4. KAPITEL

Sully hatte sein Gepäck geholt und verließ soeben den Flughafen, als es zu regnen begann. Er blieb unter dem Vordach stehen und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte.

Sein Problem: Virginia Shapiro reagierte nicht auf seine Anrufe, was ihn nervös machte. Was, wenn sie es gar nicht konnte? Was, wenn sie längst tot war?

Am sinnvollsten war es wohl, sich zuerst zu ihrem Apartment zu begeben. Ihre Adresse hatte er, also winkte er ein Taxi heran und sagte dem Fahrer den Namen der Straße, die er anfahren sollte. Er lehnte sich auf dem Rücksitz nach hinten und schloss die Augen, aber er konnte sich nicht entspannen. Er sah Georgia immer wieder als Fünfjährige vor sich, wie sie ihm und Tommy nachjagte, als sie alle noch Kinder waren. Und er erinnerte sich daran, wie verliebt sie in ihn war, als sie zwölf und er sechzehn gewesen war. An ihren Gesichtsausdruck, als sie ihm erklärte, sie werde ins Kloster gehen. Die Leidenschaft in ihren Augen war so eindringlich wie immer gewesen, aber ihre ruhige Art hatte ihn ehrfürchtig werden lassen. Da hatte er in ihr zum ersten Mal mehr gesehen als einfach nur Tommy Dudleys kleine Schwester.

Und jetzt wollten die Behörden ihm weismachen, dass eine Frau wie sie fähig war, sich das Leben zu nehmen? Niemals.

Dann seufzte er. Die Umstände ihres Todes konnte er nicht abstreiten, schließlich hatte der Priester, der Zeuge des Vorfalls gewesen war, keinen Grund zu lügen. Aber was in Gottes Namen war erforderlich gewesen, damit sie in einen reißenden Fluss sprang? Wäre es nicht eine solche Ironie gewesen, hätte er gesagt, dass es mit dem Teufel zugegangen sein musste.

Eines war sicher: Sobald er ein Hotelzimmer hatte, würde er Tommy anrufen. Die Familie hatte ein Recht zu erfahren, was eigentlich los war. Nach den spärlichen Informationen in Georgias Brief an ihn konnte er sich kaum vorstellen, dass sie ihre Vermutungen ihrer Familie mitgeteilt hatte.

Er war noch immer in Gedanken, als das Taxi plötzlich einen Schwenk nach rechts machte. Sully sah aus dem Fenster und betrachtete das dreistöckige Gebäude. Es war nicht das, was er als Virginia Shapiros Zuhause erwartet hätte. Während er mit einem Apartment in einem strahlenden Wolkenkratzer gerechnet hatte, das mehr zu einer knallharten Journalistin zu passen schien, sah er vor sich ein Gebäude im viktorianischen Stil in einer ganz normalen Umgebung.

„Das macht dann fünfzehn Dollar fünfundsiebzig“, sagte der Fahrer.

Sully gab ihm einen Zwanziger. „Stimmt so.“

Als er aus dem Taxi ausstieg, hielt hinter ihm ein Pizzaservice am Straßenrand. Sully nutzte den glücklichen Umstand und folgte dem jungen Mann, der seine Pizza im Erdgeschoss ablieferte, während er hinter ihm ins Haus ging und sich dann nach oben begab. Dort bemerkte er, dass es im Gebäude nur drei Wohnungen sowie das Zimmer des Hausverwalters gab. Virginias Wohnung befand sich in der zweiten Etage.

Er blieb vor ihrer Tür stehen und klingelte, dann wartete er. Es war fünf Minuten nach Mitternacht. Wenn sie wirklich zu Hause war, würde sie ihm jetzt wohl kaum noch die Tür öffnen. Aber er hatte eine zu weite Reise hinter sich, um jetzt kehrtzumachen. Er klingelte abermals, und als noch immer niemand öffnete, klopfte er laut.

In dem Moment erwachte seine Fantasie und ließ ihn an die Möglichkeit denken, dass sie gar nicht öffnen konnte, weil sie bereits tot war. Er würde nicht gehen, ehe er wusste, was los war. Er stellte den Matchbeutel auf dem Boden ab und griff in seine Jackentasche. Einige Augenblicke später hatte er das Schloss geöffnet und betrat nach einem sich vergewissernden Blick die Wohnung. Kein Alarm wurde ausgelöst.

