Nelke.psd13

Could it be magic?

Hi. Mein Bruder hat mir von deiner Anzeige erzählt, und da musste ich sofort mit dir Kontakt aufnehmen. Ich glaube, wir sollten uns mal treffen. Bitte schreib mir eine E-Mail an die untenstehende Adresse. Danke, Mark.

Die späte Antwort auf Wrens Anzeige kam total überraschend. Wren war vor Aufregung so außer Rand und Band, dass sie nach der Arbeit mit einer Kopie der E-Mail zum Radiosender eilte, um mir die gute Nachricht persönlich zu übermitteln. Onkel Dudley freute sich natürlich riesig, als er davon erfuhr – für ihn ein Beweis, dass sich ein Hochihoch anbahnte.

Am Samstagnachmittag saß ich in der Nähe meines Hauses auf einer Bank am Kanal und bemühte mich, ruhig zu bleiben, während ich dem Freizeichen in der Handyleitung lauschte. Seit ich am letzten Mittag Marks E-Mail erhalten hatte, waren schon mehrere E-Mails zwischen uns hin- und hergegangen. Anders als bei Sebastian setzte ich auf Mark große Hoffnungen: Seine E-Mails waren zwar knapp gehalten, deuteten jedoch darauf hin, dass er sich an mich erinnerte und mich unbedingt treffen wollte.

Am anderen Ende der Leitung wurde abgehoben, und ich hielt den Atem an.

»Hallo?«

Die Stimme klang tief genug, aber war es auch seine Stimme? »Hi, spreche ich mit Mark?«

»Ja. Du bist Romily, stimmt’s?«

»Ja. Hi.«

»Hi.«

Die nun folgende gestelzte Unterhaltung würde sicher keinen Rhetorikpreis gewinnen, doch der Inhalt war nebensächlich. Ich musste seine Stimme hören, um sicher sein zu können.

»Ich finde, wir sollten uns treffen«, sagte ich schließlich. »Kennst du George – das Kanalboot-Café am Brindley Place?«

»Klar, sehr gut sogar. Sagen wir morgen um zehn Uhr?« Je länger ich seine Stimme hörte, desto überzeugter war ich.

»Perfekt. Also bis morgen.«

»Super. Bis morgen, meine Schöne.«

Marks letzte Worte trafen mich wie ein Blitz. Meine Schöne – genau das war es, was ich hören musste! Er konnte unmöglich die Bedeutung dieses Ausdrucks kennen, wenn er nicht PK war.

Zitternd wählte ich Wrens Nummer.

»Hey, Wren hier. Ich bin im Moment nicht erreichbar, weil ich hoffentlich gerade unaussprechliche Dinge mit einem sagenhaft tollen Mann treibe oder weil ich gerade einer Klasse renitenter Vierzehnjähriger die hohe Kunst des Schauspiels nahebringe – ihr entscheidet. Wie auch immer, ich bin nicht da, und solltet ihr jetzt immer noch zuhören, dann hinterlasst doch eine Nachricht. Sollte der Anrufer mein Boss sein, möchte ich noch anmerken, dass diese Ansage Teil einer Stanislavskyschen Improvisationsübung ist, mit dem Ziel herauszufinden, wie nahe Schauspiel der Wirklichkeit kommen kann, ehe es selbst Wirklichkeit wird. Ciao!«

Ich grinste. Nur Wren konnte etwas so Banales wie eine Bandansage in einen absurden Sketch verwandeln.

»Wren, ich bin es. Die Stimme passt. Ich wiederhole: Die Stimme passt. Ich treffe ihn morgen Vormittag im Café am Brindley Place und werde anschließend sofort bei dir vorbeikommen. Ich glaube, diesmal ist es der Richtige!«

Am nächsten Morgen fuhr ich statt mit dem Auto mit dem Zug in die Stadt, um nicht noch aufgelöster anzukommen, als ich ohnehin schon war. Meine Nervosität war seit den frühen Morgenstunden stetig gestiegen, und als ich jetzt durch die Straßen ging, waren die flatternden Schmetterlinge in meinem Bauch nicht mehr zu bändigen. Dummerweise hatte ich mir für dieses Treffen mit meinem umwerfenden Fremden einen der regenreichsten Tage des Jahres ausgesucht, und so war mein tolles rotes Monsoon-Kleid mit Tropfen gesprenkelt und begann bereits zu knittern.

