Nelke.psd18

Respect

»Willkommen in der wunderschönen Umgebung des Cannock Chase«, rief Jack am nächsten Tag und sprang auf einen Fels neben dem Parkplatz, wo wir uns versammelt hatten. »Wie ihr zweifellos wisst, sind wir heute hier, um unserer guten Freundin Wren Malloy bei der Suche nach dem perfekten Ort für ihren Klassenausflug zu helfen.«

Wir klatschten, und Wren verbeugte sich.

»Danke, Jack. Nun, wie ihr ebenfalls wisst, stehe ich mit dem Fahrrad auf Kriegsfuß, aber ich möchte unbedingt meinen Direktor beeindrucken, damit er mir noch irgendwann vor meiner Rente eine Gehaltserhöhung gibt. Deshalb brauche ich euch Fahrradfreaks, damit ihr für mich herausfindet, welche Wege für eine Horde Vierzehnjähriger am spannendsten sind und welche Einkehrmöglichkeiten sich anbieten. Lasst mich wissen, wenn es auf der Strecke irgendwelche Probleme oder Hindernisse gibt. Ich vertraue auf eure ehrliche Meinung.«

Jack sprang von dem Fels herunter. »Okay. Ich schlage vor, wir testen mindestens drei Fahrradrundwege, indem wir den weißen und gelben Pfeilen folgen. Wenn ihr eine Verschnaufpause braucht, dann biegt auf den orange gekennzeichneten Weg ab, der euch zum Getränkestand führt. Am besten treffen wir uns dort, wenn alle fertig sind, und fahren danach zu uns, um unsere Eindrücke zu vergleichen.«

Startklar, mit den Lenkstangen unserer Mountainbikes in Händen, murmelten wir unsere Zustimmung und teilten uns dann auf. D’Wayne und Tom rasten als Erste los, da sie an diesem Morgen beim Frühstück gewettet hatten, sie würden bis zum Mittag vier Rundwege schaffen. Wren und Sophie, beide überzeugte Nicht-Radler, brachen in die entgegengesetzte Richtung auf, wo der Rundweg für Wanderer anfing, während Cayte, das jüngste Mitglied im Pinstripes-Mountainbike-Club, zielstrebig auf den leichteren Radrundweg zusteuerte, begleitet von Jack, der am Vorabend versprochen hatte, sie zu begleiten – zweifellos ein Versuch, Brücken zu bauen. Nachdem jeder seinen Partner gefunden hatte, blieben Charlie und ich übrig. Er befestigte seinen Helm und zog die Handschuhe an. »Dann bilden wir beide also ein Team. Danke, dass du mir Gesellschaft leistest.«

Ich rückte die Kniebandage an meinem linken Bein zurecht. »Aber das tue ich doch gern.« Da er noch mit seiner Wasserflasche hantierte, die er am Rahmen festklemmen wollte, beschloss ich, mir einen Vorsprung zu verschaffen. »Du Armer wirst leider als Letzter ankommen!«, rief ich ihm über die Schulter hinweg zu, während ich in die Pedale trat und über den braunen von Kiefernnadeln bedeckten Waldweg so schnell davonsauste, dass mir der frisch duftende Fahrtwind ins Gesicht schlug.

»Ha!«, hörte ich ihn hinter mir schreien. »Du willst ein Wettrennen, Parker? Okay, das kannst du haben!«

Wir rasten durch das hügelige Gelände, wichen herabhängenden Ästen und Wurzeln aus und versuchten, Hindernisse geschickt zu umfahren, was mehr als ein Mal mit einem uneleganten Sturz endete. Als ich mich einer nach rechts verlaufenden Haarnadelkurve näherte, schätzte ich den Winkel falsch ein und schlitterte zum Rand des steilen Gefälles. Kaum hatte ich mein Rad wieder unter Kontrolle, wurde ich auch schon von Charlie überholt, der im Vorbeifahren in lautes Triumphgeheul ausbrach.

»Warte nur, dir werd’ ich’s zeigen!«, brüllte ich und jagte ihm, von einem Adrenalinstoß angetrieben, hinterher.

Ich war nur wenige Zentimeter von seinem Hinterrad entfernt, doch er schaffte es, mir immer ein winziges Stückchen voraus zu bleiben. Gedanken an hinterhältige Sabotageakte kamen mir in den Sinn, während ich aufzuholen versuchte wie verrückt. Und als der Weg ebener wurde, gelang es mir auch endlich, neben ihn zu ziehen.

»Dein Hintern gehört mir, Wakeley!«, spottete ich.

Charlies Lächeln ließ den Wald heller erstrahlen als ein Scheinwerfer: »Sehr verlockend, Parker, aber ich glaube, ich werde mir deinen schnappen!« Er mobilisierte verborgene Energiereserven und zog eine Länge an mir vorbei und lachte wie ein Irrer, als er sich zu mir umblickte.

Das war ein Anfängerfehler. Denn leider sah er dadurch den ziemlich großen und spitzen Felsbrocken, der plötzlich in seinem Weg lag, erst dann, als es bereits zu spät war. Sein Vorderrad prallte gegen den Fels, worauf Charlie über den Lenker fiel, auf dem Hinterteil landete und den sandigen Weg mehrere Meter entlangschlitterte. Der Anblick war so komisch, dass ich mich vor Lachen ausschüttete und meinen Sieg schon als gesichert ansah.

Aber dummerweise ragte da immer noch der Felsbrocken empor, den ich in meinem Siegestaumel vergessen hatte und gegen den nun mein Vorderrad knallte. Nach einer kurzen Flugreise fand ich mich ebenfalls auf dem Boden wieder, direkt neben Charlie, der sich vor Lachen gar nicht mehr einkriegte. Ich prustete gleichfalls los, und für eine Weile war nur unser beider brüllendes Gelächter zu hören.

