Nelke.psd10

Gimme! Gimme! Gimme! (a man after midnight)

»Es ist sein Hinterkopf.«

»Ja, das weiß ich, Wren.«

»Sein Hinterkopf, Rom! Mehr hast du nicht?«

»Hey, bei Fat Face ist gerade Ausverkauf. Wollen wir da nicht hingehen?« Fat Face war ein Modedesigner, den wir beide mochten.

Wren ignorierte meine geistvolle Anspielung und betrachtete das Foto in ihren Händen, während wir in The Mailbox in einem knallrosa erleuchteten Lift nach unten fuhren. »Nun ja, immerhin kannst du den Hinterkopf dieses Typen mit dem Hinterkopf des Kerls vergleichen, den du am Valentinstag gesehen hast.« Sie brach in schallendes Gelächter aus, ohne sich um die missbilligenden Blicke der beiden aufgedonnerten Frauen zu kümmern, die auf High Heels aus Harvey Nic’s herausgestöckelt kamen. »Du musst zugeben, dass das ziemlich komisch ist.«

»Ich lach mich schlapp. In welches Café willst du gehen?«

Mühsam kriegte sie sich wieder so weit ein, dass sie mir eine vernünftige Antwort geben konnte. »Lass uns einfach durch die New Street bummeln und nach einem netten Plätzchen Ausschau halten.« Nach einem Blick auf meine Miene wurde sie schlagartig wieder ernst. »Ach, Rom, bist du sehr traurig? Entschuldige, ich hätte nicht lachen dürfen.« Sie hakte sich bei mir unter und drückte tröstend meinen Arm. »Wir werden uns jetzt einen richtig schönen Mädelsnachmittag machen, okay?«

Seit ich das Foto erstmals in den Händen gehalten hatte, war eine Woche vergangen, und inzwischen sah ich die ganze Sache deutlich gelassener. Ich hatte sogar mit Jack und Sophie darüber gelacht, als ich ihnen das Foto am Vorabend gezeigt hatte. Ja, ich war enttäuscht, aber entscheidend für mich war, dass er tatsächlich auf dem Foto abgebildet war. Kurzum: Er war real, und ich hatte mir das Ganze nicht nur eingebildet. Und das war durchaus etwas Positives.

»Es ist einfach ein weiteres Puzzlestück«, erklärte ich Wren, als wir zehn Minuten später in einem Café saßen. Draußen strömten Passanten vorbei, und ein Straßenkünstler spielte auf seinem Tenorsaxophon.

Wren rührte die Schlagsahne unter ihren Kakao. »Du bist unglaublich, Rom. Ich hätte schon vor Monaten aufgegeben. Also, was hast du als Nächstes vor?«

»Wir suchen einfach weiter. Onkel Dudley ist überzeugt, dass mein Blog bald den Erfolg bringt, zumal meine Leserschar immer größer wird.«

»Wie viele sind es denn mittlerweile?«

»Fast vierzig. Keine Ahnung, wie sie unter den zahllosen Blogs ausgerechnet auf meinen gestoßen sind, aber sie sind ungeheuer enthusiastisch. Würden meine Erfolgschancen in direktem Verhältnis zu der Begeisterung meiner Anhänger stehen, wäre ich auf der sicheren Seite.«

»Hmm …« Wren blätterte in einer alten Lokalzeitung, die auf unserem Tisch liegen gelassen worden war. »Das Problem ist, dass deine Anhänger dich eigentlich bloß anfeuern. Was du brauchst, ist …« Sie brach ab und blickte stirnrunzelnd in die Zeitung.