Nach einem letzten Blick zur Treppe schloss er die Tür hinter sich und verriegelte sie. Bewegungslos stand er da, den Rücken zur Tür, und horchte auf Lebenszeichen, konnte aber nichts hören. Nicht einmal einen tropfenden Wasserhahn. Er machte das Licht an.

Im nächsten Moment wusste er, dass sie ihre Wohnung für längere Zeit verlassen hatte.

Auf dem Boden lag ein Kissen, eine Schublade der Kommode stand halb offen und vermittelte den Eindruck, dass jemand in aller Eile etwas zusammengesucht hatte und dann schnellstens aufgebrochen war.

Vorsichtig bewegte er sich durch die Zimmer. Das Bett war gemacht, aber eine Delle in der Mitte der Bettdecke deutete darauf hin, dass dort ein Koffer gelegen hatte. Die Schranktür stand offen, in einer Ecke lag ein Paar Schuhe, als hätte man es eilig gegen etwas anderes eingetauscht. Im Badezimmer fehlten die Kosmetika.

Bis auf eine benutzte Schüssel und ein Glas in der Spüle konnte er in der Küche nichts entdecken. Geistesabwesend drehte er den Wasserhahn auf, spülte das Glas aus und ließ die Schüssel voll laufen, damit sich die getrockneten Cornflakes lösten. Dann stellte er sich in die Mitte der Küche und ging im Geiste den Weg nach, den sie durch die Wohnung zurückgelegt hatte.

Sully kehrte zurück ins Wohnzimmer und begann mit einer gründlicheren Durchsuchung.

Dabei hörte er, dass in der Wohnung unter ihm das Telefon klingelte. Das leise Geräusch erinnerte ihn an Georgias Warnung, und er begann, nach Virginias Telefon zu suchen.

Zunächst sah er es nicht, dann aber fand er es auf dem Boden neben dem Sofa. Er nahm es und stellte es auf den Tisch. Als er den Hörer abnahm, war die Leitung tot. Er verfolgte die Schnur bis zur Steckdose und sah, dass sie den Stecker herausgezogen hatte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Lippen, und er verspürte eine große Erleichterung.

Sie wusste, was los war!

Dadurch war es nicht mehr ganz so dringend, sie zu finden. Er wusste noch nicht, wie er es anstellen würde, aber irgendwann in den nächsten Tagen würde er Virginia aufspüren. Heute Nacht war das nicht mehr erforderlich. Und da alles dafür sprach, dass sie so schnell nicht nach Hause zurückkehren würde, sah er keinen Grund, sich das bequeme Bett entgehen zu lassen. Eigentlich wollte er Tommy anrufen, doch dafür erschien es ihm jetzt zu spät. Er würde es am Morgen machen, bevor er aufbrach.

Als er Richtung Schlafzimmer ging, fiel ihm ein Foto an der Wand auf. Er trat näher, um es besser betrachten zu können. Es zeigte drei Menschen, ein älteres Paar und eine junge dunkelhaarige Frau, die in der Mitte stand.

Ich, Mom und Dad: Yellowstone, 1997

Die Frau in der Mitte musste Virginia sein. Er sah sie sich genauer an. Das Bild war gut vier Jahre alt, aber seitdem konnte sie sich nicht allzu sehr verändert haben. Das Bild war grobkörnig, offensichtlich die Vergrößerung eines Schnappschusses, aber die Freude und die Lebendigkeit, die ihr Gesicht ausstrahlte, waren nicht zu übersehen. Er überlegte, wie sie sich im Augenblick fühlen musste. Verängstigt, verwirrt, hilflos vielleicht?

Er streckte eine Hand aus und berührte ihre lächelnden Lippen. Missbilligend nahm er zur Kenntnis, dass das Glas zwischen ihm und ihrem Bild ein Hindernis bildete. Dabei wirkte sie so real.

Während er so dastand, schaltete sich auf einmal die Klimaanlage ein, und ihm wurde bewusst, dass seine Kleidung vom Regen durchnässt war. Nach einem letzten nachdenklichen Blick auf ihr Bild ging er weiter ins Schlafzimmer. Es wurde Zeit, die nassen Sachen auszuziehen und sich schlafen zu legen.

