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The most wonderful time of the year?

Steht man vor der Frage, ob man seinem besten Freund seine Liebe gestehen soll oder nicht, so gibt es dazu zwei widersprüchliche Theorien. Die eine rät ausdrücklich davon ab, weil man Gefahr läuft, einen Freund zu verlieren, sollte die Liebe nicht erwidert werden. Die andere befürwortet die aktive Haltung, denn würde man nichts sagen, könnte man die Liebe seines Lebens verpassen.

Dummerweise habe ich letzteren Rat befolgt.

Der Blick aus Charlies mitternachtsblauen Augen zeigte mir unmissverständlich: Ich hatte soeben den größten Fehler meines Lebens begangen …

»Wie bitte?«

Vielleicht hatte er mich nicht richtig verstanden? Vielleicht sollte ich es wiederholen?

»Ich habe gesagt, dass ich dich liebe, Charlie.«

Er blinzelte. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

»Doch.« Eine tiefe Müdigkeit machte sich in mir breit und erstickte meine Hoffnung unter einer bleiernen Decke.

Verschwunden war das typische Charlie-Grinsen, das noch Momente vorher so unverrückbar sein Gesicht erhellt hatte. Stattdessen war da nun ein Ausdruck, den ich nicht kannte, doch ich wusste, dass er keine gute Alternative war.

»W-wie lange …?«

Ich heftete den Blick auf die Topfpflanze neben unserem Tisch. »Ähm … schon ziemlich lange.« Vielleicht hätte ich etwas Raffinierteres anziehen sollen, um mein Traumfraupotenzial hervorzuheben. Doch als ich heute früh meine geliebten Jeans und den langen roten Pulli anzog, hatte ich nicht gedacht, dass ich ein derartiges Gespräch führen würde. Angesichts des Ausdrucks blanken Entsetzens in Charlies Gesicht hätte es jedoch auch keinen Unterschied gemacht, wenn ich ihm in Designerkleid und mit Diamantenkette gegenübergesessen hätte. Oh, warum hatte ich nicht einfach den Mund gehalten?

»Aber … wir sind Kumpel, Rom.«

»Ja, natürlich. Schau, vergiss einfach, was ich gesagt habe, okay?«

Er starrte in seinen Latte macchiato, als hätte der ihn gerade beleidigt. »Wie soll das gehen? Du hast es nun mal gesagt. Ich meine, es … es steht im Raum.«

Ich sah mich in dem voll besetzten Café um. Es wimmelte von mies gelaunten Weihnachtseinkäufern, die sich auf zusätzlichen Stühlen, die sie arglosen Einzelpersonen gierig weggeschnappt hatten, an viel zu kleine Tische quetschten. »Ich glaube, wir können getrost davon ausgehen, dass niemand irgendetwas gehört hat.«

Mein Versuch, witzig zu sein, ging ins Leere. Ich trank einen großen Schluck Kaffee und wünschte, ich wäre tot.

Charlie schüttelte den Kopf. »Völlig egal. Ich habe es gehört. Mensch, Rom … warum hast du es gesagt? Hättest du es nicht einfach …?«

Ich starrte ihn an. »Einfach was?«

»Es einfach nicht aussprechen können? Ich meine, warum musstest du mir das gerade jetzt erzählen?«

Ich hasste den Ausdruck blanker Panik in seinen Augen. Er hatte mich noch nie so angesehen … In meinen Tagträumen war dieser Moment völlig anders abgelaufen: Oh, Romily, ich liebe dich auch schon seit Ewigkeiten. Hättest du nichts gesagt, hätten wir vielleicht niemals zueinandergefunden

»Zwischen uns läuft doch alles prima. Ich meine, warum soll man etwas daran ändern? Du kannst doch nicht ernsthaft geglaubt haben, dass das eine gute Idee ist.«

