde auftauchen. Aber es war nicht vergebens, Kleines. Ich finde, du kannst stolz darauf sein, was du erreicht hast, wenn du auf dieses Jahr zurückblickst. Wir beide sind jedenfalls sehr stolz auf dich, nicht wahr, Mags?«
Tante Mags nickte: »Du bist eine wunderbare junge Frau, Romily. Und für mich klingt es so, als hätte Charlie endlich erkannt, was wir schon immer wussten. Wenn er der Mann deines Herzens ist – der Mann, den du wahrhaftig willst –, dann wähle ihn. Wir wissen, dass du dich niemals mit einem Kompromiss zufriedengeben würdest.«
Während ich aus dem Autofenster blickte und die Landschaft auf dem Weg zu diesem möglicherweise alles verändernden Auftritt an mir vorbeizog, erkannte ich, dass die beiden Recht hatten. Ich war das ganze Jahr über meinem Herzen gefolgt, und auch jetzt – bei der wichtigsten Entscheidung meines Lebens – würde ich auf mein Herz hören.
Nichts hätte uns auf den Anblick vorbereiten können, der uns erwartete, als wir durch Syon Parks atemberaubende Parkanlagen auf das Anwesen des Herzogs und der Herzogin von Northumberland zufuhren. Alles war von unglaublicher Pracht. Gepflegte Rasenflächen erstreckten sich so weit das Auge reichte, in der Ferne ragten klassische Bauten auf, und große alte Bäume standen um akkurat angelegte Beete. Der Nachtfrost hatte alles mit weißem Raureif überzogen, was zu der verzauberten Stimmung der gesamten Anlage beitrug. Es war unmöglich, von der Schönheit dieses Ortes nicht ergriffen zu sein. Ich glaube, niemand von uns hatte bisher jemals etwas Vergleichbares gesehen. Als wir uns dem riesigen mit Türmchen bewehrten Schloss näherten, das in der Morgensonne hell erstrahlte, verstummten wir ehrfürchtig, als könnte ein plötzliches Geräusch den Ort verschwinden lassen. Es war ein Hochzeitsambiente für eine Prinzessin, die perfekte, traumhafte Location, und ich konnte es gar nicht fassen, dass ich am nächsten Tag hier singen würde.
Eine Frau in einem schicken Kostüm und mit Walkie-Talkie und Klemmbrett bewaffnet, näherte sich dem Minibus, als D’Wayne das Fenster herunterließ. Nach einer kurzen Unterhaltung ging sie wieder, und D’Wayne drehte sich zu uns um.
»Wir fahren gleich zum Festzelt weiter«, erklärte er. Ein Mann in schwarzem Mantel und gelb leuchtender Weste fuhr in einem Golf-Buggy an uns vorbei und gab uns ein Zeichen, ihm zu folgen.
Ich muss zugeben, dass mir angst und bange geworden war, als Tom ein »Festzelt« als Veranstaltungsort für die Hochzeitsfeier genannt hatte. Ein Zelt? Im Dezember? Selbst bei den skurrilsten Hochzeiten, für die wir gebucht gewesen waren, war der Veranstaltungsort immer der Jahreszeit angemessen gewesen. Aber in einem Zelt, und sei es auch noch so edel, würden wir bestimmt vor Kälte bibbern.
Doch als ich das fragliche Gebilde erblickte, lösten sich meine Bedenken auf. Der Begriff »Festzelt« wurde ihm wahrlich nicht gerecht, »Beduinenpalast« schon eher, doch auch das war noch untertrieben. Das Zelt hatte die Ausmaße eines Zirkuszelts, und die davor parkenden Vans, Laster und Autos sowie die überall herumlaufenden Caterer, Floristen, Lieferanten und Angestellten wirkten im Vergleich winzig klein.
Jack stieß einen Pfiff aus: »Meine Fresse! Dein Boss begnügt sich nicht mit halben Sachen, was, Tom?«
Tom grinste: »Stimmt. Wollen wir reingehen?«
»Geh du voraus, Alter. Das ist dein Auftrag«, sagte D’Wayne.
Gemeinsam gingen wir auf das Zelt zu. »Heißt das, ich kriege deine fünfzehn Prozent Provision?«, fragte Tom und boxte D’Wayne freundschaftlich in den Arm.
Im Inneren zeigte sich die ganze verschwenderische Pracht dieser Veranstaltung erst richtig: Mit funkelnden Steinen bestickte Sternenvorhänge waren um die duftig weiß umhüllten Stützsäulen in der Mitte des Zelts drapiert, und auf etwa zwei Dritteln der Raumfläche standen rund achtzig Tische mit silbernen Stühlen. Am hinteren Ende hatte man eine breite Bühne aufgebaut.
»Das ist die größte Bühne, auf der unsere Band je gespielt hat«, jubelte Wren. »Oh, ich liebe diesen Gig schon jetzt!«
Ein großer, kräftiger Mann mit beeindruckenden Dreadlocks blickte von dem ausladenden Mischpult auf und hob grüßend die Hand.
»Ihr seid die Band, richtig? Ich bin Sid Heelis und für den Ton verantwortlich.«
Er begleitete uns auf die Bühne, und uns allen standen Aufregung und Anspannung deutlich ins Gesicht geschrieben, als wir in den Festsaal hinunterblickten, wo am nächsten Tag unser Publikum sitzen würde.
