16. KAPITEL
Ginny stand am Rand des Sprungbretts und wartete darauf, dass Sully nicht dort schwamm, wo sie ins Wasser eintauchen würde. Er stoppte für ihren Geschmack viel zu früh, als er sich umdrehte und ihr bedeutete, sie solle zu ihm kommen.
„Du bist noch zu nah!“ rief sie ihm zu.
„Nein, bin ich nicht.“
Webster Chee stand gegen die Hauswand gelehnt da. Waffe und Halfter bildeten einen krassen Kontrast zu seinem weißen kurzärmeligen Hemd. Kevin Holloway kam gerade mit zwei Dosen Cola aus dem Haus. Er trug Shorts und ein Baumwollhemd, das er nicht zugeknöpft hatte. Ginny wusste, dass sich unter seinem Hemd ebenfalls eine Waffe befand. Sie nahm an, dass Franklin Chee schlief. Allmählich gewöhnte sie sich daran, das Objekt ihrer Aufmerksamkeit zu sein, dennoch wirkten die Wachleute in der Urlaubsatmosphäre am Pool ein wenig deplatziert.
„Komm schon, Ginny, trau dich“, rief Sully.
„Ich trau mich ja“, erwiderte sie und holte tief Luft. Anstatt aber geradewegs ins Wasser zu springen, machte sie einen Satz nach vorne und tauchte dicht neben Sully ins Wasser. Sein erschrockenes Gesicht verriet ihr, dass sie ihn verblüfft hatte. Augenblicke später spürte sie seine Hände um ihre Taille, dann zog er sie nach oben. Lachend kam sie an die Oberfläche.
„Das findest du wohl witzig, wie?“ sagte er mit gespielter Verärgerung.
Sie lachte wieder, als sie ihm die Arme um den Nacken legte und sich von ihm auf den Beckenrand heben ließ.
Kevin Holloway kam und reichte ihr ein Handtuch.
„Sie hat dich gut im Griff, Sully.“
Er grinste breit. Holloway war der jüngste der drei Männer, und wenn Sully sich nicht irrte, hatte er Gefallen an Ginny gefunden. Aber weiter würde er nicht gehen, da er so wie seine Partner ein Mann war, der sich streng an die Vorschriften hielt.
„Ja, das kann man wohl sagen“, erwiderte Sully und verließ ebenfalls den Pool. „Wenn ihr auch eine Runde schwimmen wollt, übernehme ich gerne eine Schicht.“
„Danke, aber lieber nicht. Wir haben unsere Befehle. Außerdem war ich gestern Abend noch schwimmen, bevor ich ins Bett gegangen bin“, sagte Kevin und sah zu Webster. „Ich sehe mir mal wieder die Umgebung an.“
Webster nickte und trank einen Schluck aus seiner Cola-Dose, während Ginny sich auf einen Liegestuhl setzte, zurücklehnte und die Augen schloss.
Sully rieb sich gerade die Haare trocken, als sein Handy klingelte. Ginny legte sich ein Handtuch über den Kopf, um sich vor der Sonne zu schützen.
„Sullivan“, sagte er.
„Ich bins“, hörte er Dans Stimme. „Ich habe Neuigkeiten, allerdings keine guten.“
Sully versteifte sich. Mit einem Mal kam ihm die gute Stimmung albern vor, so, als hätten sie den wahren Grund für ihren Aufenthalt vergessen.
„Was gibt es denn?“
„Wir haben Fontaine gefunden.“
„Und?“
„Er ist tot.“
„Mist.“
„Das ist noch nicht alles“, fuhr Dan fort. „Er ist noch nicht lange tot. Vor gut einer Woche ist er zu seinem morgendlichen Spaziergang aufgebrochen, so wie jeden Tag seit zwanzig Jahren. Diesmal allerdings ist er von einer Pier ins Wasser gestürzt. Über ein Geländer, das 1,50 Meter hoch ist.“
„Nicht gerade das beste Sprungbrett“, murmelte Sully. „Ich nehme an, es gab keine Zeugen.“
„Da hast du verdammt Recht“, sagte Dan. „Übrigens konnte der alte Mann nicht schwimmen.“
Sully fühlte einen eiskalten Schauder.
