Nelke.psd8

Love is all around …

Seit dem Kuss sind vier Wochen vergangen, und ich bin entschlossener denn je, den Fremden zu finden.

Die Tatsache, dass inzwischen alle meine Freunde Bescheid wissen, empfinde ich als positiv. Jetzt kann ich offen darüber reden und stolz darauf sein. Anfangs hatte ich gewisse Hemmungen – wie würde ich wohl reagieren, wenn einer meiner Freunde erklärte, er wolle sein nächstes Lebensjahr der Suche nach einem Fremden widmen, den er nur ein Mal kurz gesehen hat? Doch ich glaube, meine Freunde stehen voll hinter mir. Nun ja, die meisten zumindest.

Der Zeitpunkt ist gut. Morgen ist der erste Tag meines neunundzwanzigsten Lebensjahres – das Jahr, das hoffentlich den Beginn eines neuen, aufregenden Lebensabschnitts einleiten wird. Es ist ein komisches Gefühl, den letzten Geburtstag in den Zwanzigern zu feiern, aber ich werde etwas aus diesem Jahr machen. Ob ich PK nun finde oder nicht, ist unwesentlich. Wichtig ist nur, dass ich meinem Herzen folge. Das ist für mich zu einem Leitspruch geworden. Und wenn alles total schiefgehen sollte, dann habe ich euch, meine vier getreuen Leser, wenigstens unterhalten – jawohl, ihr seid gemeint: Tom, Wren, Jack und ein anderer, der wahrscheinlich mit Tom befreundet ist. Ich freue mich, dass ihr euch mit mir auf dieses Abenteuer einlasst. Postet doch bitte in den Kommentaren einen Gruß – es wäre schön, von euch zu hören.

Rom x

»Lasst uns anstoßen!« Feierlich stand Jack auf und hob sein Glas, was ihm amüsierte Blicke von den anderen Gästen des kleinen französischen Bistros einbrachte. »Auf unsere wunderbare Romily Parker. Mögen all ihre Wünsche in Erfüllung gehen und möge sie nicht verhaftet werden, weil sie den armen Kerl stalkt, der sie an Weihnachten geküsst hat.«

Lachend erhoben sich meine Freunde und prosteten mir zu: »Auf unsere Romily!«

»Eine Rede!«, rief Tom, und Wren stieß einen Pfiff aus.

Da jede Weigerung sinnlos gewesen wäre, stand ich auf. »Danke, ihr Spinner. Ein Jahr vor dem Dreißigsten finde ich es an der Zeit, euch dafür zu danken, dass ihr so viele Jahre hindurch so wunderbare Freunde gewesen seid. Ich weiß, meine Suche mag einigen unter euch verrückt erscheinen …«, mir fiel auf, dass Charlie an dieser Stelle meinem Blick geschickt auswich, »… aber umso mehr weiß ich eure Unterstützung zu schätzen. Ähm, tja, das war’s. Wir sollten jetzt lieber essen, bevor alles kalt wird.«

»Hört, hört!«, rief Jack, während ich mich unter dem Applaus meiner Freunde wieder hinsetzte. »Aber vorher wollen wir dir noch ein kleines Präsent geben, das dir bei deiner Suche helfen soll.« Strahlend zog er eine Geschenkschachtel unter dem Tisch hervor und reichte sie mir.

Mit einem kurzen Blick auf die grinsenden Gesichter am Tisch löste ich die Schleife und nahm den Deckel ab. Lachend zog ich eine karierte Sherlock-Holmes-Mütze heraus sowie eine Lupe und ein Plastikfernglas für Kinder.

»Großartig«, sagte ich und setzte die Mütze auf. »Genau das, was ich brauche!«

Mit einem schüchternen Hüsteln bat D’Wayne um meine Aufmerksamkeit. »Da wir schon einmal bei Geschenken sind – ich habe auch etwas für dich.« Er reichte mir ein kleines, flaches Päckchen, das in mit bunten Bonbons bedrucktes Papier gewickelt war. Ich öffnete das Päckchen und zog verwundert einen Notizblock, einen Kugelschreiber und einen Bleistift heraus.

»Ich dachte, das wäre ganz nützlich, um deine Jingles aufzuschreiben. Oder um dir Notizen über den Typ zu machen, den du suchst.«

»Wo hast du das denn mitgehen lassen, D’Wayne?«, fragte Tom neckend. »In einem Tankstellenladen?«

D’Wayne zupfte an seiner Serviette. »Das war der einzige Laden auf dem Weg hierher.«

Meine Freunde brachen in schallendes Gelächter aus und genossen es, sich auf D’Waynes Kosten zu amüsieren. Ich griff über den Tisch nach D’Waynes Hand.

»Das ist ein tolles Geschenk. Und sehr praktisch. Danke, D’Wayne.«

Während wir uns über das Essen und den Wein hermachten, blickte ich immer wieder verstohlen zu Charlie hinüber. Er sah mich nicht an, und obwohl er lächelte und mit Tom und Jack seine Witzchen riss, wusste ich, was in Wahrheit in ihm vorging. Oder ich vermutete es. Es war seltsam zu sehen, wie er mit allen ganz normal umging und nur um mich einen großen Bogen machte. Vor einem Jahr hätte er auch mit mir gescherzt.

Und wenn schon. Ich konnte mich nicht damit befassen, was Charlie über mich dachte oder nicht dachte. Ich musste mich auf die schönen Dinge konzentrieren – wie zum Beispiel darauf, PK zu finden. Instinktiv blickte ich mich in dem vollen Lokal um, nur für den Fall, dass PK an diesem Freitagabend unter den Gästen wäre. Das wäre mal ein richtig tolles Geburtstagsgeschenk, überlegte ich und schloss für einen Moment die Augen, um mir den Kuss wieder zu vergegenwärtigen.

»Du siehst glücklich aus«, flüsterte Jack mir zu und knuffte mich in die Seite.