»Wir arbeiten mit DI-Boxen und stellen Monitore auf für Bass, Gitarre, Keyboard, Schlagzeug und so weiter«, erklärte Sid, während er uns über die Bühne führte. »Ihr könnt eure Instrumente schon mal aufbauen. Hier ist rund um die Uhr Security im Einsatz, und wir heizen schon seit heute Nachmittag ordentlich ein. Ihr braucht also keine Bedenken wegen Nachtfrost zu haben.«
»Arbeitest du öfter auf so luxuriösen Hochzeiten?«, fragte Charlie und ließ den Blick über das eindrucksvolle Interieur des Zeltes gleiten, in dem es vor geschäftig hin- und hereilenden Leuten nur so wimmelte.
Sid lachte: »So etwas Großes habe ich im Winter noch nie gemacht. Aber Julian ist ein alter Kumpel von der Uni, und als ich hörte, was er für seine Tochter plant, musste ich einfach mitmachen, Weihnachten hin oder her. Sie ist eine ganz besondere junge Frau, und das war das Mindeste, was ich tun konnte. Sie hat es wirklich verdient.«
»Stell dir vor, wir würden nur noch für solche Events gebucht«, sagte Sophie zu mir, als wir Charlies Schlagzeugkoffer hineintrugen. »Wäre das nicht fantastisch? Hoffentlich werden uns die Leute nach morgen Abend weiterempfehlen.« Sie kicherte: »Jack und ich werden nächstes Jahr wohl jeden Cent benötigen, den wir beiseitelegen können.«
Irritiert sah ich sie an: »Wieso? Was meinst du damit?«
Ihr Lächeln war strahlender als die Sonne, die durch das weiße Segeltuch hereinsickerte. »Erzähl es bitte nicht weiter, aber es sieht ganz danach aus, als würden wir dem glücklichen Paar, für das wir morgen spielen, demnächst nachfolgen.«
Mit einem Jubelschrei stellte ich die Koffer ab und umarmte Sophie. »Was für wunderbare Neuigkeiten! Und wann …?«
»Eigentlich wollte er am ersten Weihnachtsfeiertag um meine Hand anhalten, aber als wir heute hierherfuhren, ist er damit herausgeplatzt. Wir sind also inoffiziell verlobt. Am ersten Weihnachtsfeiertag werden wir die Sache öffentlich machen, aber ich musste es einfach jemandem erzählen. Ich bin so aufgeregt!«
Während wir unsere Instrumente und Geräte auf der Bühne aufbauten, wurde mir auf einmal bewusst, dass dieses Jahr nicht nur für mich entscheidend gewesen war, sondern auch für die anderen: Jack und Soph mit ihrer heimlichen Verlobung, Tom mit seiner Trennung von Anya und seiner neuen Beziehung mit Cayte, D’Wayne und Wren mit ihrer neu entdeckten Leidenschaft füreinander. Und Charlie? Vielleicht konnte man sagen, dass er gelernt hatte, mich als die Person zu sehen, die ich wirklich war, und dass er den Mut aufgebracht hatte, seine Gefühle offen auszusprechen. Würde dieses Jahr der Beginn unseres gemeinsamen Lebens werden?
Es war erstaunlich, welchen Unterschied es machte, wenn man mit einer professionellen Tonfirma arbeitete. Wren und ich wechselten selige Blicke, als wir unsere Mikrofone und In-Ear-Monitore testeten. Der kristallklare Sound, die genaue Differenzierung zwischen Instrumenten und Stimmen und die allgemeine Klangwiedergabe waren unglaublich. Ein Blick auf die Jungs verriet mir, dass sie es genauso genossen wie Wren und ich.
Nach dem Soundcheck drängten wir uns alle in den Minibus, um zum Hotel zu fahren. Den Van ließ Jack stehen.
Julian erwies sich als unglaublich großzügig: Er hatte für jeden von uns ein Zimmer in einem luxuriösen Hotel in Kensington gebucht – was Sophie zu der Bemerkung veranlasste, sie müsse wohl gestorben und direkt in den Himmel gekommen sein.
Nachdem wir eingecheckt hatten, versammelten wir uns eine Stunde später in der weitläufigen Marmorlobby des Hotels. Wren, die in ihrem knallgrünen Mantel mit dem langen purpurroten Schal und dem gestreiften Hut wie ein exotischer Vogel aussah, legte den Arm um Sophies Schultern und sagte, an uns alle gewandt: »Okay, Leute, morgen ist ein wichtiger Tag, aber heute werden wir uns ins Getümmel stürzen und alles genießen, was diese Stadt zu bieten hat.«
»Wir haben eine kleine Liste mit Dingen zusammengestellt, die ihr vielleicht unternehmen wollt.« Sophie reichte jedem von uns ein Blatt Papier. »Ihr habt sicher unterschiedliche Interessen, deshalb schlage ich vor, dass wir uns aufteilen und gegen elf wieder an der Hotelbar treffen, okay?«
Jack und Charlie hatten Hunger und machten sich auf die Suche nach einem Restaurant. Wren wollte unbedingt das Winter Wonderland im Hyde Park sehen, worauf D’Wayne, ganz der aufmerksame Lover, sofort anbot, sie zu begleiten. Mir war es egal, was ich machte. Ich wollte einfach nur die festliche Stimmung in mich aufnehmen und schloss mich kurzerhand Tom und Sophie an.