„Denkst du, was ich denke?“ fragte Sully.
„Ja, aber wir haben uns sein Haus angesehen. Alles war in bester Ordnung. Der Hörer lag auf dem Telefon, es gibt Zeugen, die ihn auf dem Weg zur Pier gesehen haben. Er hat sich mit ihnen unterhalten, so wie jeden Morgen. Er kann also nicht in Trance gehandelt haben. Wenn er wegen diesen Frauen gestorben ist, dann hat jemand nachgeholfen.“
„Hast du die anderen Lehrer ausfindig gemacht?“
„Habe ich. Einer ist tot, der andere hat Alzheimer. Mit den beiden anderen haben wir uns unterhalten. Sie konnten sich an einen Mann erinnern, der einmal pro Woche für den Begabtenunterricht in die Schule kam. Aber sie wissen nicht mehr, wie er hieß oder wie er aussah. Er ist immer gleich gegangen, wenn der Unterricht vorüber war.“
„Na, das ist ja großartig“, sagte Sully gereizt.
Ginny nahm das Handtuch ab und sah zu ihm auf.
„Was ist los?“
Sully war zu sehr in die Unterhaltung vertieft, um ihr antworten zu können.
„Gibt es nicht sonst noch jemanden? Einen Hausmeister vielleicht … oder einen Koch? Das kann doch nicht alles sein. Irgendjemand muss sich an irgendetwas erinnern können!“
Dan seufzte. „Wir arbeiten daran, Sully. Im Buch wurde niemand sonst namentlich genannt. Wir sprechen heute noch einmal mit den Lehrern, die sich vielleicht doch noch irgendeinen Namen ins Gedächtnis zurückrufen können. Aber das ist nur ein Versuch. Wenn die Geschichten stimmen, standen die meisten dieser Leute schon damals kurz vor der Pensionierung. Es ist zwanzig Jahre her, also stehen die Chancen nicht so gut, dass noch viele von ihnen leben. Wenn ich etwas erfahre, lasse ich es dich wissen, okay?“
„Okay ist das eigentlich nicht, aber wir werden damit leben müssen“, gab Sully zurück und beendete das Gespräch.
Ginny stand auf. „Keine guten Nachrichten?“ fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Leider nicht, Baby.“
„Sie konnten Mr. Fontaine nicht finden?“
„Er war schon tot.“
„Oh, das ist schade“, sagte sie. „Aber er war ja auch schon ziemlich alt. Ich nehme an, dass man damit rechnen musste.“
„Das meinte ich nicht“, entgegnete er. „Man hat ihn vor etwas mehr als einer Woche aus dem Meer gefischt. Er hatte wohl vergessen, dass er nicht schwimmen konnte, und ist über ein hohes Geländer ins Meer gesprungen.“
Ginny erschrak, Tränen schossen ihr in die Augen. „Er bringt alle um, nicht wahr? Er wird mich finden, Sully, und dann wird er mich auch umbringen.“
„Das werde ich nicht zulassen“, sagte Sully. „Weißt du noch, was ich dir versprochen habe?“
Ihr schauderte.
„Sieh mich an, Ginny.“
Sie beruhigte sich ein wenig und erinnerte sich daran, dass es die gleichen Worte waren, als sie zum ersten Mal mit ihm geschlafen hatte. Sieh mich an, Ginny. Sie hatte ihn angesehen und in seinen Augen seine Liebe zu ihr erkannt.
„Ich sehe dich an“, sagte sie.
„Was habe ich dir versprochen?“
„Dass du mich nicht sterben lassen wirst.“
„Genau, und vergiss das nicht.“
„Ist gut.“
Er rieb über ihre Arme und gab ihr dann einen Kuss. „Schatz, du warst lange genug in der Sonne. Ich schlage vor, dass wir nach Sonnenuntergang wieder an den Pool gehen.“
Sie nickte, nahm ihr Handtuch und ging ins Haus.
