Nelke.psd2

Dream a little dream of me

»Er ist ein Psycho

»Ist er nicht

»Oder irgendein durchgeknallter Stalker …«

»Wren, so war er nicht.«

»Woher willst du das wissen? Womöglich läuft er ständig durch die Gegend und küsst irgendwelche Frauen, denen er zufällig begegnet. Vielleicht holt er sich auf die Weise seine kranken, miesen Kicks …« Wren riss ihre kakaobraunen Augen auf. »Oder vielleicht küsst er Frauen, die er später kaltblütig ermorden will … Ach herrje, das war ein Judaskuss!«

Mit einem tiefen Seufzer ließ ich mich auf das riesige Sofa in Wrens schicker Wohnung fallen. »Ich wünschte, ich hätte es dir nicht erzählt.«

Mit ernster Miene legte mir Wren die Hand auf den Arm. »Nein, Rom, das war absolut richtig. Und sei es nur, damit ich dich davon abhalten kann, einen ganz, ganz schlimmen Fehler zu begehen.«

Manchmal frage ich mich, warum ich mit einer so theatralischen Frau wie Wren befreundet bin. Aber da sie Schauspiellehrerin ist, ist ihre übertriebene Attitüde möglicherweise berufsbedingt.

Eigentlich war ich nicht sicher, ob ich schon wieder darüber reden wollte, doch ich war immer noch benommen von dem gestrigen Erlebnis. Nach der ergebnislosen Verfolgung des Fremden war ich in einem Nebel aus Emotion und Schock zum Bahnhof gewankt. Erschöpft ließ ich mich auf einen Platz sinken und rief die einzige Person an, die mich verstehen würde. Wren war seit der Grundschule meine beste Freundin, und sie kannte Charlie fast genauso lange wie ich. Natürlich drängte sie mich, ich solle sofort mit dem Zug in die Stadt zurückfahren und bei ihr vorbeikommen, doch ich wollte nur noch schlafen. Also musste ich ihr versprechen, sie gleich am nächsten Tag zu besuchen.

Nach einer unruhigen Nacht mit wirren Träumen von Charlie und dem sagenhaften Fremden fuhr ich zu Wrens schickem Apartment, das am Kanal lag, nur ein paar Schritte von den eleganten Bars und Restaurants des Brindley Place entfernt.

Mit besorgt aufgerissenen Augen hatte Wren ruhig zugehört, als ich ihr von den Ereignissen des Vortags berichtete. Doch sobald ich fertig war, setzte sie zu einer nüchternen Analyse an.

»Wie ich die Sache sehe, ist dieser Typ nur eine Ablenkung vom eigentlichen Thema: der Sache mit dir und Charlie. Ich meine, komm schon, Rom, erst erzählst du Charlie, dass du ihn liebst, und Minuten später triffst du ›rein zufällig‹ die Liebe deines Lebens?«

»Es klingt absurd, ich weiß. Aber ehrlich, Wren, es war der intensivste, unglaublichste Moment, den man sich nur vorstellen kann. Ich habe fast aufgehört zu atmen …«

»Und zu denken.«

Es war sinnlos. »Vergiss es einfach, okay?«

Wren schenkte mir ihre beste Imitation eines ernsten Blicks (der in Wahrheit ungefähr so ernst war, als schaute man in die Augen eines Kätzchens). »Ach, Rom, tut mir leid, aber du musst zugeben, dass die Sache ziemlich schräg ist. Jemand, den du noch nie gesehen hast, taucht aus dem Nichts auf, macht einen auf edler Ritter und danach küsst er dich. Das ist doch total daneben. Und wenn er dich schon so toll findet, warum ist er dann so sang- und klanglos verschwunden?«

Genau diese Frage hatte ich mir auch schon mehrfach gestellt. Leider blieben die Einzelheiten dieser Begegnung nebelhaft verschwommen. Wer oder was auch immer ihn abkommandiert hatte, es schien wichtig gewesen zu sein. Doch da mir keine Zeit geblieben war, ihn besser kennenzulernen, woher sollte ich da wissen, was für ihn wichtig war?

»Keine Ahnung«, sagte ich schließlich. »Ich weiß nur, dass ich so etwas noch nie erlebt habe. Er war … perfekt.«

»Er hat einen Dachschaden. Glaub mir, Süße, es ist besser, dass du nicht weißt, wer er ist. Ich bin schon einigen attraktiven Männern begegnet, die sich als echte Märchenprinzen entpuppt haben.«

»Das ist doch gut.«

»Wenn man gern Frösche küsst …« Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, lenkte sie rasch ein: »Entschuldige, schlechter Witz.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß, es klingt verrückt. Trotzdem kriege ich ihn nicht mehr aus dem Kopf.«

»Na, Gott sei Dank warst du so vernünftig, hierherzukommen. Fühlst du dich einigermaßen okay? Brauchst du irgendetwas?«

»Mir geht’s gut …«

Wren schnippte mit den Fingern. »Tee! Genau das brauchst du jetzt: heißen, starken, süßen Tee.« Ehe ich Gelegenheit hatte zu protestieren, sprang sie auf und eilte in ihre moderne, aber trotzdem schnuckelige Küche. Schranktüren knallten, Geschirr klirrte und Löffel klapperten in Tassen, als der Wirbelwind namens Wren mir mein unerwünschtes Getränk zubereitete. »Tee ist das beste Mittel gegen Schock, glaub mir. Oder ist es Brandy? Das fällt mir jetzt gerade nicht ein …«

»Tee ist in Ordnung, danke«, rief ich rasch zurück. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war das, was Wren unter einem Schlückchen Brandy verstand (in Wahrheit ungefähr eine viertel Flasche). Trotz ihrer zierlichen Statur vertrug Wren mehr Alkohohl als Charlie, ich und all unsere Freunde zusammen.