Unter dem dürftigen Schutz meines Regenschirms überquerte ich den Victoria Square, vorbei an der weiblichen Brunnenstatue, die im Volksmund als »The Floosie in the Jacuzzi« bezeichnet wurde. Einen Moment blieb ich an der Stelle stehen, wo PK mich geküsst hatte, und ein kalter nervöser Schauer überlief mich, als ich zu dem verzierten kleinen Brunnen emporblickte, den ich als Kind für ein Prinzessinnenschloss gehalten hatte. Damals hatte ich an Märchen geglaubt. Könnte dies der Anfang meines Märchens, meines Happy Ends sein?

Bis ich am Brindley Place angekommen war, schimmerte mein dunkelblondes Haar nicht mehr glatt und seidig, sondern kräuselte sich feucht und mausfarben. Gut möglich, dass die zukünftige Liebe meines Lebens nach einem kurzen Blick auf mich sofort die Flucht ergreifen würde …

Vor dem Café blieb ich kurz stehen, um tief durchzuatmen und eine irgendwie präsentable Haltung einzunehmen. Da es inzwischen schüttete wie aus Kübeln, war das eine verlorene Schlacht, doch der Vorsatz zählte.

Als ich das Unvermeidliche nicht länger hinauszögern konnte, betrat ich das Kanalschiff. Rasch scannte ich die anwesenden Gäste, bis mein Blick auf einen Mann fiel, der am hinteren Ende saß. Er saß mit dem Rücken zu mir, doch sein gewelltes Haar und der gestreifte Schal waren unverwechselbar.

Oh. Gott. Hilfe! Es war so weit: der Moment, auf den ich gewartet hatte. Ich zog meinen Mantel aus und ging langsam auf mein Schicksal zu …

»Mark?«, fragte ich und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter.

»Ja«, sagte er und drehte sich um.

Hätte sich ein mit sieben Tentakeln ausgestatteter Außerirdischer im Café materialisiert und ein Tom-Jones-Medley angestimmt, wäre ich nicht so entgeistert gewesen wie in diesem Moment. Denn Stimme, Schal, Figur und Haar passten zu der Erinnerung an den Mann, der mir das Herz gestohlen hatte, doch das Gesicht nicht.

Vielleicht hatte ich ihn falsch im Gedächtnis? Schließlich hatte ich nur wenige Minuten mit ihm verbracht, und seitdem waren fünf Monate vergangen. Vielleicht hatte ich in meiner rosarot gefärbten Vorstellung von ihm den Mann gesehen, den ich sehen wollte, und nicht den, der er wirklich war. Bei unserer Begegnung war ich ziemlich daneben gewesen, war es da nicht möglich, dass der Schock über Charlies Abfuhr und mein Zusammenstoß mit dem Plüschtierstand meine Wahrnehmung beeinträchtig hatten?

Mir wurde bewusst, dass ich ihn anstarrte wie eine Idiotin, also setzte ich mein freundlichstes Lächeln auf und nahm Platz. Ich musste die Realität akzeptieren und meine Traumvorstellung von ihm begraben.

»Ich habe Kaffee bestellt, ist das okay für dich?«, fragte er, während ich mich nach Kräften bemühte, seine schiefen Zähne zu ignorieren – vermutlich ein weiteres Detail, das ich radikal gelöscht hatte.

»Kaffee ist gut.« Hatten seine Augen auf dem Weihnachtsmarkt nicht ein anderes Braun gehabt, ein Haselnussbraun? Doch als ich kurz darüber nachsann, konnte ich mich plötzlich gar nicht mehr an seine Augenfarbe erinnern. »Danke, dass du dich gemeldet hast.«

»Na ja, mein Bruder hat die Anzeige gesehen und mir davon erzählt.«

»Warst du mit ihm unterwegs an dem Tag, als wir uns trafen?«

»Ja.« Hatte er da mit den Augenbrauen gezuckt?

»Zwei Kaffee?«, fragte die junge Bedienung und unterbrach unser Gespräch. Während sie Tassen, Kaffeekännchen, Milchkännchen und Löffel auf den Tisch stellte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich zu sammeln. Vielleicht wollte mir der Allmächtige auf diese Weise eine Lektion erteilen, weil ich so oberflächlich war und so viel Wert auf das Äußere legte, und mich ermahnen, genauer hinzusehen und die innere Schönheit zu erkennen.