»Ich bin glücklich.«

»Das ist schön. Und zwischen dir und Charlie …?«

Ich zuckte die Achseln. »Unverändert. Wie auch immer, es ist mir egal, was er über mich denkt.«

Offenbar wollte Jack das nicht weiter kommentieren, denn er wechselte blitzschnell das Thema. »Hör zu, ich muss dir etwas gestehen. Erinnerst du dich an die Stücke, die wir letztes Jahr für diesen Kunden bei Brum FM geschrieben haben? Der Typ, der für eine Werbekampagne Popsongs haben wollte?«

»Vage. Soweit ich weiß, hat der Kunde die Stücke dann doch nicht genommen, sondern stattdessen irgendwelche grauenvollen Discotitel.«

»Als ich letzte Woche im Studio in alten Sachen herumgestöbert habe, bin ich auf die Stücke gestoßen und habe sie ein wenig aufgepeppt. Sie sind gut, Rom. Sie müssten nur neu arrangiert werden. Also habe ich das getan und die Stücke losgeschickt.«

Mein Herz machte einen Hüpfer. »Wohin geschickt?«

»Einer meiner Kunden arbeitet mit einem Musikanwalt in London zusammen, der Songs an Plattenfirmen vermittelt, die Material für ihre Künstler suchen. Ich weiß nicht, ob es das ist, wonach er sucht, aber einen Versuch ist es wert. Bisher habe ich noch keine Rückmeldung erhalten, aber ich wollte es dir trotzdem erzählen.«

Wow! Das musste ich erst einmal verdauen. Doch als Jack dann detailliert beschrieb, auf welche Weise er die Arrangements umgebaut hatte, ergab plötzlich alles einen Sinn. Ich hatte mir geschworen, dieses Jahr zu nutzen, und was bot sich da besser an, als die Songs, die ich mit Jack komponiert hatte, unter die Leute zu bringen? Ob das nun irgendwohin führen würde oder nicht, der Schritt allein hatte eine größere Bedeutung, als Jack ahnte: Es war ein Zeichen, dass ich auf dem richtige Weg war. Vielleicht würde dieses Jahr mein bisher bestes Jahr werden …

Am darauffolgenden Samstagmorgen bepackten wir den Van und fuhren auf der M5 in Richtung Westen. Einige von uns hatten Bedenken geäußert, Ende Januar zu einer Hochzeit ins ländliche Somerset zu fahren, zumal in der Wettervorhersage vor weiteren Schneefällen gewarnt worden war. Doch zum Glück war der Morgen klar und kalt, mit einem winterblauen Himmel, und auf der gesamten Fahrt begleitete uns heller Sonnenschein.

D’Wayne hatte uns alle überrascht, als er in der Früh bei Jack und Soph aufkreuzte und half, den Van zu beladen, statt uns wie sonst am Veranstaltungsort zu erwarten. Fairerweise musste man zugeben, dass er seine Verantwortung als unser Manager nun wirklich ernster nahm. Nachdem er jahrelang Events an einem einzigen Veranstaltungsort organisiert hatte, musste sich das für ihn wie eine Art Feuertaufe angefühlt haben.

»Ich habe mir überlegt, dass ich mich mehr einbringen sollte«, erklärte er angesichts unserer verdutzten Mienen.

Als wir in den Van stiegen, zwinkerte Jack mir zu. »Auf deiner Geburtstagsfeier habe ich zufällig mitbekommen, wie Wren zu D’Wayne sagte, er helfe nie beim Tragen der schweren Sachen. Aber das hat gaaanz bestimmt nichts mit seinem heutigen Erscheinen zu tun.«

Das Landgut Elstone war als Location für eine Hochzeit überraschend anders. Es war ein eindrucksvolles Anwesen inmitten eines etwa fünfzig Hektar großen Geländes, umgeben von wogenden Feldern und Wiesen. Der Ort für die Feier war eine Zehntscheune aus dem sechzehnten Jahrhundert mit honigfarbenem Mauerwerk, hohen Eichentoren und dickem Gebälk. Drinnen war es zu unser aller Freude mollig warm, da man unter den großen alten Steinplatten eine Bodenheizung installiert hatte.

»Das Ambiente des sechzehnten Jahrhunderts mit dem Komfort des einundzwanzigsten Jahrhunderts«, bemerkte Liesl, die attraktive Hochzeitsplanerassistentin, als sie mit uns einen Rundgang durch die Scheune machte.

Die großen runden, von goldenen Stühlen umgebenen Tische mit den gestärkten weißen Leinendecken waren bereits für den Empfang gedeckt, und ein Floristenteam gab den Blumengebinden aus weißen Rosen und Lilien, tiefblauen Schmucklilien und blassrosa Hortensien, die in hohen Glasvasen auf jedem Tisch standen und einen betörenden Duft verströmten, noch den letzten Schliff.

»Im Sommer können die Gäste auch den Garten nutzen«, fuhr Liesl fort. »Aber das wäre heute bei den eisigen Temperaturen nicht ratsam. Am besten postiert ihr euch am hinteren Ende der Bar. Abends werden wir dann die Tische wegstellen, damit der ganze mittlere Bereich zur Tanzfläche wird. Akustisch ist es leider nicht der Hit, weil es ziemlich hallt.«

»Kein Problem. Wir arbeiten mit In-Ear-Monitoring und können die Akustik steuern«, erklärte Charlie. »Ich werde darauf achten, dass mein Schlagzeug nicht zu laut ist.«

»Das wäre ja ganz was Neues«, meinte Tom grinsend. Er war heute deutlich besser gelaunt als beim letzten Auftritt. Die Trennung von Anya schien er überwunden zu haben, denn er sprühte wieder vor Charme und Witz, so wie wir ihn kannten.

Liesl lächelte höflich, doch ich sah die zarte Röte, die in ihre Wangen stieg. Tom bemerkte es ebenfalls und streckte die Hand aus. »Ich bin übrigens Tom. Ich spiele Gitarre.«

»Das versuche ich gerade zu lernen«, gestand Liesl.

»Wirklich? Hey, vielleicht könnte ich dir da behilflich sein«, meinte er äußerst zuvorkommend. »Erzähl mir mehr davon …«

Jack und Wren verdrehten die Augen, als wir beobachteten, wie Tom die hübsche Blondine zur Bar zog. »Seit der Trennung von Anya ist es schrecklich mit ihm«, sagte Jack. »Gestern hat er mir bei einem Job geholfen und die ganze Mittagspause über mit einem der Büromädchen geflirtet. Sieht aus, als fände er allmählich Gefallen an seiner neu gewonnenen Freiheit.«

»Nehmt euch in Acht, Mädels!«, sagte ich lächelnd. »Dieses Anwesen ist der Hammer, oder?«

»Es ist hinreißend«, keuchte Wren, als wir eine Viertelstunde später die Ausrüstung aus dem Van schleppten. »Sollte ich jemals – du weißt schon –, dann wäre dieser Ort perfekt.«

»Hach, hätte ich nur einen Mann, dann könnte all dies mir gehören!« Jack schlug sich die Hand aufs Herz und verdrehte theatralisch die Augen.