Puh, Charlie. In dem ganzen Durcheinander hatte ich seine grausame, erniedrigende Reaktion auf meine Liebeserklärung fast vergessen, doch nun kehrte die Erinnerung an diese Blamage mit aller Wucht zurück.

»Wie bist du mit Charlie verblieben?«, fragte Wren, sobald sie mir eine brühend heiße Tasse ungenießbar süßen Tees in die Hand gedrückt hatte.

Ich erschauderte, und meine Eingeweide krampften sich zusammen. »Gar nicht. Ich bin einfach weggerannt. Ich war so verletzt, Wren. Herrgott, was hat mich da nur geritten? Wieso musste ich ihm unbedingt meine Gefühle offenbaren?«

Wren zog eine Grimasse. »Ich wette, du kamst dir vor wie ein ausgemachter Trottel.« Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Entschuldige. So habe ich das nicht gemeint.«

»Nein, nein, du hast ja Recht. Ich kapier nur nicht, wie ich mich so täuschen konnte.«

»Ich glaube nicht, dass du dich getäuscht hast. Wir haben alle damit gerechnet, dass ihr früher oder später zusammenkommen würdet. Aber du weißt ja, wie Charlie ist: Steckt den Kopf in den Sand, sobald er Klartext reden soll. Eben typisch Mann.«

Gedankenverloren trank ich einen Schluck Tee und erschauderte, als das zuckrige Gesöff meine Zahnhälse attackierte. Wren interpretierte meine Reaktion völlig falsch und grinste vor Stolz.

»Ich habe dir ja gesagt, dass Tee das Beste für dich ist.«

Um sie nicht zu kränken, trank ich tapfer weiter, obwohl sich alles in mir dagegen sträubte. »Danke.«

»Keine Ursache. Und, weißt du, wie der Typ heißt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, du wärst dabei gewesen. Er war großartig und hat mir ganz selbstverständlich geholfen, während alle anderen nur herumstanden und gafften.« Ich stand auf, ging zum Fenster hinüber und blickte auf die quirlige Großstadt hinunter. Es wurde langsam dunkel, und die Weihnachtsbeleuchtung der umliegenden Apartments, Restaurants und Bars spiegelte sich im vier Stockwerke tiefer liegenden Kanal. Ein paar Passanten, dick eingemummt gegen die arktische Kälte, hasteten über den gefrorenen Treidelpfad. »Und er ist jetzt irgendwo da draußen …«

Wren trat neben mich und musterte mich von der Seite. »Dich hat’s wirklich erwischt, was?«

Ich nickte. Die Erinnerung an unseren zarten Kuss war plötzlich total präsent. »Ich würde ihn so gern wiedersehen. Und das ist wirklich keine fixe Idee, um mich von Charlie abzulenken.«

»Gut. Dann komm!« Wren nahm mich an der Hand und zog mich zur Tür.

»Wohin gehen wir?«

»Ihn suchen, was sonst?«

»Was? Warte …«

»Wir können nicht warten, Rom! Wir müssen ihn jetzt finden.«

»Meinst du nicht, wir sollten unsere Mäntel anziehen?«

Wren blickte über ihren dünnen Pulli und die Jeans zu ihren rosafarbenen Pantoffeln hinunter. »Oh. Richtig. Aber dann gehen wir!«

Eine der Eigenschaften, die ich an Wren liebe, ist ihre Fähigkeit, Probleme tatkräftig anzugehen. Ihr blitzschneller Sinneswandel in Bezug auf meinen hübschen Fremden mochte zwar etwas überraschend sein, aber wenn sich Wren Malloy etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte nichts und niemand sie davon abbringen.

»Wren, das Ganze ist gestern passiert. Er wird nicht da sein«, protestierte ich, als wir über die Kanalbrücke in die Innenstadt eilten.

»Ich weiß. Aber vielleicht sind ein paar Leute da, die sich an ihn erinnern«, erwiderte Wren ungerührt, während sie einigen entgegenkommenden, mit Tüten beladenen Passanten auswich. »Du musst ihn dir genau vorstellen, damit du ihn beschreiben kannst.«

Als die ersten Weihnachtsmarktstände in Sicht kamen, blieb ich stehen. »Wren, warte.«

Sie sah mich an. Der Wind blies ihr die wilden rotbraunen Locken ins Gesicht. »Was ist los?«

»Warum tust du das?«

»Hä?«

»Vor ein paar Minuten hast du ihn noch für einen durchgeknallten Psycho gehalten. Und dann zerrst du mich plötzlich an den Ort des Geschehens, als hinge dein Leben davon ab. Das verstehe ich nicht …«

Sie holte tief Luft und lächelte mich an. »Du bist meine beste Freundin, und deshalb möchte ich dir helfen.«

Aufrichtig gerührt lächelte ich zurück. »Danke.«

»Und wenn wir den ganzen Ablauf noch einmal nachstellen, kriegst du ihn vielleicht wieder aus dem Kopf.«

»Aha.«

»Also, wo bist du ihm begegnet?«

Ich sah mich um. Der Weihnachtsmarkt erschien mir auf einmal wie ein märchenhaftes Zauberland: Die bunten Lichterketten an den Ständen spiegelten sich im feuchten Pflaster der Straße, während die Lichter des herumwirbelnden Karussells in den Fenstern der umliegenden Gebäude aufblinkten. Die Temperatur war seit gestern gesunken, und über den festlich geschmückten Marktständen tanzten winzige Schneeflocken. Im ersten Moment fiel es mir schwer, mich zu orientieren.