Wren verfügt über jene Art von kreativem Verstand, der mit sprunghafter Geschwindigkeit unentwegt in Bewegung ist. Als Folge davon hielten fremde Leute sie für konfus, weil ihre Sätze oft unbeendet blieben und sie bei Gesprächen vom Hölzchen aufs Stöckchen kam. In Wahrheit war sie wahrscheinlich intelligenter als wir alle zusammen, konnte mühelos verschiedenen Gedankensträngen gleichzeitig folgen und dabei auch noch andere Tätigkeiten verrichten. In einem Schulzeugnis stand einmal, Wren habe das Potenzial, entweder eine »begnadete Künstlerin oder eine despotische Chefin« zu werden – eine Einschätzung, die sie uns regelmäßig voller Stolz unter die Nase rieb.

»Jedenfalls weiß ich nun, dass mein Fremder real ist. Wren?« Ich wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, doch ihr Blick blieb auf die zerknitterte Zeitung geheftet, die zwischen unseren Tassen ausgebreitet lag. »Hallo? Erde an Wren …«

»Das ist es!«, rief sie aus und tippte mit ihrem Finger auf Seite zwölf. Mit einem triumphierenden Lächeln blickte sie zu mir auf. »Ich weiß, wie wir ihn finden können! Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen?« Sie schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. »Ich Idiot! Wie konnte ich nur so dusslig sein! Das hier ist perfekt!« Wren sah aus, als würde sie jeden Moment abheben und wie ein heliumgefüllter Ballon an die Decke steigen.

»Wren, beruhige dich! Wovon redest du?«

»Darüber!« Sie drehte die Zeitung zu mir herum und deutete auf die Seite.

»Die Kontaktanzeigen?«

»Ja! Wir geben eine Anzeige auf, in der steht, wo ihr euch begegnet seid, wie ihr gekleidet wart und was passiert ist. Wenn er es dann liest, wird er sich mit dir in Verbindung setzen, und fertig!«

»Falls er diese Zeitung überhaupt liest.«

»Rom, diese Zeitung liest jeder. Außerdem sind das Nebensächlichkeiten. Ich möchte, dass du ihn findest. Du verdienst einen tollen Mann, der dich glücklich macht, erst recht nachdem du so lange auf Charlie gewartet hast.«

Von allen meinen Freunden hatte Wren die höchste Meinung von mir. Es war unglaublich berührend, wie leidenschaftlich sie mir Glück wünschte.

»Weißt du was? Wir schreiben die Anzeige sofort, und ich schicke sie dann per E-Mail an die Zeitung.«

Angesichts ihres Tempos wurde mir etwas mulmig zumute. »Meinst du nicht, wir sollten uns etwas Zeit lassen und alles noch einmal genau überdenken?«

»Ach, komm schon, Süße, wo bleibt dein berühmter Sinn für Abenteuer? Schnapp dir einen Kuli, und dann überlegen wir uns einen witzigen Text.«

Obgleich ich einige Bedenken bezüglich Wrens neuestem Plan hatte, musste ich zugeben, dass mir im Moment nichts Besseres einfiel, um irgendwie weiterzukommen. Seit ich Baz’ Foto erhalten hatte, stagnierte die ganze Sache leider. Die Anzeige würde in der übernächsten Wochenendausgabe erscheinen, und Wren hatte darauf bestanden, den ersten Entwurf ungefähr fünf Mal umzuschreiben. Auch Onkel Dudley wusste nichts Neues zu berichten, doch dafür hatte ich von meiner wachsenden Anhängerschar wieder ein paar aufmunternde Nachrichten erhalten.

Gib nicht auf, Romily – du hast es in der Hand, dein Märchen Wirklichkeit werden zu lassen! xx rosieNYC

Ich hoffe, du findest ihn. Viel Glück dave-carter

Ich geh jedes Wochenende aus, und die Typen sind alle totale Kotzbrocken. Viel Glück bei deiner Suche nach dem einzigen guten Exemplar!:D x chelC

Eine super Sache! Meine Freundinnen an der Schule drücken dir alle die Daumen! xoxoxo Jenna96

Derlei enthusiastische Kommentare waren für mich zunächst etwas befremdlich gewesen, da ich es nicht gewöhnt war, die komplizierten Details meines Liebeslebens mit dem halben Cyberspace zu teilen. Doch wie Onkel Dudley zu sagen pflegte: »Je größer das Netz, desto größer die Chance, dass du den Burschen fängst.«

Ich musste an diese Möglichkeit glauben, obwohl die Spur inzwischen kalt geworden war – wenn auch nur vorübergehend, wie ich hoffte. Zumindest Wren stand mir unerschütterlich zur Seite, und auch meine anderen Freunde unterstützten mich, obwohl sie mich immer wieder damit aufzogen. Die einzige Person, die noch überzeugt werden musste, war Charlie.