Wren kniff ihn, bis er aufjaulte. »Das wird dich lehren, über andere zu spotten, Jack Williams. Hör nicht auf ihn, Rom. Es steht uns zu, von so einem herrschaftlichen Rahmen für uns selbst zu träumen.«

»Absolut.« Ich hakte mich bei Wren unter und streckte Jack die Zunge heraus.

Wren und ich liebten es, das ganze Drumherum von Hochzeitsfeiern zu bewerten und später in allen Details durchzuhecheln. Keine von uns verzehrte sich danach, vor den Altar zu treten – wir waren weit davon entfernt –, doch wie alle Frauen waren wir anfällig für die Romantik einer Hochzeit und ließen uns nur allzu gern davon mitreißen. Selbstverständlich zog uns der männliche Teil der Band gnadenlos damit auf, obwohl der eine oder andere von ihnen auch mal einen rührseligen Moment hatte – im Geheimen, versteht sich. Am Ende eines solchen Auftritts waren wir oft alle etwas gefühlsduselig, so sehr wir das auch zu verbergen versuchten.

Die einzige Ausnahme bildete da unser geschätzter Manager.

»Was das Ganze wohl kostet?«, höhnte er, als wir uns um ihn herum versammelten. »Bestimmt mehr als zwanzig Riesen. Und wofür? Um das Klischee einer Bilderbuchhochzeit zu inszenieren, obwohl die Ehe wahrscheinlich keine zwei Jahre halten wird.«

Wren verzog angewidert das Gesicht. Selbst für D’Wayne war das ein knallharter Spruch. »So ein Quatsch! Woher willst du das wissen?«

D’Wayne nickte weise: »Ich weiß es eben.«

»Das sagt er nur, weil es keine Frau lang genug mit ihm aushält, um an Heirat zu denken«, sagte ich, während ich einen Mikrofonständer richtig einstellte.

»Hey, ich habe ständig Freundinnen«, protestierte D’Wayne. »Und wenn es langweilig wird, trenne ich mich eben.«

Ich blinzelte Wren zu. »Was für ein Kerl! Kein Wunder, dass die Frauen Schlange stehen, um sich verwöhnen zu lassen!«

D’Wayne funkelte mich an. »Genau deshalb bin ich früher nicht zu den Gigs gekommen. Wenn mich jemand braucht, ich bin im Wagen.« Wütend schnappte er sich Schlüssel und Handy von der Lautsprecherbox und stürmte hinaus.

»Gut gemacht, Mädels! Jetzt schmollt unsere Diva.« Jack rieb sich die Hände. »So, ich schlage vor, wir machen uns auf die Suche nach dem Catering und betteln sie um Essen an. Wren, du bist die Schauspielerin – ich möchte eine arme, verhungerte Musikerin sehen mit großen unschuldigen Augen.«

Wren feixte. »Kein Problem. Was ist meine Motivation, Mr Scorsese?«

»Fressalien. Und nicht zu knapp!«

Eine Stunde vor Auftrittsbeginn versammelten wir uns hinter der Zehntscheune neben dem Catering-Wagen, wo man uns zuvor ein paar leckere Reste kredenzt hatte.

»Also, für den ersten Tanz spielen wir ›What a Difference a Day Made‹ mit Rom als Leadsängerin. Ist das okay für dich, Wren?«

Wren grinste: »Klar. Ich kann mir den Text sowieso nie merken.«

»Gut. Wir untermalen das dann im Hintergrund mit ein paar gedämpften Harmonien.«

»Die üblichen Oohs und Aahs, Leute«, witzelte Tom. Es war ein Insidergag unter uns, dass Jack als Hintergrundgesang nur leise Töne beisteuern durfte, weil er oft die Texte vermasselte und uns damit alle total aus dem Takt brachte.

Jack zog eine Grimasse. »Danke! Die Namen des glücklichen Paares sind Andrew und Sarah, also merkt euch das bitte. Dann folgt das erste Standardset, das mit ›Lovely Day‹ und ›Valerie‹ endet. Das Brautpaar glaubt, dass alle in Tanzlaune sind, also sollten wir sehen, dass wir die Leute schnell auf die Tanzfläche locken. Wren, kannst du zusammen mit Rom die Moderation übernehmen?«

»Gern.«

»Chas, du zählst uns für den ersten Tanz ein, ab da werde ich übernehmen.«

Charlie salutierte zustimmend.

Stirnrunzelnd studierte Jack die Setlist. »Okay. Ich werde mit ›Aint Nobody‹ loslegen, aber kannst du mich einnicken, Chas, damit ich das Tempo richtig hinkriege?«

»Meinst du so wie bei dem Gig letzte Woche?«, grinste Charlie, worauf alle zu lachen begannen.

»Mann, das war das erste Mal, dass ich einen Chaka-Khan-Song als Trauermarsch gehört habe«, flachste Tom.

»Hey, ist heute der internationale Wir-ärgern-Jack-Tag?«, protestierte Jack.

Ich klopfte ihm auf den Rücken: »Keine Sorge, Süßer. Es ist ein ganz normaler Samstag.«

»Ach, Undank ist der Welten Lohn …« Unser Keyboarder erhielt keine Gelegenheit zum Trübsalblasen, da wir uns vereint auf ihn stürzten und ihn mit übertriebenem Mitgefühl umarmten.

Manchmal wurden wir auf einer Hochzeitsfeier Zeugen großartiger, bewegender Dinge – und das war diesmal der Fall. Bei solchen Gelegenheiten schien sich der Zipfel eines Vorhangs zu heben, und man erhaschte einen Blick auf eine verzauberte Welt. Andrew und Sarah waren ganz offensichtlich sehr verliebt ineinander, doch was wir hier erlebten, war mehr als nur ein glückliches Paar bei seinem ersten Tanz. Vielmehr war der gesamte Raum von Liebe erfüllt, einer Liebe, die nicht nur von dem Paar ausging, das verträumt zu dem Song von Dinah Washington tanzte, sondern auch von allen Gästen, die schweigend dastanden und zuschauten. Ich würde nie erfahren, was die Gäste über dieses Paar dachten, das diesen Moment so unvergleichlich machte, doch die Atmosphäre in dem hohen gewölbten Raum der jahrhundertealten Zehntscheune war so emotionsgeladen, dass es mir fast die Stimme verschlug.