Etwa zehn Minuten lang unterhielten wir uns über dies und das, und mir wurde immer unbehaglicher zumute. Alles, was ich zu wissen glaubte, war ins Wanken geraten. Meine wunderbare Suche verlor deutlich an Reiz, als ich diesem Mann gegenübersaß, der so gar nicht zu dem Bild in meinem Kopf passte. Schließlich beschloss ich, Klartext zu reden.

»Warum musstest du damals eigentlich so plötzlich gehen?« Über diese Frage grübelte ich seit Monaten nach, und wenn Mark mein hübscher Fremder war, war er der Einzige, der mir darauf eine Antwort geben konnte.

Seine Miene verdüsterte sich ein wenig: »Bin ich ja gar nicht.«

Hä? »Doch, du bist einfach verschwunden. Deshalb habe ich mich ja auf die Suche nach dir gemacht.«

»Ah …«

»Das soll kein Vorwurf sein. Ich meine, es war viel los, und du hattest wahrscheinlich noch eine Menge Einkäufe zu erledigen, immerhin stand Weihnachten vor der Tür und so …« Was brabbelte ich da nur für dummes Zeug? Also, so hatte ich mir dieses Treffen nicht vorgestellt. Ich fühlte mich, als säße ich im falschen Film.

»Äh, ja.« Bedächtig schenkte er sich eine zweite Tasse Kaffee ein.

Na toll! Ich langweilte ihn.

Trotzdem wollte ich es wissen. »Also, ähm … warum bist du gegangen?«

Er sah mich an. »Entschuldige, ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst.«

»Aber ich …«

»Nein!« Heftig schlug er mit der Hand auf den Tisch und brachte mich zum Verstummen. Dann fuhr er sich durchs Haar und rang sichtlich um Fassung, während ich ihn anstarrte wie ein Trottel. »Tut mir leid, ich kann das nicht.«

»Was kannst du nicht?«

Sein Blick flackerte. »Ich sehe dich heute zum ersten Mal.«

»Was? Aber du hast gesagt …«

»Ich weiß. Das war gelogen. Mein Bruder hat die Anzei-ge gelesen und fand die Ähnlichkeit der Beschreibung mit mir verblüffend. Ich hatte in letzter Zeit nicht viel Erfolg mit Beziehungen, und Phil – mein Bruder – meinte, so einen unglaublichen Zufall könne man einfach nicht ignorieren.«

Verletzt, verwirrt und unglaublich wütend sah ich ihn an: »Tja, das hättest du gleich zu Anfang sagen sollen. Ich sitze hier wie … wie eine Irre und mache mir Vorwürfe, weil ich mich nicht richtig an dich erinnern kann, und jetzt erzählst du mir, dass du es gar nicht bist.«

»Entschuldige. Ich wollte dich wirklich nicht verletzen.«

Wutschnaubend ergriff ich Mantel und Handtasche und stand auf. »Hast du allen Ernstes erwartet, damit durchzukommen? War dir nicht klar, dass ich dir früher oder später auf die Schliche kommen würde?«

»Sieh mal, du kannst mir nicht verübeln, dass ich es versucht habe. Ich meine, eine schöne Frau wie du sucht nach einem Typen, der genauso aussieht wie ich. Ich dachte, du würdest vielleicht irgendetwas in mir sehen, das dir gefällt.«

»Mal angenommen, das hätte ich – hättest du mir dann die Wahrheit gesagt?«

Er wandte den Blick ab – und das genügte mir als Antwort. Ohne ein weiteres Wort verließ ich das Café.

Wren konnte ich im Moment noch nicht gegenübertreten. Noch aufgewühlt von dem Erlebnis, wickelte ich mich fest in meinen Mantel, rannte die Kanalstufen hoch und ging über die Brücke ins Zentrum zurück. Im Innenhofcafé eines Kaufhauses bestellte ich mir eine Flasche Wasser und suchte mir ein stilles Plätzchen unter dem Vorsprung einer Rolltreppe. Smooth Jazz plätscherte aus der Musikanlage des Cafés, dessen offener Raum inmitten der hohen Mauern mir eine wohltuende Anonymität bot, in der meine pochenden Kopfschmerzen allmählich abklangen.

