17
Here come the girls …
Montag war in der Fledermaushöhle ein ruhiger Tag, was mir nur entgegenkam, da ich in Gedanken immer noch damit beschäftigt war, die Teile des Charlie-Puzzles irgendwie zusammenzufügen. Mick wirkte ungewohnt geistesabwesend und einsilbig, als wir versuchten, uns zumindest dem Anschein nach mit irgendetwas zu beschäftigen, für den Fall, dass Amanda ihre neugierige Nase ins Zimmer hereinsteckte.
»Schönes Wochenende gehabt?«, fragte ich, um ein Gespräch zu beginnen.
»Ganz okay. Und du?«
»Großartig. Wir hatten einen Auftritt bei der Hochzeit von Freunden in Shropshire.«
»Nett. Also, ich wurde am Samstagabend angequatscht.«
»Echt? Ist ja super! Erzähl!«
Mick grinste verlegen: »Eigentlich kenne ich sie schon eine ganze Weile. Sie kommt oft mit ihren Freunden in meine Stammkneipe, und da haben wir schon häufiger ein paar Worte gewechselt. Ist echt witzig.«
»Hast du sie schon um ein Date gebeten?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Er starrte auf seinen Bildschirm. »Es war einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Aber du glaubst, sie würde Ja sagen, oder?«
»Irgendwie schon.«
»Worauf wartest du dann? Wenn du nichts sagst, woher soll sie es dann wissen?«
Er räusperte sich: »Vielleicht kriegt sie das ja irgendwie mit.«
»Mick!« Ich lachte. »Wenn du sie magst, solltest du dich mit ihr verabreden. Sonst kommt dir noch ein anderer zuvor.«
Er wirbelte in seinem Stuhl zu mir herum. »Seit wann bist du denn so eine Expertin?«
Ich beugte mich vor, um meinen verspannten Rücken zu dehnen. »Seitdem ich fast ein Jahr lang auf der Suche nach jemandem bin, den ich um seine Telefonnummer hätte bitten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«
In letzter Zeit war mir mehr als ein Mal der Gedanke gekommen, dass ich damals vielleicht mehr hätte tun müssen. Ich hätte ihm durch die verschneiten Straßen hinterrennen oder mit Eyeliner meine Telefonnummer auf seinen Handrücken schreiben sollen – eben irgendwas in der Art, wie es die Frauen in Liebesfilmen taten, wenn der Mann ihrer Träume zu entschwinden drohte. Doch es war alles so schnell gegangen, und bis ich aus meiner Erstarrung wieder erwacht war, hatte ihn bereits die Menge verschluckt.
Seit Frankies und Owens Hochzeit machten mir die unklaren Gefühle, die ich Charlie gegenüber empfand, schwer zu schaffen – nicht zuletzt deshalb, weil ich dachte, ich hätte mit dieser Sache schon vor Monaten abgeschlossen. Aber ich wollte nicht an Charlie denken: Ich wollte mich einzig und allein auf die Suche nach PK konzentrieren, all meine Hoffnungen, Träume und Energie nur darauf verwenden. Nach Charlies ambivalentem Verhalten am Wochenende konnte ich nicht mehr einschätzen, wie er zu mir stand, und ich war mir sehr wohl bewusst, dass die einzige Person, der das schlaflose Nächte bereitete, meine Wenigkeit war.
Als ich am Abend gemütlich vor dem Fernseher saß, wanderten meine Gedanken zum Glück nicht zu Charlie, sondern zu PK. Die Erinnerung daran, wie er mich umarmt hatte, musste zum Mittelpunkt meines Denkens werden, beschloss ich. Wenn ich das richtig hinbekäme, würden die Grübeleien über Charlies wie auch immer geartete Befindlichkeiten von selbst aufhören.
Und bis dahin sollte Charlie wieder die Rolle einnehmen, die er früher in meinem Leben innegehabt hatte: die meines besten Freundes.
Von: caytebrogan@gmail.com
An: romilyp@bubblemail.com
Hi Romily,
ich weiß, du wirst vermutlich nicht mit mir reden wollen, aber ich möchte dir sagen, wie aufrichtig leid es mir tut, dass ich dein Vertrauen missbraucht habe.
Ich kann mein Tun nicht rechtfertigen, also versuche ich es gar nicht erst. Ich wurde von dem Strudel der Ereignisse mitgerissen, und mein dummer Ehrgeiz hat die Oberhand gewonnen. Doch ich hatte wirklich keine Ahnung, welchen Schaden ich damit anrichten würde, sowohl in Bezug auf deinen Ruf als auch auf mein Privatleben. Ich habe es verdient, das stimmt, und ich bin mir auch vollkommen klar darüber, dass die Schuld allein bei mir liegt.