Für ein Brautpaar den Song für den ersten Tanz zu singen, war eine der nervenaufreibendsten, aufregendsten Erfahrungen für einen Sänger. Es gab keine zweite Chance: Wenn du einen Fehler machtest, konntest du nicht einfach wieder von vorne anfangen. Ganz zu schweigen davon, dass die vielen Kameras, die diesen Moment festhielten, jeden Ausrutscher, der einem passierte, für die Nachwelt aufzeichneten und auf YouTube und Facebook für immer der Lächerlichkeit preisgaben. Aber machtest du deine Sache gut, dann gingst du als Soundtrack zu einem der kostbarsten Augenblicke, die ein Paar erlebte, in deren Geschichte ein. Die Wahl des Songs war nebensächlich – und in der Tat waren manche Wünsche, die an uns herangetragen wurden, ziemlich schräg, wie zum Beispiel die Titelmelodie von Shrek oder »The Chapel of Love« und »Sex on Fire«. Doch am Ende des Tages zählte einzig und allein, was der Song für die beiden Menschen bedeutete, die dazu getanzt hatten.

Als ich am Ende des ersten Refrains anlangte, war ich so von Gefühlen überwältigt, dass ich einen Kloß im Hals hatte und mit aller Kraft um Fassung ringen musste, während Jack die Instrumentalversion des Songs spielte. Auch die anderen Bandmitglieder spürten die Magie des Augenblicks. Alle Blicke ruhten andächtig auf dem attraktiven dunkelhaarigen Bräutigam und seiner schönen rothaarigen, in Seidentaft und Spitze gehüllten Braut, die über die Tanzfläche zu schweben schienen.

Die Art, wie Andrew seine Sarah hielt – als hätte er einen kostbaren Diamanten in den Armen –, rief unweigerlich die Erinnerung an PK in mir wach und wie es sich angefühlt hatte, in seinen starken Armen zu liegen. Und plötzlich war alles wieder da, so klar und deutlich, als stünde er tatsächlich vor mir. Ich roch sein Aftershave, sah, wie sich die bunten Lichterketten in seinem gewellten Haar spiegelten, hörte das Pochen meines Herzens, als das Getöse des Weihnachtsmarkts plötzlich verstummte und die Welt den Atem anhielt. Ich hörte seine Stimme, sah den Ausdruck in seinen Augen: als hätte er endlich das gefunden, wonach er sein Leben lang gesucht hatte. Es war derselbe Ausdruck, mit dem der Bräutigam jetzt seine Braut ansah.

Als ich zum zweiten Mal am Ende des Refrains angekommen war, schloss ich die Augen, und mein schöner Fremdling war da, hielt mich in den Armen, und es gab nichts anderes mehr als das Gefühl seiner Lippen auf meinen …

Wenn ich ihn wiederfinde, gelobte ich mir in diesem Moment in dem von Kerzenschein erleuchteten alten Gebäude, werde ich in seine Arme sinken und für immer bei ihm bleiben.

Nach dem eisigen Dezember und Januar war der unerwartet milde Februar eine willkommene Überraschung. Zwei Wochen lang herrschte nahezu frühlingshaftes Wetter und ließ die strengen Wintermonate vergessen. Die Tage waren heller, die Vögel schienen lauter zu singen, und auf den Straßen lächelten die Menschen einander zu.

Am zweiten Samstag des Monats machten sich Onkel Dudley, Tante Mags und Elvis auf die achtundzwanzig Meilen lange Reise von Kingsbury, wo Our Pol vertäut lag, zu mir nach Stourbridge. Elvis schien die Reise über Land genossen zu haben und wirkte weitaus selbstbewusster als auf dem Boot.

Ich liebte es, wenn mich Leute zu Hause besuchten und die Räume mit Leben erfüllten. Außerdem war ich sehr stolz auf mein kleines Häuschen. Schon als ich das erste Mal von dem kleinen Parkplatz neben dem Kanal durch den Torbogen ging und die Nummer 83b, Harvest Court, betrat, wusste ich, dass ich angekommen war. Die kleine Siedlung, in der ich wohnte, bestand hauptsächlich aus großen, unscheinbaren Neunziger-Jahre-Bauten, doch die Ecke des Innenhofs, an der mein Häuschen stand, hatte ihren ganz eigenen Charme. Von dem tiefgrünen Efeu, der sich um den Eingangsbereich rankte bis hin zu dem kleinen runden Buntglasfenster rechts von der knallroten Haustür war jedes Detail in meinen Augen perfekt. Ich hatte oft über diese Ich-suche-ein-Haus-Sendungen im Fernsehen gelacht, wenn Leute mit feuchten Augen von ihrem neuen Heim schwärmten, doch als ich vor vier Jahren dieses Haus entdeckte, konnte ich das Gefühl plötzlich total verstehen.

»Wir haben wunderbare Neuigkeiten«, sagte Onkel Dudley, der unruhig auf dem äußersten Rand des Sofas saß, als wollte er jeden Moment wieder aufspringen. »Ja, man könnte es als eine Art Durchbruch bezeichnen.«

Sogleich begann in meinem Bauch ein ganzer Schwarm von Schmetterlingen zu flattern. Seit jenem Flashback auf der Hochzeitsfeier in der Zehntscheune hatte ich kaum an etwas anderes gedacht als an meinen hübschen Fremden. »Was ist passiert?«

Onkel Dudley und Tante Mags grinsten wie satte, zufriedene Katzen. »Ich hatte einen Anruf von einem Kumpel«, begann Onkel Dudley, »mit dem ich bei Rover gearbeitet habe. Seine Frau hat von deinem Blog gehört und ihm gesagt, er solle sich mit mir in Verbindung setzen. Ich habe ihn zuletzt vor zehn Jahren gesehen, kannst du dir das vorstellen?«

Tante Mags spitzte die Lippen. »Herrgott, komm endlich zur Sache, Dudley!«

»Entschuldige, Liebste. Ihr wisst ja, wie ich bin, schweife ständig hierhin und dorthin ab. Wie auch immer«, ein Funkeln trat in seine hellblauen Augen, »Barry arbeitet jetzt als Sicherheitsbeamter, und ihr werdet nie erraten, wo …«

»Er betreut die CCTV-Kameras in der Innenstadt!«, fiel ihm Tante Mags ins Wort. »Und es gibt eine neben der Town Hall, also ganz in der Nähe des Ortes, wo du diesem jungen Mann begegnet bist. Ist das nicht unglaublich?«

Jetzt war ich diejenige, die unruhig auf der Sesselkante herumrutschte – soweit das bei einem Sitzsack möglich war. »Interessant!« Mein Herzschlag beschleunigte sich.