Nachdem wir uns wieder etwas beruhigt hatten, rappelte sich Charlie hoch und streckte mir die Hand entgegen: »Bist du okay?«

Ich überprüfte kurz meinen körperlichen Zustand, doch abgesehen von einem unglaublich schmutzigen Hinterteil und einem Kratzer am Oberschenkel schien ich den Sturz unbeschadet überstanden zu haben. »Ja, alles noch dran. Und du?«

»Nicht der Rede wert.« Mit einem reuevollen Lächeln ließ er sich am Wegesrand auf der grünen farnbewachsenen Böschung nieder.

Amüsiert warf ich mich neben ihn und zupfte ein welkes Blatt von meinem Schnürsenkel. Der uns umgebende Wald mit seinen hohen, majestätischen Bäumen und dem üppigen Pflanzenreich war von atemberaubender Schönheit und erstreckte sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte.

»Obwohl ich schon so oft hier war, bin ich jedes Mal aufs Neue begeistert«, sagte Charlie, den Blick auf zwei krächzende Krähen gerichtet, die sich in den Ästen einer Kiefer um ihr Territorium zankten. Er wandte sich mir zu: »Das hört sich wahrscheinlich ziemlich blöd an.«

»Nein, überhaupt nicht. Ich finde, du solltest zu deinen Gefühlen stehen und kannst stolz darauf sein.«

»Wie du mit deiner Suche?«

Das kam total unerwartet. Ich blinzelte überrascht. »Ja, irgendwie schon. Ich bin sehr dafür, dass man seine Gefühle ausdrückt, ganz egal, worum es geht.« Von einer plötzlichen Befangenheit ergriffen, fügte ich hinzu: »Mir tut das jedenfalls gut.«

Er sah mich mit seinen blauen Augen an: »Es ist eine gute Sache. Der Typ hat echt Glück, dass sich jemand wie du auf die Suche nach ihm macht.«

Sein intensiver Blick verunsicherte mich. Ich schlug die Augen nieder. »Hm. Ich weiß ja nicht einmal, ob er sich überhaupt noch an mich erinnert.«

»Wenn nicht, ist er ein Idiot. Wie auch immer, es ist gut, dass du über deinen Blog so viel Unterstützung erhältst.« Er hielt einen Moment inne. »Ich unterstütze dich auch. Ich hoffe, das weißt du.«

Verlegen sah ich ihn an: »Danke. Das bedeutet mir sehr viel.«

Ein sanftes Lächeln erhellte seine Züge. »Auch wenn du den halben Wald im Gesicht kleben hast.« Mit ungeschickten Bewegungen wischte er mir den Schmutz von der Wange und sah mir dabei unentwegt in die Augen. Mein Atem ging etwas schneller, als seine Finger auf der Kontur meines Wangenknochens verweilten, und ich beobachtete, wie sich sein Brustkorb im selben Takt wie meiner hob und senkte. Plötzlich war der ganze Wald von knisternder Elektrizität erfüllt, und eine unsichtbare Kraft zog uns zueinander hin, immer näher und näher …

»Faulenzer!«

Toms Ruf zerstörte den Zauber dieses Augenblicks. Erschrocken über die Störung wichen wir voreinander zurück. Tom bremste mit seinem Fahrrad neben uns ab, Erde und Laub spritzten auf.

»Los, Charlie-Boy, auch wenn du nicht mit D’Wayne und mir fährst, erwarten wir, dass du deinen ausgezeichneten Streckenrekord einhältst.«

Ein lauter Schrei ertönte, und als wir uns umdrehten, sahen wir, wie D’Wayne den heimtückischen Felsbrocken mit Bravour übersprang und gleich darauf neben Tom anhielt. »Was ist denn mit euch los? Das ist schon unsere zweite Runde, und ihr habt noch nicht einmal eine geschafft!«

»Die werden langsam alt«, höhnte Tom, ehe er aufs Rad stieg und seinen Helm zurechtrückte. Das konnte Charlie nicht auf sich sitzen lassen. Er sprang auf und schnappte sich sein Rad.

»Ich werd dir zeigen, wer hier alt ist, du Großmaul!« Bevor er losfuhr, grinste er mich noch einmal an: »Wir sehen uns später, okay?«

Immer noch geschockt von dem, was vielleicht oder vielleicht auch nicht passiert wäre, brachte ich nur ein krächzendes »Cool« hervor.

Tom warf mir einen fragenden Blick zu, doch sein Siegeswille war stärker als seine Neugierde, und so fuhr er los und ließ mich verdattert am Wegesrand zurück.

Als ich schließlich wieder aufstieg und den anderen hinterherradelte, war ich froh, etwas Zeit für mich zu haben, um meine Gefühlslage zu analysieren. Doch je öfter ich diesen besonderen Moment in Gedanken abspulte, desto verschwommener wurde er. Ich musste mir das Ganze eingebildet haben. Er hatte gesagt, er unterstütze meine Suche, warum also sollte es solch einen Moment überhaupt geben? Vielleicht war ich durch den Sturz benebelter, als ich gedacht hatte oder vielleicht … Resolut schob ich den Gedanken beiseite. Bis ich die anderen an den Picknicktischen vor dem Erfrischungsstand wiedertraf, war ich zu der Überzeugung gelangt, dass gar nichts vorgefallen war. Und Charlie schien das genauso zu sehen.

Den restlichen Tag über und später dann bei Jack und Soph war zwischen Charlie und mir wieder alles ganz normal. Wir neckten einander, scherzten mit den anderen und genossen das Zusammensein mit unseren Freunden. Es gab weder verstohlene Blicke noch peinliche Gesprächspausen.

Als ich schließlich in den frühen Morgenstunden ins Bett kroch, gab es für mich keinen Zweifel mehr: Ich hatte die Situation falsch interpretiert, und zwischen Charlie und mir war alles genauso wie immer.