Als sie außer Sichtweite war, begab sich Sully zu Webster. Die Männer mussten wissen, was sich herausgestellt hatte. Sie mussten noch wachsamer sein, da niemand sagen konnte, wie lange ihr Aufenthaltsort noch geheim war.
Das Abendessen war eine nüchterne Angelegenheit. Ginny hatte in ihrem Essen herumgestochert, und jedes Wort schien zu viel. Schließlich stand sie auf und brachte ihren Teller zur Spüle, um die Reste in den Abfalleimer zu werfen.
„Tut mir Leid“, sagte sie. „Es hat gut geschmeckt, aber ich hatte einfach keinen Hunger.“
„Ist schon gut“, erwiderte er. „Das waren schließlich auch keine erfreulichen Neuigkeiten. Es war ein Rückschlag, doch das ist nicht das Ende der Welt. Vielleicht solltest du ein wenig fernsehen. Ich setze mich zu dir, sobald ich den Tisch abgeräumt habe.“
„Nein, ich helfe dir dabei. Fernsehen können wir, wenn wir fertig sind.“
„Einverstanden.“
Einige Zeit später saßen sie gemeinsam auf dem Sofa. Ginny blätterte in einer Illustrierten, während Sully nach einer interessanten Sendung suchte.
„Wie spät ist es?“ fragte er plötzlich. „Ich habe meine Armbanduhr im Schlafzimmer liegen lassen.“
Sie beugte sich vor, um einen Blick auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand zu werfen.
„Fast zehn Uhr. Schalt auf Nachrichten um. Ich habe mich so sehr auf mich selbst konzentriert, dass ich gar nicht mehr weiß, was in der Welt los ist.“
Sully schaltete um, und im gleichen Augenblick erschien das Logo einer nationalen Nachrichtensendung.
„Auf die Sekunde“, sagte er.
Ginny legte die Zeitschrift weg und kauerte sich im Schneidersitz hin. Sully grinste innerlich, da er sich wunderte, wie jemand von ihrer Größe sich so klein machen konnte.
„Und jetzt zu Nachrichten aus dem Land: Der vor kurzem mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Arzt Emile Karnoff hält sich diese Woche in Santa Fe auf, wo er auf einem Medizinertreffen spricht. Sein Ziel ist es, seinen revolutionären Einsatz der Hypnose als Heilmethode an die jüngeren Kollegen weiterzugeben, was Proteste bei einigen Vertretern der Schulmedizin hervorgerufen hat. Dr. Karnoff ist erst jüngst aus Irland zurückgekehrt, wo er entscheidenden Anteil daran hatte, dass eine unheilbar an Krebs erkrankte junge Mutter mittlerweile auf dem Weg der Besserung ist.“
Als ein Bild von Emile Karnoff eingespielt wurde, wie er gerade ein Hotel verließ, den Kameraleuten und Fotografen zuwinkte und dann in ein Taxi stieg, wurde etwas in Ginnys Erinnerung ausgelöst. Sie lehnte sich vor, die Ellbogen auf die Knie und das Kinn auf ihre Hände gestützt.
Sully bemerkte ihr Interesse und wurde daran erinnert, wie Ginnys Leben gewesen sein musste, bevor dies hier begonnen hatte.
„Weißt du eigentlich, dass wir uns noch nie über deine Karriere unterhalten haben? Ich möchte wetten, dass du vielen interessanten Menschen begegnet bist. Wen hast du am liebsten interviewt?“
„Sully, ich …“
Der Bericht wechselte von Archivaufnahmen zu einem Ausschnitt von Karnoffs Begrüßungsrede an die Mediziner.
„Mach lauter!“ sagte Ginny.
Ihr Tonfall hatte etwas Beunruhigendes, aber Sully stellte den Fernseher lauter, ohne etwas zu sagen. Im nächsten Moment erfüllte Emile Karnoffs tiefe, dröhnende Stimme den Raum.