Entschuldige mal, natürlich hatte ich das geglaubt. Irgendwo zwischen meinem törichten, offensichtlich irregeleiteten Herzen und meiner dämlichen großen Klappe war mir das Hirn abhandengekommen, und ich hatte mir eingeredet – weil ich eine bescheuerte, kranke Idiotin bin –, dass ich die Antwort auf seine Träume wäre. Dass die vielen Stunden, die wir miteinander verbrachten – lustige, ausgelassene Tage und lange Nächte voller tiefer Gespräche –, der Beweis dafür wären, dass wir füreinander bestimmt waren. Jedem fiel das auf: Bei unseren Freunden war es schon ein Insiderwitz, und sie nannten Charlie und mich das »alte Ehepaar«. Ich könnte gar nicht aufzählen, wie oft wir von fremden Leuten für ein Paar gehalten worden sind. Wenn dies für die ganze Welt so offensichtlich war, warum dann nicht auch für Charlie?

Natürlich konnte ich ihm all das nicht sagen. Die erlittene Schmach löschte alle schlauen Argumente aus meinem Hirn, so dass ich in diesem überfüllten Café, dessen Gästen es sowieso piepegal war, was ich von mir gab, nur stammeln konnte: »Tut mir leid.«

Charlie schüttelte den Kopf: »Ich habe das nicht kommen sehen. Ich dachte, wir sind Freunde, mehr nicht. Aber das … das ist einfach krass …«

»Danke für die aufmunternden Worte, Charlie.«

Er sah mich an, sein Blick verriet Verwirrung. »Ich … ich wollte nicht … Scheiße, Rom, tut mir leid. Gib mir einen Moment, damit ich das irgendwie verdauen kann.«

Ich wandte den Blick ab, konzentrierte mich auf ein besonders gestresst aussehendes Pärchen am Nebentisch, das sich bei sahnehäubchengekröntem Weihnachtskaffee ordentlich fetzte.

»Ich bin viel zu selbstverständlich für dich«, sagte die Frau. Ich wusste genau, wie sie sich fühlte.

»Weißt du«, sagte Charlie, »du warst immer nur Rom – ein guter Kumpel wie die anderen Jungs. Jemand, der witzig ist und mit dem man abhängen kann. Aber jetzt …« Er redete sich immer mehr um Kopf und Kragen, und das wusste er. »Entschuldige«, seufzte er schließlich. »Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll.«

Es war schrecklich. Ich hatte genug gehört. Tief verletzt und bis auf die Knochen blamiert, stand ich auf. Ich öffnete den Mund zu einem vernichtenden Abschiedswort, doch es kam nichts heraus. Also drehte ich mich um und suchte das Weite, stieß mit dem Fuß gegen einen Stuhl, stolperte über mehrere überquellende Einkaufstüten und blieb auf meiner ungraziösen Flucht aus dem Café auch noch an einem beladenen Kinderwagen hängen.

Draußen erwartete mich Birminghams berühmter Weihnachtsmarkt, gerammelt voll mit Leuten, die ihre Weihnachtseinkäufe auf den letzten Drücker erledigen wollten und sich um die hölzernen Bierbuden drängten. Die bunten Lichterketten an den Buden leuchteten fröhlich gegen das Grau des Dezembernachmittags an, und aus den Lautsprechern entlang der New Street plärrte unablässig Weihnachtsmusik.

»Rom! Wo gehst du hin? Es tut mir alles wahnsinnig leid. Bitte, komm zurück! Rom!«

Charlies Rufe in meinem Rücken gingen in dem Lärm der Menge und den Weihnachtshits vergangener Zeiten unter. Ich legte einen Zahn zu, kämpfte mich blindlings durch den Strom der mir entgegenkommenden Menschen, deren zahllose Gesichter drohend vor mir auftauchten, ohne Lächeln und ohne Mitgefühl. Ich hatte mich schon genügend gedemütigt. Auf eine zweite Runde im Ring mit Charlie konnte ich wahrlich verzichten.

Als ich an den Ladenfronten vorbeikam, verwandelten sich die Werbeplakate in verächtliche Beschimpfungen, und sie schrien mir aus jeder beleuchteten Auslage ihre Missbilligung entgegen:

Total durchgeknallt!

