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You’ve got a friend

An diesem Morgen packte ich mich so dick ein, wie ich nur konnte, und schlitterte auf dem vereisten Pflaster zum Bahnhof. Insgeheim hoffte ich, die nahezu arktischen Wetterbedingungen würden zu beträchtlichen Verspätungen führen und mir das peinliche Gespräch ersparen, das mich erwartete. Doch der Zug nach Birmingham erreichte auf die Minute pünktlich sein Ziel, und obwohl ich langsamer als sonst zur Bushaltestelle trottete, erwischte ich sogar den Bus noch. Es gab kein Entkommen. Also stieg ich schicksalsergeben ein und suchte mir einen Platz.

Gedankenverloren starrte ich vor mich hin, während draußen die Vororte in einem verschwommenen Nebel vorbeizogen. Um mich herum quasselten Kinder und Jugendliche aufgeregt durcheinander, in ihrem Lachen klang die Vorfreude auf das bevorstehende Weihnachtsfest mit. Zwei Tage vor dem Fest der Feste bewegte alle Fahrgäste dieselbe Frage: Würde es in diesem Jahr schneien?

»Bei Midlands Today haben sie gesagt, dass heftige Schneefälle auf uns zukämen«, erzählte die Frau hinter mir ihrer Freundin, begleitet von den gurgelnden Lauten der beiden pausbackigen Knirpse auf ihren Schößen. »Die arme Shefali musste gestern Abend aus einem Park über das Wetter berichten.«

»Das arme Ding«, zwitscherte die andere Mutter. »Ein Wunder, dass sie sich bei den ganzen Außenübertragungen noch nicht den Tod geholt hat. Aber mit ihren Wetterprognosen liegt sie nur selten daneben.«

»Hm, hoffentlich behält sie auch dieses Mal Recht. Unser Dave wird durchdrehen und mit den Nachbarn um die Wette Schneemänner bauen. In unserer Straße übertrumpfen sie sich schon gegenseitig mit ihrer Weihnachtsbeleuchtung, und wenn es schneit, wird der Wettbewerb noch schlimmer.«

Ich grinste in meinen Schal hinein und holte dann tief Luft, als meine Haltestelle erreicht war.

Es gab manche Orte, die eine Art Meilenstein im Leben darstellten: Für The Pinstripes war Harry’s Café so ein Ort. Seit Wren, Charlie und ich als Schüler der Secondary School das schmuddelige, schlichte kleine Café entdeckt hatten, war es Schauplatz unzähliger wichtiger (und weniger wichtiger) Momente gewesen. Während unserer Collegezeit führten wir dann Tom, Jack und Sophie in die bunte Welt unseres Cafés ein. Mit der Gründung von The Pinstripes hatte Harry’s den Status eines inoffiziellen Büros erlangt. Die meisten größeren Entscheidungen in Bezug auf unsere Band wurden im warmen, dampfigen Inneren des Cafés getroffen.

Angesichts dieser gemeinsamen Geschichte passte es ins Bild, dass das unvermeidliche Gespräch mit Charlie ebenfalls dort stattfinden sollte. Hinzu kam, dass Harry die wahrscheinlich besten Schinkenspeck-Sandwiches der Gegend machte. Doch als ich an diesem Morgen mit einem mehr als nur flauen Gefühl im Magen vor dem Café stand, war mir weiß Gott nicht nach Essen zumute.

Tief durchatmen, Rom!, ermahnte ich mich. Durch die beschlagene Fensterscheibe erspähte ich an unserem üblichen Tisch neben der Theke Charlies wuscheligen kastanienbraunen Haarschopf und seine hochgezogenen Schultern. Okay, sagte ich mir, bringen wir es hinter uns.

Ein Schwall feuchter, nach gebratenem Speck riechender Luft schlug mir entgegen, als ich die Tür aufstieß. Zur Begrüßung winkte mir Harry mit einem fleckigen Geschirrtuch zu.