Seit unserem Gespräch auf dem Weg zu der Mittelalterhochzeit war die Stimmung zwischen uns deutlich entspannter, aber weit entfernt von der alten Vertrautheit und Offenheit. Ich hatte das Bedürfnis, ihm alles zu erzählen – nach fünfzehn Jahren ließ sich das nicht so einfach abschalten –, doch das Thema blieb tabu. Um nicht aus Versehen einen Streit heraufzubeschwören, beschloss ich, Charlie gegenüber kein Wort mehr darüber zu verlieren.

Mittlerweile wurden wir immer häufiger für Hochzeiten gebucht. Anfang April hatten wir dann einen Auftritt, der in die Geschichte der Pinstripes eingehen sollte: »die Häschenhochzeit« am Ostersamstag.

Der Veranstaltungsort war ein Hotel in den Außenbezirken von Leeds, und als D’Wayne uns bei der Probe in der alten Schuhfabrik über die Einzelheiten aufklärte, klang alles recht vielversprechend. Wir ahnten zu dem Zeitpunkt natürlich nicht, welche Freuden uns erwarten würden.

»Okay, wir spielen ein Standardset, aber das Paar hat sich für das Mowtown-Medley anstelle des Bee-Gees-Medleys entschieden. Sie sind der Ansicht, dass die Gäste eher Lust auf ein wenig ›Saturday Night Fever‹ und ›Grease‹ haben als auf ›Heard it Through the Grapevine‹. Der erste Tanz wird ›Better Together‹ sein.«

»O nein. Jack Johnson. Wie öööde«, stöhnte Tom.

Verwundert sah ich ihn an: »Es ist doch ein hübscher Song.«

»Für den Sänger vielleicht. Aber wenn man ihn spielt, ist das genauso, als würde man Farbe beim Trocknen zusehen.«

Tom und Wren gaben eine Luft-Bass-Gitarre-Version des Songs zum Besten, dabei gähnten sie, blickten auf die Uhr und verdrehten die Augen. Charlie und Jack fanden das offenbar wahnsinnig witzig und schlossen sich mit einem imaginären Schlagzeug und Keyboard an, die sie mit derselben übertriebenen Langeweile spielten.

»Ihr seid Zyniker«, schimpfte ich, obwohl ich mir ein Lachen nicht verkneifen konnte, weil die Darbietung einfach zu komisch war.

»Können wir uns darauf verlassen, dass diesmal keine Strumpfhosen verlangt werden?«, fragte Jack D’Wayne, der daraufhin sofort den Kopf einzog. Seit jenem kostümierten Auftritt wurde er von uns gnadenlos verspottet.

»Mann, ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut«, brummte er. »Der Hochzeitsplaner hat mir versprochen, dass es heute ein ganz normales Event sein wird.«

Wie sich herausstellte, hatte der Hochzeitsplaner gelogen.

Welches Motto wäre für eine Hochzeitsfeier an einem Ostersamstag besser geeignet als Ostern und der Osterhase? Zu unser aller Entsetzen stellte sich heraus, dass nicht nur die Hochzeitsgesellschaft Stirnbänder mit flauschigen Hasenohren trug, sondern dass man dies auch von allen anderen Anwesenden erwartete. Laut Hochzeitsplaner war auf der Einladung ausdrücklich vermerkt worden, dass niemand ohne die korrekte Kopfbekleidung Einlass zu den Feierlichkeiten bekäme. Es erübrigt sich zu sagen, dass auch die Musikband nicht von diesem Dresscode ausgenommen war – und der Trauzeuge des Bräutigams bestand darauf, uns entsprechend auszustatten, ehe wir einen Fuß in das Hotel setzen durften.