Hirnlose Idiotin!

Wie konntest du nur so bescheuert sein?

Während ich von der Menge zu den Marmorsäulen der Town Hall geschoben wurde, sang Paul McCartney »Wonderful Christmastime«, und es hörte sich an, als stünde ein ironisches Fragezeichen am Ende. Außerstande, mich aus der Menge zu befreien, ließ ich mich treiben. Ich fühlte nichts. Meine Sinne waren betäubt von den gesichtslosen Körpern, die mich umschlossen, und auf mein Herz trommelte unablässig der Widerhall von Charlies Worten ein, so dass mir irgendwann alles egal wurde. Nachdem ich ohne Sinn und Verstand diesen Super-Gau heraufbeschworen hatte, ergab ich mich willenlos dem Strom der Menge.

Was, um alles in der Welt, hatte mich dazu bewogen, meinem allerbesten Freund eine Liebeserklärung zu machen? Ich hatte es ja nicht einmal geplant – und jetzt konnte ich kaum glauben, dass ich einfach aus einer Laune heraus mein größtes Geheimnis preisgegeben hatte. In der einen Minute hatten wir noch über den Gig der vergangenen Woche gelacht, und sein Lächeln war so warm und seine Augen so strahlend gewesen wie immer, wenn er über Musik redete. Und in der nächsten Minute hatte ich ihm meine Gefühle gestanden, die ich schon seit drei Jahren mit mir herumschleppte. Wie bin ich auf den hirnrissigen Gedanken gekommen, dies wäre eine gute Idee?

Vielleicht hatte mich das Nahen der »Most Wonderful Time of the Year« (schönen Dank auch, Andy Williams) oder die festliche Stimmung, die heute in der Stadt herrschte, dazu veranlasst, Charlie meine Gefühle zu offenbaren. Oder vielleicht hatte ich im Kino zu viele gefühlsduselige Weihnachtsszenen gesehen, die mir das Hirn vernebelt und mich auf diese großartige Idee gebracht hatten (Richard Curtis, Nora Ephron – schuldig im Sinne der Anklage).

Der Strom der Menge spuckte mich unvermittelt an der großen Steintreppe am Victoria Square aus. Ich zwängte mich durch eine Lücke der im Schneckentempo dahintrottenden voll bepackten Passanten und tauchte atemlos auf einer nach Kiefern duftenden kleinen Insel wieder auf, direkt neben der Umzäunung des großen schwedischen Christbaums. Tränen brannten in meinen Augen, und ich schluckte mehrere Male wütend, um nicht loszuheulen.

Was ist los mit mir? Wie konnte ich mich nur so entsetzlich irren?

Die Zeichen waren eindeutig gewesen, zumindest hatte ich das geglaubt: Umarmungen, die einen Moment zu lange dauerten, verstohlene Blickwechsel und lächelndes Einvernehmen, wenn wir abends mit unseren Freunden zusammen waren, intensive Gespräche auf gleicher Wellenlänge, die früh am Abend begannen und erst endeten, wenn die Vöglein den neuen Tag ankündigten. Und dann gab es diese seltsamen Schweigemomente, in denen mich immer das Gefühl überkam, er hätte noch etwas auf dem Herzen, und in denen unbeantwortete Fragezeichen zwischen uns tanzten und funkelten und der Raum den Atem anhielt. Offenbar war das alles nur Einbildung. In letzter Zeit waren diese Momente öfter aufgetreten, hatten nahezu jedes unserer Treffen mit prickelnder Spannung aufgeladen. Wenn sie nicht das bedeuteten, was ich gedacht hatte, was zum Teufel bedeuteten sie dann?

In meiner Tasche klingelte das Handy, aber ich brachte es nicht über mich, das Gespräch anzunehmen, und so setzte Stevie Wonder ungehindert seine blecherne Version von »Sir Duke« fort. Aus den Tiefen meiner Manteltasche fischte ich einen zerknitterten Zettel heraus – meine To-do-Liste für heute Nachmittag – und las die darauf notierten Namen. Es war der letzte Samstag vor Weihnachten und meine letzte Chance, für alle Geschenke zu kaufen. Weihnachten ließ sich nicht verschieben – nicht einmal für zutiefst geknickte Besitzer eines frisch gebrochenen Herzens.