»Romily! Wo bist du die ganze Woche gewesen?«

»Ach, du weißt schon, Harry, der übliche Weihnachtsstress.«

Er verdrehte die Augen. »Weihnachten hier, Weihnachten da – seit Wochen höre ich nichts anderes. Magst du ein Schinkenspeck-Sandwich? Ich mache gerade eins für Charlie.«

»Gern.« Ich blickte zu Charlie hinüber, der verlegen die Hand zur Begrüßung hob, und schleppte mich mit weichen Knien zu ihm an den Tisch.

»Morgen«, sagte er lächelnd und stand kurz auf. Er trug den dunkelblauen Pullover, den ich an ihm so mochte, weil er seine mitternachtsblauen Augen betonte, darunter ein weißes T-Shirt und dazu dunkelblaue Jeans. Bei diesem vertrauten Anblick löste sich der Knoten in meinem Magen kein bisschen.

»Hi.« Ich hatte keine Ahnung, wie ich das Gespräch beginnen sollte, und gönnte mir einen kleinen Aufschub, indem ich meinen Mantel auszog, langsam meinen Schal abwickelte und beides sorgsam auf den Stuhl neben mir legte.

Charlie spielte mit einem leeren Zuckerwürfelpapier und starrte auf die Tischplatte. Als er schließlich zu mir aufblickte, war ich verblüfft über den verletzlichen Ausdruck in seinen Augen.

»Schön, dich zu sehen.«

Abwehrend verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Ich kann nicht lange bleiben.«

»Oh. Okay.«

»Ich habe ungefähr eine Dreiviertelstunde, also …«

»Gut.« Er rieb mit der Hand über seinen Nasenrücken – das machte er immer, wenn er nervös war. »Aber ich bin froh, dass du gekommen bist. Ehrlich gesagt, war ich mir da nicht sicher.«

»Ich auch nicht.« Jedes Wort fühlte sich an, als würde mir ohne Betäubung ein Zahn gezogen.

Er wandte den Blick ab. »Mann, das ist echt hart.«

»Ich weiß.«

»Charlie, magst du einen Espresso?«, rief Harry hinter der Theke hervor, worauf wir beide zusammenzuckten.

»Klar doch, Harry«, erwiderte Charlie lächelnd, drehte sich dann wieder zu mir und schnitt eine Grimasse. »Der wird heute leider auch nicht besser sein als sonst.«

Der Insiderwitz wirkte wie ein kleiner Eisbrecher, und ich spürte, wie die Spannung zwischen uns eine Spur nachließ – um gleich darauf geballt zurückzukehren, als Charlie sagte: »Schau, Rom, wegen Samstag …«

Eine schreckliche Nervosität ergriff mich. Würde sich in diesem Moment das abgetretene olivgrüne Linoleum unter meinen Füßen auftun, um mich zu verschlingen, so wäre ich die glücklichste Frau auf Erden. Seit meinem ganz persönlichen Schwarzen Samstag wünschte ich mir sehnlichst, ich könnte wie Christopher Reeve in Superman einfach ins Weltall fliegen und den Lauf der Erde anhalten, um die Zeit zurückzudrehen. Doch leider war ich nicht mit derlei überirdischen Kräften gesegnet und konnte die Sache deshalb auch nicht ungeschehen machen. Also nahm ich allen Mut zusammen und sah Charlie an.

»Tut mir leid, dass ich dich in Verlegenheit gebracht habe.«

»Das hast du nicht.«

»Doch, Charlie. Mir ist das genauso peinlich wie dir.«

»Rom …«

»Nein, lass mich aussprechen, okay? Wenn ich es jetzt nicht sage, dann werde ich es nie tun.«

Er nickte und verschränkte die Arme.