In den nächsten Wochen bemühte ich mich, nicht an Charlie zu denken und mich mit anderen Dingen abzulenken. In der Arbeit ging es unglaublich hektisch zu, da in den beiden Monaten vor Weihnachten die Jingles für Möbelangebote, Versandhauskataloge und Supermarktfeinkost komponiert werden mussten. Spaßeshalber und »um uns in Feststimmung zu bringen« dekorierte Mick die gesamte Fledermaushöhle mit Flitterkram und bunten Lichterketten. Amanda fand das natürlich grauenvoll und murmelte irgendetwas von Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen, doch Mick weigerte sich, seine Dekoration abzunehmen, da er genau wusste, dass Amanda auf unsere Kreativität angewiesen war, um ihre Auftraggeber zu beeindrucken, und es deshalb nicht auf einen Machtkampf ankommen lassen würde. Ich fand die Dekoration amüsant, wenngleich sie mich unweigerlich daran erinnerte, dass die Zeit für meine Suche allmählich ablief.

Tante Mags und Onkel Dudley befanden sich inzwischen an der Schwelle eines neuen, abenteuerlichen Lebensabschnitts, da die Teestube meiner Tante – Tea & Sympathy – kurz vor der Eröffnung stand. Nach der Arbeit verbrachte ich meine Abende meist damit, ihnen beim Streichen und Einrichten der kleinen Teestube zu helfen – auch dies eine willkommene Abwechslung von den widersprüchlichen Gedanken in Bezug auf Charlie und PK. Am Abend vor der Eröffnung trafen wir uns in der Teestube zu einem kleinen Umtrunk bei Wein und frisch gebackenem Weiße-Schokolade-Erdbeer-Kuchen, der laut meiner Tante optimal zu Neuanfängen passte.

»Tja, Magsie, wir haben’s geschafft«, sagte Onkel Dudley strahlend und drückte sie an sich.

»Ja, das haben wir. Es wird doch funktionieren, oder?«

»Natürlich!«, versicherte ich ihr. »Schau dich doch nur um – es ist so einladend und gemütlich. Wahrscheinlich wirst du die Leute abwimmeln müssen.«

Die Teestube war in weichem Grün, blassem Pink und Pastellblau gestrichen und ein Paradies mit allen nur erdenklichen süßen Leckereien. Auf den Tischen mit den gelben Tischdecken standen Vintage-Teetassen, gefüllt mit Seidenblumen. Auf der weißen Holztheke reihten sich mit Glasglocken abgedeckte Porzellankuchenplatten aneinander, in den Wandregalen standen alte Bücher aus Onkel Dudleys Flohmarktkäufen, und auf den Hockern aus Weidengeflecht lagen bequeme Kissen – alles, was das Kundenherz begehrte, um sich willkommen geheißen zu fühlen. Der Raum war durch und durch Tante Mags – bis hin zu den gerahmten Fotos hinter der Theke von Onkel Dudley, Our Pol und mir.

Ich hob mein Glas: »Ich möchte gern einen Toast aussprechen. Auf Tante Mags und ihre wundervollen Kuchen.«

Onkel Dudley prostete uns zu, doch Tante Mags schüttelte den Kopf.

»Nein, ich weiß einen besseren Trinkspruch.« Feierlich hob sie ihr Glas: »Auf die Träume. Und auf den Glauben, dass sie Wirklichkeit werden können.«

Welche Bedenken ich wegen Caytes Rückkehr in Toms Leben auch gehabt haben mochte, ich musste eingestehen, dass sich Cayte definitiv bemühte, den Schaden, den sie mit ihrem Artikel angerichtet hatte, wiedergutzumachen. So hatte sie einen positiven Artikel über unwahrscheinliche Liebesgeschichten geschrieben und einen Link zu meinem Blog hinzugefügt. Als Folge davon erhielt ich eine Flut von ermutigenden Nachrichten, was meiner Suche neuen Auftrieb gab. Jedes Mal wenn ich auf die Seite ging, fand ich ein paar neue positive Zuschriften, und als der Oktober in den November überging, begannen die regelmäßigen Besucher meines Blogs über die Kommentarfelder untereinander zu kommunizieren und eine eigene, sich lebhaft austauschende Gemeinschaft zu bilden.

Selbst zwischen Cayte und Sophie kam es zu einer zaghaften Annäherung – sehr zur Erleichterung von Jack und Tom. An einem Samstagabend im The Garter outeten sich Sophie und Cayte als leidenschaftliche Karaokefans, worauf Jack sie zu einem Duett von »Don’t Go Breaking My Heart« überredete. Ich erwartete halb, dass während des Songs irgendwann ein Zickenkrieg ausbrechen würde, doch zu meiner Überraschung verlief das Duett völlig harmonisch, und als sie zum Schluss Standing Ovations erhielten, umarmten sie sich sogar. Am darauffolgenden Wochenende brachte Cayte SingStar zum Essen bei Jack und Soph mit, was dazu führte, dass die beiden das Wohnzimmer als Bühne benutzten und bis in die frühen Morgenstunden hinein ein Lied nach dem anderen sangen – und damit war alles klar. Nachdem sie eine gemeinsame Sprache gefunden hatten, waren sie auf dem besten Weg, echte Freundinnen zu werden.

In der Zwischenzeit waren Tante Mags und Onkel Dudley damit beschäftigt, sich bei ihrer ständig wachsenden Gästeschar einen Namen zu machen. Wenn ich mich mit ihnen unterhielt, sprachen sie nun oft von Stammgästen, die aus ganz Warwickshire nach Kingston kamen, um Tante Mags’ Zauberkuchen zu kosten.