„… ein lebenslanges Streben nach dem menschlichen Geist und dem Verstand. Wie Sie wissen, nutzen wir nur einen Bruchteil dieses wunderbaren Gehirns, das Gott uns geschenkt hat. Wir sind zu so viel mehr in der Lage, wenn wir …“
„Ich kenne ihn. Ich kenne ihn.“
Sully sah sie an, und im gleichen Moment lief ihm ein Schauder über den Rücken. Ihn beunruhigte nicht nur, dass sie die Worte in einem kindlichen Singsang von sich gegeben hatte, sondern auch, wie sie mit geschlossenen Augen dasaß und dem Mann zuhörte.
Oh Gott! „Ginny?“
„Hörst du die Kraft?“
Er starrte sie an und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Was meinst du?“
„In seiner Stimme. Hörst du das? Ich kenne ihn.“
„Natürlich kennst du ihn. In den letzten Monaten ist er doch ständig irgendwo im Fernsehen. Es kommt schließlich nicht so oft vor, dass einem Amerikaner ein Nobelpreis verliehen wird.“
Sie schaukelte vor und zurück, die Augen noch immer geschlossen. Ihre Hände zitterten fast unmerklich.
„Ich kenne ihn.“
Panik erfasste Sully. Er sprang vom Sofa auf und lief in die Küche, wo er das Walkie-Talkie hatte liegen lassen. „Franklin, hier ist Sully. Ich brauche dich hier. Sofort.“
Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Franklin Chee kam mit gezogener Waffe durch die Vordertür ins Haus.
Sully schüttelte den Kopf und deutete auf Ginny. Franklin steckte die Waffe weg und ging zu Ginny. Mit geschlossenen Augen und die Hände im Schoß zusammengelegt, schaukelte sie wie ein Kind immer noch vor und zurück.
„Wann ist das passiert?“ fragte Chee.
„Gerade eben.“
„Weißt du, was es ausgelöst hat?“
Sully zeigte auf den Fernseher. Gerade wurde das Gesicht von Emile Karnoff ausgeblendet und durch den Nachrichtensprecher ersetzt, der sich der nächsten Meldung zuwandte.
„Wer war das?“ wollte Franklin wissen.
„Emile Karnoff.“
„Der Nobelpreisträger, der Krankheiten mit Hypnose heilt“, sagte Franklin und kam damit Sullys Erklärung zuvor.
Er kniete vor ihr nieder und legte eine Hand auf ihr Knie.
„Ginny?“
„Ja, Herr Lehrer?“
Der Klang ihrer eigenen Stimme ließ sie zusammenzucken, dann öffnete sie die Augen.
„Franklin! Ich dachte, Sie wären jemand anderes.“
„Himmel“, murmelte Sully, als ihm klar wurde, was ihre Worte bedeuteten. Die ganze Zeit hatten sie nach einem Lehrer gesucht. Was wäre aber, wenn …?
„Ginny, wo warst du gerade eben?“ fragte Franklin.
Verwirrt sah sie ihn an und entgegnete: „Sind wir irgendwo gewesen?“
Sully stöhnte. „Verdammt, Franklin, sag mir, dass ich das Falsche denke!“
Der zuckte nur mit den Schultern. „Das kann ich leider nicht. Ich weiß nicht, was ihr gesehen habt oder warum Ginny weggetreten ist, aber ich weiß, in welche Richtung du denkst. Rufst du Dan an oder soll ich das erledigen?“
Ginny legte die Hände vor ihr Gesicht, und Sully setzte sich sofort neben sie.
„Es ist alles in Ordnung, Baby. Ich war die ganze Zeit bei dir. Dir ist nichts passiert.“
Ärgerlich schob sie ihn fort. „Nichts passiert? Du findest, das ist nichts, wenn ich geistig wegtrete?“
„Ich werde Dan anrufen“, sagte Franklin und stand auf.
„Du kannst das Telefon in der Küche benutzen, wenn du willst.“
Franklin klopfte auf seine Tasche. „Ich habe meines dabei. Bin gleich zurück.“
Er ging aus dem Haus und ließ Sully mit Ginny allein.