»Ich glaube, es war irgendwo am Anfang des Kunsthandwerksbereichs«, antwortete ich. »Zumindest hat er mich dort geküsst. Die Bude, die ich demoliert habe, ist weiter unten an der New Street, weil ich danach ein Stück gelaufen bin. Aber irgendwie ist meine Erinnerung ziemlich verschwommen.«

»Gut, fangen wir beim Kuss an und arbeiten uns dann zurück«, schlug Wren vor. »Wo genau war der Kuss?«

»Neben einem Stand mit Glasweihnachtsschmuck.«

Wir gingen an Ständen mit knallbunten Pelzhüten, Schmuck, feinen Seidenschals und Kerzen vorbei, bis Wren plötzlich einen Schrei ausstieß und mich am Arm packte: »Dort!«

Mein Herz begann zu rasen, als wir uns dem Stand näherten. Erinnerungen an die besorgten Fragen des Fremden, an seinen Atem auf meinem Gesicht und an diesen Kuss stürmten auf mich ein. Die große tränenförmige Christbaumkugel hing noch an ihrem silbernen Zweig, der in dem mattgoldenen Topf auf der Theke stand – genau wie gestern, als mir der Fremde hierhin gefolgt war. Schauer liefen mir über den Rücken, als ich die glatte Oberfläche der Glaskugel berührte.

»Ich stand hier und habe mir diese Kugel angesehen, als er hinter mir auftauchte.« Ich schloss die Augen, hörte wieder das warme Timbre seiner Stimme an meinem Ohr und spürte die leichte Berührung seiner Hand auf meiner Schulter.

Wren hatte sich bereits der Standbetreiberin zugewandt: »Verzeihung?«

»Ja, Kindchen?«

»Das hört sich jetzt sicher komisch an, aber wir suchen einen Mann.«

Die Frau hinter der Theke brach in ein rasselndes Gelächter aus, das auf jahrzehntelangen Nikotinkonsum hindeutete. »Tun wir das nicht alle, Schätzchen? Ich wünsch’ mir auch einen zu Weihnachten, was, Sylv?«

»Oh ja, Aud«, erwiderte die kleinere Frau neben ihr, die in so viele Wollschichten gehüllt war, dass sie einem freundlichen alten Schaf ähnelte.

»Nein, das verstehen Sie falsch«, fuhr Wren unverdrossen fort. »Wir suchen nach einem besonderen Mann, der …«

»Das ist die Unbekümmertheit der Jugend«, erwiderte Sylvia grinsend. »Wenn Sie mal in unserem Alter sind, Kindchen, dann sind die Kerle, die nichts Besonderes sind, die einzigen, die man eventuell noch abkriegt!« Die beiden Damen brachen erneut in rasselndes Gelächter aus, und Wren drehte sich mit hilflosem Achselzucken zu mir um.

»Es war gestern«, erklärte ich. »Ich habe mir diese Kugel hier angesehen, und dann ist ein junger Mann dazugekommen. Er war ungefähr eins achtzig groß, hatte rostbraunes Haar und trug einen grün-braun-beige gestreiften Schal.«

Stirnrunzelnd beugte sich Audrey über die fragilen Glasgebilde hinweg zu mir. »Um welche Uhrzeit war das?«

Ich rechnete nach. »Kurz nach zwei, glaube ich.«

Audrey sog geräuschvoll die Luft durch die Zähne ein – so ähnlich reagierte mein Vater immer, wenn ich die Band erwähnte, in der ich spielte. »Das Problem ist, Kindchen, dass in den letzten Tagen ein Haufen gut aussehender junger Männer an unserem Stand waren. Alle panisch auf der Suche nach Geschenken für ihre Mums.«

»Er hat sie geküsst«, fügte Wren hinzu. »Und dann ist er verschwunden.«

»Ah, Moment mal«, rief Sylvia. Sie dachte so angestrengt nach, dass sich ihre frostroten Wangen noch tiefer färbten. »Stimmt, da war ein junger Mann, der ein Mädchen geküsst hat!« Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie mich. »Drehen Sie sich mal um, Schätzchen.«

Ich folgte der Aufforderung, worauf die beiden Frauen aufgeregt miteinander zu tuscheln begannen, bis Sylvia mir erlaubte, mich wieder umzudrehen.

»Es ist nur eine vage Erinnerung, aber da war so ein Pärchen, das sich geküsst hat.«

»Super! Fällt Ihnen vielleicht noch irgendetwas dazu ein? Sein Gesicht oder ob er einen Namen genannt hat?«

Audrey lachte. »Sollten das nicht eher Sie wissen, Schätzchen? Schließlich waren Sie sehr viel näher an ihm dran als wir.«

Ganz offensichtlich war aus den Frauen nichts Sinnvolles mehr herauszuholen. »Na gut, vielen Dank«, erwiderte ich.

Während Wren noch mit den beiden Damen schwatzte, ging ich langsam weiter. Ich war von der mageren Ausbeute zwar etwas enttäuscht, aber gleichzeitig beflügelt von der Tatsache, dass ich mir das Ganze offenbar nicht nur eingebildet hatte. In Gedanken vergegenwärtigte ich mir die Strecke, die ich gestern nach meiner Flucht vom Plüschtierstand zurückgelegt hatte, und ging den Weg in die andere Richtung zurück, vorbei an der Town Hall und weiter zum Anfang der New Street.