»Also hat er ein paar Takte mit seinem Boss geredet, der sich als alter Romantiker entpuppte.« Onkel Dudley holte tief Luft und strahlte wie ein Fünfhundert-Kilowatt-Scheinwerfer. »Und jetzt kommt’s: Sie werden die Kameraaufzeichnungen des betreffenden Tages durchgehen!«

Mir blieb die Spucke weg. »Ernsthaft? Dürfen die das denn?«

Tante Mags kicherte: »Rein rechtlich gesehen, ist das vermutlich etwas zweifelhaft, aber für einen ehemaligen Rover-Kollegen setzt man sich über so manche Bestimmung hinweg. Vertrau einfach deinem Onkel Dudley, Schätzchen!«

»Wow!« Mir schwirrte der Kopf angesichts dieser unglaublichen Neuigkeit. Sicher, die Wahrscheinlichkeit, dass eine CCTV-Kamera am hektischsten Einkaufstag des Jahres ausgerechnet meine Begegnung mit dem Fremden aufgezeichnet hatte, war im Grunde nahezu gleich null. Doch ich stürzte mich auf diese winzige Möglichkeit wie eine Elster auf ein Fitzelchen glitzernder Alufolie. Falls die Kamera unsere Begegnung tatsächlich aufgezeichnet hatte, und sei es auch noch so unscharf, dann hätte ich einen unwiderlegbaren Beweis dafür, dass PK existierte, und könnte endlich ein Bild in den Händen halten, statt mich auf meine spärlichen Erinnerungen zu beschränken.

»Und wann kriegen wir Bescheid?«

»Nächstes Wochenende wollen sie die Aufzeichnungen durchsehen. Aufgrund meiner Schilderung vermutet Baz, dass du deinem Unbekannten direkt unter der Town-Hall-Überwachungskamera begegnet bist. Jetzt kommt es nur darauf an, ob die Kamera zu diesem Zeitpunkt den richtigen Blickwinkel hatte.«

Außer mir vor Aufregung, drückte ich im Geist sämtliche Daumen und Zehen, die ich hatte.

Ich glaube, ich stehe kurz vor einem Durchbruch.

Im Moment ist es noch zu früh, um Genaueres zu sagen, da bin ich ein wenig abergläubisch. Doch es ist die bisher vielversprechendste Spur, die ich da verfolge, und ich bin ganz schön aufgeregt deswegen.

Mein Onkel Dudley und Tante Mags haben mich von Anfang an sehr unterstützt und waren mir eine unglaubliche Hilfe. Onkel Dudley hat für den Blog viele Ideen geliefert, ermutigende Geschichten aufgestöbert und brillant recherchiert, während Tante Mags mit ihren nahezu magischen Fähigkeiten immer genau den richtigen Kuchen zum richtigen Zeitpunkt gebacken hat. Zum Beispiel hat sie diese Woche einen Himbeerbaiserkuchen gezaubert, der perfekt ist in Zeiten großer Erwartungen, wie sie meint. Und sie hatte Recht! Ehrlich, es ist eine Gabe. Wenn ihr mir nicht glaubt, so schreibt mir eine Nachricht und berichtet, wie ihr euch gerade fühlt, und dann werde ich Tante Mags bitten, einen entsprechenden Kuchen zu empfehlen. Glaubt mir, sie wird euch das perfekte Heilmittel verordnen.

Danke übrigens für eure netten Kommentare. Ich bin überrascht, dass inzwischen schon dreißig Leute meinen Blog verfolgen, und ich weiß eure Unterstützung wirklich sehr zu schätzen. Hoffentlich habe ich bald einige spannende Neuigkeiten zu berichten!

Rom x

»Habe ich das richtig verstanden? D’Wayne hat immer noch nicht rausgelassen, wo der Veranstaltungsort ist?« Jacks ungläubige Miene sprach Bände.

Ich schüttelte den Kopf und reichte ihm eine Tasse Kaffee. »Richtig. Wren versichert, er wäre an der Sache dran, und ich hoffe um seinetwillen, dass sie Recht hat.«

Wir verließen die Miniküche über Jacks Studio und kletterten über die wackligen Stufen der Feuerleiter in das warme Aufnahmestudio zurück, wo wir uns in die ramponierten, aber immens bequemen schwarzen Ledersessel neben dem Mischpult fallen ließen.

»Angesichts der ganzen Mühe, die er neuerdings in unser Management steckt, ergibt das einfach keinen Sinn.« Jack tippte auf einen Mischpultschalter, worauf ein Demo-Arrangement aus Schlagzeug, Bass und Keyboard ertönte. »Er muss doch wissen, wo der Gig stattfindet!«

»Sollte man meinen, aber er macht aus dieser ganzen Sache ein Riesengeheimnis. Wie auch immer, erzähl mir lieber etwas über dieses Stück.«

Jack zog eine Grimasse: »Ich habe es für diesen Typ zusammengestellt, der letzte Woche hier war. Er liefert mir seine Ideen auf einem Diktaphon, und ich muss aus dem Ganzen dann irgendwas Vernünftiges zaubern. Es ist, als würde man einzelne Scherben zusammensetzen. Ich bin mir noch nicht sicher, ob es den ganzen Aufwand überhaupt lohnt.«

Ich lachte: »Ach, was kann erfüllender sein, als sich in seinem eigenen Tonstudio künstlerisch zu verwirklichen!« In der Band amüsierten wir uns oft darüber, dass alle Welt glaubte, Jack führte ein glamouröses Popstarleben, obwohl seine Arbeit hauptsächlich darin bestand, sich mit Möchtegernmusikern herumzustreiten, die mehr Geld als Talent besaßen.