Aber ich habe Tom dadurch verloren, und es macht mich ganz krank, dass ich einen Menschen, der mir so viel bedeutet, einfach für eine Schlagzeile geopfert habe. Ich liebe ihn und bin ohne ihn verloren. Ich würde ihm gern alles erklären. Ich glaube nicht, dass ich ihn dadurch zurückgewinnen werde, doch dieses Gespräch wäre mir sehr wichtig. Im Moment würde er mich nicht anhören, aber vielleicht hört er dir zu.
Ich weiß, dass er dich unglaublich lieb hat und respektiert. Wenn du mir verzeihen könntest, dann wäre er vielleicht bereit, mir zuzuhören. Das ist alles, worum ich bitte – und ich weiß, es ist eine sehr große Bitte. Es ist nicht dein Problem, und eigentlich verdiene ich es nicht einmal, dass du diese E-Mail liest (was du vielleicht auch nicht tust).
Bitte, verzeih mir. Ich weiß nicht, wie ich den Kummer und die Demütigung, die du durch mich erfahren hast, wiedergutmachen kann, aber ich werde irgendeine Möglichkeit finden, das verspreche ich dir.
Das ist alles. Danke, dass du diese Zeilen gelesen hast.
Cayte
Ich saß im Büro und starrte auf die E-Mail, als könnte sie verschwinden, wenn ich sie nur lange genug fixierte. Das konnte doch wohl nicht wahr sein, oder? Ich musste mit offenem Mund vor mich hingeglotzt haben, denn ich schreckte erst hoch, als plötzlich eine Papierkugel gegen meine Lippen prallte, gefolgt von dem lauten Lachen meines Kollegen.
»Knapp daneben. Nein, nicht zumachen, Rom. Noch ein Schuss.«
»Idiot.«
»Du musst zugeben, dass das lustig war. Oder nicht?« Mick schüttelte den Kopf. »Mein genialer Humor ist hier einfach vergeudet. Also, was ist los? Hast du in der Lotterie gewonnen, oder was?«
Grinsend warf ich die Papierkugel zurück in seine Richtung. »Glaubst du ernsthaft, ich würde dann noch hier sitzen?«
»Stimmt auch wieder. Was ist es dann?«
Er rollte in seinem Stuhl zu mir herüber und stieß einen lauten Fluch aus, als er die E-Mail sah: »Die hat sie wohl nicht mehr alle! Ich hoffe, du sagst ihr, dass sie sich zum Teufel scheren soll.«
Ich starrte wieder auf den Bildschirm. »Hmmm.«
Mick musterte mich mit schmalen Augen. »Du lässt sie doch abblitzen, oder?«
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Klar. Ganz sicher.«
Er war alles andere als überzeugt. »Das musst du, Romily. Diese Frau ist es nicht wert, dass du auch nur eine Minute deiner Zeit an sie vergeudest.«
Micks Rat in Ehren, doch die E-Mail ging mir einfach den ganzen Tag über nicht aus dem Sinn. Während wir an den Jingles für eine Kreditfirma und eine Lotterie arbeiteten, war ich in Gedanken völlig woanders. Als ich dann am Abend zu Hause war, stand mein Entschluss fest.
Ja, Cayte hatte es nicht verdient, aber dennoch wollte ich ihrer Bitte nachkommen – Tom zuliebe und auch mir zuliebe. Tom litt wie ein Hund unter der Trennung, und was immer ich über sie denken mochte, sie hatte Tom zweifellos glücklich gemacht. Ich vermutete stark, dass er die Beziehung nur aus Loyalität mir gegenüber beendet hatte. Ich wollte keine Rache – obwohl die meisten meiner Freunde dies anders sahen –, also lag es an mir, Großmut walten zu lassen. Und noch etwas trieb mich an: Cayte hatte sich über mich lustig gemacht, weil ich an die wahre Liebe glaubte. Wie könnte ich ihren Spott besser parieren, als ihr zu beweisen, dass sie sich irrte …
»Das kann nicht dein Ernst sein!« Wren schäumte förmlich vor Empörung.
»Ich fand die Idee gut«, wandte ich ein, doch Wren hörte gar nicht zu.