Mum & Dad

Wren

Jack & Soph

Onkel Dudley und Tante Mags

Tom & Anya

Charlie

Charlie. Der Kloß in meiner Kehle wurde noch größer, als mein Blick auf seinen Namen fiel. Dich kann ich ja wohl von der Liste streichen, wütete ich lautlos. Für dieses Jahr dürfte dein Bedarf an Überraschungsgeschenken von der lieben Rom gedeckt sein. Ich stopfte die Liste in die Manteltasche zurück und machte mich bereit, erneut in das Getümmel einzutauchen.

»Rom!«

Entsetzt riss ich den Kopf hoch und sah, wie sich Charlie weiter unten an der Straße einen Weg durch das Gewühl bahnte. Nein, nein, nein! Einer neuerlichen Konfrontation war ich nicht gewachsen. Die abgrundtiefe Scham, die bleischwer auf mir lastete, war schon mehr, als ich ertragen konnte. Rasch schob ich mich in die Menge und lief weiter.

»Lass den Unsinn, Rom! Bleib stehen!«, rief Charlie hinter mir, diesmal etwas näher.

Ich blickte über die Schulter und schrie zurück: »Verzieh dich, Charlie!«

Ich sah, wie er stehen blieb, die Hände in einer hilflosen Geste himmelwärts warf und den Rückzug antrat. Wütend auf mich selbst, weil ich diese grauenvolle Situation verursacht hatte, wollte ich so viel Distanz wie möglich zwischen mich und den Schauplatz meiner schlimmsten Entscheidung bringen. Mit Tränen in den Augen hetzte ich durch den Schwarm von Menschen. Ein Teil von mir sehnte sich danach, dass Charlie mir folgte, mich einfing und mir sagte, dass er überreagiert und ich ihn missverstanden hätte. Doch ich wusste, dies würde nicht geschehen, und ich hasste mich dafür, mir das Unmögliche zu wünschen. Zornig wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Doch leider sah ich den knallbunten, mit Plüschtieren gefüllten Holzstand den Bruchteil einer Sekunde zu spät vor mir aufragen, so dass ich kopfüber mitten hineindonnerte.

Aus der Menge stieg ein kollektives Keuchen auf, als ich stolperte, hilflos mit den Armen ruderte und in demütigender Zeitlupe der Länge nach gegen die Bude knallte. Bären, Hasen und Rentiere flogen durch die Luft wie übergroße Plüschschneeflocken, und während ich fiel, kam es mir vor, als würden sämtliche Geräusche in den Hintergrund treten. Der Lärm der Menschenmenge und die Weihnachtsmusik ebbten ab, und ich nahm nur noch das Gefühl wahr, wie ich durch die Luft flog. Dieses Gefühl währte jedoch nicht lange, da ich gleich darauf mit einem unvermeidlichen, widerwärtigen Rumms! auf das gefrorene Pflaster fiel und in einem Meer aus Kuscheltieren landete.

Ich schnappte nach Luft, meine Ohren summten von dem harten Aufprall, und als hätte jemand einen Schalter angeknipst, erwachten der Lärm und die Musik des Weihnachtsmarkts wieder zum Leben – zusammen mit einem extremen Schmerz in meinem Rücken.

Dann tauchte ein sehr wütender Standbesitzer auf. Sein rundes dunkelrotes Gesicht schwebte direkt über mir, doch statt mir aufzuhelfen, setzte der Mann mit einem starken deutschen Akzent zu einer Schimpftirade an.

»Dumme Gans! Was für ein Saustall! Alles kaputt, total kaputt!«

Zutiefst verlegen rappelte ich mich hoch und zuckte zusammen, als sich meine schmerzenden Gliedmaßen ächzend und krachend wieder in eine aufrechte Position verlagerten.