„Wieso ist das geschehen?“ murmelte Ginny. „Was war los? Du hast doch nicht das Band abgespielt, wieso …“
„Du kannst dich nicht erinnern?“
„Nein“, antwortete sie und sprang auf, da sie nicht länger sitzen konnte. „Wir haben uns die Nachrichten angesehen, und dann …“ Sie runzelte die Stirn und starrte zu Boden, während sie im Geist die Ereignisse noch einmal durchging. „Dann kam … dann kam etwas über einen Nobelpreisträger, richtig?“
Er nickte. „Sonst noch etwas?“
Sie ging im Zimmer auf und ab.
„Es gab einen Filmausschnitt zu sehen … und wir sprachen über … über …“ Sie hielt inne. „Ich weiß nur noch, dass Franklin plötzlich da war. Was habe ich getan oder gehört?“
„Die Stimme eines Mannes. Du hast mir immer wieder gesagt, dass du ihn kennst, aber du hast ihn dir nicht angesehen. Du hast nur dem Klang seiner Stimme gelauscht.“
„Und dann?“
„Du hast ihn als Lehrer bezeichnet.“
Ihre Beine versagten ihr den Dienst, aber Sully konnte sie gerade noch auffangen. Ihr Kopf rollte gegen seinen Arm, als er sie hochnahm und zum Bett trug. Nachdem er sie abgesetzt hatte, schlug sie die Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen.
„Schatz? Sprich mit mir. Komm, du bist stärker als diese Sache. Ich habe gesehen, was du alles kannst. Gib jetzt nicht auf.“
„Ich breche zusammen, nicht wahr, Sully? Erst das Band, jetzt reicht schon eine Stimme. Was kommt als Nächstes? Werde ich überhaupt noch damit fertig werden? Ich traue mir nicht mal mehr zu, Auto zu fahren, weil ich nicht weiß, was irgendein Geräusch bei mir auslöst. Ich kann meinen Beruf nicht mehr ausüben, weil ich nicht ans Telefon gehen kann. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Und am liebsten möchte ich mich an gar nichts erinnern können. Verdammt noch mal, wir waren damals Kinder, Sully. Wir waren sechs Jahre alt. Was hat er uns angetan?“
Sully legte sich neben sie und drückte sie an sich.
„Ich weiß es nicht, aber wir werden dahinter kommen. Und mit dir wird alles in Ordnung sein. Es wird vorübergehen, und bis dahin bin ich immer an deiner Seite.“
Sie presste ihr Gesicht an seine Brust und ließ endlich ihrer Trauer freien Lauf, der Trauer um Georgia und Emily, Jo-Jo und Lynn, Frances und Allison. Sie weinte, weil sie die Einzige von ihnen allen war, die das noch konnte.
Wenig später klingelte das Telefon. Sully griff nach dem Hörer.
„Sullivan“, sagte er leise.
„Ich habe Chees Nachricht erhalten. Wir müssen uns unterhalten“, begann Dan.
„Warte“, unterbrach Sully ihn. „Ginny ist gerade eingschlafen. Ich gehe nach nebenan.“
Nach einem letzten Blick auf Ginny verließ er das Schlafzimmer.
„Okay, du kannst loslegen.“
„Alles der Reihe nach. Wie geht es ihr?“
„Sie bricht mir bald zusammen“, sagte Sully. „Es bringt mich um, daneben zu sitzen und nichts unternehmen zu können. Ich möchte diesen kranken Bastard finden, der daran schuld ist, und ihm den Hals umdrehen.“
„Was hältst du von ihrer Reaktion auf diesen Ausschnitt mit Karnoff?“ fragte Dan.
„Wenn ich das wüsste. Aber du hättest es miterleben müssen. Als Franklin kam und sie aufgeweckt hat, da hat sie ihn mit ‚Herr Lehrer‘ angesprochen.“ Seine Stimme wurde lauter, und er schlug mit der flachen Hand auf die Wand. „Ein Lehrer! Die ganze Zeit haben wir nach einem normalen Lehrer gesucht. Was ist, wenn wir uns geirrt haben? Vielleicht hat er den Kindern nur gesagt, dass sie ihn so nennen sollten?“
„Was, glaubst du, hat er gemacht?“ wollte Dan wissen.