Hinter mir ertönten Schritte, und gleich darauf war Wren neben mir. Sie keuchte ein wenig und schob die Hände in ihre Manteltaschen. »Das ist doch ein guter Anfang, oder?«

Ich lächelte. »Absolut. Wenn du willst, können wir es dabei belassen.«

»Kommt gar nicht infrage. Nachdem ich jetzt weiß, dass du nicht halluziniert hast, finde ich das Ganze eigentlich ziemlich spannend.« Sie stieß mich mit der Schulter an. »Ein bisschen wie in einem schnulzigen Mädchenfilm, findest du nicht? Der attraktive Fremde, die Begegnung auf dem Weihnachtsmarkt, der Kuss, der natürlich mit Musik von Randy Newman untermalt sein sollte …«

»Nur haben wir leider keine Ahnung, wer der Hauptdarsteller ist«, erinnerte ich sie, obwohl ich von dem Vergleich recht angetan war.

»Pah, das sind unbedeutende Details. Also, wohin jetzt?«

An der von Ständen gesäumten Straße entdeckte ich weiter unten eine Bierbude mit seltsam rotierenden Holzlatten und einem riesigen Eisbären auf dem Dach. »Dort unten war der Plüschtierstand, in den ich geknallt bin.«

»Wunderbar. Da du die Bude ja mehr oder weniger zerlegt hast, wird sich bestimmt jemand an dich erinnern.«

Manchmal war Wren einfach sehr direkt …

Kalter Schweiß rann mir über den Nacken, als wir auf den Schauplatz meiner zweitschlimmsten Blamage des Vortags zueilten. Mein rechter Arm und die Schulter brannten noch immer von dem Zusammenprall mit der Holzfront, und meine Wangen brannten jetzt ebenfalls vor Verlegenheit. Wie hatte ich es nur geschafft, zwei Mal an einem Tag meine in jahrelanger Arbeit erlangte Würde auf derart spektakuläre Weise zu verlieren? Unvermeidlich schweiften meine Gedanken zum ersten Zwischenfall, und bei der Erinnerung an Charlies entsetzte Miene krampfte sich mein Herz zusammen. Wenn Wrens Behauptung stimmte, dass meine Beschäftigung mit dem gut aussehenden Fremden lediglich eine Ablenkungsstrategie war, um nicht mehr an Charlie denken zu müssen, so funktionierte diese Strategie im Moment nicht besonders gut. Wütend verdrängte ich sein Gesicht aus meinen Gedanken und wandte mich der vor mir liegenden Aufgabe zu.

Der Plüschtierstand befand sich viel weiter unten an der New Street, als ich es im Gedächtnis hatte, und ich war überrascht, wie weit der Fremde gelaufen war, bis er mich am Kunsthandwerksmarkt eingeholt hatte. Es schien ihm wirklich wichtig gewesen zu sein, mich zu finden. Der Gedanke beflügelte mich. War es nicht der Beweis dafür, dass der Fremde ein besonderer Mensch war und in mir etwas Einzigartiges gesehen hatte, so dass er die Mühe auf sich genommen hatte, mir nachzugehen?

Als das bunte Durcheinander aus Plüschtieren und Handpuppen in Sicht kam, wappnete ich mich innerlich gegen einen neuen Hagel an Beschimpfungen seitens des beleibten Budenbesitzers, doch zu meiner Überraschung stand hinter der Theke ein schlanker Jugendlicher mit Brille.

»Kann ich behilflich sein?«, fragte er mit starkem deutschen Akzent, während sein pubertärer Blick meine beste Freundin verschlang, die ihm ihr strahlendstes Lächeln schenkte.

»Ich hoffe«, schnurrte sie, ganz das großäugige, mit den Wimpern klimpernde Weibchen. Und schon zappelte der Fisch am Haken, obwohl sie in ihrem bunten Patchworkmantel und dem schwarzen, mit silbernen Pailletten bestickten Paschminaschal bis zu den Ohren eingemummt war. Ich unterdrückte den Impuls zu lachen und war voller Bewunderung für Wrens sagenhaftes Verführungstalent. »Ich wollte fragen, ob du dich an meine Freundin erinnerst.«

Mit hochgezogenen Brauen musterte mich der schlaksige Knabe von oben bis unten, sichtlich stolz auf seine scheinbar unwiderstehliche Anziehungskraft auf junge Engländerinnen. »Also, ich würde mich sehr gern an dich erinnern«, sagte er mit einem, wie er wohl annahm, betörenden Blick.

»Nein, nein, das verstehst du falsch. Meine Freundin ist gestern in deine Plüschtiere gefallen.« Lebhaft deutete Wren auf die Auslage.

»Ah, davon habe ich gehört. Ich war zu dem Zeitpunkt nicht am Stand, sondern mein Bruder. Er hat erzählt, dass die Plüschtiere überall verstreut waren.«

Vergnügt klatschte Wren in die Hände, während ich knallrot anlief. »Super! Hat dir dein Bruder auch von dem Typen erzählt, der meiner Freundin geholfen hat, die armen Tierchen wieder einzusammeln?«

Die Miene des Jungen trübte sich. Er nickte missmutig: »Das war der Einzige, der geholfen hat.«

Sogleich vergaß ich meine Verlegenheit. »Richtig! Hat er gesagt, wie der Mann aussah?«

»Nö.« Er zuckte die Achseln: »Es war ein junger Typ. Mehr weiß ich auch nicht.«

Wren nickte mir zu. »Klar, verstehe. Wann wird dein Bruder wieder hier sein?«

»Schwer zu sagen, weil er für den Stand gar nicht zuständig ist. Mein Bruder ist hier einer der Organisatoren. Gestern hat er nur kurz ausgeholfen.« Verschwörerisch zwinkerte er Wren zu, ehe er zum Angriff überging. »Wollen wir heute nach Feierabend zusammen ein Bier trinken? Birmingham ist eine schöne Stadt, aber für Fremde ein wenig einsam …«

»Würde ich wahnsinnig gern, aber das geht leider nicht. Ich muss meine Weihnachtseinkäufe erledigen. Du weißt ja, wie das ist …« Sie hakte sich bei mir unter, zog mich weiter und ließ den Jungen einfach stehen. »Puh, nach dieser liebreizenden Begegnung brauche ich dringend einen Kaffee.«

Langsam schoben wir uns durch das Gewühl zu genau jenem Café, in dem ich Charlie mein verhängnisvolles Geständnis gemacht hatte. Zum Glück war das breite Ledersofa im hinteren Bereich frei, so dass ich nicht neben dem Fenster sitzen musste, wo alles Unheil begonnen hatte.