»Ja, ja, es ist genauso, wie Suzi neulich sagte …«

»Da fällt mir ein, Rich Robbins hat mir eine neue, sagenhaft gute Konfitüre für meinen Victoria Sponge empfohlen, die auf einem Bauernhof in seiner Nachbarschaft verkauft wird …«

»Wenn Davey noch einmal vorschlägt, mit seinen komischen Gothic-Freunden einen Film über deine Suche zu drehen, dann schreie ich …«

Die Diskussionen in der Teestube befassten sich oft mit meinem Blog, und genauso umgekehrt. Es war bezaubernd mitanzusehen, wie meine Tante und mein Onkel für ihre jugendlichen Gäste die Rolle von Ersatzeltern übernahmen, indem sie geduldig Fragen beantworteten und Ratschläge erteilten, was immer damit endete, dass ihnen meine Tante Kuchen für ihre diversen emotionalen Leiden verordnete.

Für meine Psyche war die Konzentration auf die Suche ebenfalls gut – und vor allem der Ansporn meiner Leser. Da ich nur noch das Ziel vor Augen hatte, PK zu finden, wurde mir wieder bewusst, warum ich ihn suchte, was mich wiederum in meinem Tun bestärkte. Mit jedem neuen Blogbesucher vergrößerten sich meine Chancen auf Erfolg.

Seit unserem Gespräch auf der Fahrradtour hatte Charlie keine Bemerkung mehr über meine Suche gemacht. Auch auf diesen Moment im Wald spielte er nie an, was mich zu dem Schluss brachte, dass dies nur ein weiteres Ablenkungsmanöver auf dem langen Weg gewesen war, der mich zu dem mir bestimmten Mann führen sollte. Wir hatten den Großteil des Jahres damit verbracht, uns einander wieder als Freunde anzunähern. Da konnten wir es jetzt überhaupt nicht gebrauchen, dass einer von uns mehr wollte. Obwohl die Erinnerung an das, was im Wald geschehen war – was ich glaubte, dass geschehen war –, häufiger aus dem hintersten Winkel meines Gedächtnisses hervorlugte, als es eigentlich sollte …

Anfang November teilte uns D’Wayne voller Stolz mit, dass er für The Pinstripes eine Buchung für eine goldene Hochzeit habe. Da das glückliche Paar ein Fan von Fünfziger- und Sechziger-Jahre-Hits war, stellten wir ein entspanntes Set aus amerikanischen Swing- und Klassikersongs zusammen, wobei wir eine Menge Spaß hatten. Wren und ich wechselten uns als Leadsängerinnen ab, Charlie trommelte mit Jazzbesen einen weichen Sound, und Jack schwelgte in einer geschmeidigen Jazzimprovisation. Klassiker wie »My Baby Just Cares for Me«, »Fly Me to the Moon«, »Stormy Wheater«, »Autumn Leaves«, »Let There Be Love«, »The Lady Is a Tramp« und »Summertime« wogten mit derselben Leichtigkeit dahin wie die Gäste, die in Abendkleidern und Smokings durch den großen Ballsaal des Hotels tanzten. Passend zu unseren Songs hatten wir uns entsprechende Kleidung besorgt: Die Jungs trugen Fräcke, Wren ein atemberaubendes eng anliegendes goldfarbenes Abendkleid und ich ein tiefrotes Satinkleid im Stil der dreißiger Jahre, das an den richtigen Stellen vorteilhaft drapiert war und mir ein wunderbar glamouröses Gefühl gab. In der Tat wirkte die ganze Veranstaltung wie aus einem alten Hollywoodfilm. Während ich sang, kam es mir vor, als spielte im Hintergrund ein ganzes MGM-Orchester.

Auf Wunsch des Paares spielten wir als letzten Song des ersten Sets »When I Fall in Love« von Nat King Cole, was ich unbedingt selbst singen wollte. Ich liebte diesen Song nicht zuletzt deshalb, weil er zu Onkel Dudleys Lieblingssongs gehörte und einer der wenigen Songs war, dessen Text er von Anfang bis Ende mitsingen konnte. Es war ein alter Witz zwischen meiner Tante, meinem Onkel und mir, dass sich Onkel Dudley nie mehr als eine Liedzeile merken konnte. Tante Mags und ich hatten ihn einmal dabei ertappt, als er ausgerechnet »Unforgettable« mitzusingen versuchte: »Unforgettable … la la la laaa …« Natürlich rieben wir ihm das immer wieder unter die Nase, so dass er zumindest das nie vergessen wird.

Als ich »When I Fall in Love« sang, sah ich sofort Onkel Dudley vor mir, wie er Tante Mags auf Our Pol ein Ständchen brachte und in seinen Simpsons-Hausschuhen mit ihr tanzte, und dann stellte ich mir vor, wie ich in den Armen meines hübschen Fremden durch die weihnachtliche Menge tanzte und jede Liedzeile ein Versprechen an ihn war … Während des Instrumentalteils blickte ich mich zu Jack und Charlie um. Jack hatte die Augen geschlossen und gab sich völlig seinem Spiel hin, doch Charlie sah mir unverwandt in die Augen. Die schummrige Bühnenbeleuchtung ließ seine mitternachtsblauen Augen völlig schwarz erscheinen und warf tanzende Schatten auf sein Gesicht.

Während das Büfett aufgetragen wurde, machten wir eine Pause, und Jack, Tom und Wren steuerten auf die Bar zu. D’Wayne schlenderte zu Charlie und mir herüber und stellte uns das Paar vor, das seine goldene Hochzeit feierte.