„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte Sully. „Aber es richtet Ginny zugrunde. Beschaff mir bitte ein paar Aufnahmen von Karnoff von irgendwelchen Fernsehsendern und bring sie her. Wir müssen sicher sein, dass das nicht ein dummer Zufall war. Wenn sie wieder so reagiert, will ich alles über diesen Kerl wissen. Ich will wissen, wo er 1979 war und was er mit wem gemacht hat.“
„Sonst noch was?“ fragte Dan.
„Tut mir Leid. Es ist dein Fall, aber sie ist meine …“
Er brach mitten im Satz ab. Was war sie eigentlich, abgesehen davon, dass sie die Frau war, die er liebte.
„Du hast nicht ausgesprochen“, sagte Dan. „Kannst du nicht oder willst du nicht?“
„Sagen wir so: Ich freue mich nicht auf ein Leben ohne sie.“
„Schon klar. Ich bin in ein paar Stunden da. Ich werde sehen, was wir über Karnoff herausfinden können, und die Aufnahmen beschaffe ich auch.“
Dan legte auf, Sully warf das Handy auf das Sofa und ging nach draußen. Das Licht des Vollmonds wurde von dem hellen Wüstensand reflektiert und erfüllte die Nacht mit einem unwirklichen Schein. In einiger Entfernung konnte er einen der Chee-Brüder ausmachen, der auf einem Felsvorsprung Stellung bezogen hatte und die Umgebung beobachtete. Auf dem Kies vor ihm huschte eine Echse umher und entzog sich seinen Blicken, indem sie zwischen einigen runden ausladenden Kakteen verschwand. Verglichen mit den grünen Bergen und Tälern, wo er aufgewachsen war, wirkte die Wüste rund um das Haus wie die Mondoberfläche.
Er konnte besser nachdenken, wenn er in Bewegung war, also steckte er die Hände in die Hosentaschen und spazierte über den rückwärtigen Teil des großzügigen Grundstücks.
Es schien so völlig unmöglich, doch auf der anderen Seite trugen sich auf der Welt Dinge zu, die mindestens genauso undenkbar waren. Sollte Emile Karnoff, der momentane Liebling der Medizinerwelt und aussichtsreichste Kandidat auf den Titel „Mann des Jahres“, an einem so finsteren Plan beteiligt sein? Wenn sie sich ausschließlich an Ginnys Reaktionen orientierten, dann war seine Schuld so gut wie bewiesen. Aber es gab noch so viele andere Dinge, die in Erwägung gezogen werden mussten. Es musste festgestellt werden, ob die Frauen von seinem Apparat aus angerufen worden waren, ob er Reisen unternommen hatte, die mit dem Tod von Georgia und Edward Fontaine zusammenfielen. Diesen Teil der Ermittlung musste er Dan überlassen. Er selbst konnte nur aufpassen, dass Ginny nichts zustieß, bis jemand dieser Verbrechen angeklagt wurde. Danach …
Er blieb stehen und sah hinaus in die Wüste. Was würde danach sein? Würde Ginny sich von allem befreien wollen, was mit diesem Fall zu tun hatte – ihn eingeschlossen? Oder würden ihre Gefühle für ihn überdauern? Er konnte nur darauf hoffen. Er wusste nur, dass er noch nie solche Angst empfunden hatte wie in dem Augenblick am heutigen Tag, als sie in seinen Armen zusammengebrochen war. In den wenigen Sekunden wäre er am liebsten sofort mit ihr weggelaufen, ohne sich jemals wieder umzusehen. Wenn sie ihn haben wollte, würde er den Rest des Lebens an ihrer Seite verbringen und sich glücklich schätzen. Doch bis das Rätsel gelöst und der Schuldige zur Rechenschaft gezogen war, würde das, was er wollte, zurückstehen müssen.
Emile wollte einen Drink vor dem Abendessen zu sich nehmen, als jemand an der Zimmertür klopfte. Er stellte das Glas ab und ging zur Tür, um sie zu öffnen. Im Korridor standen der Hotelmanager und ein Polizist.