Ich kannte London zur Weihnachtszeit bisher lediglich aus Filmen, und es war wunderbar, dies endlich einmal hautnah zu erleben. An vielen Straßenecken er-klangen die Lieder der Straßenmusiker und sogar einer Heilsarmeeband, und die Schaufenster erstrahlten in weihnachtlicher Dekoration. Die Straßen waren von Passanten bevölkert, die ihre Weihnachtseinkäufe erledigen wollten – auf der Oxford und der Regent Street kam man nur im Schneckentempo voran –, doch irgendwie trug auch das Getümmel zu der festlichen Atmosphäre bei. Vor allem Sophie war vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen.
»Seht nur die Lichter!«, quietschte sie und deutete auf die wunderschönen Lichterketten, die sich über die Straße spannten. »Ist das nicht wunderschön?«
Tom verdrehte die Augen und hakte sich bei Sophie unter. »Weißt du, ich glaube, die haben sie nur für dich aufgehängt, Soph.«
Hochmütig rümpfte sie die Nase: »Ja, gut möglich.«
Lächelnd sah ich die beiden an: »Und, wohin jetzt?«
»Also ich wäre für einen schönen heißen Kakao, ein großes Stück Kuchen und eine Runde Schlittschuhlaufen«, schlug Tom vor, worauf Sophie zu strahlen begann.
Wir ergatterten einen Fenstertisch in einer hübschen Konditorei in der Regent Street mit Blick auf die hell erleuchtete Straße und tranken heißen Kakao mit Marshmallows.
»Und, habt ihr schon Bammel vor morgen?«, fragte Tom, nachdem uns die Kellnerin drei riesige Tortenstücke serviert hatte – mit weißer Schokolade für Tom und dunkler Schokolade für Sophie und mich.
»Ich hoffe nur, ich kann mich an alle Saxophoneinsätze erinnern«, sagte Sophie. »Wir haben das zwar bis zum Abwinken geübt, aber trotzdem habe ich Angst, dass ich auf der Bühne einen totalen Blackout haben könnte.«
»Du wirst das super hinkriegen«, beruhigte Tom sie. »Bei der letzten Probe warst du phänomenal. Bleib einfach locker und genieß es. Wir haben für diesen Auftritt so hart gearbeitet. Ach, ich kann es kaum erwarten. Wie ist es mit dir, Rom?«
Mir war bei dem Gedanken an den bevorstehenden Tag etwas mulmig zumute, da er für mich weit mehr als nur den Auftritt beinhaltete. »Ich bin etwas nervös, aber es wird sicher großartig werden.« Hoffentlich, fügte ich im Stillen hinzu.
Nachdem wir unsere Torten verspeist hatten, schlug Sophie vor, zu Harrods zu gehen. Ich hatte keine Lust, mich durch ein überfülltes Kaufhaus zu drängen, doch Tom erklärte sich bereit, Sophie zu begleiten.
»Ist das okay für dich?«, fragte er mich.
»Sicher«, erwiderte ich. »Ich werde mich einfach treiben lassen.«
Während Sophie Tom aus der Tür zerrte, sagte ich lächelnd zu dem Kellner, der unseren Tisch abräumte: »Sie ist zum ersten Mal an Weihnachten in London und etwas überdreht.«
Der Kellner lachte: »Wollen Sie sich den beiden nicht anschließen?«
»Nein. Ich möchte einfach nur herumschlendern.«
»Da würde ich das südliche Ufer Themse empfehlen«, sagte er, während er den Tisch abwischte. »Dort ist es besonders schön und festlich.«
Er hatte Recht. Als ich dort ankam, erwartete mich ein wirklich zauberhafter Anblick: In jedem Baum hingen winzige weiße Lichter, die wie Diamanten funkelten, und auf dem dunklen Wasser des Flusses spiegelten sich die bunten Lichter wider. Am Uferweg reihten sich kleine Holzbuden, wie ich sie im Vorjahr auf dem Weihnachtsmarkt in der New Street in Birmingham gesehen hatte, und es spielte dieselbe Weihnachtsmusik, die ich damals gehört hatte.
Während ich mich im Strom der Passanten treiben ließ, musste ich unweigerlich daran denken, wie Charlie und ich vor einem Jahr fröhlich lachend durch die New Street spaziert waren, ehe wir das Café aufgesucht hatten. Und als ich dann an einer Gruppe Feiernder mit Nikolausmützen vorüberging, sah ich es: einen Plüschtierstand, der genauso aussah wie jener, in den ich vor zwölf Monaten hineingerannt war. Seltsamerweise waren diese vielen Erinnerungen an den Weihnachtsmarkt in Birmingham nicht unangenehm, sondern eher tröstlich. Sie erfüllten mich mit Vorfreude auf das, was die Zukunft für mich bereithalten würde.
Wie verabredet, fanden wir uns später am Abend alle in der vornehmen Hotelbar ein. Wren strahlte über das ganze Gesicht: »Es war unglaublich. D’Wayne wollte unbedingt mit mir Riesenrad fahren, und ich war natürlich sofort dabei. Nur hatte ich vor Begeisterung total vergessen, dass ich ein bisschen Höhenangst habe …«
»Ihr hättet hören sollen, wie sie rumgeschrien hat, als wir oben plötzlich anhielten, damit unten neue Fahrgäste zusteigen konnten.« Schmunzelnd drückte D’Wayne Wrens Hand. »Man hätte meinen können, sie würde ermordet oder gefoltert.«
»Ach, D’Wayne, alter Junge«, sagte Jack und schlug ihm mitfühlend auf den Rücken. »An diese Art von Vergnügen wirst du dich jetzt wohl oder übel gewöhnen müssen.«
»He!«, rief Wren empört. »Man kann mit mir wirklich Spaß haben!«
»Natürlich kann man das, meine Hübsche«, bemerkte D’Wayne in gespieltem Ernst, worauf wir alle zu lachen begannen. Es war schön, die beiden so glücklich und entspannt zu sehen.