»Charlie, Romily, darf ich euch mit Trisha und Les bekannt machen?«

Les schüttelte uns die Hand, und Trisha umarmte uns, was Charlie sichtlich irritierte. »Alles ist so wunderschön«, schwärmte sie. »Genau die Art von Hochzeitsfeier, die wir uns vor fünfzig Jahren erträumt haben.«

Ihr Gatte drückte ihren Arm: »Aber wir hätten es gar nicht anders haben wollen, oder?«

Sie tätschelte seine Hand: »Auf gar keinen Fall. Unsere Feier damals war weit schlichter«, erzählte sie uns. »Ein Fischeintopf mit unseren Familien und zwei Freunden in der Stone Yardley Village Hall, und zum Dessert gab es einen selbst gebackenen Kuchen von seiner Mum. Ich habe mein Hochzeitskleid in einem Abendkurs genäht, und wir sind zu Fuß von der Kirche zur Feier gegangen, weil meine Eltern keinen Wagen hatten. Trotzdem war es ein herrlicher Tag.«

»Meine Patricia hat mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht, als sie mir das Jawort gab. Und wir haben es nie bereut, nicht wahr, Schatz?«

»Nein. Wir sind miteinander immer glücklich gewesen.«

Nachdem das Paar gegangen war, besorgte uns Charlie etwas zu trinken. Plaudernd und lachend saßen wir dann an einem Tisch neben der Bühne. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie sehr sich unser Verhältnis seit jener gemeinsamen Autofahrt nach dem Silvester-Gig verändert hatte. Es war herrlich, wieder zusammen zu lachen und zu scherzen, selbst wenn an der Peripherie noch immer ungeklärte Dinge lauerten.

Charlie räusperte sich: »Ich muss sagen, du warst heute Abend wirklich großartig.«

Verwirrt durch das unerwartete Kompliment, begann mein Herz wie wild zu klopfen. Ich senkte den Blick auf mein Glas. »Danke. Du hast auch nicht übel gespielt.«

»Das meinte ich nicht. Wir sind mit diesen Songs schon früher aufgetreten, aber ich habe noch nie erlebt, dass du so in einen Song versunken warst wie in diesen letzten.«

»Ich habe an meinen Onkel und meine Tante gedacht«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Das ist einer ihrer Lieblingssongs.«

Er schwieg eine Weile. »Ich dachte … Ach, vergiss es!«

»Los, sag schon!«

Er lächelte: »Ich habe mich gefragt, ob du dabei an ihn denkst.«

Ich überlegte mir meine Antwort genau, da dies für uns beide unbekanntes Terrain war. Seltsam, dass er meine Gedanken erraten hatte … »Stimmt, das habe ich tatsächlich.«

»Oh. Unheimlich, was?«

Ich lächelte. »Sehr.«

Mehr wurde zu diesem Thema nicht gesagt, doch ich spürte, dass ein Tabu gebrochen war. Und es fühlte sich gut an. Als wir zum zweiten Set auf die Bühne zurückgingen, war mir wunderbar leicht ums Herz.

Doch dann veränderte sich etwas. Ich bemerkte es beim vierten Song, als ich mich während des Instrumentalteils zu Charlie umdrehte und seine angespannte Miene sah. Zunächst dachte ich mir nichts dabei und konzentrierte mich wieder auf den Auftritt. Doch drei Songs später konnte ich seine düstere Stimmung nicht mehr ignorieren. Alle anderen Bandmitglieder waren fröhlich und genossen den Moment – warum nicht auch er?

Als wir nach dem Auftritt unsere Instrumente einpackten, ließ ich unsere Unterhaltung in der Pause noch einmal Revue passieren, fand jedoch nichts, was ihn verletzt haben könnte. Verärgert ging ich Charlie beim Beladen des Vans nach Möglichkeit aus dem Weg. Die Taktik funktionierte, bis Les’ und Trishas Verwandte die anderen Bandmitglieder in Beschlag nahmen, so dass Charlie und mir das Einpacken überlassen blieb. Da niemand übrig war, der den Van bewachte, fiel mir diese Aufgabe zu, während Charlie die restlichen Sachen nach draußen brachte.

Ich packte die Lautsprecher, Handkoffer und Taschen, so gut ich konnte, in den Van, doch Charlie holte mit brummiger Miene alles wieder heraus und verstaute es neu. Gekränkt durch seine stumme Feindseligkeit, die mir das Gefühl vermittelte, ich wäre zu nichts zu gebrauchen, beschränkte ich mich darauf, ihm die Sachen anzureichen, während er im Van hockte. Als er zum fünften Mal missbilligend den Kopf schüttelte, platzte mir der Kragen.

»Vielleicht solltest du das lieber allein machen, da ich ja offenbar zu blöd dafür bin«, fauchte ich ihn an.

Er riss den Kopf herum: »Was?«

»Ich sehe nicht ein, warum ich wie ein Volltrottel herumstehen soll, wenn du bei jedem Handgriff, den ich mache, die Augen verdrehst.«

»Das war mir nicht bewusst.«

»Das ist doch Schwachsinn. Ehrlich, Charlie, ich werde nicht schlau aus dir. Entweder schwankst du zwischen supernett und total unfreundlich, oder du ignorierst mich komplett.«

Mit einem Satz sprang er aus dem Van und baute sich mit wutschnaubender Miene vor mir auf: »Du musst gerade reden!«

»Wie bitte?«

»Du hast mich schon verstanden.«

Er schob sich an mir vorbei, stürmte ins Hotel und ließ mich einfach stehen. Ich kochte vor Wut. Wie konnte er es wagen, mir die Schuld zu geben? Er war derjenige, der die miese Laune hatte, nicht ich. Und wenn er glaubte, ich würde die Schuld auf mich nehmen, dann war er ordentlich auf dem Holzweg.

Ich kam zu dem Entschluss, dass es am besten wäre, mich mit irgendeiner Ausrede zu verkrümeln. Also schlug ich die Türen des Vans zu und wollte gerade ins Hotel zurückgehen, als Charlie herauskam.

»Weißt du, Romily, ich kapier es einfach nicht. Tut mir leid, aber das will mir nicht in den Kopf.«

Falls er auf einen Streit aus war, kein Problem, den konnte er haben. Auf zur zweiten Runde.