»Weißt du, ich hab mich da in irgendwas verrannt. Ich dachte, mit uns beiden würde es in eine bestimmte Richtung gehen, was ja wohl eindeutig ein Trugschluss war. Es ist mein Fehler. Aber ich will nicht, dass unsere Freundschaft daran zerbricht.«

»Das wird nicht geschehen.«

»Gut.«

Charlie wollte gerade etwas sagen, als die Tür aufgerissen wurde und eine größere Gruppe Bauarbeiter hereinplatzte. Ihr raues Gelächter und die lauten Stimmen machten eine weitere Unterhaltung unmöglich, zumal sich die Männer im ganzen Café ausbreiteten. Ich fragte mich, ob dies unser Treffen zu einem vorzeitigen Ende bringen würde, doch Charlie bedeutete mir, sitzen zu bleiben, und ging zur Theke hinüber, wo ein leicht erschrockener Harry dem Ansturm auf sein Lokal mutig standhielt. Nach wenigen Minuten kehrte Charlie mit zwei Pappbechern mit Deckel und einer braunen Papiertüte zurück.

»Komm«, sagte er. »Ich weiß einen besseren Platz zum Frühstücken.«

Ich folgte ihm aus dem lärmigen Café nach draußen. Wir gingen die High Street entlang und dann den steilen Hügel hinunter in Richtung Cannon Hill Park.

Obwohl ich nicht gerade wild darauf war, dieses Gespräch fortzusetzen, musste ich mir eingestehen, dass Charlie mich wirklich gut kannte. In diesem Park ist jedes Fleckchen für mich mit schönen Erinnerungen verbunden: Sommerwochenenden, an denen ich als Kind die Enten gefüttert habe, ausgelassene Picknicks mit Wren, Tom, Jack und Sophie, Verabredungen zum Mittagessen an sonnigen Frühlingstagen – all dies hat hier stattgefunden. Wie Harry’s ist der Park ein wichtiger Teil unseres gemeinsamen Lebens.

Doch der Park barg noch eine weitere Erinnerung, von der Charlie nichts wissen konnte und die sich jetzt wie ein Eiszapfen in mein Herz bohrte: In diesem Park war mir erstmals bewusst geworden, dass ich in ihn verliebt war.

Vor drei Jahren hatten wir uns am ersten Samstag im September zum Mittagessen am See verabredet, wie wir es unzählige Male vorher getan hatten. Wie immer brachte er die Sandwiches mit und ich selbst gebackenen Kuchen von meiner Tante. Also machte ich einen Umweg zu meiner Tante und ergatterte einen besonders spektakulären frisch gebackenen Kuchen mit weißer Schokolade und Holunder. Beim Anblick des Kuchens zog ein so seliges Lächeln über Charlies Gesicht, dass ich lachen musste.

»Du bist so leicht zufriedenzustellen«, neckte ich ihn. »Ein Kuchen, und schon läufst du mit wehenden Fahnen über.«

»Hey, das ist nicht nur ein Kuchen, Rom. Das ist Liebe auf den ersten Blick.«

»Meine Güte! Wenn das die vielen Mädels wüssten, die hinter dir her sind! Ein Kuchen, das ist der ganze Trick.«

Grinsend brach er ein Stückchen ab und stopfte es sich in den Mund. Er schloss die Augen und legte die Hand auf sein Herz. »Finde eine Frau für mich, die so einen Kuchen backen kann, und ich werde für immer ihr gehören.«

»Meine Tante ist leider schon vergeben.«

»Schade.« Er riss die Augen auf, und das Funkeln darin war so typisch Charlie. »Vielleicht sollte ich nach einem Mädchen Ausschau halten, das zumindest so einen Kuchen herbeischaffen kann …«

»Ja, ja, viel Glück bei der Suche«, erwiderte ich grinsend.

Er lächelte mich an, und seine mitternachtsblauen Augen hielten meinen Blick etwas länger fest als üblich. Und in diesem Moment geschah es. Mein Herz machte einen Hüpfer, die Welt um mich herum versank – und ich wusste, dass ich verliebt war. Diese Erkenntnis warf mich total aus der Bahn, und während Charlie sich wieder dem Kuchen widmete, war ich völlig benommen von dem, was da gerade passiert war.