»Du bist total unglaublich! Diese Frau hat dein Leben mehr oder weniger ruiniert, und jetzt spielst du die gute Fee, damit sie wieder glücklich mit ihrem Geliebten vereint wird? Die Arme hat ja so gelitten, nachdem sie sich als Miststück des Jahres und als absolute Beziehungsniete herausgestellt hat! Hach, mir kommen gleich die Tränen! Vielleicht hätte sie sich die möglichen Folgen überlegen sollen, bevor sie dich derart demütigte.«
Ich hatte darauf keine Antwort, da ich mehr oder weniger bei allem, was Wren von sich gegeben hatte, mit ihr einer Meinung war. »Trotzdem habe ich den Eindruck, dass sie sich seit ihrem persönlichen Cayte-gate weiterentwickelt hat.«
Wren schnaubte verächtlich: »Dass ich nicht lache! Als ob eine Frau wie sie fähig wäre, sich in irgendetwas außer ihrer dämlichen Karriere weiterzuentwickeln. Dir ist doch wohl klar, dass sie dich verarscht, oder? Sie benutzt dich genauso schamlos wie beim letzten Mal, und du lächelst nur freundlich und schluckst den ganzen Mist.«
Ich ließ mich auf das Sofa plumpsen und musste mir beschämt eingestehen, dass ich keine Chance hatte, dieses Streitgespräch zu gewinnen. »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst, Wren. Ich wollte es dir nur erzählen.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Wren in der Mitte des Wohnzimmers und sah mich grimmig an, wenngleich ihre Wut langsam verrauchte. »Ich bin einfach so unheimlich sauer auf diese Frau, weil sie überhaupt nicht an dich gedacht hat, sondern nur an ihre bescheuerte Story. Statt zu erkennen, was für eine tolle, mutige Frau du bist, hat sie dich nur als Ticket für ihren Erfolg gesehen. Das wurmt mich, und ich werde ihr das auch niemals verzeihen.« Sie zog ein Gummiband vom Handgelenk und schlang ihre roten Locken auf dem Hinterkopf zu einem lockeren Knoten. »Was meint Tom überhaupt dazu? Er ist doch stinksauer auf sie.«
Ich wandte den Blick ab. »Ja, das war er.«
Langsam dämmerte es Wren. »Du hast es bereits getan, richtig?«
Mein reumütiges Lächeln verriet mich, und ich wusste es. »Ja.«
»Wann?«
»Heute Nachmittag, bevor ich hierherkam. Entschuldige, dass ich es dir nicht vorher erzählt habe, aber Tom sollte es als Erster erfahren.«
»Ich fass es nicht! Wie hat er reagiert?«
Wie sollte ich das in eine Antwort verpacken? Wütend, verletzt, aufgebracht, ungläubig, still, kalt, emotional, durcheinander … all dies und mehr innerhalb eines halbstündigen Gesprächs. Ich hasste es, ihn damit zu konfrontieren und seinen inneren Kampf zwischen Bitterkeit und Sehnsucht mitansehen zu müssen, denn eigentlich wäre das Caytes Aufgabe gewesen. Nach der ersten Reaktion war Tom sehr still geworden, hatte grübelnd aus dem Wohnzimmerfenster seines Reihenhauses gestarrt, als wäre er in Gedanken meilenweit entfernt. Ich hätte ihn gern umarmt, war mir aber plötzlich unsicher, ob er meine Einmischung als Verrat empfand. Während ich noch nach geeigneten Worten suchte, sagte er plötzlich in gepresstem Tonfall: »Sag mir, warum ich das tun sollte.«
»Ich glaube nicht, dass ich das kann …«
Er hob den Kopf: »Dann verrate mir bitte, warum du eingewilligt hast, mit mir zu reden.«
Ich hoffte inständig, eine schlüssige Erklärung liefern zu können, zumal ich mir selbst über meine Motivation nicht ganz klar war.