»Würdest du dich bitte etwas deutlicher ausdrücken?«

Als er mich ansah, schienen seine mitternachtsblauen Augen zu glühen. »Ich kapier nicht, wie du ein Jahr deines Lebens damit vergeuden kannst, dich auf die Suche nach jemandem zu machen, den du kaum kennst, wenn doch der richtige Jemand schon genau vor dir steht.«

Mir wurde schwindlig. Mein Zorn verrauchte und machte einer tiefen Benommenheit und Hilflosigkeit Platz. »Wie bitte?«

»Dieser Typ, den du zu lieben glaubst, existiert nicht. Nur hier oben.« Er tippte sich an die Schläfe. »Du erschaffst dir ein Bild von ihm, dem er gar nicht gerecht werden kann. Er kann nicht das sein, was du in ihm sehen möchtest, weil er keine Ahnung hat, wer du bist. Das ist nicht das, was du brauchst, Romily, und das weißt du auch.« Seine Stimme wurde weich: »Tief in deinem Inneren weißt du nämlich, wen du brauchst. Und ich glaube, dass du es schon die ganze Zeit weißt.«

Herrgott, wovon redete er da? Ihm war doch klar, wie viel mir meine Suche bedeutete – und falls nicht, warum hatte er dann letzte Woche bei der Radtour noch behauptet, er würde mich unterstützen?

»Was fällt dir ein, so etwas zu sagen, nach all den Gesprächen, die wir geführt haben?«, konterte ich, während ein gefährlicher Cocktail aus Kränkung, Verwirrung und Wut in mir hochkochte. »Du hast kein Recht …«

»Ich habe jedes Recht!«, rief er. »Warum suchst du immer noch, Rom? Warum gestehst du dir deine wahren Gefühle nicht ein?«

»Ich werde dir jetzt mal sagen, was ich fühle! Im Gegensatz zu dir, Charlie, sieht mich der Mann, nach dem ich suche, genauso wie ich bin – und ja, es war nur eine Sekunde, doch in dieser einen Sekunde habe ich alles verstanden, was ich verstehen musste. Und deshalb suche ich noch immer.«

»Aber er verdient dich nicht so wie …«

»Wie wer, Charlie?«

»Wie ich

Überrumpelt von diesem überraschenden Schlag, schwankte ich einen Moment, stand dann aber wieder fest im Ring. »Das ist lächerlich. An Weihnachten hättest du mich haben können, aber du wolltest mich nicht.«

»Jetzt will ich!«

Da war er, der entscheidende Schlag, der den Kampf auf der Stelle beendete. Während wir uns stumm anstarrten, schienen seine Worte von den umliegenden Gebäuden widerzuhallen.

Das Feuer in seinen Augen war erloschen. Stattdessen lag darin nun eine tiefe Verletzbarkeit, die ich das erste Mal vor zwei Monaten im Garten von Combermere Abbey gesehen hatte. Was sollte ich tun? Erwartete er, dass ich ihm jetzt glücklich in die Arme fiel, nachdem er mich fast ein Jahr lang so offenkundig zurückgewiesen hatte?

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, gestand ich schließlich.

Seine Schultern sackten nach unten. »Dann sag nichts. Denk einfach darüber nach, okay? Sicher, das ist alles ein ziemliches Durcheinander, und ich kann verstehen, dass du vorsichtig bist. Aber was da neulich im Wald passiert ist … Ich weiß genau, dass auch du etwas dabei gefühlt hast.«

Er hatte Recht, natürlich, aber ich brauchte Zeit, um nachzudenken und die einzelnen Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenzufügen: Charlie, PK, meine Suche, die Möglichkeit einer neuen Musikkarriere … »Ich weiß nicht mehr, was ich fühle.«

Er holte tief Luft: »Aber du wirst darüber nachdenken, ja?«

Ich nickte.

»Sei vorsichtig mit deinen Wünschen«, hatte meine Mutter früher gern gesagt, und als Jugendliche hatte ich das nie verstanden. Vielmehr hatte ich immer angenommen, meine Mutter wollte mich auf diese Weise nur davon abhalten, irgendwelche verrückten, unlogischen, gefühlsgesteuerten Ideen zu verfolgen.

Doch inzwischen war mir die Bedeutung ihrer Worte klar geworden. Ich hatte ungefähr drei Jahre meines Lebens in die Wunschvorstellung investiert, Charlie wäre meine große Liebe, nur damit mir diese Liebe letztes Jahr um die Ohren fliegen konnte und sie nun mit neuer Kraft wiedererwachte. Außerdem hatte ich fast ein Jahr meines Lebens der Suche nach einem Mann gewidmet, der meine Liebe anscheinend wollte, aber sofort wieder verschwand und leider auch verschwunden blieb. Der November neigte sich dem Ende zu, und ich hatte nur noch einen Monat Zeit für meine Suche. Wenn ich mir gegenüber ehrlich sein wollte, musste ich mich fragen, wie realistisch meine Chancen waren, ihn jetzt noch zu finden …

Natürlich liebte ich Charlie. Man verbrachte nicht drei Jahre seines Lebens damit, sich nach jemandem zu verzehren, ohne dass dies Spuren hinterließ. Aber waren nach einem Jahr, in dem ich mein Herz anderweitig vergeben hatte, noch genug Gefühle übrig, um eine Beziehung darauf aufzubauen? Und was war mit meinen Gefühlen für PK? Dem verlockend schimmernden Preis, der mich am Ende meiner Suche erwartete, der Verheißung, die jeden meiner Schritte in diesem Jahr diktiert hatte. Ich hatte gewartet, mich nach ihm gesehnt, mit der inneren Gewissheit, dass er mein werden würde.

Als ich Onkel Dudley und Tante Mags meine Zweifel anvertraute, sagten sie, ich solle meinem Herzen folgen. Das Problem war jedoch, dass mein Herz doppelt so verwirrt war wie mein Kopf. Wren schlug vor, ich solle mir vorstellen, neben wem ich am Morgen erwachen wollte, doch das machte die Sache nicht leichter.