»Wir sind am Trafalgar Square gelandet«, berichtete Jack und ließ sein Handy herumgehen, damit wir uns die Fotos ansehen konnten, die er geknipst hatte. Auf einem Bild war die hohe norwegische Tanne zu sehen, die sich majestätisch gegen den dunklen Dezemberhimmel abzeichnete und deren bunte Lichter sich im Wasser des einen Brunnens spiegelten. »Die Atmosphäre war sagenhaft. Während wir den Baum bewunderten, kam eine Gruppe von Touristen an und begann, Weihnachtslieder zu singen – total improvisiert.«
»Du hast doch hoffentlich mitgesungen?«, fragte ich.
»Natürlich haben wir das«, meldete sich Charlie zu Wort, und als er mich ansah, strahlten seine Augen heller als alle Lichter am Trafalgar Square. »Und zwar als dreistimmiger Kanon.«
Jack klopfte mit dem Handy gegen sein Weinglas. »Ladys und Gentlemen, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten! Da unser jährliches Weihnachtstreffen wegen einer kurzfristig anberaumten, total belanglosen Hochzeit ausfallen muss, möchte ich jetzt gerne einen Toast aussprechen. Auf The Pinstripes – und unsere steile Karriere!«
»Auf The Pinstripes!«, riefen wir im Chor.
Als ich später, eingekuschelt in den hoteleigenen Morgenmantel, gemütlich in meinem Zimmer saß, holte ich PKs Foto aus meiner Handtasche und betrachtete es. Dies war unser letzter Abend, und ich wollte noch einmal Zwiesprache mit ihm halten.
»Wenn auch du mich suchst, dann komm. Finde mich. Noch haben wir Zeit …«
Die blecherne Stimme von Stevie Wonder ertönte aus meinem Handy und unterbrach mich.
»Hey, du.«
Ich schluckte: »Hey, Charlie.«
»Ich wollte nur sagen: Ich bin für dich da, was immer morgen auch geschieht. Du bist meine beste Freundin, und das wirst du immer bleiben. Das musste ich dir einfach sagen.«
Vor Freude durchlief mich ein Schauer vom Kopf bis zu den Zehen. »Danke. Dasselbe gilt für mich. Ähm, Charlie?«
»Ja?«
»Danke. Ich … na ja, ich weiß, diese Sache mit der Suche war für dich nur schwer nachvollziehbar, aber ich verspreche, dass ich die richtige Entscheidung treffen werde – für dich und für mich. Gute Nacht.«
Seine Stimme klang sanft und samtig weich an meinem Ohr: »Gute Nacht, meine Schöne.«
Am nächsten Morgen – es war ein sonniger, knackig kalter Tag – traf sich die Band zum Frühstück in dem prächtig ausgestatteten Hotelrestaurant. Wren und Sophie waren vorher, als alle noch schliefen, schon shoppen gewesen und mit Tüten bepackt zurückgekehrt, die sie nun unter dem Tisch verstauten.
»Da haben sich ja die beiden Richtigen gefunden«, bemerkte Tom lachend.
Ich hatte in meinem King-Size-Bett geschlafen wie ein Baby. Zum ersten Mal seit Monaten hatte sich weder PK noch Charlie in meine Träume geschlichen. Da meine Entscheidung – und das Grabgeläut für meine Suche – kurz bevorstand, wollte mir mein Unterbewusstsein wahrscheinlich keine parteiischen Bilder mehr liefern. Was an diesem Abend passieren würde, lag allein bei mir.
»Ihr wisst ja, dass Leute ständig irgendwelche Sachen aus Hotels klauen«, sagte Sophie während des herzhaften englischen Frühstücks. »Also habe ich mich gefragt, ob ich nicht das ganze Bad mitgehen lassen könnte. Dieser Marmor ist himmlisch!«
»Leider kriegen wir das nicht in den Van, Süße«, erwiderte Jack trocken, worauf ihm seine heimliche Verlobte mit der Serviette drohte.
»Wann sollen wir am Zelt sein?« erkundigte sich Charlie bei D’Wayne.
»Sid meinte, irgendwann vor fünf. Also fassen wir am besten vier Uhr ins Auge. Meines Wissens werden uns Garderoben zur Verfügung gestellt, dort können wir uns entspannt aufhalten, bis es Zeit wird für den Auftritt.«
»Ich finde, wir sollten vorher noch einen Streifzug durch London machen«, sagte Sophie.
»Haben Wren und du noch nicht genug?«, fragte Charlie neckend.