In den darauffolgenden Tagen versuchte ich, den Vorfall als spleenige Laune abzutun, und schaffte es beinahe, mich selbst davon zu überzeugen, bis wir uns an einem Freitagabend bei Jack und Sophie wiedersahen. Sobald Charlie den Raum betrat, begann mein Herzschlag zu rasen, und ich musste mich den ganzen Abend über beherrschen, um ihn nicht ständig anzustarren. Plötzlich war es so, als sähe ich ihn zum ersten Mal: sein entspanntes Lächeln, das Funkeln in seinen Augen, wenn er mit Tom und Jack herumblödelte, seine lebhafte Gestik beim Sprechen. Ich kannte ihn fast mein ganzes Leben lang, doch irgendwie hatte ich nie bemerkt, wie großartig und hinreißend er war.

Von da an verliebte ich mich immer heftiger in ihn. Jede Minute, die wir miteinander verbrachten, bestätigte meine Gefühle, und letztes Jahr merkte ich dann, dass sich sein Verhalten mir gegenüber veränderte. Er suchte öfter meine Gesellschaft, und wenn wir Zeit miteinander verbrachten, prickelte die Luft zwischen uns. Zumindest glaubte ich das …

Jetzt kam mir dieser wunderbare Sommer vor drei Jahren Lichtjahre entfernt vor. Der Park lag unter einer dicken Frostdecke, und der See glitzerte in einem eisigen Winterblau, als wir den von Eispfützen übersäten Weg entlanggingen. Verstohlen blickte ich zu Charlie hinüber, dessen Miene jedoch nichts preisgab. Das Wenige, was wir bereits gesagt hatten, genügte ihm offensichtlich nicht, da er mich sonst nicht zu diesem spontanen Ausflug in den Park entführt hätte. Auf dem Weg dorthin beschränkte sich unsere Unterhaltung auf ungefährliche Themen. Charlie erzählte mir von einer Ausstellung, die sein Vater für seine Galerie angenommen hatte, und ich brachte ihn mit dem neuesten Werbesong für Doppelglasfenster, den ich für Brum FM komponiert hatte, zum Lachen.

Wir entfernten uns vom See und gelangten zu einem schmiedeeisernen viktorianischen Musikpavillon. Winzige Schneeflocken wirbelten um unsere Köpfe, als wir die Stufen erklommen und uns auf eine Holzbank setzten, um unser Frühstück im Freien zu verzehren. Charlie biss in sein Schinkenspeck-Sandwich, und in der Stille, die sich zwischen uns ausbreitete, verknotete sich mein Magen erneut.

»Schmeckt’s?«, fragte ich, da jede Konversation besser war als gar keine.

Er nickte und wandte mir die geballte Kraft seines mitternachtsblauen Blicks zu. »Rom …«

Plötzlich wurde die Situation für mich unerträglich. »Charlie, können wir diesen Samstag nicht einfach vergessen?«

»Also, ich finde, wir müssen darüber reden. Ich habe mich total bescheuert verhalten, und das tut mir leid.«

»Du warst eben ehrlich.«

»Das warst du auch. Ich hätte besser damit umgehen müssen.«

»Unsinn. Du hast einfach nicht damit gerechnet.«

Er grinste: »Kann man so sagen. Das kam total überraschend. Ich meine, in der einen Sekunde reden wir über Quincy Jones, und in der nächsten …«

»Ich weiß. Tut mir echt leid, Charlie. Ich hätte die Klappe halten sollen. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe.«

Charlie seufzte und sah mich offen an. »Ich finde dich toll, Rom. Schon immer. Aber du bist meine beste Freundin, und das ist für mich entscheidend. Tut mir leid, wenn ich dir den Eindruck vermittelt habe, dass ich … dass wir … du weißt schon.«

Ich wandte den Blick ab. Während ich in meinen Kaffee starrte, blitzte vor meinem inneren Auge plötzlich das Bild des hübschen Fremden vom Weihnachtsmarkt auf. Trotz der tiefen Scham, die sich nach wie vor durch meine Eingeweide fraß, versetzte mir die Erinnerung an den Kuss einen willkommenen Hoffnungsschub.