»Ich kann nur sagen, dass ich in Cayte etwas wiedererkenne, das ich seit Beginn meiner Suche auch bei mir festgestellt habe. Sicher, sie hat sich mir gegenüber ziemlich schäbig verhalten – und damit auch dich zutiefst verletzt. Ich weiß nicht, ob ich ihr das jemals verzeihen kann. Doch eines weiß ich mit Sicherheit: Sie hat erkannt, was für ein unglaublich toller Mensch du bist. Das ist vielleicht zu wenig und zu spät, doch dies ist ihre letzte Chance, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Wenn ich an ihrer Stelle wäre und jemanden verletzt hätte, den ich liebe, würde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn zurückzubekommen. Und als Erstes würde ich alles versuchen, damit er mich zumindest anhört. Ich kann dir nicht sagen, dass du wieder mit ihr zusammen sein sollst. Das ist einzig und allein eure Entscheidung. Aber ich habe ihr versprochen, mit dir zu reden, und das habe ich hiermit getan. Alles Weitere geht mich nichts an.«
Schweigend musterte er mich eine Weile. »Du bist eine meiner besten Freundinnen«, sagte er schließlich. »Und du bedeutest mir sehr viel. Du bist immer fair gewesen, und ich weiß, du wärst nicht hier, wenn du nicht vorher darüber nachgedacht hättest.« Er rieb sich das Kinn. »Sag ihr, sie soll mich heute Abend anrufen. Aber ich mache keinerlei Versprechungen.«
Wrens Worte brachten mich wieder in die Gegenwart zurück. »Ich halte sie trotzdem für eine feige Schlange, die dich ihre Drecksarbeit erledigen lässt.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber eines muss ich dir lassen, Rom: Du hast mehr Eier in der Hose als ich. Ich wette, sie war überglücklich, als du sie angerufen hast.«
»Es gab viele Tränen und Dankesbekundungen.«
»Hm. Tja, ich hoffe, sie erkennt jetzt, was für ein großherziger Mensch du bist. Sollte es so was wie Karma tatsächlich geben, dann muss PK bereits auf dem Weg zu dir sein.«
»Hoffentlich schafft er es bis heute Abend!«
Spaß beiseite, der Gedanke, meine Handlungen könnten womöglich die Geschehnisse in Bezug auf PK beeinflussen, verlieh mir einen ernormen Hoffnungsschub. Doch egal, wie die zögerliche Annäherung zwischen Tom und Cayte auch enden mochte, ich wusste, ich hatte das Richtige getan. Denn ich war meinem Herzen gefolgt – obwohl mich mein Herz oft auf sehr abschüssige Pfade führte –, und ich war mir selbst treu geblieben.
Plötzlich fielen mir Tante Mags’ Worte wieder ein: »Was auch immer geschieht, du musst stets du selbst bleiben, Romily. Denn am Ende ist das alles, was du hast.«
Der Oktober hielt Einzug mit stürmischen Winden, die durch die Stadt peitschten und etliche alte Bäume entwurzelten. Onkel Dudley rief mich an, um mir mitzuteilen, dass die Hauptstraße für mehrere Stunden blockiert sei, da die Arbeiter eine vierhundert Jahre alte Eiche entfernen müssten, die der Sturm letzte Nacht gefällt habe. Zu guter Letzt hatten dann er und einige andere Kanalbootbesitzer ihre Hilfe angeboten, so dass die Straße bis sechs Uhr abends geräumt war. Dem alten Fuchs war es gelungen, den dankbaren Arbeitern ein großes Stück des Baums abzuschwatzen – und sich dieses die halbe Meile bis hin zu den Anlegestellen transportieren zu lassen –, so dass nun genügend Feuerholz da war, um die Öfen in jeder Kombüse über mehrere Wochen hinweg zu heizen.
Während mein Onkel mit den Naturgewalten kämpfte, focht meine Tante einen völlig anderen Kampf mit sich selbst aus – der jedoch nicht weniger turbulent verlief. Ich erfuhr davon, als sie mich unerwartet in der Arbeit anrief und fragte, ob wir uns zum Mittagessen treffen könnten.
Es war eine angenehme Überraschung und eine willkommene Verschnaufpause von der wenig spannenden Arbeit an einem Jingle für Hühneraugenpflaster. Wir verabredeten uns im Chez Henri, einem familiengeführten französischen Bistro in der Nähe der New Street, das eines der Lieblingsrestaurants meiner Tante war.
Während des ersten Gangs plauderten wir über dies und das: Arbeit, Wetter, Onkel Dudleys kühnen Kampf mit der alten Eiche, Elvis’ Ohrenentzündung, deretwegen ihm der Tierarzt einen breiten Plastikkragen verpasst hatte, damit er sich nicht kratzte … Doch die ganze Zeit über bemerkte ich, dass ihr Lächeln irgendwie verkrampft war, als läge etwas Unausgesprochenes in der Luft.
Als die Desserts serviert wurden (der wahre Grund, weshalb meine Tante Chez Henri liebte), beobachtete ich, wie sie sorgsam den Teller herumdrehte und das darauf angerichtete Kuchenstück so intensiv musterte wie ein Juwelier eine antike Diamantkette.
»Absolut fehlerlos, vollkommen«, hauchte sie mit ehrfürchtigem Kopfschütteln. »Das ist höchste Konditorkunst.« Und dann brach sie aus heiterem Himmel in Tränen aus.
»Tante Mags, was ist los?«, sagte ich, erschrocken über diesen Gefühlsausbruch meiner sonst so ausgeglichenen Tante. Ihr lautes Schluchzen erregte die Aufmerksamkeit der anderen Gäste.
»Mit so etwas werde ich mich niemals messen können! Was habe ich mir da nur gedacht?«
»Was meinst du damit? Warum musst du dich mit irgendwem messen?« Einen Moment lang fragte ich mich, ob sich Tante Mags vielleicht zu der Kochsendung MasterChef angemeldet hatte. Onkel Dudley schlug es ihr jedes Mal vor, wenn sie sich die Sendung ansahen, worauf meine Tante regelmäßig in die Luft ging.