»Entschuldigung. Ich bitte vielmals um Entschuldigung!«, murmelte ich, während ich hektisch eine Ladung Plüschtiere aufsammelte und mir wünschte, ich könnte mich unsichtbar machen.

Nach typisch britischer Manier bot mir die versammelte Zuschauerschar keine Hilfe an. Der Anblick der Frau, die die Plüschtierbude auseinandergenommen hatte und jetzt verzweifelt versuchte, die armen Tiere wieder einzusammeln, war einfach zu lustig, um sich einzumischen. Der grimmige Budenbesitzer kam mir auch nicht zu Hilfe. Die fleischigen Arme über dem Bauch verschränkt, stand er neben seiner geplünderten Bude und beobachtete mein hilfloses Treiben. Als wäre ich nicht schon genügend gedemütigt, zückten einige der Gaffer ihre Handys und filmten die Szene in aller Seelenruhe. Toll. Das fehlte mir gerade noch, dass ich nach diesem grauenvollen Tag der Star der neuesten YouTube-Lachnummer würde. Ich fror, mir tat alles weh, ich war zutiefst beschämt und wollte nur noch so schnell wie möglich nach Hause. Weihnachten war für mich jetzt sowieso im Eimer: Charlie würde mich nicht sehen wollen, und wenn der Rest der Band erfuhr, was passiert war, wäre das peinliche Desaster perfekt. Nur Wren würde mich verstehen – und zweifellos eine klare Meinung dazu haben.

Ich kämpfte gegen meine Tränen an, während ich weiter Bären vom Boden aufsammelte …

… und da sah ich ihn.

Als sich meine Finger um einen Pinguin schlossen, griff eine Hand, die in einem Handschuh steckte, nach der danebenliegenden Eisbärhandpuppe. Ich blickte auf und sah dicht vor mir das Gesicht des hinreißendsten Mannes, der mir je begegnet war. In seinen nussbraunen Augen und den glänzenden rostbraunen Locken spiegelte sich das Licht der bunten Lichterketten, die das Dach des Plüschtierstands umrahmten. Er hatte einen leichten Dreitagebart, und seine Wangenknochen waren sehr markant.

»Hi«, sagte er, und sein warmes Lächeln und der freundliche Blick betäubten auf der Stelle meine Schmerzen. »Brauchst du Hilfe?«

Ich lächelte zurück: »Ja, bitte.«

Langsam bewegten wir uns umeinander herum und sammelten die verstreuten Plüschtiere auf. Währenddessen spürte ich, wie er mich beobachtete, und wann immer sich unsere Blicke trafen, spielte ein scheues Lächeln um seine Lippen. Ich kann es nicht erklären, aber nach diesem schrecklichen Nachmittag fühlte sich das plötzliche Auftauchen dieses freundlichen Fremdlings an wie ein Geschenk des Himmels – als wäre alles, was vorher geschehen war, nur passiert, damit ich ihm in genau diesem Moment hier begegnen würde.

Nachdem wir alle Plüschtiere aufgehoben hatten, entschuldigte ich mich noch einmal bei dem Budenbesitzer.

»Davon wird’s auch nicht besser!«, brummte er, verschwand in seinem Verschlag und knallte die Tür hinter sich zu.

Da das Schauspiel nun vorbei war, zerstreuten sich die Zuschauer wieder, und der Fremde und ich blieben allein neben dem Stand zurück.

»Danke«, sagte ich.

»Keine Ursache«, erwiderte er und schob die Hände in die Manteltaschen. Als er lächelte, bemerkte ich die winzigen Fältchen in seinen Augenwinkeln.

Eine Weile standen wir schweigend da, unsere Atemwölkchen verschmolzen in der kalten Luft mit der Weihnachtsbeleuchtung. Es war offensichtlich, dass wir beide nicht wussten, was wir sagen sollten, und dieses peinliche Schweigen erinnerte mich wieder an meine vorher erlittene Demütigung.

Er ist wahrscheinlich einfach nur höflich, dachte ich niedergeschlagen, und jetzt sucht er nach einer Ausrede, um sich möglichst schnell zu verdrücken.