Toms Miene verriet, wie wir uns alle fühlten. »Ich dachte immer, ich sei ein ernsthafter Musiker«, tobte er, doch seine Wut verlor durch die lächerlichen Plüschohren, die beim Sprechen hin und her wackelten, etwas an Wirkung. »Was müssen das für kranke, abartige Typen sein, die Häschenohren bei ihrer Hochzeit verlangen? Das zieht die ganze Feier doch total ins Lächerliche.«

Leider hörte das Osterhasenmotto nicht bei den rosa Schlappohren auf: Gelbe flauschige Spielzeugküken umrahmten jedes Gedeck und waren auf der gesamten Haupttafel verstreut. Rosa, blaue, gelbe und grüne Bänder schlangen sich fröhlich um die weißen Stuhlbezüge und die Marmorsäulen am Eingang zur Lobby. Knuddelige Plüschhasen umringten die von Ostereiern bekrönte Hochzeitstorte, saßen auf Tischen und hielten Körbe mit Osterglocken und weißen Tulpen in den Pfoten. Und auf einem eingezäunten kränklich grünen Grasstreifen mitten im Saal hockten sogar echte weiße Hasen und waren völlig verschreckt. Jeder Gast erhielt eine Packung mit Minischokoladeneiern, und für den Nachmittag war für die Kinder eine Ostereiersuche organisiert worden. Und damit nicht genug: An der Rücklehne eines jeden Stuhls waren flauschige rosa Bommelschwänze befestigt. Es war gruselig – ein Lehrbeispiel für eine lustige Idee, die man zu weit getrieben hatte und die alles dominierte und erdrückte.

Und was den Gig anging … Tja, versucht ihr mal, vor zweihundert Gästen, die zu »Saturday Night Fever« einen auf John Travolta machten und mit abartigen Accessoires ausstaffiert waren, einen perfekten Auftritt hinzulegen …

Unsere Aufgabe wurde durch die unangenehmen Gäste, die ständig dazwischenbrüllten, nicht gerade erleichtert. Die Braut – tief gebräunt aus der Spraydose und mit mindestens vier Lagen falscher Wimpern – schmollte unablässig, weil sie von ihren drei stämmigen Brautjungfern ignoriert wurde, die sich alles zu schnappen versuchten, was auch nur entfernt einem Mann ähnelte. Der frischgebackene Ehemann wiederum – dessen Nacken die blau tätowierte Inschrift »Wolfman« zierte – hätte fast eine Massenschlägerei ausgelöst, als er sich lautstark mit seinem Trauzeugen, zwei Hotelangestellten und der Brautmutter stritt.

Es geschah nicht oft, doch diesmal waren wir froh, als unser Auftritt vorbei war und wir den Ort des schrecklichen Geschehens verlassen konnten. Als wir später in Jacks und Sophies Wohnzimmer saßen und heißen Kakao tranken, fasste Tom den Abend treffend zusammen:

»Sehen wir es mal so: Wir sind lebend da rausgekommen. Bedauert lieber die Hasen, Leute!«

SUCHANZEIGE

Ich bin die junge Frau in dem roten Mantel und mit dem cremefarbenen Schal, die am Samstag, dem 17. Dezember auf dem Weihnachtsmarkt am Victoria Square, Birmingham, in einen Plüschtierstand gefallen ist. Ich habe schulterlanges dunkelblondes Haar, meergrüne Augen und bin 1,63 m groß. Du bist der Mann im schwarzen Mantel mit einem grün-braun-beige gestreiften Schal, der zu meiner Rettung herbeigeeilt ist. Du hast gewelltes rostbraunes Haar, braune Augen und bist ungefähr 1,80 m groß. Wenn du mich wiedersehen willst, nimm bitte Kontakt zu mir auf. E-Mail: encounters@brumnews.co.uk. Chiffre-Nr. BE1712

»Ich finde sie ganz gut«, sagte Tom langsam, doch seine etwas zu hoch gezogenen Brauen straften seine Worte Lügen.