Er grinste: »Lebe deinen Traum, Baby, deinen Traum …«

Ich lauschte der Akkordfolge aus den großen Studiolautsprechern, und auf einmal packte es mich.

»Was ist?«

Er kannte mich in- und auswendig. Seit unserer Collegezeit komponierten wir gemeinsam Songs, und obwohl wir seltsamerweise beide mittlerweile mit Komponieren unser Geld verdienten, hatten wir unsere eigenen Songs immer nur zum Spaß geschrieben. In den acht Jahren unserer künstlerischen Zusammenarbeit hatte sich eine gemeinsame Wellenlänge entwickelt, die Jacks Freundin, Sophie, gern mit dem intuitiven Verständnis alter Ehepaare verglich. Wenn wir miteinander arbeiteten oder über Musik redeten, beendete einer oft den Satz des anderen, und einer wusste instinktiv, was der andere dachte, noch bevor er es aussprach. Ich fühlte mich in Jacks Studio wie zu Hause, weil ich hier ich selbst sein konnte – offen, gelöst und dazu imstande, meiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Es waren weder Erklärungen noch Rechtfertigungen nötig. Ich tauchte einfach auf, war so drauf, wie ich gerade drauf war, und überließ mich der Magie des Hier und Jetzt.

Alles in mir vibrierte, als wäre jedes Atom meines Seins elektrisch aufgeladen. Es war schwer zu erklären, aber wenn ein kreativer Prozess einsetzte, fühlte sich das an, als schalteten alle Sinne in einen anderen Gang. Plötzlich arbeitete ich fast unbewusst, ergab mich dem Sog einer Idee und ließ mich einfach treiben.

»Diese Akkorde … sie passen perfekt zu einer Songidee, die ich vor einiger Zeit hatte.«

Ein warmes Lächeln erhellte Jacks Züge: »Ja?«

Ich nickte, während meine Gedanken mit zweihundert Kilometern in der Stunde rasten. »Reduzier das Tempo ein wenig. Du weißt schon, eher so ein lässiger Beat im Stil von Jack Johnson, füg zu dem Chor Close Harmonies hinzu …«

»Mach weiter.« Ohne mich aus den Augen zu lassen, stellte er die Sequenz mit einem Mausklick auf Endloswiedergabe.

Ich begann zu summen, schloss die Augen, um das sparsame Arrangement des Demo-Stücks mit dem Song, der sich in meinem Kopf abspulte, zu verbinden. Seit der Begegnung mit PK war dieser Song in mir gewachsen und ließ mich seitdem nicht mehr los. Ich wachte morgens damit auf und ertappte mich beim Komponieren von Jingles für Bauunternehmer und Ohrenschmalztropfen dabei, wie ich das Lied vor mich hinsang und gedankenverloren Textideen auf irgendwelche herumliegenden Zettel kritzelte. Folglich war der Song gegenwärtig auf einem exzentrischen Sortiment aus alten Kuverts, Papierservietten und Kassenbons verteilt, die zerknüllt in meiner Handtasche steckten.

Ohne hinzusehen, wusste ich, dass Jack es auch spürte – jenen ersten Funken einer Idee, der uns einladend zublinzelte.

Nachdem ich die Sequenz ein paarmal gesummt hatte, öffnete ich die Augen, starrte auf die Schallwellen, die über den Monitor liefen, und ließ mich einfach mit ihnen treiben.

»Lust, es ganz zu singen? Gibt es schon einen Text?«

»Bisher nur ein Stück Refrain.«

»Cool. Lass hören.«

Mit einem tiefen Atemzug stürzte ich mich ins kalte Wasser: »Be my last first kiss, let’s start forever, you and me, perfectly …«

»Klasse!«, stieß Jack so plötzlich hervor, dass ich zusammenzuckte. Er schnappte sich eine Akustikgitarre vom Ständer neben dem Schaltpult, begann halb zupfend, halb schlagend einen Rhythmus zu spielen und nickte dabei zustimmend mit dem Kopf.

Wir jammten ein paarmal durch den Refrain, fügten da und dort etwas hinzu, und mit jedem Durchlauf wurde Jacks Grinsen breiter. Nach etwa fünf Minuten beendete er den Durchlauf mit der Stopptaste und wandte sich mir zu. »Ich glaube, damit können wir etwas machen, es vielleicht in unsere »Unplugged-Reihe« aufnehmen.« Er schmunzelte. »Ziemlich offensichtlich, von wem das kleine Liedchen handelt.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, erwiderte ich, um einen unschuldigen Ton bemüht, was freilich kläglich misslang.

»Egal. Mir gefällt die neue Rom, die ich vor mir habe.«

Der abrupte Themawechsel brachte mich für einen Moment aus der Fassung.

»Das meine ich ernst, Rom. Seit du mit deiner Suche angefangen hast, bist du irgendwie anders. Zuversichtlich, positiv – das ist uns allen aufgefallen. Jetzt sieh mich nicht an, als wäre ich ein Volltrottel, nur weil ich versuche, dir ein Kompliment zu machen.«

»Danke. Aber ich finde nicht, dass ich anders bin als sonst.«

»Bist du aber. Du musst es sein, weil es sogar Tom bemerkt hat. Normalerweise registriert er nämlich gar nichts, es sei denn, es hat zwei Räder und eine teure Carbonfaserkarosserie.«

Ich nahm allen Mut zusammen, um die Frage zu stellen, die nun wie eine glitzernde Discokugel in meinem Kopf kreiste. »Und Charlie?«

Jack ergriff seine Tasse. »Noch einen Kaffee?«

Ehe ich eine Antwort geben konnte, war Jack schon halb die Feuerleiter zur Küche hinaufgestiegen. Verdattert starrte ich ihm nach. Was dachte Charlie?

Jack beantwortete meine Frage weder danach noch später, doch angesichts von Charlies brütendem Schweigen bei unserer nächsten Probe und dem anschließenden Essen beim Pakistaner um die Ecke konnte ich mir meinen Teil denken. So sehr ich mich darüber freute, dass sich mein innerer Optimismus im Hinblick auf die Suche auch äußerlich widerspiegelte – ich wünschte mir dennoch, ich könnte mit Charlie darüber reden. In jeder anderen Situation hätte ich seine Meinung als Erste eingeholt.