Ich dachte an Wrens Worte, die sie mir am Vortag zusammen mit der tränenförmigen Christbaumkugel auf den Weg gegeben hatte: »Es soll dich immer daran erinnern, dass es irgendwo in dieser Stadt zumindest einen tollen Typen gibt, der dich schön findet …«

Und schlagartig war alles wieder da – der ganze Zauber dieser Begegnung. Sicher, das war im Moment nicht sehr hilfreich, da ich nicht wusste, wer er war oder wo ich nach ihm suchen sollte. Aber ich würde ihn finden. Irgendwie.

»Wo bist du hingegangen, nachdem du mich weggeschickt hast?«, fragte Charlie und katapultierte mich wieder in die Gegenwart zurück.

Ich bemühte mich um eine gleichmütige Miene, obwohl mein Herz Saltos schlug. »Auf den Weihnachtsmarkt, um meine restlichen Weihnachtseinkäufe zu erledigen.«

»Ich hoffe, du hast was Nettes für mich ausgesucht«, witzelte er, schien seine Worte jedoch sofort zu bereuen. »Entschuldige.«

»Schon gut.« Es war natürlich nicht gut, aber ich wollte nicht, dass er sich jedes Mal entschuldigte, sobald auch nur ein Hauch von Normalität zwischen uns aufflackerte.

Prüfend musterte er mich. »Und? Was jetzt?«

Um seinem Blick auszuweichen, packte ich mein Sandwich aus. »Wir genießen unser Frühstück, bevor es hier zu kalt wird.«

»Das meinte ich nicht.«

»Ich weiß es nicht, okay? Ich war noch nie in so einer Situation.«

»Ich auch nicht.«

Ich versuchte ein Lächeln: »Klar. Entschuldige.« Ich wollte nicht den verletzten Ausdruck in seinen Augen sehen, wollte mich nicht mit den Konsequenzen meines Geständnisses befassen. Wichtig war nur, dass wir uns vertrugen – und sei es auch nur um der Band willen.

»Wir haben etliche Gigs vor uns, also sollten wir uns vielleicht besser darauf konzentrieren.«

»Richtig.« Er hielt inne und wählte seine Worte sorgsam, bevor er weiterredete. »Und was ist mit … uns?«

»Ich finde, da ist alles gesagt. Eine Weile wird es sicher schwierig sein, aber ich bin bereit, genauso weiterzumachen wie vorher. Natürlich nur, wenn du das auch möchtest.«

Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Klar.«

Es war ein angespannter Waffenstillstand, aber es war dennoch ein Waffenstillstand. Als ich später an diesem Morgen in die Innenstadt zu Brum FM ging, tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass ich die Sache mit Charlie geklärt hatte, bevor unsere Freunde Wind davon bekamen. Hoffentlich gelang es uns, wieder einigermaßen normal miteinander umzugehen, damit der Rest der Band nichts von unserem Desaster mitbekam – es war schon so unangenehm genug.

Ted, der brummig aussehende Sicherheitsbeamte, begrüßte mich an der Tür.

»Morgen. Hätte nicht gedacht, dass Sie heute kommen, wegen Weihnachten und so.«

»Ich komme nur für ein paar Stunden, Ted. Und – freuen Sie sich auf Weihnachten?«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus und verdrehte die Augen. »Tja, wenn Weihnachten bedeutet, dass man drei Tage mit seiner Frau und ihren bekloppten Verwandten im Haus der Schwiegereltern eingesperrt ist, nein, dann freue ich mich nicht darauf.«

»Sie Ärmster. Hoffentlich geht die Zeit schnell vorbei.«

»Das hoffe ich auch, Romily.«

Ich fuhr mit dem Lift nach unten in die Tiefen von Brum FM. Unser Team, das aus drei Leuten bestand, nannte den Produktionsraum und das Minitonstudio auch liebevoll die »Fledermaushöhle«, da die winzigste Besenkammer dagegen großzügig wirkte.

Ich arbeitete seit fünf Jahren hier und komponierte für die Rundfunkwerbung, die das Programm des Senders aufpeppte, Werbesongs und Musik. Vermutlich würde ich für meine täglichen Kompositionen niemals irgendwelche Brits oder Ivor Novello Awards gewinnen, aber immerhin fanden meine Freunde die kleinen Liedchen sehr unterhaltsam.