»Ach, kümmere dich nicht um deine alte bekloppte Tante«, schniefte sie und wischte sich mit einer Serviette die Tränen ab. »Es ist nur … Ich habe etwas sehr Dummes gemacht.«
»Madame Parker, alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Jean-Jacques, zweiter Manager und Sohn des Restaurantbesitzers, der auf den Hinweis einer Kellnerin hin, die sich nun halb hinter ihm versteckte, an unseren Tisch gekommen war. Die Familie war mit Tante Mags und Onkel Dudley, die seit Jahrzehnten hierherkamen, gut befreundet.
Errötend lächelte sie ihn an: »Danke, JJ, es geht schon wieder. Tut mir leid, wenn ich die anderen Gäste verschreckt habe.«
»Das braucht Ihnen nicht leidzutun. Wir machen uns viel mehr Sorgen um Sie«, erwiderte Jean-Jacques, zu dem sich neben der Kellnerin nun auch noch der Sommelier und der Oberkellner gesellt hatten, die alle zustimmend nickten. »Bitte, erzählen Sie uns doch, was Sie so betrübt.«
Tante Mags schniefte erneut und sagte dann zu ihrem kleinen Publikum: »Ich habe meiner Nichte gerade berichtet, dass ich ein wenig … impulsiv gewesen bin.« Mit zerknirschtem Lächeln wandte sie sich mir wieder zu. »Weißt du noch, wie du im Sommer gesagt hast, meine Kuchen seien wie eine Therapie? Nun ja, das habe ich seitdem nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Und als dann auch noch deine Blog-Leser nach meinen Rezepten fragten, schien alles plötzlich auf eine Sache hinauszulaufen. Ich meine, das Leben ist zu kurz, um Dinge auf die lange Bank zu schieben, oder?«
Jean-Jacques, die Kellnerin, der Sommelier, der Oberkellner, das Paar am Nebentisch (das inzwischen die Stühle zu uns herumgedreht hatte) und ich nickten zustimmend.
»Nun, zumindest dachte ich das, bis … Aber ich greife vor.« Sie glättete die Serviette zu einem ordentlichen Dreieck neben ihrem Teller und holte tief Luft. »Gestern Vormittag habe ich den Mietvertrag für eine kleine Teestube in Kingsbury unterschrieben. Das Geld dafür habe ich von meiner Mutter geerbt und für schlechte Zeiten zurückgelegt. Und ich weiß, was Sie jetzt sagen werden, Jean-Jacques, und ich stimme Ihnen absolut zu … Es war unüberlegt …«
»Nein, Madame!«, rief Jean-Jacques, begleitet vom beifälligen Gemurmel seines Personals.
»Natürlich war es das! Was weiß ich schon über Gastronomie?«
»Unsinn, Tante Mags. Du backst ständig und kannst obendrein hervorragend kochen«, protestierte ich.
»Für meine Familie und Freunde, ja, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften und dem ganzen Hygienekram! Und woher soll ich wissen, was und wie viel ich jeden Tag zubereiten muss? Ich starte ein Geschäft in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Teestube, die innerhalb von einem halben Jahr pleitegegangen ist. Nicht gerade ein gutes Omen, was?« Erneut füllten sich ihre schönen grauen Augen mit Tränen, und sie zuckte hilflos die Achseln: »Sehen Sie? Es ist aussichtslos.«
Die Kellnerin und der Sommelier legten tröstend die Hände auf ihre Schultern, während Jean-Jacques, der Oberkellner und die anderen Gäste ein mitfühlendes Lächeln zeigten.