»Ich halte das für eine gute Idee«, warf D’Wayne ein. »Dann können wir den Kopf noch ein bisschen frei bekommen und uns für heute Abend in Stimmung bringen. Aber bloß kein hektisches Programm. Ihr müsst heute Abend topfit sein.«
Wir befolgten die weisen Worte unseres Managers und einigten uns auf einen Spaziergang. Um dem Trubel von Kensington zu entfliehen, fuhren wir mit der U-Bahn zum Hyde Park und spazierten durch die vereiste Landschaft. Der ganze Park verströmte ein weihnachtliches Flair. Blinkende Lichterketten hingen zwischen den Straßenlaternen, die die Wege säumten, und umrahmten die kleinen Erfrischungsbuden am See. Der Park war von Familien bevölkert, die den sonnigen Tag zu einem gemeinsamen Spaziergang nutzten, und von Liebespaaren, die eng aneinandergekuschelt auf den Bänken saßen. Ich genoss es ungemein, mit meinen besten Freunden draußen zu sein und herumzualbern.
Tom entdeckte einen vergessenen Tennisball und hielt ihn in die Höhe wie einen Pokal: »Das Spiel ist eröffnet!«
Sogleich improvisierten Charlie, Jack, Sophie und ich ein Fangspiel, flitzten kreischten über den vereisten Boden und fielen dabei mehrmals hin, was uns unglaublich erheiterte, unserem Manager hingegen panische Angst einjagte.
»Aufhören, Leute!«, rief er. »Wir haben uns auf einen geruhsamen Spaziergang geeinigt, nicht auf knochenbrecherische Aktionen!«
Wie gescholtene Schulkinder grinsend, fügten wir uns der Anordnung. Auf dem Rückweg durch das hippe Kensington blieben wir stehen, um einem Barbershop-Chor zu lauschen, der vor einem der teuren Restaurants für die Passanten eine wunderbare Mischung an Weihnachtsliedern zum Besten gab. Es war unmöglich, dem weihnachtlichen Zauber nicht zu erliegen, als Lieder wie »Let It Snow«, »White Christmas« und »The Most Wonderful Time of the Year« erklangen. Jack tanzte mit Sophie und wirbelte sie herum, bis sie unter einem Mistelzweig an der Markise des Restaurants zum Stehen kamen und sich, unter den Zurufen der Umstehenden, leidenschaftlich küssten. Es war ein wunderschönes Bild – der passende Auftakt für das romantische Ereignis, das vor uns lag.
Um halb fünf kamen wir wieder in Syon Park an und wurden von einem Security-Angestellten zu unseren Garderoben geführt. Jack lachte, als er im Backstagebereich die beiden extrem geräumigen Wohncontainer erblickte: »Wow. Wenn ein Veranstalter von Garderoben spricht, ist das normalerweise nicht mehr als ein abgeteilter Bereich in den Toiletten. Wie sich die Zeiten doch ändern!«
Sophie, Wren und ich zogen unsere Bühnenkleidung an, die wir in der Woche davor mit viel Sorgfalt ausgewählt hatten. Sophies dunkeltürkisfarbenes Cocktailkleid, das sie mit farblich passenden Schuhen trug, ließ ihr Haar schimmern wie gesponnenes Gold. Wren sah in ihrem raffiniert geschnittenen schwarzen Samt-Minikleid, den hochhackigen Schuhen sowie dem Strasshals- und -armband, die bei jeder Bewegung funkelten, wie immer hinreißend aus. Ich hatte nach reiflicher Überlegung (und leidenschaftlichem Zuspruch von Wren) mein Weihnachtsbudget für ein silberfarbenes trägerloses Seidenkleid verpulvert, zu dem ich farblich passende High Heels und eine Amethystkette trug. Nach etlichen Drehungen und jeder Menge bewundernder »Ohs« und »Ahs« trippelten wir über den gefrorenen Rasen zur danebenliegenden Männergarderobe. Als wir eintraten, hatten die Jungs die Köpfe über Jacks Mappe mit den Notenblättern für die Songs gebeugt, gingen die Details noch einmal durch und vergewisserten sich, dass jeder die Nuancen der anderen verstand.
»Denkt an die Tempoverdopplung nach dem Mittelteil, wenn der Chor wieder einsetzt – hier.«
Tom blickte auf: »Hallooo, die Damen!«
Jack pfiff durch die Zähne: »Bezaubernd wie immer.«
Zuvorkommend räumten die Jungs ein paar Sachen beiseite, um für uns Platz zum Sitzen zu schaffen.
»Gut möglich«, sagte Charlie, »dass wir irgendwelche Background-Sachen spielen sollen, während der Saal für die Abendveranstaltung vorbereitet wird. D’Wayne checkt das gerade. Jack meint, wir sollten dafür ein paar Stücke aus dem Set für Frankie und Owen und aus dem Schnulzenset für die goldene Hochzeit nehmen.«
»Klingt gut«, erwiderte ich.
Die Tür ging auf, und D’Wayne kam herein. Bei seinem Anblick begannen Wrens Augen zu leuchten.