Ich hatte an einem Samstag um halb elf Uhr vormittags nicht oft das Verlangen nach Alkohol, aber bei der Probe an diesem Tag hätte mir ein Gläschen Rotwein sicher geholfen, um die Nervosität zu lindern, die mich jetzt überkam.

»Ehrlich gesagt, finde ich sie unheimlich schmalzig«, gestand ich, »aber vielleicht hilft es der Erinnerung von irgendjemandem auf die Sprünge.«

Während mir Tom eine Tasse starken Tee reichte, kam Jack zu uns herüber und sagte: »Schon seltsam, dass wir die Ersten sind, die dir deine Annonce zeigen.«

»Offen gestanden – ich habe einen Bogen um den Zeitungskiosk gemacht«, sagte ich.

So rührend ich Wrens Unterstützung auch fand, die Sache mit der Anzeige blieb mir dennoch suspekt. Aber zumindest unternahm jemand irgendetwas – und wie Tante Mags neulich bemerkt hatte (bei einem herrlich klebrigen St.-Clements-Kuchen, der tatsächlich genau das war, was ich brauchte): »In der Not frisst der Teufel Fliegen.«

»Meinst du, er erinnert sich noch an die Begegnung, die ja immerhin schon dreieinhalb Monate her ist?«, fragte Jack und jaulte auf, als ihn Wren ins Ohr kniff.

»Hör nicht auf ihn«, sagte Wren.

»Das tut weh! Du bist gemein, Wren.«

»So viel Pessimismus muss einfach bestraft werden! Ehrlich, Rom, ich glaube, die Sache könnte funktionieren. Und wenn er wirklich so hingerissen war von dir, wie du erzählt hast, dann wird er ebenfalls nach dir suchen.«

Mit dem letzten Rest an Optimismus, der mir geblieben war, hoffte ich, Wren möge Recht behalten.

Nach zwei Stunden machten wir eine Pause, und Wren, Tom und Jack sausten in die Stadt, um etwas zu essen zu holen. Ich blieb allein im Proberaum zurück, schnappte mir den Teekessel und ging damit in die kleine Küche.

Bei meiner Rückkehr in den Proberaum entdeckte ich Charlie, der sich zu meinem Entsetzen gerade über die aufgeschlagene Zeitung beugte, die Jack auf dem Verstärker neben seinem Keyboard liegen gelassen hatte. Ich hatte fälschlicherweise angenommen, er wäre mit den anderen einkaufen gegangen. Mit dem Teekessel in der Hand blieb ich wie angewurzelt in der Tür stehen und überlegte, ob ich mich verdrücken sollte oder nicht. Als ich einen Schritt zurücktrat, knarrte der Holzboden, und Charlie blickte auf.

»Jetzt hast du also eine Suchanzeige geschaltet, was?«

Ich stellte den Teekessel auf die Herdplatte und schaltete sie an. »Das war Wrens Idee.«

»Hm. Schon irgendwelche Reaktionen erhalten?«

Ich zuckte die Achseln. »Die Anzeige ist gerade erst erschienen. Ich habe sie heute Morgen selbst zum ersten Mal gesehen.« Die unsichtbare Mauer stand wieder zwischen uns, blockierte den normalen Gesprächsfluss und ließ mich jedes Wort genau abwägen, ehe ich es aussprach. »Eine Tasse Tee?«, bot ich an, in dem verzweifelten Bemühen um einen entspannten Umgang miteinander, nach dem ich mich so sehr sehnte.