»Also, ich werde dann mal …« Ich nickte in Richtung der Town Hall, als wäre das irgendein universeller Hinweis auf die Weihnachtseinkäufe, die ich noch erledigen musste. Zum Glück schien er zu verstehen, denn er nickte und senkte den Blick auf seine Füße.

»Klar.«

»Nochmal danke.«

Er sah mich mit seinen wunderbaren Augen an: »Kein Problem. Frohe Weihnachten!«

Ich eilte davon, und mir war zum Heulen zumute. Als hätte es nicht genügt, meine Freundschaft mit Charlie zu ruinieren und mich vor aller Welt total lächerlich zu machen, hatte ich mich jetzt auch noch vor diesem wahnsinnig gut aussehenden Typen blamiert. Gut gemacht, Romily!

Meine Schulter beschwerte sich heftig, als ich erneut aus der Manteltasche die Liste herauszog. In Zeiten wie diesen war es ratsam, pragmatisch zu denken. Zielstrebig ging ich auf die weißen Lichter des Marktbereichs zu, in dem Kunsthandwerk verkauft wurde. Meine Tante liebte handbemaltes Glas, und ich erinnerte mich vage, dass ich vorher einen Stand mit Glas-Weihnachtsschmuck gesehen hatte. Also schob ich meine widersprüchlichen Gedanken beiseite und kämpfte mich beherzt durch das Getümmel, bis ich den Stand gefunden hatte.

Zwei gegen die Kälte dick vermummte Damen mittleren Alters plauderten angeregt hinter der Auslage und ließen sich auch durch meine Anwesenheit nicht aus der Ruhe bringen. Die Stimme von Nat King Cole ertönte aus den Lautsprechern eines kleinen CD-Players, der auf der Ladentheke stand.

»Der alte Nat hat’s drauf, was?«, sagte die größere der beiden Frauen.

»Wem sagst du das? Unsere Eth will an Weihnachten nichts anderes hören.«

»Nicht mal Bing oder Frank?«

»Keine Chance. Entweder Nat oder gar nichts. Nat und seine Nüsse, die auf einem offenen Feuer geröstet werden.«

»Hört sich ziemlich schmerzhaft an«, bemerkte die größere Frau kichernd, worauf die andere losprustete.

Während die beiden Frauen ihr Schwätzchen fortsetzten, entspannte ich mich ein wenig und betrachtete die Glaskugeln, die mit feinem Silberdraht an silbernen Zweigen befestigt waren, die wiederum in Blumentöpfen steckten. Eine leichter Wind war aufgekommen und ließ die Glaskugeln erzittern und langsam kreisen, so dass sie das Licht der weißen Lichterkette, die um den Stand drapiert war, und das bunte Funkeln der hoch über dem Markt schwingenden Weihnachtsbeleuchtung einfingen. Ein Objekt fiel mir sofort ins Auge: eine große tränenförmige Christbaumkugel mit winzigen silbernen Sternen. Sie war mit feinen Pinselstrichen bemalt, die auf der Glasoberfläche glitzerten. Die Kugel war wunderschön, ein echtes Stück Handwerkskunst und genau das richtige Geschenk für meine Tante. Ich streckte die Hand danach aus und fühlte die eisige Kühle des Glases an meinen Fingern.

»Hübsch, nicht wahr?«, ertönte eine tiefe Stimme hinter meinem rechten Ohr.

Ich zuckte zusammen und schaffte es gerade noch, die Glaskugel vor dem Herunterfallen zu bewahren. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie sicher an ihrem Zweig baumelte, drehte ich mich um. Zuerst fiel mein Blick auf einen grün-braun-beige gestreiften Schal und wanderte dann nach oben zu dem schüchternen Lächeln des Fremden, der mir vorhin geholfen hatte. Infolge einer jähen Atemnot nickte ich nur stumm.