Die Luft in der Fledermaushöhle war heute noch muffiger als sonst. Schon beim Eintreten stieg mir eine leckere Mischung aus abgestandenem indischen Essen und Schweiß in die Nase sowie der ungesunde Acrylgeruch des schallisolierenden Materials der Türen, Böden und Wände.

Mick, der Tontechniker, blickte von seiner mit Fettflecken übersäten Ausgabe des Mirror auf. »Romily! Wie geht’s dir?«

»Gut, danke. Was verrottet hier drin eigentlich gerade?«

Er brach in schallendes Gelächter aus: »Das wird unser geschätzter Kollege Nev Silver sein. Hat sich wahrscheinlich gestern Abend mal wieder mit seiner Frau in die Wolle gekriegt, jedenfalls habe ich ihn heute früh in seinem Schlafsack auf dem Sofa vorgefunden.«

Ich hängte meine Tasche an den wackligen Garderobenständer in der Ecke und schenkte mir aus der Kaffeemaschine eine Tasse Filterkaffee ein. »Nicht schon wieder! Heißt das, er wird über Weihnachten hier wohnen?«

Mick rümpfte die Nase. »Kann gut sein. Und, wie kommt es, dass du uns heute mit deiner Anwesenheit beehrst?«

»Ich muss den Mix für die Neujahrskampagne fertigstellen, damit sie nächste Woche gesendet werden kann. Was steht sonst noch an?«

»Ein bisschen Kleinkram für das neue Programm, nichts wirklich Weltbewegendes. Jane Beckingham will einen neuen Song für ihre Morgenshow, wenn das für dich okay ist. Ach ja, und Amanda ist mal wieder auf dem Kriegspfad.«

Das überraschte mich nicht, da die Sendeleiterin ständig wegen irgendetwas aufgebracht war. Amanda Wright-Timpkins war ständig so angespannt, dass eine Sprungfeder im Vergleich mit ihr schlaff aussah. Das Funkeln in Micks Augen verriet deutlich, wie seine Meinung zu diesem Thema war. Er brachte dieser Frau nur wenig Zuneigung entgegen, die ihre Frustration darüber, dass sie in unserem Sender »auf die Seite« statt nach oben befördert wurde, bei jeder nur möglichen Gelegenheit an uns ausließ. »Welche Laus ist ihr diesmal über die Leber gelaufen?«

»Sie meint, sie sei bei einer weiteren Beförderung übergangen worden.« Mick faltete seine Zeitung zusammen und rollte auf seinem Stuhl zu mir herüber. »Offenbar hat sie sich für den Produzentenjob bei der Breakfast Show beworben.«

»Oh.«

»Genau. Also geh lieber auf Tauchstation.«

Der Vormittag verlief schleppend. Während ich die Musik für Brum FMs »New Year, New You«-Kampagne komponierte, wanderten meine Gedanken wieder zu dem Gespräch mit Charlie zurück. Was würde das neue Jahr für uns bereithalten?

Zwei Stunden stand ich in dem winzigen Tonstudio und nahm den Gesangsteil für die Werbesongs auf, als mir eine Liedzeile ins Auge stach: »Dies könnte das Jahr sein, in dem all deine Träume wahr werden.«

Sogleich war jeder Gedanke an Charlie vergessen, und das Bild meines schönen Fremden trat wieder in den Vordergrund. Vielleicht bildete er den Auftakt dafür, dass bald all meine Träume wahr wurden. War er nicht genau in dem Moment aufgetaucht, als ich ihn brauchte? Im Gegensatz zu Charlie. Möglicherweise war das lange Warten auf Charlie ja nur eine Vorbereitung auf die Begegnung mit diesem Mann gewesen. Um die Wahrheit zu sagen: Wäre ich nicht von Charlie weggelaufen, hätte ich den Fremden womöglich nie kennengelernt. Die Frage war nur, ob ich ihn wiederfände. Wie auch immer, ich war fest entschlossen, es zu versuchen. Ich musste mir nur überlegen, wie

»He, Rom, kann es irgendwann weitergehen?«, ertönte Micks Stimme in meinen Kopfhörern und beförderte mich schlagartig in die raue Wirklichkeit zurück.