Ich war erleichtert, dass Mark nicht mein Fremder war, aber das Treffen mit ihm hatte meine Erinnerung an PK total infrage gestellt. Bis dahin war ich mir vollkommen sicher gewesen, wie er aussah – aber wie konnte ich das jetzt noch sein, nachdem ich Mark beinahe auf den Leim gegangen wäre? Es könnte Gott weiß wie viele Männer mit gestreiftem Schal und gewelltem Haar geben, die PK ähnlich sahen. Mit einem Gefühl tiefer Resignation wurde mir bewusst, dass der Mann, den ich am Valentinstag gesehen hatte, genauso gut Mark hätte sein können und nicht der Mann, nach dem ich suchte.

»Rom? Hi, dachte ich mir doch, dass du das bist!«

Erschrocken blickte ich auf, direkt in Charlies lächelndes Gesicht. Er hielt eine Times unter den Arm geklemmt und einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand. »Darf ich mich zu dir setzen?«

Großartig! Die letzte Person, die ich im Moment sehen wollte, war Charlie Wakeley. Aber ich konnte ihm seine Bitte ja schlecht abschlagen, zumal er so erfreut zu sein schien, mich zu sehen. Also nahm ich mich zusammen und nickte lächelnd.

»Ich will dich aber nicht stören.«

»Das tust du nicht. Was führt dich hierher?«

»Ach, ich wollte einfach ein wenig raus. Mein Nachbar hat einen neuen Rasenmäher, der wie ein Flugzeugmotor klingt – also keine Chance, den Sonntag gemütlich im Bett zu verbringen. Und du?«

»Ich … äh …« Meine Kopfschmerzen wurden wieder schlimmer, und plötzlich war mir unangenehm warm. Ich fühlte mich krank.

Besorgt musterte er mich: »Hey, bist du okay?«

Mit einer Handbewegung tat ich seine Sorge ab. »Mir geht es gut, danke. Es ist gestern Abend nur etwas spät geworden.«

»Du lügst!«

Das war so nervig. Warum konnte er nicht einfach – nur für heute – vergessen, dass er mein bester Freund war und mich sehr gut kannte? Statt neben mir zu sitzen und mit seinem zerzausten Haar, den Wochenendbartstoppeln und dem blauen Pulli zu der Jeans extrem entspannt und cool auszusehen, während ich gerade in der Paraderolle einer verschwitzten, verzweifelten Irren glänzte. Im Grunde hatte ich nur zwei Optionen: mich mit einer Ausrede verdrücken (die Arbeit konnte nicht herhalten, schließlich hatte er mich schon bei einer Schwindelei ertappt) oder ihm die Wahrheit erzählen. Und bei genauerer Betrachtung kam da eigentlich nur Letzteres infrage.

Ich konnte ihn nicht ansehen vor Verlegenheit, während ich ihm alles gestand.

Fairerweise musste ich Charlie zugestehen, dass er ruhig zuhörte und nicht ein Mal der Versuchung erlag, sich über mich lustig zu machen. »Wow! Das war ja ein ereignisreicher Vormittag.«

»Das kann man sagen.« Ich hatte einen extrem trockenen Mund und trank einen großen Schluck Wasser. »Das Schlimmste an der Sache ist, dass es durchaus sein kann, dass ich damals bei unserem Auftritt am Valentinstag Mark gesehen habe.«

Er runzelte die Stirn: »Und was ist daran so schlimm?«

»Na ja, ich dachte, es wäre der Mann gewesen, nach dem ich suche.«

Er nippte an seinem Kaffee. »Richtig.«

Es war komisch, mit Charlie darüber zu sprechen, vor allem angesichts unserer jüngsten Geschichte. Ich beschloss, dass es das Beste wäre, mich aus dem Staub zu machen.

»Wie auch immer, Wren erwartet mich, deshalb …«

Er beugte sich nach vorne. »Klar. Sicher. War trotzdem nett, dich zufällig hier zu treffen.«

Ich stand auf. »Finde ich auch.«

Ich wollte mich gerade abwenden, als er mir über den Arm strich. »Schau, Rom, wenn dieser mysteriöse Mann so hingerissen von dir war, wie du glaubst, wird er ebenfalls versuchen, dich zu finden. Und wenn er nicht hingerissen war, tja, dann ist er ein Idiot.«

Seine Worte berührten mich mehr, als ich ihm zeigen wollte.

»Wie kann das sein, dass er es nicht war?« Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Wren wie eine beleidigte Dreijährige in ihrem ultramodernen Wohnzimmer.