»Okay, um halb sechs sind wir für ein Backgroundset einbestellt«, sagte er mit einem Blick auf seine Uhr. »Das heißt, wir haben noch eine Stunde. Sid meint, ihr könnt das als verlängerten Soundcheck nutzen. An der Seite der Bühne steht ein riesiges Mischpult, wenn ihr also Veränderungen bei eurem Monitorsound braucht, könnt ihr die Techniker darum bitten.«
Eine halbe Stunde später fiel mir ein, dass ich meine Ohrringe in der Handtasche vergessen hatte, also ging ich rasch zur Frauengarderobe hinüber. Da ich schon einmal da war, musterte ich mich noch einmal in dem großen Spiegel, betrachtete zufrieden die elegante Hochsteckfrisur, die Wren und Sophie mir gemacht hatten, und die Haarnadeln mit den Amethysten, die bei jeder Bewegung meines Kopfes funkelten. Zusammen mit dem weichen Silberglanz meines Kleides ergab das eine fantastische Wirkung. Ich lächelte meinem Spiegelbild zu und erfreute mich an der schönen, selbstbewussten Frau, die zurücklächelte. Mit meiner Setlist und einer Wasserflasche bewaffnet, trat ich wieder in den frostigen Spätnachmittag hinaus. Inzwischen war die Sonne hinter dem Park und dem Schloss untergegangen, und eine magische Verwandlung hatte stattgefunden: Das Schloss hinter dem golden glühenden Festzelt war dramatisch in Flutlicht getaucht, und jeder einzelne Baum wurde von unten angestrahlt und leuchtete in einer anderen Farbe. Es war so schön, dass ich beschloss, einen Umweg um den Eingang des Festzelts herum zu machen, um die gesamte Szenerie mit dem Park und dem dahinterliegenden großen See bewundern zu können.
Dies war der wunderbarste Ort, den ich je gesehen hatte – die passende Umgebung für das Ende eines außergewöhnlichen Jahres. Zu meiner Rechten erspähte ich eine Bank zwischen zwei majestätischen Weiden, von denen eine in goldenem, die andere in grünem Licht erstrahlte.
Auf dieser Bank werde ich es Charlie sagen, beschloss ich. Es war der perfekte Platz.
Zufrieden mit mir selbst, machte ich kehrt, um zu den Garderoben zurückzugehen … und erstarrte.
In etwa dreißig Metern Entfernung ging eine dunkle männliche Gestalt am Eingang des Festzelts vorbei und weiter in meine Richtung. In dem Lichtschein, der aus dem Inneren des Festzelts herausströmte, leuchtete plötzlich rostbraunes gewelltes Haar auf und ein Gesicht, das ich in meiner Erinnerung und auf dem verschwommenen Foto so oft gesehen hatte. Ich blinzelte einige Male, da ich überzeugt war, dass mir meine Fantasie mal wieder etwas vorgaukelte, wie damals, als ich Mark für PK gehalten hatte. Aber diesmal war es kein Wunschdenken: PK war hier, bei dieser Hochzeit auf dem atemberaubenden Anwesen von Syon Park, und er kam geradewegs auf mich zu. Er war formvollendet in einen dunkelgrauen Frack mit einer rot bestickten Weste gekleidet, seine weiße Krawatte hatte er etwas gelockert. Er sah genauso aus, wie ich ihn im Gedächtnis hatte … nur noch besser. Panik stieg in mir hoch, als mir plötzlich einfiel, was Sid heute gesagt hatte, als Tom ihn fragte, wie wir in dem Meer von Gästen den Bräutigam erkennen sollten.
»Ach, das ist einfach. Die Floristin sagt, dass alle männlichen Verwandten und Freunde des Bräutigams zwei Rosen in ihren Knopflöchern tragen, eine weiße und eine rote. Doch der Bräutigam trägt, passend zum Brautbouquet, zwei weiße Rosen.«
Mein Blick wanderte zu PKs Oberkörper – und mein Herz zerbrach in abertausend Scherben.
Zwei weiße Rosen.
Innerhalb eines einzigen Moments hatte ich ihn sowohl gefunden als auch für immer verloren. Der Schock ließ meine Knie weich werden. Um nicht völlig zusammenzubrechen, drehte ich mich um und setzte mich in Bewegung, beseelt von dem verzweifelten Wunsch, in meiner Garderobe Schutz zu suchen. Ich ging so schnell, dass ich eine halb unter dem Gras versteckte Baumwurzel übersah, mit dem Fuß daran hängen blieb und genau in dem Moment ins Taumeln geriet, als ich auf gleicher Höhe mit PK war. Sofort riss er den Kopf herum, und wir standen uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ich sah, wie sich seine Pupillen weiteten, als er mich wiedererkannte. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, doch ich konnte es nicht ertragen, seine Stimme noch einmal zu hören – jetzt nicht mehr, da ich die Wahrheit kannte. Mit gesenktem Kopf hastete ich an ihm vorbei und blieb auch nicht stehen, als er mir hinterherrief: »Warte!« Ich hörte, wie seine Schritte auf dem gefrorenen Boden schneller wurden, und beschleunigte mein Tempo.
»Will!«, ertönte eine Stimme am Eingang des Festzelts, worauf seine Schritte stoppten. »Du wirst für die Fotos gebraucht.«
»Ich habe gerade … Okay, gut, ich komme«, antwortete er, und sein Ton verriet, wie sehr er mit sich rang.
Als ich die Stufen zur Garderobe erreicht hatte, drehte ich mich noch einmal um und sah, wie ein anderer Mann den Arm um PKs Schultern legte. »Du willst die Braut doch nicht verärgern. Das wäre kein guter Start ins Eheleben.«
Am Boden zerstört und zitternd beobachtete ich, wie er einen letzten langen Blick in meine Richtung warf, ehe er im Zelt verschwand. Nach Luft schnappend ließ ich mich auf die Stufen sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
Es war kein Zufall, dass der Termin für die Hochzeit auf den Weihnachtsabend verlegt worden war. Hier ging das Schicksal persönlich zu Werke und enthüllte mir in den letzten Momenten meiner Suche die Wahrheit über den Mann, den ich ein Jahr lang so sehnsüchtig gesucht hatte. Und als Abschiedsgeschenk hatte ich nun seinen Namen erfahren – Will. Es fühlte sich seltsam an, dass mir dieses Mosaiksteinchen plötzlich zugefallen war.