»Ich finde, es ist eine großartige Idee.« Ich griff quer über den Tisch nach ihrer Hand. »Deine Kuchen sind pure Magie. Du darfst sie der Welt nicht vorenthalten. Ich werde dir bei der Planung und Organisation helfen – und Onkel Dudley sicher auch.«
»Sie müssen demnächst nach Ladenschluss in die Küche kommen, damit Ihnen mein Vater die ganzen Vorschriften und Bestimmungen erläutern kann«, sagte Jean-Jacques. »Sie können uns alles fragen.«
Hoffnung glitzerte in Tante Mags’ Augen auf, als sie in die aufmunternden Mienen ihres Cheerleaderteams blickte. »Meint ihr wirklich, es könnte funktionieren?«
Zufrieden in mich hineingrinsend versicherte ich es ihr mit genau denselben Worten, die sie zu mir gesagt hatte, als ich mit dem Beginn meiner Suche den Sprung ins kalte Wasser gewagt hatte: »Absolut. Du musst einfach nur daran glauben, dass es möglich ist.«
Ich lese deinen Blog so gerne, Romily. Es ist echt inspirierend, wie sehr du daran glaubst, dass alles möglich ist. Ich habe mich bemüht, eine ebenso positive Einstellung zu finden, und ich glaube, es hilft tatsächlich. Den Mann fürs Leben habe ich bereits gefunden, obwohl alles andere in meinem Leben ziemlich schwierig war. Doch eines weiß ich nun: Wenn man den Richtigen findet, kann einen nichts wirklich erschüttern. Ich wünsche dir, dass auch du findest, was ich gefunden habe. Bleib standhaft! xx Ysobabe8
Danke für deine ermutigenden Worte! Sie bedeuten mir sehr viel. Es ist schön, dass du ebenfalls eine positive Einstellung zum Leben gefunden hast und ich dabei ein klein wenig helfen konnte. Was mich betrifft, so steckt meine Suche gerade in einer kleinen Flaute fest, doch ich gebe die Hoffnung nicht auf. xx RomilyP
Am darauffolgenden Dienstag bat mich Jack mit einer aufgeregten SMS, gleich nach der Arbeit zu ihm ins Studio zu kommen. Als ich auf dem Parkplatz ankam, erwartete er mich bereits freudestrahlend und zappelig am Eingang.
»Alles okay?«, fragte ich, leicht irritiert von seinem enthusiastischen Empfang. Jack ist normalerweise so entspannt, dass eine Schnecke dagegen die fleischgewordene Hektik darstellt.
»Alles gut, sehr gut – ausgezeichnet«, brabbelte er, während er mich hineinscheuchte und die Tür hinter uns zuschlug. Ich setzte mich in den schwarzen Ledersessel, während Jack sprungbereit auf dem äußersten Rand seines Stuhls Platz nahm.
Amüsiert kicherte ich: »Was ist denn in dich gefahren?«
Sein Lächeln war breiter, als ich es je zuvor gesehen hatte (außer vielleicht damals, als wir ihn zum Geburtstag mit zwei Prince-Karten für die vorderste Reihe überrascht hatten). »Wir stehen vielleicht kurz vor dem Durchbruch.«
»Wer ist wir?«
»Wir – du und ich, Rom! Frag weiter!«
»Was für ein Durchbruch?«
»Ein musikalischer Durchbruch …«
Jetzt war mein Interesse voll entfacht: »Erzähl!«
Er rieb sich die Hände. »Gut. Du erinnerst dich doch, dass wir vor Ewigkeiten zwei Songs an einen Musikanwalt geschickt haben, ja? Tja, ich hatte heute Nachmittag ein sehr erhellendes Telefonat mit einem der Musikeinkäufer von Integral – die führen einige der größten Namen in der Musikindustrie. Wie sich herausstellt, haben sie sich unsere Aufzeichnungen angehört und sie an Mitchell weitergegeben, den Chefeinkäufer.«
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Integral war mir natürlich ein Begriff. Als wir noch Teenager waren und ziemlich miserable Songs komponierten, hatten wir immer herumgealbert, dass Integral das einzige Label sei, bei dem wir sofort unter Vertrag gehen würden. Und jetzt sollten sie tatsächlich an uns interessiert sein? »Was haben sie über die Songs gesagt?«
Er holte tief Luft: »Es hat ihnen gefallen. Und sie wollen mehr. Sechs Songs mehr, um genau zu sein. Sie bauen gerade einen Künstler auf und suchen nach irgendetwas Frischem, das sie von anderen Labels abhebt. Ich wage es kaum zu sagen, aber sie meinen, unsere Sachen seien genau das, wonach sie gesucht haben!«
Mit einem Jubelschrei sprang ich auf, packte Jacks Arme, und wir hüpften wie Kinder herum, bis wir atemlos auf unsere Stühle zurücksanken und uns dümmlich angrinsten. Das war total verrückt! Wir hatten unsere Songs nur zum Spaß komponiert und unsere unrealistischen Teenagerträume vom Starruhm längst hinter uns gelassen. Ich wusste, dass wir gut waren, glaubte jedoch, dass sich außer uns niemals jemand für die Songs interessieren würde.