„Dr. Karnoff? Emile Karnoff aus Bainbridge, Connecticut?“
Er lächelte den Manager nervös an und nickte dann.
„Ja, der bin ich.“
„Dr. Karnoff, dürfen wir für einen Augenblick hereinkommen?“
„Gewiss. Ich wollte vor dem Abendessen nur noch etwas trinken“, sagte er. „Kann ich Ihnen auch etwas anbieten?“
„Nein, Sir“, erwiderte der Polizist. „Trotzdem vielen Dank.“
Der Manager schüttelte nur kurz den Kopf und blieb im Hintergrund. Es war offensichtlich, dass er den Beamten lediglich zu Emiles Zimmer begleitet hatte.
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ fragte er.
„Sir, es tut mir sehr Leid, Ihnen diese Nachricht überbringen zu müssen. Aber Ihr Sohn Phillip ist tot. Und Ihre Frau Lucy ist im Krankenhaus.“
Emile wurde bleich. Einen Moment lang glaubte er, dass er etwas falsch verstanden hatte. Aber das Mitgefühl, das beide Männer zur Schau stellten, sprach für das Gegenteil.
„Tot? Mein Gott, wie? Was? Hat es einen Unfall gegeben? Ist Lucy verletzt?“
„Die Polizei von Bainbridge hat uns gebeten, Sie zu finden und Ihnen die Information zu geben. Ich kann Ihnen sagen, dass Ihr Sohn keinen Unfall hatte, sondern Selbstmord begangen hat. Ihre Frau hat das mit angesehen und wird deshalb ärztlich behandelt. Soweit uns bekannt ist, hat sie keine Verletzungen davongetragen.“
„Nein“, stammelte Emile. „Kein Selbstmord. Das kann nicht sein, es gab keine Anzeichen, dass …“
Er erinnerte sich, wie er Phillip zum letzten Mal in seinem Zimmer gesehen hatte. Da hatte er bereits gewusst, dass etwas nicht stimmte, aber er hatte sich einfach abgewendet und war gegangen.
„Hätte ich doch bloß mehr auf ihn geachtet. Mein Gott … ich habe allen geholfen, nur nicht meiner Familie … was ist nur aus mir geworden?“
„Dr. Karnoff, Sie sollten sich besser hinsetzen“, sagte der Manager und brachte ihn zu einem Sessel. „Sir, im Namen aller hier im Hotel möchte ich Ihnen unser tiefes Mitgefühl ausdrücken. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann …“
Emile schüttelte den Kopf und begann, an seiner Krawatte zu nesteln, dann an den Falten in seiner Hose, als wäre es in diesem Moment das Wichtigste, gepflegt auszusehen.
„Ich … ich muss nach Hause. Ich muss am Flughafen anrufen, ich muss hier alle Termine absagen. Und Lucy … meine liebe Lucy. Dass eine Mutter etwas so Entsetzliches miterleben muss …“
Tränen liefen über sein Gesicht.
„Dr. Karnoff, wenn Sie mir Ihren Terminplan geben, werde ich für Sie überall anrufen lassen. Und wenn Sie gestatten, werde ich dafür sorgen, dass für Sie der erste Flug nach Hause gebucht wird.“
Emile nickte. „Ja, ja, das … das wäre sehr nett von Ihnen.“ Er erinnerte sich an seine guten Manieren, stand abrupt auf und reichte erst dem Polizisten, dann dem Manager die Hand.
„Gentlemen … ich muss jetzt packen.“
Der Polizist zog sich zurück, während der Hotelmanager darauf wartete, dass Emile ihm den Terminplan aushändigte.
Einige Zeit später war Emile allein. Er hatte in Phillip etwas Gefährliches gesehen und trotzdem Lucy ihren Willen gelassen, weil er sich nicht damit hatte befassen wollen. Jetzt waren der Tod seines Sohns und die Verfassung seiner Frau allein ihm anzulasten.
Er ging zum Schrank und nahm seine Kleidung heraus. Wie aus heiterem Himmel begann er zu zittern, und Augenblicke später kniete er im Badezimmer vor der Toilette und übergab sich, bis sein Magen leer war.