»Entschuldige, dass ich … äh … Ich wollte noch einmal nachfragen, ob du auch wirklich okay bist.«

»Alles in Ordnung. Nochmal vielen Dank für deine Hilfe.«

»Gern geschehen. Ich fand es unglaublich, dass die Leute einfach nur dagestanden und gegafft haben.«

Ich lächelte, obwohl ich spürte, wie ich knallrot anlief. »Wahrscheinlich dachten sie, ich wäre Teil des Unterhaltungsprogramms.«

»Unterhaltsam war es ja«, bemerkte er lachend, wurde aber angesichts meiner Miene sofort wieder ernst. »Und? Alles okay? Ich meine, du hast dich doch nicht verletzt, oder so?«

Seine Sorge war rührend. Aber das Letzte, was ich nach diesem katastrophalen Nachmittag brauchte, war das Mitleid eines sagenhaft gut aussehenden Typen. »Alles im grünen Bereich. Nichts gebrochen.«

»Gut.« Er sah mich an, und diesmal war in seinem Blick etwas anderes als Sorge. »Weißt du, das wird sich jetzt verrückt anhören, aber egal … Ich konnte dich nicht gehen lassen, ohne dir zu sagen, dass du schön bist. Deshalb bin ich dir nachgegangen. Bitte glaub jetzt nicht, dass ich ein Psycho bin oder so etwas ständig tue. Aber du bist schön, und ich finde, das solltest du wissen.«

Verdattert öffnete ich den Mund zu einer Antwort, doch in diesem Moment hörte ich jemanden rufen, und der Fremde drehte sich um.

»He, Mann, wir müssen los … Komm schon!«

Dann geschah alles so schnell, dass ich bis heute nur frustrierend wenige Details davon in Erinnerung habe. Aber ich werde das Wenige erzählen, was ich noch weiß.

Als er sich mir wieder zuwandte, lag in seinen Augen ein Ausdruck, der mir im wahrsten Sinn des Wortes den Atem raubte. Es war ein Blick, wie man ihn aus Filmen kennt, wenn der Bräutigam sich umdreht und zum ersten Mal seine Braut sieht, die auf ihn zuschreitet: eine berauschende, packende Mischung aus Schock, Überraschung und einer allumfassenden, überwältigenden Liebe. Es war der Blick, mit dem mich Charlie hätte ansehen müssen, als ich ihm meine Liebe offenbarte. Doch dies war nicht Charlie –, und das war ein Teil des Problems. Denn abgesehen davon, dass er nicht der Mann war, dem ich vor einer halben Stunde in aller Öffentlichkeit meine unsterbliche Liebe gestanden hatte, war dieser Mann nahezu perfekt: von seinen großen, wunderschönen Augen und dem schüchternen Lächeln bis hin zu dem holzigen Duft seines Rasierwassers, das mich umwehte.

Aber vor allem dessentwegen, was dann passierte …

Er trat einen Schritt zurück, und an seinem Blick war abzulesen, dass er innerlich mit sich kämpfte. Da rief die Stimme erneut, diesmal noch drängender: »Wir müssen gehen! Jetzt komm endlich!«

»Gleich«, rief er, und genau in diesem Moment stieß ein gehetzter Passant gegen seine Schulter und brachte ihn aus dem Gleichgewicht, so dass er direkt in meine Arme taumelte.

Völlig überrumpelt hielt ich ihn fest, und seine kräftigen Arme umfingen mich und strichen über meinen Rücken. Schlagartig war jeder Gedanke an Charlie wie weggeblasen. Mit klopfendem Herzen blickte ich zu ihm auf.

»Ich muss leider gehen«, flüsterte er, seine Lippen nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. »Aber du bist wirklich schön.«

Und dann küsste er mich.

Obwohl sich unsere Lippen nur für einen winzigen Moment berührten, war dieser Kuss unvergleichlich. Es war die Art von Kuss, den man nur in Hollywoodfilmen erwartet, wenn sich die beiden Hauptpersonen endlich gefunden haben und der Abspann zu den wunderbaren Klängen von Nat King Cole über die Leinwand läuft. In der Tat war selbst der Soundtrack perfekt, weil in diesem Moment Mr Cole höchstselbst dumpf durch die Lautsprecher des Glasstand-CD-Players sein »Have Yourself a Merry Little Christmas« zu schmachten begann. Als ich die Augen schloss und mich dem unerwarteten Geschenk dieses Kusses hingab, dachte ich weder an Weihnachten noch an meine Weihnachtseinkäufe.