Wren kam mit zwei riesigen Tassen Cappuccino und zwei Stück klebrigem Schokoladenkuchen zum Sofa. »Koffein und Zucker – genau das, was du jetzt brauchst!«, verkündete sie und legte Schal und Mantel ab, ehe sie sich neben mich setzte. »Er ist also real.«

»Natürlich ist er das. Wenigstens glaubst du mir jetzt.«

»Stimmt. Außerdem halte ich ihn nicht mehr für einen Psycho.«

»Oh, da freue ich mich aber! Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel?«

Wren lehnte sich zurück, ihre zierliche Gestalt verschwand fast in dem weichen Polster. »Als wir deinen Weg zurückverfolgten, habe ich nachgedacht: Er war der Einzige, der dir beim Aufsammeln der Plüschtiere geholfen hat, und obwohl du gesagt hast, dass dir nichts fehlt, ist er dir nachgegangen, um sich noch einmal zu vergewissern. Wäre er irgendein Idiot, der auf eine schnelle Nummer aus ist, wäre er nicht so fürsorglich gewesen. Und er war offenbar für die Damen am Glaskugelstand beeindruckend genug, um sich an ihn zu erinnern – wenn auch nur vage. Trotzdem verstehe ich nicht, warum er einfach gegangen ist.«

»Das habe ich dir doch erzählt: Jemand hat nach ihm gerufen.«

»Ja, aber wer? War es eine männliche oder eine weibliche Stimme?«

»Männlich.«

»Okay. Also, im besten Fall: Kumpel. Im schlimmsten Fall: Partner

Ich hätte mich beinahe an meinem Cappuccino verschluckt. »Komm runter, Wren, er war nicht schwul.«

»Woher willst du das wissen? Ich meine, gut aussehend, gut gekleidet, fürsorglich … Vielleicht hat er dich wegen einer Wette geküsst oder weil er sich mal kurz andersrum orientieren wollte … Okay, okay, war nur ein Scherz. Aber er könnte eine Freundin haben oder, noch schlimmer, eine Ehefrau.«

Gereizt entgegnete ich: »Warum hat dann dieser Jemand, der ihn gerufen hat, zugelassen, dass er mich küsst?«

Wren spießte ein großes Stück Schokoladenkuchen auf die Gabel. »Vielleicht wurde er ja deswegen abkommandiert!«

Mit dieser Möglichkeit wollte ich mich gar nicht erst befassen, dennoch versuchte ich mich zu erinnern, ob an seiner linken Hand ein Ring gesteckt hatte. Leider war dieses Detail nicht in meinem Gedächtnis gespeichert. Aber er konnte doch nicht verheiratet sein, oder? Die Art, wie er mich angesehen, wie er mich geküsst hatte – als wäre er endlich der Frau seines Lebens begegnet. Ich hatte mich … ja, wertgeschätzt gefühlt, so seltsam sich das auch anhören mag. Er hatte mir das Gefühl gegeben, ich wäre ein kostbarer Edelstein, den er nie mehr hergeben wollte.

Aber er hatte mich gehen lassen.

Wren schob sich die Locken hinter die Ohren. »Egal, lassen wir das. Erzähl mir lieber von dem Kuss.«

Ich musste nicht einen Moment nachdenken, um die Einzelheiten wiederzugeben, die in meinem Kopf Tag und Nacht als Endlosschleife abliefen: wie geborgen ich mich in seinen Armen gefühlt hatte, wie weich und warm seine Lippen auf meinen gewesen waren, wie der ganze Großstadtlärm abebbte und die Zeit stillzustehen schien, und wie ich alles, was passierte, nicht einen Moment infrage stellte, weil es sich so richtig anfühlte …

»Als wärst du nach Hause gekommen, was?«, beendete Wren meinen Satz mit einem sehnsuchtsvollen Blick.

Ich nickte. »Genau. Und es mag vielleicht abgedroschen klingen, aber ich habe mich weder benutzt noch billig gefühlt. Ich habe einfach nur diesen wunderbaren Moment mit einem fremden Mann genossen, den mein Herz bereits kannte. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?«

Sie lächelte: »Absolut, Süße. Obwohl ich ihn nach diesem Kuss niemals hätte gehen lassen.«

Niedergeschlagen nippte ich an meinem Cappuccino. »Ja, das war dumm. Ich weiß auch nicht, warum ich ihn nicht nach seiner Telefonnummer gefragt habe. Oder wenigstens nach seinem Namen. Aber irgendwie war ich wie gelähmt – wahrscheinlich in einer Art Schockstarre –, und als ich endlich losrannte, um ihn zu suchen, war er bereits verschwunden. Und jetzt habe ich nur noch die Erinnerung an ihn.«

Aufmunternd tätschelte Wren meine Hand. »Nun ja, ganz so ist es auch nicht.« Sie griff in ihre Manteltasche, zog ein rosa-weiß gestreiftes Papiertütchen hervor und reichte es mir. »Damit du ein kleines Andenken an dein bedeutsames Erlebnis hast.«

Verblüfft öffnete ich die Tüte und wickelte den in gelbes Seidenpapier gewickelten Gegenstand aus. Es war die wunderschöne tränenförmige Christbaumkugel, deren aufgemalte silberne Sternchen im Licht blinkten und blitzten.