Den besten Rat erhielt ich schließlich von gänzlich unerwarteter Seite.

Der betagte Laptop, den ich zu Hause benutzte, hatte plötzlich keine Lust mehr, weiterhin für mich zu schuften, und blieb eines Abends einfach hängen, weigerte sich stur, herunterzufahren oder sich neu starten zu lassen. Wenn es um Computer ging, gab es nur einen Freund, an den ich mich wenden konnte.

»Hallo, Tom Rushton.«

»Hi, ich bin’s, Rom.«

»Romulus! Was gibt’s Neues aus dem Reich der Jingles? Immer noch dabei, zweifelhafte Produkte in Songs zu verewigen?«

»Ich bekenne mich schuldig. Entschuldige den Überfall, Tom, aber mein Laptop spinnt. Meinst du, du könntest ihn dir mal ansehen?«

»Klar, jederzeit. Was hast du zum Beispiel heute Abend vor?«

»Nichts.«

»Super. Dann komm einfach vorbei. Cayte hat mir das neue Kochbuch von Gordon Ramsay geschenkt, da werde ich heute Abend ein wenig experimentieren. Na, klingt das gut?«

»Und wie. Danke, du bist ein Schatz!«

»Schon gut. Oops, ich muss wieder ran, der Boss ist gerade unten vorgefahren.«

Als ich am Abend bei ihm eintraf, war er mitten in den Essensvorbereitungen. Sein Vater war gelernter Koch und hatte ihm schon in jungen Jahren beigebracht, rasend schnell zu schnippeln. Es imponierte mir immer wieder, wie er mit einem grausig scharfen Messer in affenartiger Geschwindigkeit Gemüse zerhackte, ohne überhaupt hinsehen zu müssen.

»Das wird eine Art Eintopf«, teilte er mir mit, während er das Kochbuch studierte, das aufgeschlagen auf der Küchenwaage lag. »Eigentlich müsste man dafür das Gemüse nur grob schneiden, aber du kennst mich ja. Wenn ich einmal angefangen habe, wird alles zu Kleinholz zerhackt.«

»Es sieht jedenfalls sehr eindrucksvoll aus.«

»So soll es sein.« Er machte eine kleine Verbeugung vor dem Buch: »Danke, Gordon.« Dann wandte er sich mir zu: »Dein Computer macht also Ärger.«

Ich blickte auf den Delinquenten, den ich mir unter den Arm geklemmt hatte. »Ja. Ich glaube, er will in den Ruhestand gehen.«

»Wir sehen uns das gleich mal an. Gehen wir in mein Arbeitszimmer, das Essen kann so lange warten.«

Toms Arbeitszimmer war das winzigste Büro, das ich kannte. Im Grunde war es kaum mehr als ein großer Schrank. Darin standen ein kompakter, auf halbe Größe zurechtgestutzter Schreibtisch (den Tom mit der Säge malträtiert hat, um ihn »maßgenau« anzupassen), ein alter Bürostuhl mit einem ungünstigen Knubbel auf der ledernen Sitzfläche sowie ein Drucker, den Tom ständig loben, beschimpfen oder bedrohen musste, damit er etwas ausdruckte. Sein kärgliches Büro stand in krassem Widerspruch zu seinem Arbeitsplatz in einer Hightech-Firma mit ihren hochmodern ausgestatteten Büros, den großzügigen Räumlichkeiten und der schicken Einrichtung.

Er nahm mir den Laptop ab und inspizierte ihn. »Hm. Ich sage das nicht gern, Rom, aber ich glaube, da ist nichts mehr zu machen.«

Obwohl ich genau das befürchtet hatte, war es höchst unerfreulich, es bestätigt zu bekommen. Bei dem Gedanken, welches Loch ein neuer Laptop in meine Finanzen reißen würde, wurde mir ganz schwindlig. »Toll. Das sind ja großartige Neuigkeiten.«

Er grinste. »Lass ihn mir einen Tag oder so da. Vielleicht kriege ich ihn wieder einigermaßen hin.« Er bedeutete mir, auf dem Klappstuhl Platz zu nehmen, den er aus dem Schlafzimmer geholt hatte. »Und, wie geht’s sonst?«

»Ach, wie immer.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust: »Lügnerin.«

»Was?«

»Wie viele Jahre kennen wir uns jetzt? Ist dir noch gar nicht aufgefallen, dass du für mich mittlerweile wie ein offenes Buch bist? Schon als du zur Tür hereinkamst, habe ich dir angesehen, dass du total down bist. Und versuch jetzt bitte nicht, dich rauszureden. Komm, erzähl Onkel Tom, was dich bedrückt.«

Verlegen rutschte ich auf dem Stuhl herum: »Ich kann nicht.«

»Warum?«

»Weil es jemanden betrifft, den du kennst.«

»Aha.« Er lehnte sich zurück und nickte: »Es geht also um Charlie.«

Entgeistert starrte ich ihn an.

»Ach, komm schon, Rom, das war ja nicht gerade ein Geheimnis. Ihr beiden schleicht doch schon seit Ewigkeiten wie die Katzen um den heißen Brei herum.«

Da Tom nun wusste, um wen es ging, konnte ich ihm genauso gut gleich alles erzählen: »Er hat mir endlich gestanden, was er für mich empfindet, und mich gebeten, darüber nachzudenken, ob ich mit ihm zusammen sein möchte.«

Seine Augen leuchteten auf. »Super! Das ist genau das, worauf du all die Jahre gewartet hast!« Da ich darauf nicht reagierte, hob er fragend die Brauen: »Stimmt doch, oder?«

»Ich weiß nicht. Irgendwie kommt es mir so vor, als hätten sich seine Gefühle genau in dem Moment geändert, als ich mich anderweitig orientiert habe. Aber kommt dieser plötzliche Umschwung daher, weil ich für ihn auf einmal unerreichbar und damit interessant geworden bin oder weil er schon immer so für mich empfunden hat? Wenn er mich mag, sollte er wissen, dass ich keine Spielchen …«