»Darum geht es gar nicht. Ich dachte, dass er es ist. Und das ist das Schreckliche daran.«

»Normalerweise hast du doch ein gutes Bauchgefühl, Rom. Du hättest auf deine Intuition hören sollen.«

Ich lehnte mich in dem weichen Sofa zurück. »Und was, wenn meine Intuition falsch liegt? Meine Erinnerungen an PK sind total vage …«

Wren stapfte zu mir herüber und setzte sich neben mich. »Jetzt hör mir mal gut zu, meine Liebe! So etwas will ich von dir nie wieder hören, okay? Was du da tust – und woran du entgegen aller Vernunft glaubst –, ist total inspirierend. Ich habe heute deinen Blog gelesen. Hast du in letzter Zeit mal reingeschaut? Da sind über fünfzig Mitteilungen von Männern und Frauen, die du noch nie im Leben gesehen hast. Sie glauben an dich. Und sie glauben an deine Erinnerung an den Typen – wie vage sie auch sein mag. Deine Überzeugung ist vorübergehend ins Wanken geraten, aber damit musstest du rechnen. Doch die Romily Parker, die ich kenne und bewundere, ist nicht die Person, die aufgibt, nur weil sie zwei Mal eine Schlappe erlitten hat. Es ist an der Zeit, ein paar Brücken zu bauen.«

»Was meinst du damit?«

Mit gespielter Verzweiflung sah mich Wren an. »Hast du denn nichts gelernt in den vielen Stunden, die du vor der Glotze gesessen und dir sämtliche Folgen von The Hills und The O. C. reingezogen hast?« Sie streckte die Brust vor, schüttelte ihr Haar zurück und sagte in schleppendem kalifornischem Singsang: »Schätzchen, du musst eine Brücke bauen. Und. Sie. Überqueren.«

Ich wusste, dass sie Recht hatte. In letzter Zeit war so vieles geschehen, das mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hatte, doch tief in mir drin war mein Glaube unversehrt geblieben. Er war kurzzeitig erschüttert worden, aber das würde ich nie wieder zulassen.

Wenn man so viele Hochzeiten miterlebt wie wir, hat man zwangsläufig hin und wieder Déjà-vu-Momente. Es gibt viele, aber eben nicht unendlich viele Varianten, einen Toast auszusprechen, einen Raum zu dekorieren, einen ersten Tanz zu tanzen oder am Ende des Abends eine emotionale Rede zu halten: unvermeidlich, dass sich da manches wiederholt.

Da immer mehr Räumlichkeiten die Lizenz für Hochzeitfeierlichkeiten erhielten, wurde das Spektrum an Mottopartys immer breiter. Wir sind schon an den merkwürdigsten Orten aufgetreten: von einem Clubhaus in einer FKK-Ferienanlage (zum Glück entschieden sich die meisten Gäste für irgendeine Art von Bekleidung) über ein ehemaliges psychiatrisches Krankenhaus bis hin zu einer Feuerwehrwache und einem restaurierten Bahnhof. (Braut und Bräutigam gaben sich im Stellwerk das Jawort, ehe sie mit ihren Gästen im Stil der vierziger Jahre auf dem Bahnsteig feierten.) Doch bei jedem Hochzeitsfest gab es einige feste Größen: Speisen, Getränke, Musik, Blumen, Verwandte, Freunde und mindestens einen peinlichen Onkel/Vater/Freund der Familie/Schwiegermutter/Expartner der Braut oder des Bräutigams.

Unsere zweite Hochzeit im Mai fand auf einem weitläufigen Anwesen in Oxfordshire statt, wo wir schon mehrfach aufgetreten waren. Es ist schrecklich, so etwas zu sagen – und ich weiß, dass es für die Gäste ein perfekter Tag war, an den sie sich ihr Leben lang erinnern würden –, doch in unseren Augen war diese Veranstaltung eine absolut belanglose Angelegenheit. Die Braut trug ein nichtssagendes trägerloses Kleid, und ihr Brautstrauß war in dem üblichen Rosa und Weiß gehalten. Die Mutter der Braut hatte einen großen Hut auf, die Mutter des Bräutigams eine Kreation aus Federn und Bändern. Bräutigam, Trauzeuge und der Vater der Braut hatten sich in hellgraue Anzüge mit rosa Krawatten gezwängt, in denen sie sich unwohl fühlten, und trugen graue Hüte mit sich herum, mit denen sie nichts anzufangen wussten. Die Reden waren zu lang, das Büfett kam zu spät, und die Gäste wurden draußen auf dem Rasen mit Champagner und Kanapees ruhiggestellt.