»Oh, Wren! Ich danke dir!«

Wren legte den Arm um mich und drückte mich kurz an sich. »Du hast es verdient, Süße. Es soll dich immer daran erinnern, dass es irgendwo in dieser Stadt zumindest einen tollen Typen gibt, der dich schön findet. Und angesichts deiner meergrünen Augen und deines umwerfenden Lächelns wird er damit nicht allein sein.« Ich lachte.

Wren schwärmte schon immer von meiner Augenfarbe, obwohl sie selbst eine der hübschesten Frauen war, die ich kannte. Ihre kakaobraunen Augen und die wilden rotbraunen Locken waren einfach hinreißend, doch Wren sagte immer, sie beneide mich um meine Augen, weil sie »so grün wie das Meer im Sommer« seien.

Wir beide hatten einen sehr unterschiedlichen Stil. Wren war bei der Wahl ihrer Klamotten genauso extravagant wie bei allen anderen Dingen. Sie kombinierte die unmöglichsten Farben miteinander, aber seltsamerweise funktionierte das bei ihr sehr gut. Ich hätte damit wie ein als Hippie verkleideter Idiot ausgesehen, doch bei Wren wirkte es avantgardistisch und eigenwillig. Rein äußerlich waren wir totale Gegensätze, so dass wir uns perfekt ergänzten. Mein schulterlanges Haar hatte im Verlauf der Jahre schon viele Farben gehabt (blond, rot und in der Pubertät sogar schwarz), doch das Dunkelblond, mit dem ich mich inzwischen arrangiert hatte, stand mir am besten, wie ich fand. Während Wren stundenlang im Internet nach flippigen, ausgefallenen Klamotten suchte, bummelte ich lieber durch Boutiquen. Trotzdem mochten wir den Stil der jeweils anderen. Schon komisch, dass man nie mit dem Aussehen zufrieden war, das man mitbekommen hatte.

»Du bist gut für mein Ego, Wren.«

»Und du für meines. Deshalb brauchst du meine Hilfe, um diesen Typen zu finden.«

»Und wie genau wollen wir das anstellen?«

»Weiß ich noch nicht. Wir werden uns etwas überlegen. So, küssende Traummänner mal beiseite, wie soll es mit Charlie weitergehen?«

Die Erinnerung an die grausame Realität war wie eine eiskalte Dusche. »Keine Ahnung.«

»Hat er nicht angerufen?«

»Ich bin nicht drangegangen.«

Um ehrlich zu sein: Charlie hatte mich seit meinem unheilvollen Geständnis nahezu ununterbrochen angerufen und mit SMS bombardiert, doch ich schaffte es nicht, mit ihm zu sprechen – noch nicht. Wie auf Kommando summte genau in diesem Moment mein Handy und kündigte den Eingang einer Nachricht an: BITTE rede mit mir, Rom. Cx

»Vielleicht solltest du ihn anrufen.«

»Und was soll ich sagen? Ich habe mich total lächerlich gemacht, Wren. Mir ist schleierhaft, wie ich auf diese dämliche Idee kommen konnte, ihm meine Liebe zu gestehen.«

Wren stöhnte: »Rom, zum tausendsten Mal: Wir haben alle gedacht, dass ihr beide eines Tages ein Paar sein würdet. Es war ja nicht zu übersehen, wie gut ihr euch versteht. Ich meine, sogar meine Mutter hat das gemerkt, und wie jeder weiß, ist sie nicht gerade die Hellste. Er hat einfach Panik bekommen, was soll’s? Das ist verständlich. Schließlich hast du ihn total überrumpelt. Aber eines sag ich dir: Er ist ein Idiot, wenn er nicht erkennt, wie perfekt ihr zueinanderpasst. Ihr wart immer das ›alte Ehepaar‹ – die ganze Band hat euch so genannt.«

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Mit dem alten Ehepaar ist es vorbei.«

»Offenbar nicht, wenn er ständig versucht, dich zu erreichen. Und was ist mit den Gigs, die in den nächsten Monaten anstehen? Tom meinte gestern, dass Dwayne für nächstes Jahr ein paar erstklassige Buchungen an Land gezogen hat. Ob es dir gefällt oder nicht, für die Band ist es wichtig, dass ihr beide zumindest wieder miteinander redet. Ich liebe euch beide, aber ich brauche auch das Geld. Wenn ich die Miesen auf meinem Konto sehe, packt mich das kalte Grauen.«

»Es wird sich alles regeln. Im Moment ist es etwas schwierig, aber die Band darf natürlich nicht darunter leiden. Ich werde das hinkriegen. Gib mir noch ein paar Tage, dann werde ich mich darum kümmern.«

Wrens Handy klingelte. Mit ernster Miene hielt sie mir das Display hin. »Und? Was soll ich ihm jetzt sagen?«

Entsetzt wich ich zurück: »Verrat ihm bloß nicht, dass ich hier bin. Bitte!«

Genervt verdrehte sie die Augen und nahm das Gespräch entgegen. »Hey, Charlie … Klar doch, mir geht’s gut. Und dir? Ah, okay … Rom? Nein, Schatz, ich habe sie nicht gesehen. Ich habe mit ihr gesprochen, aber …«, sie warf mir einen vielsagenden Blick zu, »… ich glaube, sie braucht einfach noch ein wenig Zeit … Was? Okay, ich werde es ihr ausrichten … äh, wenn ich sie sehe. Halt die Ohren steif. Bye.«

Erleichtert atmete ich auf: »Danke.«

»Ein zweites Mal werde ich das nicht für dich tun, Rom. Du musst ihn anrufen. Der arme Kerl ist total durch den Wind.«

»Okay, ich rufe ihn morgen an«, seufzte ich.