Es war Viertel nach zwei in der Nacht, und Sully konnte noch immer nicht schlafen. Der schwache Geruch ihres Shampoos steckte im Kissen, und in der Luft schwebte ein Hauch ihres Parfums. Frustriert drehte er sich auf den Bauch und schob das Kissen aus dem Bett. Noch nie in seinem Leben war er in so etwas Kindisches wie das Foto eines hübschen Mädchens vernarrt gewesen, und er würde jetzt nicht damit anfangen. Das Einzige, was mit ihm nicht stimmte, war, dass er schon zu lange keine Freundin mehr gehabt hatte.

Irgendwann gegen drei Uhr döste er schließlich doch noch ein, aber Virginia Shapiro begleitete ihn in seinen Träumen, die sich abwechselten mit dem Albtraum, zu dem sich diese Reise entwickelt hatte: ein wunderschönes lächelndes Gesicht, das blutverschmiert war und mit leerem Blick in den Himmel starrte.

Bainbridge, Connecticut

„Emile! Schatz! Nicht diese Krawatte. Nimm die hier. Die ist viel würdevoller.“

Emile Karnoff nahm die Krawatte, die seine Frau ihm hinhielt, und lächelte.

„Lucy, Darling, was würde ich bloß ohne dich machen?“

Lucy Karnoff hängte die andere Krawatte zurück in den Schrank und wandte sich dann wieder ihrem Mann zu, um ihn kritisch zu betrachten.

„Es wäre vielleicht angebrachter, wenn du …“

Emile hob die Hand. „Genug. Meine übrige Kleidung ist in Ordnung. Es ist immerhin nur eine Pressekonferenz.“

„Von wegen“, erwiderte Lucy. „Du bist ein bedeutender Mann. Die Menschen haben es verdient, zu hören, was du ihnen zu sagen hast.“

Emile lächelte erneut, während er seine Krawatte band.

Lucy ging durchs Zimmer, holte unter dem Bett eine Socke hervor und rückte dann Emiles Schuhe im Schrank zurecht. Zum ersten Mal seit Wochen schien er sich mit dem plötzlichen Ruhm arrangiert zu haben. Als die ersten Meldungen kursierten, er sei für eine Auszeichnung vorgesehen, hatte er oft schlaflose Nächte verbracht, oder er war schweißgebadet aus dem Schlaf hochgeschreckt. Sie hatte ihn angefleht, einen Arzt aufzusuchen, aber er hatte sich geweigert und alles auf seine Nerven geschoben. Im Lauf der Wochen hatte sich daran nichts geändert; erst in den letzten Tagen schien er gelassener damit umgehen zu können, was aus ihm geworden war – ein vormals unbedeutender Arzt, dessen Foto mit einem Mal auf den Titelseiten zu finden war.

Sie wischte eine Fluse von seinem Jackett, während er sein schütteres graues Haar glättete. Es war nicht nur ihre Aufgabe, Emile der Welt in perfektem Zustand zu präsentieren – es war ihr auch eine besondere Freude. Nach jahrelangem finanziellen Überlebenskampf und dem Getuschel der Frauen in ihren gesellschaftlichen Kreisen hatte er es geschafft. Er hatte den Nobelpreis für Medizin erhalten, er, der Mann, über den ihre Bekannten so oft Witze gerissen hatten, der Mann, den sie geheiratet hatte und der der Grund war, dass ihre Familie sie enterbt hatte. Dass die Nachricht vor über einem Monat publik geworden und für viele bereits Schnee von gestern war, störte sie nicht.

„Keine Aufregung“, sagte Emile. „Mir geht’s gut.“

„Ich möchte dir nur helfen“, erwiderte sie.

Emile drehte sich um und fuhr mit seinen Fingern über das Gesicht seiner Frau, bis die traurig nach unten gezogenen Mundwinkel sich zu einem Lächeln veränderten.

„Lucy, meine Liebe, du bist immer eine Hilfe für mich.“

Sie begann zu kichern, und in seinen Augen war sie wieder ein junges Mädchen, nicht seine achtundsechzig Jahre alte Ehefrau. Es war ein Segen, dass Lucy so leicht zufrieden zu stellen war. Er hielt es für den einzigen Grund, dass ihre Ehe so lange gehalten hatte. In den frühen Jahren hatte seine Leidenschaft für seine Studien das Privatleben so sehr in den Hintergrund treten lassen, dass sein Sohn Phillip für ihn fast ein Fremder geworden war. Aber Lucys Vertrauen in ihn hatte nie auf der Kippe gestanden, und dafür war er ihr zutiefst dankbar.