Es war fast perfekt. Fast. Denn so schnell, wie der Fremde aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden: verschluckt von der dichten, undurchdringlichen Menschenmenge. Ich blieb eine Weile, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, wie erstarrt stehen, benommen, aber euphorisch, und mit wild pochendem Herzen.

Und dann drängte aus den Tiefen meines Bewusstseins ein Gedanke an die Oberfläche, kämpfte sich durch den wirbelnden Strudel von Gefühlen.

Geh ihm nach!

»Warte! Komm zurück!«

Ich blickte in die Richtung, in die er verschwunden war, doch er war wie vom Erdboden verschluckt. Dennoch schob ich mich durch das Getümmel, stellte mich auf die Zehenspitzen, um über dem Meer aus Köpfen nach seinem Haar oder seinem Schal Ausschau zu halten. Ich rannte und rempelte rücksichtslos andere Passanten an, doch ich war eine Frau mit einer Mission und ignorierte sämtlich empörten Blicke.

Als ich am Ende der Budenreihe angelangt war, erhaschte ich ein Stück weiter vorne plötzlich einen Blick auf einen rostbraunen Haarschopf. Vor Anstrengung keuchend drängte ich mich weiter vor und holte auf. Sobald ich mich in Reichweite befand, streckte ich die Hand aus und tippte dem Mann auf die Schulter.

»Hey, du kannst mich nicht küssen und danach einfach verschwinden, ohne mir deinen Namen zu sagen«, rief ich. Er drehte sich zu mir um … und mein Herz setzte einen Schlag lang aus.

»Hey, das nenn ich mal eine gute Anmache, Süße«, sagte der ältere Mann grinsend. Seine gelblichen Zähne und die pockennarbige Haut luden wahrlich nicht zum Küssen ein. »Von einem Kuss weiß ich nichts, aber ich stelle mich gern zur Verfügung.«

Ich wich zurück und senkte den Blick. »Entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie wären jemand anderes.«

»Das ist das Drama meines Lebens, Schätzchen.« Sein Lachen verfolgte mich noch, als ich in die Sicherheit des Weihnachtsmarkts zurückhastete. Zutiefst frustriert blieb ich dann stehen und blickte in den düsteren Wolkenhimmel hinauf, der Schnee versprach.

Wie war es möglich, dass etwas so Unglaubliches passierte und dann plötzlich wieder vorbei war, als wäre es nie geschehen? Und wie konnte ich nur so dumm sein und ihn nicht nach seinem Namen fragen? Dann wüsste ich wenigstens irgendetwas Reales über ihn. Mein Schal roch noch schwach nach seinem Rasierwasser, und meine Lippen kribbelten von unserem kurzen Kuss, doch mehr war von diesem bedeutsamen Ereignis, das mein ganzes Leben hätte verändern können, nicht zurückgeblieben.

Ich wusste über ihn nur das, woran ich mich erinnerte. Wie man es auch drehte und wendete, er war einfach ein Fremder von vielen in einer anonymen Großstadt, ein Leben, das parallel zu meinem existierte. Es bestand kaum eine Chance auf ein Wiedersehen. Doch als er mir in die Augen gesehen und mich geküsst hatte, war es mir vorgekommen, als würde ich ihn schon immer kennen. Über die bloße Anziehung hinaus gab es eine Verbindung, die tiefer in mir nachhallte, als ich es je zuvor bei einem Menschen erlebt hatte. Trotz der vielen Bekanntschaften und Freundschaften, die ich im Lauf meines Lebens geschlossen hatte, genügte diese eine Begegnung, um mein Leben unwiderruflich zu ändern.

Und deshalb musste ich ihn finden.