Auffällig war, dass die Braut und der Bräutigam immer weniger Zeit miteinander verbrachten, je weiter der Abend voranschritt. Von außen betrachtet waren alle Bestandteile einer typischen Hochzeit vorhanden, und man hatte offensichtlich auch eine Menge Geld in die Feier investiert. Doch etwas fehlte an diesem glatten, perfekten Bild: Ich merkte es gleich bei der Ankunft, und es wurde beim ersten Tanz des Brautpaars bestätigt: Während sie sich halbherzig im Walzertakt drehten, hielt der Bräutigam den Blick stur über den Kopf seiner frisch angetrauten Frau hinweg gerichtet, und diese starrte eisern auf seine Schulter. Verwandte und Freunde sahen wohlwollend zu und ließen sich von dieser Darbietung offenbar täuschen. Doch mir fiel es auf und meinen Freunden genauso. Es war hohl, als wäre das Herz dieser Veranstaltung von der Planungsliste gestrichen worden.

»Irgendwas an dieser Feier war total daneben«, bemerkte Jack anschließend auf der Heimfahrt. »Es war, als wollte man jemanden vom Bahnhof abholen und stellte dann fest, dass derjenige gar nicht im Zug saß.«

»Genau. So eine unangenehme Feier habe ich schon lange nicht mehr erlebt«, stimmte ich zu.

»Erinnert ihr euch an die Hochzeit, als sich das Paar auf dem Weg zur Feier total zerstritten hat?«, fragte er lachend. »So viele verdatterte Gesichter habe ich bei einem Hochzeitsempfang noch nie gesehen.«

Im Gegensatz dazu war die Hochzeitsfeier, auf der wir am letzten Maisamstag spielen sollten, alles andere als vorhersehbar. Sie fand in Maudlem Hall statt, einem Herrenhaus im Regency-Stil, im Herzen von Jane Austens Hampshire, und sollte als ultimatives Kostümdrama in die Annalen der Pinstripes eingehen.

Zu unserer Erleichterung unterlagen wir nicht dem allgemeinen Kostümzwang – obwohl Wren und ich insgeheim mit der Vorstellung geliebäugelt hatten, in Empirekleidern und adretten Hauben auf der Bühne herumzuwirbeln. Zweihundert Gäste waren zu der Feier geladen, die zwei Tage dauern sollte. Das glückliche Paar hatte das »Maudlem-Hall-Wochenendpaket« gebucht, wie uns Gianni, der extravagante Hochzeitsplaner erzählte, der das ganze Event organisiert hatte.

»Dieses Paket ist einfach gigaantisch!«, schwärmte er, während er freudig durch den großen Ballsaal trippelte, wo die abendliche Feier stattfinden würde. »Kostüme, Kutschen, wogende Brüste so weit das Auge reicht, überall attraktive Herren und züchtige Damen mit Häubchen – ein ganzes Wochenende lang! Ist das nicht unglaublich? Und das alles zu einem faaabelhaften Preis – Waahnsinn!«

»Der ist nicht echt, oder?«, flüsterte mir Charlie zu, als wir Gianni auf einem Rundgang folgten.

»Doch, der ist echt«, raunte Wren. »Ich nehme ihn mir für meinen Schauspielunterricht als Charakterstudie zum Vorbild.«

Ich bin mir nicht sicher, ob Jane Austen, die ja durchaus Sinn für Humor besaß, an der modernen Mittelklasseversion der Welt, die sie in ihren Romanen porträtierte, Gefallen gefunden hätte. Ich wette, dass keine ihrer Heldinnen jemals in einer Pferdekutsche aus Plexiglas zu einem Ball gefahren wäre, sich für einen livrierten Lakaien mit einem HD-Camcorder in Pose geworfen und Unmengen von »Pemberly Pimms« oder »Bennet Bourbon« in sich hineingekippt hätte, ehe sie in ihrem Korsett wild zu »Mustang Sally« herumgehüpft wäre …

Doch das Bemerkenswerteste an dieser Hochzeit fand sich jenseits der zweifelhaften Freuden des Maudlem-Hall-Hochzeitspakets – und daran hätte Miss Austen sicher Gefallen gefunden.