»Ach, ich warte lieber, bis die anderen zurück sind.«

»Oh.« Unschlüssig darüber, ob ich ihn der peinlichen Zeitungslektüre überlassen und mich mit Teekochen ablenken oder ob ich auf seine nächste Bemerkung warten sollte, blieb ich einfach stehen, wo ich war, und überlegte fieberhaft, was ich sagen könnte.

Warum war das so schwierig? Obwohl ich felsenfest an meine Suche glaubte und nichts in der Welt mich davon hätte abbringen können, litt ich unter der angespannten Situation zwischen Charlie und mir. Wahrscheinlich standen einfach noch zu viele offene Fragen im Raum. Schließlich war ich drei Jahre lang überzeugt gewesen, ihn zu lieben. Gefühle, die über einen so langen Zeitraum hinweg gehegt und genährt wurden, verschwanden nicht einfach über Nacht, oder? Da sich das Schweigen hartnäckig hielt, widmete ich mich dem Teekochen und hoffte inständig, Wrens verrückte Anzeige möge sehr bald irgendwelche Ergebnisse bringen. Ich musste mich auf die Suche konzentrieren. Wehmütige Gedanken an Charlie waren da eindeutig kontraproduktiv.

Tatsächlich kam die erste Reaktion schneller als erwartet:

Hey,

als ich deine Anzeige gelesen habe, musste ich sofort antworten. Ich erinnere mich an unsere Begegnung auf dem Weihnachtsmarkt und würde gern da weitermachen, wo wir aufgehört haben. Wenn du Lust auf ein Treffen hast, gib mir Bescheid.

Sebastian

»Ich glaube nicht, dass er das ist.« Stirnrunzelnd betrachtete ich die Nachricht. Mein Herz wummerte wie ein Technobeat, und meine Handflächen waren feucht.

»Woher willst du das wissen? Immerhin hat er auf die Anzeige geantwortet.«

»Aber Sebastian?«, gab ich zu bedenken.

»Warum nicht Sebastian? Das ist doch ein hübscher Name.«

»Kann sein. Aber mein hübscher Fremder kam mir einfach nicht vor wie ein Sebastian

Wren funkelte mich an. »Romily Parker, ich glaube, ich höre nicht recht!«

»Wie meinst du das?«

»Du bist ein Namensrassist

Eine Gruppe von Geschäftsleuten am Nebentisch sah neugierig zu uns herüber. Verlegen senkte ich die Stimme. »Nein, bin ich nicht. Ich versuche nur, mich mit der Tatsache anzufreunden, dass PK Sebastian heißen könnte.«

»Welchen Namen hast du denn erwartet?«

Das war eine interessante Frage, über die ich schon häufig nachgegrübelt hatte. Kann man den Namen von jemandem erraten, von dem man nichts weiß, außer dass er ein schönes Gesicht und einen gestreiften Schal besitzt? Er könnte ein Matt sein oder ein Ben und vielleicht auch ein Joe – aber doch kein Sebastian, oder?

Wrens Augen funkelten gefährlich. »Es gibt nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden.«

»Ich weiß. Aber ich brauche noch etwas Zeit zum Nachdenken, bevor ich mich entscheide, ob ich antworte oder nicht.«

»Zu spät. Ich habe heute Morgen geantwortet.«

»Was?«

Mit selbstzufriedener Miene nippte Wren an ihrem Tee. »Na ja, wenn ich es dir überlassen würde, müssten wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Du triffst Sebastian morgen Abend in dem Café mit Blick auf die St.-Martin-Kirche. Du musst also nur noch entscheiden, was du für das Rendezvous mit dem Mann deiner Träume anziehen wirst.«

Meiner üblichen Schlagfertigkeit beraubt, konnte ich nur dümmlich mit dem Kopf nicken. So ist Wren nun mal: Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann nur etwas in der Größenordnung eines Meteoriteneinschlags sie davon abbringen. Die Würfel waren gefallen. Ich würde Sebastian morgen treffen.