Der Valentinstag kam, an dem wir unseren Auftritt haben sollten, doch unser Manager hielt die Details nach wie vor unter Verschluss. Nachdem er wenig überzeugend irgendwas von »Last-Minute-Planung« gemurmelt hatte, ließ er uns auf dem Parkplatz eines riesigen, rund um die Uhr geöffneten Supermarkts in einem Außenbezirk von Birmingham antanzen. So ein Treffpunkt war an sich nichts Neues. Wenn wir auf dem Weg zu einem Auftritt waren, trafen wir D’Wayne oft auf einem abgelegenen Parkplatz und an einer Tankstelle. Doch als wir an diesem Abend auf dem Parkplatz eintrudelten, war unsere Stimmung wegen D’Waynes Geheimniskrämerei merklich gereizt.

»Wo bleibt er denn?«, fragte Tom, während er wutschnaubend hinter dem Van hin und her tigerte. »In zwei Stunden müssen Aufbau und Soundcheck stehen.«

»Er wird schon kommen«, erwiderte Wren zuversichtlich, obwohl die ängstlichen Blicke, mit denen sie den Eingang des Parkplatzes beobachtete, eine andere Sprache sprachen.

Zehn Minuten später tauchte D’Waynes silbergrauer BMW auf, fuhr an den leeren Parkplatzreihen vorbei und blieb mit quietschenden Bremsen neben Jacks Van stehen. Entschuldigend die Hände erhoben, kam er zu uns.

»Der Verkehr war total irre«, redete er sich heraus.

»Komisch, wir hatten vor fünfundzwanzig Minuten keine Probleme«, spottete Tom.

An D’Wayne schien das abzuprallen. »Na, jetzt sind wir ja vollzählig, oder? Also ist alles in Butter.«

»Bis auf das winzig kleine Detail, dass wir immer noch nicht wissen, wo wir auftreten sollen«, erinnerte ihn Charlie. »Uns bleiben jetzt nur noch knapp zwei Stunden, und wenn es eine lange Fahrt wird, stecken wir ganz schön in der Scheiße.«

»Es ist ganz in der Nähe.« D’Wayne blieb so cool, als hätte er Eiswürfel gefressen.

»Wie nah?«, fragten wir im Chor.

Triumphierend blickte D’Wayne in die Runde. »Genau hier, Leute!«

Verdutzt starrten wir ihn an.

»Auf dem Parkplatz?«, fragte ich.

»Nein, natürlich nicht. Das wäre Schwachsinn. Es ist dort drüben.« Er deutete in Richtung des Supermarkts, wo zwei Arbeiter gerade eine lange Reihe von Einkaufswagen abstellten, während die Kunden durch die automatischen Türen hinein- und herausströmten.

»Wo genau? Bei der Tiefkühlkost? In der Delikatessenabteilung?« Tom war tierisch angepisst und kochte förmlich vor Wut.

»Sie haben im Eingangsbereich eine Bühne aufgebaut«, informierte D’Wayne seine ungläubigen Schützlinge voller Stolz. »Es ist ein ›Valentin-Shopping-Event für einsame Herzen‹, und ihr seid als Band gebucht.«

D’Wayne McDougall hatte in den zwölf Monaten als unser Manager schon so manche Schote geliefert, doch dies war sein bisher verrücktester Einfall. Während wir auf der niedrigen Bühne die Instrumente in dem riesigen Eingangsbereich aufbauten, sickerte nach und nach durch, dass D’Wayne »als verantwortlicher Entscheidungsträger« die Information über den Veranstaltungsort für sich behalten hatte, da er fürchtete, dieser könnte unsere Einstellung bezüglich des Auftritts »ungünstig beeinflussen«. Zum Glück für unseren »Entscheidungsträger« hatten wir alle Hände voll mit dem Aufbau zu tun und keine Zeit, ihm gehörig die Leviten zu lesen.

So verrückt der Einfall auch war, an Aufmerksamkeit mangelte es uns jedenfalls nicht. Als wir mit unserem ersten Set begannen, liefen mindestens zweihundert einsame Herzen herum, alle mit einem peinlichen herzförmigen rosa Namensschild an der Brust. Was die Reaktion auf uns betraf, so flippten die Leute nicht gerade aus vor Begeisterung, als sie neben den automatischen Türen eine Live-Band vorfanden, die auf einer improvisierten Bühne herumhüpfte. Während der ersten vier Songs ernteten wir von den Kunden verständnislose Blicke, und die regelmäßig ertönenden Ansagen aus den Supermarktlautsprechern waren auch nicht gerade hilfreich für unsere Performance. Während eines Songs versuchte ich hartnäckig, das kleine Kind zu ignorieren, das nasebohrend vor der Bühne stand und mich argwöhnisch beäugte. Ein Blick auf die resignierten Mienen meiner Bandkollegen verriet mir, wie es in ihnen aussah.

Nach einer Weile versammelten sich immer mehr einsame Herzen vor der Bühne, und am Ende des ersten Sets wurden wir mit höflichem Applaus belohnt. Erleichtert verließen wir die Bühne, um uns den Snacks zu widmen, die Frank, der fröhliche und enorm massige Supermarktmanager, für uns bereitgestellt hatte.

»Exzellente Songauswahl, Freunde«, rief er begeistert, während er ein Tablett mit Drinks herumreichte. »Die Leute waren hin und weg.«

»Wie man’s nimmt«, nuschelte Jack mit vollem Mund. Seine Laune wurde durch die leckeren Snacks merklich besser.

D’Wayne kam in Begleitung einer schönen Blondine auf uns zugeschlendert, mit der er sich intensiv unterhielt. Augenblicklich vergaß Tom seinen Ärger und setzte sein unwiderstehlichstes Lächeln auf. »D’Wayne, Kumpel, willst du uns diese bezaubernde Dame nicht vorstellen?«

Charlie stöhnte auf und warf mir einen genervten Blick zu, ehe er sich in Richtung Büfett in Sicherheit brachte. Die Frau lächelte gelassen.

»Hi, Cayte Brogan, Reporterin bei Midland Radio. Wir berichten über den heutigen Event. Ich liebe eure Musik.«

»Danke«, erwiderte Tom, obwohl das Kompliment eindeutig an uns alle gerichtet war. »Bist du Kate mit K oder mit C?« Sein Charme triefte förmlich vor Schmalz.