Er sah ein letztes Mal in den Spiegel, während Lucy aus dem Zimmer eilte und etwas davon murmelte, sie müsse nach den Blumen sehen. Erst in den letzten Jahren hatten sie sich eine Putzfrau leisten können, und auch wenn es Lucy gefiel, dass ihre Freunde von dieser Tatsache wussten, vermutete er, dass sie eigentlich etwas dagegen hatte, dass sich eine andere Frau in ihrem Haus aufhielt. Dass sie eine Hilfe hatten, war aber ein wichtiger Faktor, um ihr Leben in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen, da sich Phillip in Wahrheit für sie beide zu einer großen Last entwickelt hatte. Zum einen verlor er nach kurzer Zeit jeden Job, den er anfing, zum anderen wurde er in regelmäßigen Abständen von Depressionen heimgesucht. Beides drohte ihn auf Dauer ans Haus zu binden, während sie beide nicht jünger wurden. Wegen Phillip war Lucy an das Haus gebunden und konnte nicht über längere Zeit mit Emile verreisen, wenn sie nicht bei der Rückkehr eine Katastrophe erwarten wollten.

Emile zog seine Krawatte gerade, dann griff er nach seinen Manschettenknöpfen. Es war zu schade, dass die Entdeckung, die ihm jetzt den Nobelpreis einbrachte, keine Wirkung bei geistig instabilen Menschen zeigte. Anfangs war er noch dieser Möglichkeit nachgegangen, hatte sie dann aber rasch aufgegeben, nachdem ihm bewusst geworden war, welche Gefahren Hypnose bei einem instabilen Geist beinhaltete.

Als er im Flur Schritte und dann das vertraute, zögerliche Sprechen seines Sohnes hörte, unterbrach er seinen Gedankengang.

„Vater?“

Emile wandte sich um und fragte sich wie so oft in den letzten dreißig Jahren, wie er bloß einen solchen Jungen hatte zeugen können. Er war groß, sah auf eine verweichlichte Art gut aus, aber vom Leben hatte er nicht die geringste Ahnung.

„Ja, Phillip, was gibt es?“

Phillip Karnoff trat von einem Fuß auf den anderen und hasste sich dafür, dass er sich in Gegenwart dieses Mannes wie ein Schwächling verhielt. Er war vierzig Jahre jünger, einen halben Kopf größer, und nur einmal wünschte er sich, diesem durchdringenden Blick standhalten zu können, anstatt immer als Erster woanders hinzusehen.

„Ich habe überlegt … wegen dieser Pressekonferenz. Ich meine, muss ich diesmal mit dabei sein? Ich habe wirklich keine …“

„Du gehörst zur Familie! Du wirst an meiner Seite sitzen!“

Komm schon, Feigling! Sag ihm, was du denkst. Wenn du zu feige bist, dann mach mir Platz und gib mir eine Chance bei dem Alten.

Phillips Magen begann sich umzudrehen, während er versuchte, diese ständige Stimme in seinem Kopf zu ignorieren.

„Warum, Vater? Ich bin nichts. Im Vergleich zu dir bin ich ein Versager. Ich habe kein Ziel – keine Träume. Ich lebe noch immer zu Hause, und ich habe seit vier Jahren keinen Vollzeitjob halten können.“

Ja, aber ich kann dir zeigen, wie du dich vergnügen kannst.

„Du bist mein Sohn“, sagte Emile. „Du wirst deinen Weg finden, wenn die Zeit gekommen ist.“

„Und wenn nicht?“ wollte Phillip wissen.

Emile schüttelte so entschieden den Kopf, als wäre dieser Gedanke völlig abwegig.

„Das ist jetzt nicht die Zeit, um darüber zu diskutieren“, erwiderte Emile. „Ein anderes Mal, wenn wir nicht so in Eile sind.“

Er ging an ihm vorbei aus dem Zimmer und klopfte Phillip halbherzig auf die Schulter.