»Wer hätte das gedacht, was? Dass unsere Songs markttauglich sind«, sagte Jack strahlend. »Seit diesem Anruf bin ich wie auf einem Trip. Aber ich weiß, wir haben es drauf. Wir sind der Hammer!«
»Oh, yeah!« Um nicht vor Freude durchzudrehen, schaltete ich meine Vernunft ein. »Warte – was genau bedeutet das für uns? Zum Beispiel zeitlich gesehen …«
Jack wurde wieder ganz sachlich: »Integral möchte die Stücke Anfang nächsten Jahres haben. Der Typ, mit dem ich gesprochen habe, meint, dass sie von Mitte Januar an ernsthaft nach Stücken für das Album suchen werden. Wir haben einfach Glück, dass wir ihm während der Planungsphase aufgefallen sind. Ich glaube nicht, dass wir unseren Brotjob sofort aufgeben können, aber wenn sie die Kompositionen mögen und sich dieser Künstler dafür eignet – wer weiß, wohin das führen wird? Na, was hältst du davon?«
Es war eine Menge zu verdauen, aber die leichteste Entscheidung, die ich je zu treffen hatte: »Ich bin dabei.«
Jack reichte mir die Hand: »Abgemacht.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«
»Das werden wir sehen, wenn wir die Songs komponieren«, erwiderte Jack. »Ich schätze, wir benötigen sechs Wochen. Es dürfte also kein Problem sein, die Songs bis zum Ende der zweiten Januarwoche zu liefern.« Mit einem schiefen Grinsen fügte er hinzu: »Ich nehme an, es wird dir guttun, wenn du dich zur Abwechslung mal auf die Zeit nach Weihnachten konzentrierst.«
Wow. Das war ein völlig neuer Gedanke. Ich hatte mir nie überlegt, was ich nach dem Weihnachtsabend tun würde, wenn die Frist für meine Suche abgelaufen wäre. In den letzten zehn Monaten hatte ich mich tagaus tagein nur mit meiner Suche und PK beschäftigt, so dass dies ein wichtiger Bestandteil meines Lebens geworden war und ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen konnte. Doch Tatsache war, dass die Zeit auslief und die Suche nach Weihnachten vorbei sein würde. Was sollte ich dann tun? Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, wie mein Leben weiter verlaufen würde, wenn er nicht auftauchte. So viele Menschen vertrauten auf mich und glaubten fest daran, dass ich mein Ziel erreichen würde: Was würden sie denken, wenn ich bei meiner Suche versagte? Würde es wie in dieser Szene bei Forrest Gump sein, in der er einfach aufhörte zu laufen, sich umdrehte und den langen Weg nach Hause antrat, während die Leute, die ihn begleitet hatten, stehen blieben und ihm nachblickten?
Entschlossen schob ich die düsteren Gedanken beiseite und konzentrierte mich wieder auf das Hier und Jetzt. Die Aussicht, bei Integral wenigstens einen Fuß in die Tür zu kriegen, war unglaublich aufregend. Es war nicht die Musikkarriere, von der ich geträumt hatte – zumindest noch nicht –, doch es war ein Anfang, auf den wir aufbauen konnten. Während wir angeregt darüber diskutierten, wie wir die Sache anpacken sollten, wurde mir auf einmal bewusst, wie weit ich in fast einem Jahr gekommen war. So erfolglos die Suche nach PK bis jetzt auch gewesen sein mochte, so hatte ich dadurch doch gelernt, voller Vertrauen meinem Herzen zu folgen. Und wenn ich am Ende des Jahres sagen konnte, dass ich mir selbst treu geblieben bin, dann wäre das ein gutes Omen für das nächste Jahr … was immer es für mich bereithalten würde.
Da The Pinstripes am Wochenende nicht gebucht waren, wurde kurzerhand ein geselliges Beisammensein anberaumt, das am Freitagabend mit einem Essen bei Jack und Sophie beginnen und am Samstag mit einer Radtour am Cannock Chase fortgesetzt werden sollte. Das Gute an der jüngsten Auftrittsflaute war, dass wir viel mehr Zeit miteinander verbringen und Dinge unternehmen konnten, die nichts mit Musik zu tun hatten. Am Freitagabend traf ich als Erste ein und half Jack beim Kochen. Bis Sophie dann von der Arbeit nach Hause kam, stand auf dem Esszimmertisch schon eine beeindruckende Auswahl an Tapas.