Wren nahm mein Handy vom Tisch und drückte es mir in die Hand. »Schick ihm heute Abend wenigstens eine SMS. Und ich werde mir in der Zwischenzeit überlegen, wie du den Phantomküsser vom Weihnachtsmarkt wiederfinden kannst, okay?«

Natürlich wusste ich, dass Wren Recht hatte. Charlie und ich kannten uns zu lange, um unsere Freundschaft einfach hinzuschmeißen, nur weil mein Ego verletzt war. Und dann gab es natürlich noch die Band …

The Pinstripes waren seit fast sieben Jahren zusammen. Die Idee, eine Band zu gründen, war aus einer Bierlaune heraus auf einer der vielen Partys im Haus meiner Freunde Jack und Sophie entstanden. Wrens frisch verlobte Freundin Naomi hatte den Mangel an guten Hochzeitsbands in der Gegend beklagt und im Scherz vorgeschlagen, sollten wir diese Lücke füllen. Im Grunde war es verwunderlich, dass uns diese Idee nicht schon früher gekommen war. In unserer Clique waren zwei Sänger (ich und Wren, die auch Bassgitarre spielte), ein Drummer, ein Keyboardspieler, ein Leadgitarrist und ein Saxophonspieler – und alle schlugen wir uns in zweitklassigen Bands durch, in die wir eigentlich nicht so recht hineinpassten. Ich sang damals mit Jack Jazzklassiker in einer Pizzeriakette vor meist irritiert wirkendem Publikum. Charlie spielte Schlagzeug in einer Jam-Tribute-Band (und hasste jede Sekunde davon). Sophie spielte Saxophon in einer Band aus Mittvierzigern, die auf leicht bekömmliche Fahrstuhlmusik standen, und Tom und Wren waren die Ältesten in einer chaotischen Teenager-Trash-Metal-Band namens R.T.A (die den Begriff »Krach« erfunden zu haben schienen). Wie so viele Ideen, die morgens um drei unter dem Einfluss von Unmengen von Rotwein und Sambuca entstanden, wurde auch diese begeistert diskutiert und einstimmig für brillant befunden. Und so hielten The Pinstripes ihren gloriosen Einzug in die Partybandszene.

In diesen sieben Jahren erlebten wir alptraumhafte Gigs, Stromausfälle, Prügeleien (zum Glück nicht in unseren Reihen) und mehr als nur einen älteren Schwerenöter, der verzückt die Bühne zu stürmen versuchte. All das überstanden wir relativ schadlos und einigermaßen erfolgreich. Sophie war nach zwei Jahren ausgestiegen, da sie an der örtlichen Gesamtschule, wo sie arbeitete, zur Leiterin des Fachbereichs Musik befördert wurde. Aber hin und wieder ließ sie sich zum Mitspielen überreden, vor allem, wenn wir an einem besonders großartigen Veranstaltungsort auftraten. Da wir alle unsere normalen Jobs hatten, bedeutete die Band für uns eine Menge Spaß und war obendrein ein willkommener Nebenverdienst.

Außerdem erfuhren wir auf die Art sehr viel darüber, wie man eine Hochzeit organisierte und wie man sie besser nicht organisierte. Nach wie vor staunte ich darüber, wie grauenvoll manche Hochzeiten abliefen. Wir amüsierten uns köstlich darüber, vor allem Wren und ich, da wir uns stundenlang genüsslich über jedes grausige Detail auslassen konnten. Und dann gab es die Hochzeiten, die wirklich inspirierend waren – wenn alles wie von selbst funktionierte und wir, vom Adrenalin beflügelt, zur Höchstform aufliefen. Von diesen Veranstaltungen sprachen wir auch hinterher noch voller Hochachtung und Ehrfurcht, denn sie waren der Beweis dafür, dass wir mit unserer Musik etwas bewirken konnten. Die Jungs aus der Band sahen das Ganze eher zynisch, doch auch sie wurden schon dabei beobachtet, wie sie bei besonders bewegenden Feierlichkeiten heimlich ein paar Tränchen zerdrückten.

Ich hatte im Verlauf meines Lebens schon in verschiedenen Bands gesungen und konnte mit Fug und Recht behaupten, dass nichts so viel Spaß machte, wie mit den besten Freunden aufzutreten. Man verstand sich auf einem anderen Level – als wüssten wir alle immer, was die anderen dachten. Und das liebte ich.

Die Geschichten über unsere Gigs waren unter uns Bandmitgliedern ein beliebtes, unerschöpfliches Thema. Diese gemeinsamen Erlebnisse hatten uns fest zusammenschweißt, doch Freunde, die keine Musiker waren, reagierten häufig gereizt und gelangweilt, wenn wir uns samstagabends am großen Esstisch von Jack und Soph stundenlang über schiefgelaufene Songs oder eigenartige Hochzeitsfeiern unterhielten. Wir nahmen uns immer wieder vor, diese Geschichten im Beisein Außenstehender zu reduzieren, aber meistens blieb es bei dem frommen Vorsatz. Über kurz oder lang ertappten wir uns doch dabei, dass wir schon wieder seit Stunden fröhlich über alle möglichen Auftritte schwatzten. Diese Haltung führte zu einigen Zerwürfnissen, worauf ich weiß Gott nicht stolz war. Obwohl Wren es nicht zugeben würde, war die enge Verbundenheit innerhalb der Band einer der Hauptgründe, weshalb Matt, ihr letzter Freund, nach relativ kurzer Zeit das Weite gesucht hatte. Sophie erzählte mir, er habe Wren vor die Wahl gestellt: entweder er oder The Pinstripes. Nun ja, das Ergebnis war bekannt.

