EPILOG
Seit Monaten prangte das „Zu verkaufen“-Schild des Maklers vor dem Haus der Karnoffs. Nur wenige Interessierte hatten sich das Anwesen angesehen. Es würde einige Zeit dauern, ehe das Gerede verstummte und die Erinnerungen an die Tragödie verblassten, die sich dort abgespielt hatte.
Karnoff war von den Medien so belagert worden, dass er einen richterlichen Beschluss erwirken musste, um die Menschen davon abzuhalten, sein Grundstück zu betreten. Aber das hatte nicht ausgereicht. Die Nachbarn zeigten zwar ihr Mitgefühl, doch hinter seinem Rücken wurde getuschelt, und Lügen machten die Runde. Eines Tages war er verschwunden. Niemand hatte einen Umzugswagen gesehen, niemand hatte mitbekommen, dass er weggegangen war. Vor dem Haus sammelten sich eine Weile täglich die Zeitungen an, dann hörte auch das auf.
Als das Schild aufgestellt wurde, um potenzielle Käufer auf das Anwesen aufmerksam zu machen, war klar, dass er nicht zurückkehren würde. Mit der Zeit sprach man nicht mehr über die Tragödie, und nur selten spekulierte jemand darüber, wohin Karnoff gezogen sein mochte.
Lucy Karnoff starb am zehnten Tag in der Haft an den Folgen eines Herzanfalls. Als Emile sie neben seinem Sohn beerdigte, trug er mit seiner Frau auch die letzte Verbindung zu einer Belastung zu Grabe, die übermächtig geworden war.
„Was hältst du davon?“ fragte Sully und sah Ginny an, während sie durch das Apartment in Washington D.C. gingen, das ihnen der Makler angeboten hatte. Sie waren so vertieft darin gewesen, die Wohnung zu begutachten, da sie noch vor der Hochzeit diesen Punkt erledigt wissen wollten, dass sie nicht bemerkt hatten, wie am Morgenhimmel dunkle Wolken aufgezogen waren.
„Viele Fenster. Das mag ich“, sagte sie. „Aber ist sie groß genug? Ich möchte nicht nach der Hochzeit hier einziehen und feststellen müssen, dass wir mehr Platz benötigen. Außerdem weiß ich nicht, was ich davon halten soll, ein Kind in einem Apartment großzuziehen. Als ich klein war, konnte ich im Garten spielen.“
„Ich bin immer noch für das Haus in Virginia“, meinte er. „Der Weg ins Büro ist nichts im Vergleich zu der Ruhe, die wir dort hätten.“
„Es hat mir auch am besten gefallen“, sagte Ginny und zog die Augenbrauen zusammen. „Aber ich finde es nicht fair, dass du so viel Zeit auf der Straße verbringen musst.“
Er lachte. „Schatz, überleg doch mal, womit ich mein Geld verdiene. Ich bin immer auf der Straße.“
„Ja, du hast Recht“, sagte sie.
„Dann sind wir uns also einig“, sagte er und zog an ihrem Mantel, bis sie nachgab und ihn umarmte.
„Ist dir kalt?“ fragte er. „Für November ist es ungewöhnlich warm, aber die Luft ist trotzdem manchmal sehr frisch.“
„Mit mir ist alles in Ordnung“, erwiderte Ginny.
„Dann lass uns gehen. Ich weiß ein Restaurant, in dem es köstliches Chili gibt.“
„Gibt es da auch Maisbrot?“
„Oh ja, in riesigen Portionen.“
„Dann bin ich einverstanden“, sagte sie und ging Arm in Arm mit ihm zum Aufzug. „Müssen wir noch beim Hausmeister vorbeifahren?“
„Nein, er hat gesagt, wir könnten den Schlüssel einfach unten in seinen Briefkasten werfen.“
Als sie im Erdgeschoss den Aufzug verließen und Sully den Schlüssel zum Apartment einwarf, zerriss ein Donner die morgendliche Stille. Automatisch wandte er sich Ginny zu und studierte aufmerksam ihr Gesicht, um nach Hinweisen zu suchen, dass Emile Karnoff die Spuren seiner Arbeit vielleicht doch nicht völlig ausgelöscht hatte. Aber er konnte nichts entdecken, was ihm Anlass zur Sorge gegeben hätte.
Auf dem Weg zum Wagen begann es zu regnen. Ginny lachte und sah zum Himmel, um mit der Zunge ein paar Regentropfen aufzufangen.
„Da fehlt noch etwas Salz“, sagte sie. „Und eine Prise Pfeffer.“
„Du und deine Kochkünste“, erwiderte Sully, nahm ihre Hand und lief zum Wagen.
Sie waren eben eingestiegen, als ein Wolkenbruch auf sie niederging.
„Ich mache die Heizung an“, sagte er, „damit du nicht frierst.“
„Maisbrot und Chili werden mich schon genug wärmen. Fahr lieber los, ich verhungere.“
Einige Blocks weiter fuhren sie an einem Zeitungsstand vorbei. Ginnys Blick wanderte automatisch zu den Schlagzeilen, die sie durch die nassen Scheiben ausmachen konnte.
„Fehlt dir dein Job?“ fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. „Manchmal schon.“ Dann grinste sie. „Ich weiß, dass Harry Redford mich nur schweren Herzens hat gehen lassen. Vor allem nach dem Artikel, den ich ihm geliefert hatte. Wir haben die ganze Nation aufgerüttelt. Das war die größte Schlagzeile seines Lebens, und dafür wird er mich immer lieben“, sagte sie.