Meine Suche war mit einem furiosen Finale zu Ende gegangen. Welche Ironie des Schicksals, dass ich ihn im letzten Moment noch gefunden hatte, nur um zu entdecken, dass er am selben Tag eine andere Frau heiraten würde. Die bittersüße Realität traf mich mit voller Wucht, Tränen strömten mir aus den Augen, und ein Wust an nicht fassbaren, sinnlosen Gedanken wirbelte in meinem Kopf herum.
Natürlich hatte er jemand anderen! Vielleicht hatte die Person, die ihn auf dem Weihnachtsmarkt zu sich beordert hatte, dies gewusst, und vielleicht war der innere Kampf, den ich in seinen Augen wahrgenommen hatte, der Kampf eines in Versuchung geratenen gebundenen Mannes gewesen?
Irgendwie schien es richtig zu sein, dass ich ihn ausgerechnet heute wiedergesehen hatte – genau in dem Moment, als ich mich für Charlie entschieden hatte. Unter anderen Umständen hätte ich mich über diese Ironie amüsiert – aber nicht an diesem Abend. Mit letzter Kraft schleppte ich mich in die Garderobe, schloss die Tür hinter mir und ließ meinen Tränen freien Lauf.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass der Kummer, den ich verspürte, zwar schmerzhaft war, aber auch notwendig – eine letzte Gelegenheit, das Ende eines Traums zu betrauern. Ich starrte auf mein Bild im Spiegel und bemerkte eine Stärke in meinem Blick, die ich an mir noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Vielleicht war es das, was Jack, Tom und Charlie gemeint hatten. Ich musste vielleicht meinen Traum begraben, mit Will zusammen zu sein, doch ich hatte nach wie vor eigene Träume und Ziele. Und aus dem Wissen, dass ich ihn nach einem Jahr Suche tatsächlich gefunden hatte, erwuchs in mir der tiefe Glaube, dass ich mich jederzeit wieder auf die Suche nach etwas machen könnte, das ich mir von Herzen wünschte. Meine Mutter hatte sich geirrt: Die Suche war keine Zeitverschwendung gewesen. Sie hatte mich geformt und geschliffen.
Die Worte des letzten Eintrags auf meiner Liste blitzten vor meinem inneren Auge auf: Charlie ist da. PK ist nicht da.
Während der gesamten Zeit war Charlie für mich da gewesen, hatte sich bemüht, seine eigenen Gefühle zu ergründen, und mir niemals seine Freundschaft entzogen, die mir so unendlich wichtig war. Alles in allem war PK ein erfundener Name für jemanden, den ich nur ein Mal flüchtig gesehen hatte und für den ich eine Fremde war. Meine Wahl stand schon seit langem fest, noch bevor ich sie bewusst getroffen hatte. Und jetzt wusste ich, was zu tun war.
Wieder im Einklang mit mir selbst, erneuerte ich mein Make-up und machte mich nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel auf den Weg zu meinen Freunden.
Während unseres Auftritts sah ich Will nicht, hielt jedoch auch nicht nach ihm Ausschau. Jetzt nicht mehr. Stattdessen konzentrierte ich mich ganz auf meine Darbietung, und das Vertrauen in die Richtigkeit meiner Entscheidung verstärkte meine Bühnenpräsenz und ließ mein Lächeln erstrahlen.
Das Festzelt bot einen grandiosen Rahmen für die elegante Hochzeitsgesellschaft. Alles schien zu glitzern und zu funkeln, als achthundert Leute plauderten, lachten und sich im Takt der Musik wiegten. Die Stimmung war glücklich und festlich, die Kombination aus Weihnachten und einer romantischen Hochzeit hatte auf alle Anwesenden die gewünschte Wirkung.
In der Zwischenzeit arbeitete das Personal diskret weiter, verschob Tische und Stühle, um die große Tanzfläche vor der Bühne für die Abendveranstaltung freizuräumen.
Bei der Hälfte von »Dream a Little Dream of Me« fing ich Charlies Blick auf, und er lächelte mir zu. Er sah in seinem schwarzen Hemd und der schwarzen Hose unglaublich gut aus, und seine funkelnden Augen verrieten, wie sehr es ihm gefiel, an diesem märchenhaften Ort aufzutreten.
Bis zum Ende unseres Background-Auftritts hatte sich eine Gruppe von etwa hundert Leuten auf der Tanzfläche versammelt, die uns begeistert applaudierten.
Durch unsere In-Ear-Monitore teilte Sid uns mit: »Die Leute lieben euch. Da ihr schon so gut drauf seid, könnt ihr genauso gut gleich mit eurem ersten Set anfangen. Das würde dann perfekt zu der Eröffnung des Büfetts im Anschluss passen.«
Mit erhobenem Daumen erklärte Jack unser Einverständnis, worauf Sid über Mikrofon eine Ansage für die Gäste machte.
»Ladys und Gentlemen, ich möchte Ihnen die exzellente Band des heutigen Abends vorstellen: The Pinstripes. Darf ich um Applaus für unsere fabelhaften Künstler bitten!«
Lächelnd folgten die Gäste der Aufforderung.