Wren fiel es als Erster auf, mitten im dritten Song des ersten Sets. Als Tom mit dem Gitarrensolo für »(Everything I Do) I Do It For You« begann, stieß mich Wren in die Seite.

»Der Bräutigam schaut mürrischer drein als Mr Darcy. Ich glaube, ich habe ihn, seit wir angefangen haben, noch kein einziges Mal lachen sehen.«

Ich blickte zu dem Brautpaar hinüber, das – Gläser mit rosafarbenem Pemberley Pimms in Händen - an der Bar saß, und musste Wren Recht geben: Der Bräutigam zog ein Gesicht, das eher zu einer Scheidung als zu einer Hochzeit gepasst hätte. Die Braut, die eine Kopie von Jennifer Ehlers Hochzeitskleid in der klassischen BBC-Adaption von »Stolz und Vorurteil« trug, wirkte auch nicht gerade fröhlich und bedachte ihren Gatten mit missmutigen Blicken, während dieser hochmütig die Gästeschar beobachtete, die über den Tanzboden wirbelte. Angesichts des Songs, den wir gerade spielten, barg diese Szene eine köstliche Ironie, die Miss Austen gewiss dazu bewegt hätte, flugs zur Feder zu greifen, um das Geschehen für die Nachwelt festzuhalten.

Doch dies war erst der Beginn einer Reihe verblüffender Ähnlichkeiten zwischen den Anwesenden und den Personen aus dem berühmten Roman. Ein Cousin der Braut verbrachte den ganzen Abend damit, sämtliche weiblichen Singles zum Tanzen zu verführen und legte dabei ebenso viel Raffinesse an den Tag, wie Mr Collins es getan hätte. Zwei junge Mädchen im Teenageralter, die den gut aussehenden Trauzeugen anhimmelten und ihm nicht von der Seite wichen, kicherten lauter als Kitty und Lydia. Und der arme Brautvater, der den Großteil des Abends unbemerkt herumsaß, wünschte sich ohne Zweifel Mr Bennets Arbeitszimmer herbei, um darin verschwinden zu können.

Die Mutter der Braut wiederum war eine stattliche und entschieden übergewichtige Matrone, die mit dem Schuhlöffel in ein Korsett gequetscht worden war und sich verschwenderisch mit Selbstbräuner eingesprüht hatte. Zum einen war sie mit der wohl lautesten Stimme gesegnet, die wir jemals gehört hatten, und zum anderen mit dem unheimlichen Talent dafür, genau in den Momenten, da die Musik endete, gehässige Bemerkungen herauszutrompeten. Wäre Mrs Bennet höchstselbst anwesend gewesen, hätte sie sich wohl verpflichtet gefühlt, die Dame beiseitezunehmen und sie zu bitten, ihren Ton etwas zu mäßigen …

Auf der Heimfahrt mit Wren und Tom in den frühen Morgenstunden unterhielten wir uns über die Auftritte, die wir im nächsten Monat vor uns hatten. Der Millionärs-Gig rückte langsam näher, ein majestätisch funkelnder Lichtstreif am Horizont, der die Verheißung auf größere und bessere Zeiten in sich trug.

Wren kuschelte sich in den Beifahrersitz und schloss die Augen. »Ich kann es kaum erwarten, endlich auf dieser Bühne zu stehen.«

»Und ich kann es kaum erwarten, dass endlich Geld auf mein Konto fließt«, fügte Tom, der auf dem Rücksitz saß, schläfrig hinzu. »Vielleicht mag mich meine Bank dann wieder.«

Versonnen blickte ich auf die Straße hinaus. Die Aussicht auf diesen Gig war zweifellos aufregend, doch im Moment fand ich es weitaus spannender, welche Reaktionen Caytes Artikel auslösen würde. Zwangsläufig wanderten meine Gedanken zu PK. Was machte er gerade? Vermutlich schlief er, da es zwei Uhr morgens war. Träumte er von mir? Oder war ich schon seit Monaten aus seinen Gedanken verschwunden wie eine Schneeflocke in der ersten Frühlingssonne? Wie auch immer – der Juni versprach ein entscheidender Monat zu werden, sowohl für die Band als auch für mich.

Während ich in der tintenblauen Nacht auf die roten Rücklichter von Jacks vor uns fahrendem Van blickte, ahnte ich noch nicht, wie sehr sich diese Annahme bestätigen würde.