„Ja, aber nicht so sehr wie ich“, meinte Sully. „Ich kann mir vorstellen, dass dich jede Zeitung mit Begeisterung nehmen wird, wenn du doch wieder in deinen alten Job zurückkehren willst.“
„Ja, ich weiß.“
„Höre ich da ein ‚Aber‘?“
Sie nickte. „Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich nach unserer Hochzeit erst einmal eine Weile zu Hause bleiben. Ich muss unbedingt an meinen Kochkünsten arbeiten.“
„Du wirst doch schon besser“, gab er zurück. „Die Spaghetti gestern Abend waren richtig lecker.“
Sie rollte mit den Augen. „Die waren aus der Dose.“
„Ich weiß“, antwortete er grinsend.
Sie gab ihm einen leichten Schlag auf den Arm und lehnte sich zurück. Es gefiel ihr, diesen wundervollen Mann an ihrer Seite zu haben, der ihr Leben in die Hand nehmen wollte. Für den Augenblick kam sie damit gut zurecht.
„Ich möchte so schnell wie möglich ein Kind bekommen“, sagte sie.
„Ich bin jederzeit bereit, meinen Beitrag dazu zu leisten“, sagte er und erntete ein Glucksen von ihrer Seite.
Obwohl sie oft darüber gesprochen hatten, war sie noch nie so konkret geworden wie gerade eben. An einer Kreuzung musste er anhalten und sah Ginny an. Er glaubte, eine Träne zu erkennen. Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft.
„Ginny?“
Sie seufzte auf, dann sagte sie: „Wenn wir ein Mädchen bekommen, dann soll es …“
„Georgia heißen“, vollendete Sully den Satz.
Sie riss überrascht die Augen auf. „Woher weißt du das?“
Die Ampel schaltete auf Grün, und er gab wieder Gas, so dass er nicht sofort antwortete.
„Sully“, bohrte sie nach, „ich habe dich etwas gefragt.“
„Du hast es mir heute Nacht im Schlaf erzählt.“
„Habe ich nicht.“
„Doch, das hast du wirklich. Ich bin darüber aufgewacht. Zuerst dachte ich, du würdest mit mir reden, aber dann wurde mir klar, dass du im Schlaf gesprochen hast. Du hast gesagt: ‚Wenn wir ein Mädchen bekommen, nenne ich es nach dir.‘ Ich dachte mir, dass du wohl von Georgia geträumt hast.“
Ginny schossen noch mehr Tränen in die Augen, und sie blickte aus dem Seitenfenster.
„Ich träume oft von ihr“, sagte sie. „Manchmal ist es so echt, dass ich meine, sie wäre zum Greifen nah.“
„Vielleicht sagt Georgia dir auf diese Weise, dass es ihr gut geht.“
Ginny sah ihn an. „Glaubst du das wirklich?“
Obwohl er selbst den Tränen nah war, schaffte er es, sie anzulächeln. Dann sagte er: „Ich glaube das nicht nur, ich weiß es. Außerdem solltest du bedenken, wie viele Schutzengel unsere Tochter bekommt, wenn wir sie auf den Namen einer Nonne taufen.“
Ginny musste lachen.
„Hier“, sagte Sully und gab ihr sein Taschentuch. „Trockne deine Tränen, wir sind gleich am Restaurant.“
Einige tausend Kilometer entfernt fuhr ein alter Mann auf seinem Fahrrad auf einem schmalen Feldweg in der Nähe eines Dorfes in Irland. Der einzige Gedanke, der ihn vorantrieb, war der Wunsch, in sein Cottage zurückzukehren und eine Tasse heißen Tee zu trinken. Sein langes weißes Haar reichte ihm bis auf die Schultern und wehte leicht im Fahrtwind. Er trug eine taubengraue Cordhose, die Absätze seiner abgestoßenen Schuhe waren schief und ein Indiz dafür, dass er auf ihnen schon viele Kilometer in der hügeligen Landschaft zurückgelegt hatte.
Seine Augen betrachteten mit der Neugier eines Kindes die Landschaft, die sich vor ihm erstreckte. Als er um eine Ecke bog, sah er vor sich auf dem Weg zwei Kinder. Eines von ihnen, ein kleines Mädchen, das vielleicht sechs oder sieben Jahre alt war, saß auf der Erde und weinte, während der Junge, wahrscheinlich der Bruder, neben ihm kniete. Eine kleine rote Karre lag auf der Seite.
Als er die beiden erreicht hatte, hielt er sein Rad an und stieg ab.
„Na, was haben wir denn hier?“ sagte er sanft, während er sein Taschentuch hervorholte und vor dem Mädchen niederkniete.
„Sie ist einfach aus meinem Wagen gefallen“, sagte der Junge in einem breiten irischen Dialekt.
„Es blutet. Und es tut weh“, sagte das Mädchen und schniefte.
„Ja, das sehe ich“, sagte der Mann und gab dem Jungen das Taschentuch. „Du kannst damit das Knie verbinden, bis ihr zu Hause angekommen seid.“
„Ja, Mister, danke“, sagte der Junge und legte unbeholfen eine Bandage an.
Der alte Mann wollte sich wieder aufrichten, als sein Blick auf die Spuren fiel, die die Tränen auf dem Gesicht des Mädchens hinterlassen hatten.
Er zögerte einen Moment, dann strich er dem Mädchen über die Wange.
„Soll ich dir eine Methode zeigen, die den Schmerz nimmt?“
Das Mädchen schniefte abermals und sah den Jungen an. Er nickte.
„Ja, bitte“, sagte die Kleine dann. „Es tut sehr weh.“
„Ich weiß … aber du musst deine Augen zumachen.“
Während sie seine Anweisung befolgte, berührte er ihre Stirn so sanft, dass sie gerade noch die Präsenz seiner Hand fühlen konnte.
Und dann begann es.
„Achte auf den Klang meiner Stimme …“
– ENDE –