»Und nun werden sie für uns den festlichen Teil des Abends erst richtig eröffnen«, fuhr Sid fort. »Ladys und Gentlemen, heißen wir sie noch einmal willkommen: The Pinstripes!«
Charlie zählte ein, und Wren ließ die Hand über den Hals ihrer Bassgitarre gleiten, um die Eingangspassage von »Love Train« zu spielen.
Mit jedem Song, den wir darboten, strömten mehr Gäste auf die Tanzfläche, ein Gewimmel aus fröhlichen tanzenden Menschen, die unter dem riesigen Kronleuchter, der von der Zeltdecke herabhing, ausgelassen feierten. Ich spürte, wie mein Herzschlag immer schneller wurde, je näher der Augenblick rückte, an dem ich Charlie meine Entscheidung mitteilen würde.
Wren freute sich, als ihre stimmakrobatische Interpretation von »Ain’t Nobody« zu einem so überschwänglichen Applaus führte, dass wir erst warten mussten, bis der Lärm abgeklungen war, ehe wir weiterspielen konnten.
»Ich liebe diese Leute!«, wisperte sie mir mit vor Ergriffenheit feuchten Augen zu. »Ich möchte sie alle mit nach Hause nehmen!«
Als wir mit dem Intro zu dem »Lovely Day/Valerie«-Medley begannen, das unser erstes Set beenden würde, blickte ich mich zu Charlie um. Sein Lächeln war voller Zuneigung, und ich fühlte mich in meiner Entscheidung bestätigt.
Nachdem Minuten später die letzten Töne verklungen waren, bedankte sich Wren bei unserem enthusiastischen Publikum: »Sie waren großartig, vielen Dank. In ungefähr einer Stunde werden wir Sie wieder auf die Tanzfläche locken. Bis dahin viel Vergnügen!«
Sie drehte sich zu uns um und quietschte: »Wie cool war das denn?«
Jacks Grinsen sprach Bände: »Wir waren echt klasse. Und dieses Publikum – wow!«
Sophie packte mich am Arm: »Hast du Victoria Beckham auf der Tanzfläche gesehen? Und Dizzie Rascal! Ich muss unbedingt ein paar Fotos für meine Mum machen, sonst glaubt sie mir das nie!«
Sid kam an den Rand der Bühne und winkte uns zu sich. »Leute, ihr seid phänomenal! Die beste Partyband, die ich seit ewigen Zeiten gehört habe – und das sage ich nicht nur so dahin. Passt auf, mein Unternehmen plant im März nächsten Jahres eine große Firmenveranstaltung. Wärt ihr dazu bereit? Die Bezahlung stimmt in jedem Fall, das kann ich euch versichern. Außerdem werden jede Menge Leute aus der Musikindustrie anwesend sein. Wir knüpfen bei dem Event jedes Jahr eine Menge beruflicher Kontakte.«
Jack schüttelte ihm die Hand. »Mann, da sagen wir nicht Nein! Rede mit unserem Manager, wir sind dabei.«
Sid grinste: »Super. Besorgt euch was zu essen und ruht euch ein wenig aus. Ich werde dann jemanden schicken, der euch für das zweite Set abholt.«
Das Stichwort »essen« genügte Tom, um von der Bühne zu springen und sich ins Gewühl zu stürzen. Wren und Sophie folgten ihm auf den Fersen, während Jack sich mir und Charlie umdrehte: »Super Gig. Kommt ihr mit zum Büfett?«
»Später«, sagte Charlie. »Wir müssen noch etwas besprechen.«
»Cool. Lasst euch nicht zu viel Zeit. Ihr kennt ja Tom – der räumt jedes Büfett innerhalb von fünf Minuten ab!« Er sprang von der Bühne und folgte den anderen.
Als ich mich Charlie zuwandte, klopfte mein Herz wie wild. »Komm. Da gibt es einen Platz, den ich dir gern zeigen würde.«
Wir gingen in die eisige Nacht hinaus. Syon Park sah überwältigend aus. Die bunt angestrahlten Bäume warfen regenbogenfarbene Lichter auf den vereisten Rasen. Tief einatmend nahm Charlie die Szenerie in sich auf.
Plötzlich wurden wir beide unsicher und wussten nichts mit unseren Händen anzufangen. Also verschränkte ich die Arme vor der Brust, und Charlie schob die Hände in die Taschen, als ich ihn zu der schmiedeeisernen Bank zwischen den beiden alten Weiden führte. Wir setzten uns hin, und mein Atem wurde schneller, während die Schmetterlinge in meinem Bauch herumtanzten.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um auszusprechen, wie es in meinem Herzen aussah.
»Du hattest Recht, als du sagtest, ich hätte die ganze Zeit über gewusst, mit wem ich zusammen sein möchte. Ich habe sehr viel nachgedacht und dabei auch einiges über mich selbst herausgefunden.« Ich hielt inne, unterdrückte den nervösen Drang zu kichern. »Aber ich weiß, was ich will. Ich will mit dir zusammen sein, Charlie.«
Ein Strahlen glitt über sein Gesicht. Er umfasste meine Hände. »Oh, Rom …«
»Ich will mit dir zusammen sein«, wiederholte ich tief ergriffen. In einem Aufruhr der Gefühle verkündete ich ihm meine Entscheidung, mitten in diesem dunklen Park, während Charlie meine Hände streichelte und wir uns langsam aufeinander zubewegten. Er streichelte meine Wange – wie er es vor einem Monat im Wald getan hatte –, und ich schloss die Augen, als unsere Lippen sich zum ersten Mal berührten …
Und dann …
… dann …