»Entschuldige. Spielen wir die Zeile noch einmal ein …«

Den ganzen Tag über sprühten meine Gedanken vor hoffnungsvoller Erwartung. Es musste eine Möglichkeit geben, den Fremden zu finden – selbst in Englands zweitgrößter Stadt. Im Vergleich zu der Situation mit Charlie, an der ich nichts mehr ändern konnte, erschien mir die Suche nach dem Mann, der mich geküsst hatte, als verlockendes Alternativprogramm. Denn was konnte mich positiver stimmen als die Suche nach einem Mann, der mich schön fand?

»Man muss optimistisch an die Sache rangehen«, sagte Wren am Abend, als sie mir beim Dinner in meinem kleinen Haus in Stourbridge Gesellschaft leistete, »sonst schafft man das nicht. Allerdings habe ich noch keine Idee, wo du mit der Suche anfangen könntest.«

Ich reichte ihr ein Glas Rotwein. »Geht mir genauso. Aber ich werde mir was überlegen.«

»Läuft es mit Charlie und dir wieder besser?«

»Besser nicht gerade, aber zumindest haben wir darüber geredet. Inzwischen ist mir klar, dass ich eindeutig einen Fehler begangen habe. Er hat mich immer nur als Freundin gesehen.«

»So, so«, murmelte Wren in ihren Merlot.

»Wie meinst du das?«

»Wer weiß schon, was in Männern vorgeht«, erwiderte sie kryptisch. »Charlie wird das irgendwie geregelt kriegen.« Sie blickte zu meinem Christbaum in der Ecke des Zimmers und lächelte: »Die Glaskugel hat einen würdigen Platz erhalten.«

Der Anblick der Glaskugel, in der sich funkelnd das Licht der Christbaumbeleuchtung spiegelte, erinnerte mich wieder an die Stimme des Fremden an meinem Ohr, und ein erregendes Prickeln durchfuhr mich. »Ja, sie ist wunderhübsch. Wenn ich sie ansehe, wird mir richtig weihnachtlich zumute. Ich hatte schon befürchtet, die Sache mit Charlie würde mir Weihnachten total vermiesen.«

»Jeder sollte sich weihnachtlich fühlen, egal, in welcher Situation man gerade steckt.« Mit einer schwungvollen Geste hob Wren ihr Glas und prostete mir zu. »Das sollte ein Gesetz sein. Oder wenigstens eine Tradition.«

»Apropos Tradition: Freust du dich auf das Weihnachtsessen mit unserer Band morgen Abend?«

»Natürlich. Du etwa nicht?«

Ich zuckte die Achseln. »Es wird schon okay sein. Charlie und ich werden auf gute Kumpel machen. Ich kann nur hoffen, dass niemand den Unterschied bemerkt.«

Wren trank einen ordentlichen Schluck Wein. »Absolut. Ich freue mich schon darauf, mehr über die Gigs zu erfahren, die Dwayne für nächstes Jahr an Land gezogen hat.«

»Hoffentlich sind die wirklich so gut. In diesem Jahr war er ja nicht gerade erfolgreich.«

»Hack nicht auf ihm herum, er ist noch im Lernprozess. Schließlich ist er erst seit kurzem unser Manager«, erwiderte sie mit strengem Blick. »Dwayne gibt sich wirklich Mühe. Und er braucht unsere Unterstützung. Jedenfalls scheint er diesmal ein paar großartige Gigs organisiert zu haben.«

»Du bist zu nett zu ihm«, neckte ich sie. »Er muss sich morgen Abend einfach beweisen, mehr verlange ich nicht.«

»Hm«, brummte Wren. Hinter ihrem halbleeren Weinglas grinste sie anzüglich: »Und er wird nicht der Einzige sein, der sich beweisen muss, was?«