Sophie machte ein ernstes Gesicht, als ich ihr eine Tasse frisch aufgebrühten Tee reichte. »Du weißt ja wohl, dass Tom sie heute Abend mitbringt, oder?«
Ich musste nicht fragen, auf wen sie anspielte. Seit wir erfahren hatten, dass Tom und Cayte ihrer Beziehung eine zweite Chance geben wollten, waren meine Freunde in zwei Lager gespalten. Sophie gehörte zu der unnachgiebigen Seite. »Ich finde nicht, dass sie eine zweite Chance verdient«, sagte sie nun. »Mich wundert, dass Tom ihr glaubt.«
»Es war seine Entscheidung, Süße. Das müssen wir respektieren.«
Angewidert rümpfte sie die Nase: »Mag sein. Aber ich muss die Sache nicht gut finden – oder sie.«
Wie aufs Stichwort kamen Tom und Cayte herein. Er wirkte deutlich entspannter als sie. Als er mich sah, leuchteten seine Augen auf. »Hey, du«, sagte er und erdrückte mich fast mit seiner Umarmung, die Onkel Dudley als »Nussknackerumarmung« zu bezeichnen pflegt. »Danke! Du weißt schon wofür.«
Ich knuffte ihn in die Schulter. »Gern geschehen.«
Cayte bot mir zögernd eine Umarmung an, die ich nur anstandshalber einen Moment lang über mich ergehen ließ. »Romily, ich …«
»Ich weiß. Hi.« Ich mochte vielleicht maßgeblich an der Wiedervereinigung beteiligt gewesen sein, aber deshalb waren wir noch lange keine Busenfreundinnen.
Eine Stunde später tauchten Wren und Charlie auf, die sich vorher in der Kunstgalerie von Charlies Vater Henry getroffen hatten.
»Ich habe dort nächsten Monat einen Jazzgig«, erzählte sie mir. »Henry meint, das könnte vielleicht eine Art Dauereinrichtung werden.« Ihre Augen hatten einen seltsam traurigen Ausdruck.
»Das ist doch super! Oder?«, fragte ich vorsichtig.
Wrens Lächeln sagte etwas anderes. »Sicher. Natürlich. Mein Banker wird sich jedenfalls freuen.«
Sophie klatschte in die Hände: »Okay, Leute, Essen ist fertig.«
Folgsam begaben wir uns ins Esszimmer und lobten lauthals die köstlich aussehenden Tapas. Als wir um den Tisch gingen und unsere Teller beluden, fiel mir die Dynamik auf, die sich um Cayte herum entwickelte. Sophie mied sie völlig, während Jack mehr oder weniger neutral blieb. Tom stand dicht hinter Cayte, die Hand beschützend auf ihren Rücken gelegt, und sah uns immer wieder der Reihe nach an, als wollte er unsere Reaktionen abschätzen. Wren befand sich in ihrer eigenen Welt und schien ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Einzig Charlie machte sich die Mühe, Cayte in die lockere Unterhaltung miteinzubeziehen.
»Ich wette, du hast noch nie so viele Tapas in einem Raum gesehen, Cayte.«
»Stimmt. Du hast dir wirklich viel Arbeit gemacht, Sophie.«
Sophie murmelte irgendetwas Unverständliches und ging in die Küche. Cayte lächelte weiter, doch die Anspannung war ihr deutlich anzusehen.
»Leute, wir müssen hier nicht rumstehen«, sagte Jack rasch. »Lasst uns ins Wohnzimmer gehen, da ist es gemütlicher.«
Tom und Cayte folgten der Aufforderung als Erste, dicht gefolgt von Charlie. Jack schenkte mir ein hilfloses Grinsen, ehe er in die Küche ging, um seine Freundin zu besänftigen. Wren und ich blieben allein im Esszimmer zurück.
»Das heute Abend ist nicht einfach für Cayte«, sagte ich.
»Hm.« Gedankenverloren pickte sich Wren ein Salatblatt von einem Teller.
»Raus mit der Sprache! Was ist los?«
»Was? Nichts. Alles bestens.« Sie schob sich eine Olive in den Mund und kaute konzentriert. »Siehst du? Ich esse. Also kein Grund zur Sorge.«
»Wren …«
Plötzlich begannen ihre Lippen zu zittern: »Seth hat gestern Abend Schluss gemacht.«
»Der Kellner? Warum?«
Sie schüttelte den Kopf: »Ich weiß es nicht. In der einen Minute war er total leidenschaftlich, und in der nächsten verkündet er, es würde zwischen uns nicht funktionieren und er habe jemand anderen kennengelernt. Die Männer scheinen nach dem ersten Jagdfieber einfach nicht bei mir bleiben zu wollen. Was mache ich falsch, Rom? Ich meine, bin ich so schrecklich, oder was?« Tränen funkelten in den Winkeln ihrer unglaublich großen kakaobraunen Augen.
Ich nahm sie in die Arme und spürte das Beben ihrer Schultern, als die Tränen schließlich zu fließen begannen. »Der Richtige ist noch irgendwo da draußen, das weiß ich. Er ist vielleicht näher, als du denkst. Und bis er kommt, musst du dich einfach auf die Dinge konzentrieren, die dich glücklich machen, statt dein Leben auf Warteschleife zu schalten.«
Sie schniefte: »Das weiß ich ja. Aber ich würde so gern einen Mann auch festhalten können, verstehst du?«
Ja, in diesem Moment verstand ich sie genau.