»Rom, nein, hör zu! Zunächst einmal ist Charlie ein Mann! Wir brauchen ewig, bis wir etwas schnallen, es sei denn, wir halten es für unsere eigene Idee, und selbst dann jagen wir in der Regel den falschen Frauen hinterher. Wir alle wissen, dass Charlie mehr in dir sieht als nur eine Freundin – nur hat er es eben als Letzter erkannt. Und ja, die Tatsache, dass du einen anderen Typen ins Visier genommen hast, war eindeutig ein Auslöser. Er brauchte einfach einen ordentlichen Tritt in den Hintern. Glaub mir, Rom, wir Männer sind simple Wesen: Wir mögen keine Probleme. Kein Mann – es sei denn, er ist komplett irre – wird freiwillig die Initiative ergreifen, wenn er sich nicht einigermaßen sicher sein kann, dass er sich keinen Korb einfängt. Sieh dir Jack und Soph an: Sie musste praktisch mit einer Reklametafel mit der Aufschrift ›Ich mag dich‹ vor ihm herumlaufen, bis er es riskierte, sie um ein Date zu bitten. Doch sobald er diesen Schritt gewagt hatte, konnte er sich ganz und gar auf die Beziehung einlassen. Bei Charlie wird es genauso sein.«

»Aber es geht nicht nur um Charlie.«

»Nein?«

»Wie du weißt, suche ich schon das ganze Jahr nach dem Mann, der mich geküsst hat, und er geht mir einfach nicht aus dem Sinn. Denn er musste nicht überzeugt werden: Er hatte sich für mich entschieden in dem Moment, als sich unsere Blicke das erste Mal begegneten. Ist ein Mann, der so reagiert, nicht besser für mich als jemand, den ich erst davon überzeugen muss, dass ich seine Zuneigung verdient habe?«

Nachdenklich strich Tom über sein stoppeliges Kinn. Schließlich beugte er sich nach vorne: »Pass auf, ich kann es dir nur auf meine Weise beschreiben. Es dauert ein wenig, also hab Geduld.«

»Okay.«

»Wie ich die Sache sehe, hast du zwei Optionen: das Neue und das Bewährte. Es ist ein wenig so, wie wenn du nach einer neuen Software für deinen Computer suchst. Es wird immer das neueste Programm, die neueste App, das neueste Gadget geben, die alle ganz neue, großartige Dinge versprechen. Du hast keine Ahnung davon, weil du noch nie damit gearbeitet hast, aber es ist spannend, weil du nicht weißt, was dich erwartet. Im Vergleich dazu wirken die altbekannten Dinge langweilig. Aber manchmal ist das Bewährte genau das, was man braucht. Sicher, es ist nicht so aufregend und schick wie das Neue, aber man hat Zeit gehabt, es kennenzulernen, man weiß, worauf man sich einlässt, und man kann sich darauf verlassen, dass es das tut, was nötig ist. Du runzelst die Stirn. Ergibt das für dich keinen Sinn?«

Ich wollte ehrlich sein: »Willst du mir einen Rat über Beziehungen geben oder Software verkaufen?«

Er lachte: »Am besten beides. Ich habe schließlich meine Unkosten.«

Ich rieb mir über die Stirn. »Entschuldige. Was versuchst du mir gerade zu sagen?«

»Dein Fremder ist wie die neue Software. Aufregend und geheimnisvoll. Er ist in dein Leben hineingeplatzt und hat dich total umgehauen. Er könnte die Liebe deines Lebens sein, und wenn du ihn findest, könntest du die erfüllende und tiefe Beziehung erleben, die du dir erträumt hast.«

»Aber?«

Eindringlich sah er mich an: »Aber hinter all diesem verheißungsvollen Neuen könnten Probleme lauern, die man anfangs nicht bemerkt: Störungen und Viren im System, wenn du so willst. Er könnte dein Leben total ruinieren, alles erschüttern, dessen du dir bislang sicher warst, und dich mit nichts zurücklassen. Er könnte ein zerstörerischer Virus sein, der auf seine Gelegenheit wartet und der dann einen Schaden anrichtet, der nur in jahrelanger Arbeit wieder zu reparieren ist.«

»Charlie ist dann wohl so eine Art normales Textverarbeitungsprogramm, ja?«

Er schüttelte den Kopf: »Ich will diese Analogie nicht überstrapazieren. Ich versuche nur, dir zu sagen, dass du Charlie gut kennst. Du weißt, wie er tickt, was er mag und nicht mag, wie er die Welt sieht. Und lass uns den Tatsachen ins Auge sehen: Du weißt das alles so genau, weil du seit drei Jahren in den Kerl verliebt bist. Sicher, was Entscheidungen angeht, ist er nicht gerade der Schnellste – ich meine, du hast ja einige seiner früheren Freundinnen kennengelernt –, aber allein die Tatsache, dass er so lange gebraucht hat, um dich als die zu sehen, die du wirklich bist, bedeutet doch, dass er die ganze Zeit über gelernt hat. Er wird nichts davon vergessen.« Sein Ton wurde sanft: »Kannst du dasselbe über den Typen sagen, dem du seit einem Jahr hinterherjagst? Erinnert er sich überhaupt daran, wer du bist?«

Das zu hören war hart für mich, aber ich musste Tom Recht geben. »Ich sollte mich also eher für die Standardeinstellung entscheiden und nicht für die fragwürdige App?«

Tom zuckte die Achseln: »Das musst du selbst herausfinden. Aber tu es bald. Lass den armen Kerl nicht unnötig lange zappeln.«

Als ich später am Abend nach Hause ging, kreisten mir Toms Worte unentwegt im Kopf herum.

Wen immer ich wählte, es musste der Richtige sein.