Phillip seufzte. Die Zeit hatte noch nie für ihn gearbeitet, und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass es diesmal anders sein würde. Jetzt erst recht nicht mehr. Er würde niemals auch nur in die Nähe von dem kommen, was sein Vater erreicht hatte, von einem Überbieten ganz zu schweigen. Mit hängenden Schultern folgte er seinem Vater nach unten. Wie sollte man es mit einem Mann aufnehmen, der die Heilkraft des menschlichen Geistes entdeckt hatte, wenn er nicht einmal seine eigenen Gedanken unter Kontrolle bekam?

Sully erwachte schlagartig und setzte sich auf. Er hatte geträumt, aber von was? Der Traum verschwand bereits aus seinem Gedächtnis, aber er wusste noch, dass er nicht von der angenehmen Sorte gewesen war. Er sah auf die Uhr und stand auf, um ins Badezimmer zu gehen und zu duschen. Draußen war ein neuer Tag angebrochen, und es wurde Zeit, dass er ihn nutzte.

Nachdem er geduscht hatte, zog er sich rasch an. Bevor er sich aber auf den Weg machen konnte, musste er ein Telefonat erledigen, eines, das ihm nicht leicht fallen würde. Er ging ins Wohnzimmer, schloss das Telefon wieder an und ging zurück ins Schlafzimmer. Dort setzte er sich auf die Bettkante und griff nach dem Hörer des zweiten Apparats in der Wohnung. Er musste Tom Dudley anrufen.

Nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme.

„Susan, hier ist Sully. Ich muss mit Tom reden. Ist er noch da?“

„Sully! Wie schön, deine Stimme zu hören“, sagte Susan. „Ja, er ist hier. Er wird sich auch über deinen Anruf freuen.“ Dann, mit gesenkter Stimme: „Du hast das von Georgia gehört?“

„Ja, und deshalb rufe ich auch an.“

„Warte, ich hole ihn ans Telefon.“

Sully wartete. Das war die Art von Anruf, die er hasste.

Außer „Es tut mir Leid“ konnte man wenig sagen, wenn jemand gestorben war. Aber wenn dieser Jemand zur Familie des besten Freundes gehört hatte, dann waren diese Worte noch schwerer auszusprechen.

„Sully, bist du das wirklich?“ fragte Tom Dudley.

Trotz der traurigen Umstände musste Sully grinsen: „Ja, ich bin es wirklich. Wie geht es dir?“

Es folgte eine lange Pause, dann sprach Tom weiter, als wäre alles Leben aus ihm gewichen: „Es ging uns schon mal besser.“

„Aus dem Grund rufe ich dich an. Es gibt da eine Sache, die Georgias Tod betrifft und die deine ganze Familie wissen sollte. Aber ich will es dir überlassen, mit den anderen darüber zu reden.“

„Wie meinst du das?“ fragte Tom.

„Ich arbeite nicht offiziell an dem Fall, aber …“

„Fall? Was für ein Fall? Georgia hat sich umgebracht. Pater Joseph war Augenzeuge.“

„Hör mir einfach zu“, sagte Sully. „Und vertrau mir.“

Er berichtete ihm alles, was er bislang in Erfahrung gebracht hatte und dass er versuchte, die Letzte aus der Klasse zu finden, bevor es zu spät war.

„Mein Gott, Sully, du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für unsere Mutter bedeuten wird … für die ganze Familie. Wir haben die ganze Zeit versucht zu verstehen, was in sie gefahren war, aber nichts wollte zu dem Menschen passen, den wir kannten.“

„Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte Sully. „Ich möchte dich nur um einen Gefallen bitten. Kannst du die Sache im Augenblick weitestgehend für dich behalten? Ich weiß nicht, ob das FBI bereits offiziell in die Untersuchungen eingeschaltet worden ist, aber es kann nur noch eine Frage der Zeit sein. Möglicherweise meldet sich irgendein Agent bei dir. Erzähl ihm alles, woran du dich erinnern kannst, ganz egal, wie unwichtig es dir vorkommt.“

„Ja, natürlich“, erwiderte Tom. „Und noch was, Sully … du weißt, wie ich über dich denke … wie wir alle über dich denken. Du bist mir in all den Jahren ein guter Freund gewesen und …“

„Du musst nichts sagen“, meinte Sully. „Ich habe sie auch sehr geliebt.“

„Ja, genau. Gut, ich mache jetzt Schluss und werde sofort Mom anrufen.“

„Grüße sie von mir.“

„Das werde ich machen.“

„Danke. Und bis bald.“

Sie legten auf. Sully blieb noch einige Augenblicke lang auf dem Bett sitzen und dachte über seine weitere Vorgehensweise nach. Dann fiel sein Blick auf das Kissen, das er in der Nacht auf den Boden geworfen hatte. Er nahm es, schüttelte es auf und legte es aufs Bett. Schließlich stand er auf und sah sich um, damit er sicher sein konnte, dass er alles so zurückließ, wie er es angetroffen hatte.