»Mit C und mit einem Y«, schnurrte Cayte und zeigte auf das grässliche herzförmige rosa Namensschild am Revers ihres hervorragend geschnittenen Kostüms.

Tom nahm die Einladung, ihren eindrucksvollen Busen zu bestaunen, nur allzu gern an. »Ah, meine zwei Lieblingsbuchstaben.«

Das spürbare Knistern zwischen den beiden verwandelte diese schlichte Buchstabendiskussion im Stil der Sesamstraße in einen Kinofilm für Erwachsene.

Jack verdrehte die Augen und wandte sich D’Wayne zu, der seine Enttäuschung darüber, von Tom ausgebootet worden zu sein, kaum verhehlen konnte. »Wann sollen wir wieder auf die Bühne zurück?«

»So bald wie möglich«, antwortete D’Wayne etwas zu heftig, während er Tom feindselig anfunkelte.

Wir begannen mit dem zweiten Set, und der Groove von »Love Train« zog zahlreiche einsame Herzen zur Bühne hin. Obwohl dieser Gig wahrscheinlich als einer der haarsträubendsten in unsere Bandgeschichte eingehen würde, musste ich zugeben, dass die Supermarktidee zu funktionieren schien. Die einsamen Herzen, die vor der Bühne tanzten und mit ihren lächerlichen Namensplaketten durch den Laden spazierten, schienen Spaß daran zu haben, sich gegenseitig beim Einkaufen zu beobachten. Gleichwohl war mir klar, dass keiner von uns eine Wiederholung dessen haben wollte. Hochzeiten waren zweifellos ein vertrauteres Terrain …

»Zumindest einer von uns wird heute Abend ganz sicher abgeschleppt«, flüsterte mir Wren zu, als die Einleitung zu »Sunny« einsetzte. Sie nickte zu Cayte hinunter, die Tom an seiner Gitarre hingerissen anstarrte.

Ich ergriff ein Tamburin und schlug tanzend den Takt, während Wren ans Mikrofon trat und den Leadgesang übernahm. Abwesend ließ ich den Blick über die vor der Bühne versammelte Menge gleiten, während ich Wrens Gesang hin und wieder mit der zweiten Stimme ergänzte. Gegen Ende der zweiten Strophe wollte ich gerade zu singen beginnen, als mir unterhalb der Bühne plötzlich etwas ins Auge stach.

Ein gestreifter Schal – grün-braun-beige –, derselbe wie jener, den PK getragen hatte.

Ich erspähte den Schal am hinteren Ende des Tanzflächenbereichs, gleich neben dem Gang mit den Frischwaren. Der Schal war um den Hals eines Kunden gewickelt, der mit dem Rücken zu mir stand. Ich kniff die Augen gegen das grelle Scheinwerferlicht zusammen und versuchte, den Mann besser zu erkennen. Er hatte rostbraunes gewelltes Haar, aber konnte es tatsächlich PK sein? Um mich herum ging die Musik weiter, die Band war beim Instrumentalpart angelangt, und Tom nutzte die Gelegenheit, der umwerfenden blonden Reporterin seine beachtlichen Gitarrenkünste zu demonstrieren. Als ich wieder auf die Menge blickte, setzte mein Herzschlag für einige Takte aus, da der Mann mit dem gestreiften Schal nicht mehr zu sehen war.

Das kann er nicht gewesen sein, schalt ich mich energisch. Konzentrier dich lieber auf deine Musik.

Die letzte Strophe begann, und Wren improvisierte, während Jack und ich die Melodie aufnahmen. Als wir bei den drei Wiederholungen der letzten Zeile ankamen, sah ich den Mann plötzlich wieder, wie er sich von den Kassen in Richtung Ausgang bewegte. Und diesmal gab es keinen Zweifel: sein Haar, der Schal, der schwarze Wollmantel … alles genauso wie in meiner Erinnerung. Der Song endete, und ohne nachzudenken ließ ich das Tamburin fallen, rannte die Stufen an der Seite der Bühne hinunter und weiter an den tanzenden einsamen Herzen vorbei nach draußen auf den Parkplatz. Im ersten Moment verschlug mir die eisige Abendluft den Atem. Wo war er?

Verzweifelt blickte ich mich um. Wie konnte er so schnell verschwunden sein? Ich wollte schon niedergeschlagen den Rückzug antreten, als mich ein lautes Hupen herumwirbeln ließ. In etwa zehn Metern Entfernung fuhr ein Taxi vor. Fassungslos beobachtete ich, wie der Mann mit dem Schal von dem überdachten Eingang zum Taxi ging und die Tür öffnete. Rasch lief ich auf den Wagen zu, betete, er möge eben noch am Bürgersteig stehen bleiben. Das laute Pochen in meinen Ohren vereinte sich mit dem Hämmern von Charlies Schlagzeug, das aus dem Inneren des Supermarkts herauswummerte. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen oder tun sollte. Ich wusste nur, dass ich ihn diesmal nicht gehen lassen würde, ohne zumindest einen Versuch zu starten, mit ihm zu sprechen.

Beim Näherkommen sah ich, wie er die Einkaufstüten auf die Rückbank legte.

»Guten Abend«, hörte ich ihn sagen und erkannte seine Stimme sofort wieder. Ich hatte mich nicht getäuscht – er war es! Bitte, geh nicht!, bat ich ihn stumm und begann zu rennen. Bitte, bleib da! Nur noch wenige Schritte …

»Warte!« rief ich, doch meine Stimme war kaum mehr als ein Wispern, und in hilfloser Verzweiflung musste ich mitansehen, wie er einstieg und die Taxitür zuknallte. Ich streckte die Hand aus, doch meine Finger griffen ins Leere, und das Taxi fuhr davon. Nach Luft ringend stand ich auf dem Bürgersteig und beobachtete einer Ohnmacht nahe, wie die roten Rücklichter immer kleiner wurden.

Ich war so nah dran gewesen … Wie konnte ich ihn nur verpassen? Vor Kälte zitternd, schlang ich die Arme um meinen Körper und schluckte die Tränen herunter, die mir in den Augen brannten. Mit schwerem Herzen wandte ich mich schließlich um und kehrte in die Wärme des Supermarkts zurück.