Natürlich gab es etliche Herausforderungen für eine Band, die sich auf festliche Veranstaltungen spezialisiert hatte: allein die Logistik, fünf überbeschäftigte Leute für die Proben zusammenzutrommeln, dann die internen Zankereien, die gelegentlich aufflackerten, der Stress beim Verladen der Instrumente und bei den stundenlangen Soundchecks, die langen Nächte und die oft noch längeren Heimfahrten in den frühen Morgenstunden, wohl wissend, dass die Ausrüstung noch aus dem Van ausgeladen werden musste, ehe man ins Bett kam. Und trotzdem war es einfach großartig, mit seinen Freunden herumhängen zu können und dafür auch noch bezahlt zu werden. Dagegen erschienen all die negativen Seiten völlig bedeutungslos.

Für mich waren es die schönsten Momente, wenn während der Soundchecks spontane Jamsessions entstanden oder wenn wir zu einer unchristlich frühen Stunde in irgendwelchen Tankstellenrestaurants leidenschaftlich über Musik diskutierten. Ich könnte es niemals ertragen, all das zu verlieren. Und doch würde es geschehen, wenn ich die Situation mit Charlie weiterhin ignorierte.

Als ich an diesem Abend allein in meinem Schlafzimmer saß und das Telefon anstarrte, wurde mir klar, dass Wren recht hatte: Ich musste ihn anrufen. Und so nahm ich all meinen Mut zusammen und wählte Charlies Nummer.

Schon bei seinen ersten Worten nahm ich die Anspannung in seiner Stimme wahr. »Rom … hey.«

»Hi, Charlie.«

»Ich wusste neulich einfach nicht, was ich … sagen soll … oder tun …«

»Entschuldige. Ich war total verunsichert.«

»Da warst du nicht allein«, bemerkte Charlie lachend. Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich schluckte. Nach einer längeren Pause fragte er: »Bist du noch dran?«

»Ja.«

»Mensch, Rom, was für ein Durcheinander. Können wir uns morgen treffen?«

»Ich weiß nicht …«

»Sag nicht Nein, Rom. Hör einfach zu, okay?«

»Okay.«

Ich hörte, wie er am anderen Ende der Leitung nervös durchatmete. »Cool. Was du gestern gesagt hast … na ja, ich habe darauf nicht sehr nett reagiert.«

Was du nicht sagst!

»Ich hätte anders damit umgehen müssen. Und vor allen Dingen hätte ich nicht aufgeben sollen, als du mich weggeschickt hast.«

»Ist schon okay, ehrlich.«

»Ich finde, wir sollten uns aussprechen, Rom, die Situation klären. Es wäre schrecklich, wenn sich das auf unsere Freundschaft auswirken würde …«

Gott bewahre! »Das wird nicht …«

»… und auf unsere Auftritte. Schon allein wegen der Band müssen wir wieder miteinander ins Reine kommen.«

Pragmatisch, wie Charlie nun mal war, hatte er es geschafft, eine peinliche Situation in einen Sachzwang zu verwandeln. »Da gebe ich dir völlig Recht.«

»Cool. Also … äh … morgen früh um acht bei Harry’s? Das Frühstück geht auf mich, okay?«

Ich schnitt eine Grimasse ins Telefon: »Gut. Bis dann.«

Ich warf das Telefon ans Bettende, ließ mich nach hinten fallen und schob das Kissen über meine brennenden Augen.

In der Nacht tauchte der Fremde vom Weihnachtsmarkt abermals in meinen Träumen auf. Und wieder lag ich geborgen in seinen Armen, atmete den Duft seiner Haut ein, ertrank in diesem wundervollen, intensiven Blick.

»Hallo, meine Schöne.«

»Hallo, du.«

»Ich warte darauf, dass du mich findest.«

»Wirklich? Aber du kennst mich doch gar nicht.«

»Mein Herz kennt dich. Und mein Herz hat dich gesucht.«

»Ich weiß nicht, wie ich dich finden soll.«

Er lächelte, sein Gesicht bewegte sich näher zu meinem, sein warmer Atem umschmeichelte meine Lippen. »Folge deinem Herzen, meine Schöne.«

»Was bedeutet das denn?«

Er zuckte die breiten Schultern. »Ich weiß es nicht. Dies ist dein Traum. Aber sagen das nicht immer die Helden in diesen Liebesschnulzen, die du so gerne siehst?«

»Das ist nicht gerade hilfreich.«

Zärtlich strich er mir über die Wange, und in seinen Augen lag so viel Liebe, dass ich ihm seine mangelnde Hilfsbereitschaft sofort verzieh. »Dein Herz kennt mich, meine Schöne. Also folge deinem Herzen …«

Ruckartig erwachte ich, setzte mich auf und starrte in das rosa-goldene Morgenlicht, das durch einen Vorhangspalt hereindrang. Die Vögel sangen bereits, und ein neuer Tag erwachte. Mein Herzschlag rauschte in meinen Ohren, als die Erinnerung an den unvergleichlichen Kuss zurückkehrte.

Wren hatte recht. Ich musste ihn finden.

Aber jetzt stand mir erst einmal das Treffen mit Charlie bevor.