Nachdem er seine Tasche gepackt hatte, zog er den Stecker des Telefons wieder heraus. Wenn Virginia aus irgendwelchen Gründen doch nach Hause zurückkehrte, dann durfte es nicht sein, dass plötzlich das Telefon klingelte und sie aus Versehen den Hörer abnahm. Er blieb noch einmal vor dem Foto stehen und zeichnete mit dem Finger die Konturen ihres Gesichts nach.

„Halt durch, Kleine. Ich bin auf dem Weg.“

„Chef, hier ist ein Kerl namens Sullivan Dean, der mit Ihnen reden will. Ich habe ihm gesagt, dass Sie keine Zeit haben, aber er lässt nicht locker.“

Harry Redford sah seine Sekretärin an und runzelte die Stirn. „Ich kenne diesen Namen. Aber woher …?“ Plötzlich sprang er auf: „Schicken Sie ihn rein!“

Harrys Puls raste, als er den Mann sah, der auf sein Büro zukam. Verdammt, es war der Mann, von dem in dem Brief an Ginny die Rede gewesen war. Hoffentlich bedeutete das nicht, dass ihr etwas zugestoßen war.

„Mr. Redford, ich möchte Ihnen danken, dass Sie sich die Zeit …“

„Geht es ihr gut?“

Sully sah ihn irritiert an. „Bitte?“

„Ginny! Geht es ihr gut?“

„Ich glaube“, sagte Sully daraufhin, „wir sollten ganz von vorne anfangen. Mein Name ist Sullivan Dean, ich arbeite für das FBI und …“

„Darum hat die Nonne Ihnen die Notizen geschickt!“

Sully kam sich ein wenig überrumpelt vor.

„Das wissen Sie?“

„Ginny hat mir alles gezeigt“, sagte Redford.

„Sprechen Sie von Miss Shapiro? Virginia Shapiro?“

Redford nickte. „Ja, aber sagen Sie nicht Virginia zu ihr, sonst bekommen Sie gewaltigen Ärger.“

„Wo ist sie?“ wollte Sully wissen.

„Wenn ich das wüsste“, entgegnete Redford schulterzuckend. „Sie hat gestern die Stadt verlassen. Sie wollte vorher noch zur Polizei. Mir hat sie versprochen, dass sie sich bei mir meldet, mehr weiß ich auch nicht.“

Verdammt! „Wissen Sie, mit wem sie auf der Wache gesprochen hat?“

„Ja, ein Detective namens Pagillia, Anthony Pagillia. Er ist gut, aber über die toten Frauen hat er nicht viel in der Hand.“

Sully gab ihm seine Visitenkarte. „Würden Sie bitte anrufen, wenn Sie von ihr hören? Es ist sehr wichtig, dass ich sie finde.“

„Das werde ich machen. Und wenn sie mich anruft, werde ich ihr sagen, dort zu bleiben, wo sie gerade ist. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass sie anruft.“

„Das sehe ich ein“, erwiderte Sully. „Könnten Sie mir ein Taxi rufen? Bevor ich abreise, muss ich mich mit diesem Detective unterhalten.“

„Einer von meinen Reportern muss ein paar Gerichtsunterlagen abholen. Wenn Sie ein paar Minuten warten, kann er Sie mitnehmen.“

„Danke“, sagte Sully. „Das ist sehr großzügig von Ihnen.“

„Für Ginny tue ich alles“, meinte Redford.

Sully dachte an das Foto der lächelnden Frau, das er in ihrer Wohnung gesehen hatte. „Ich nehme an, sie ist beliebt.“

„Oh ja, und eine verdammt gute Reporterin dazu. Finden Sie sie und bringen Sie sie wohlbehalten zurück.“

„Das ist meine Absicht“, sagte Sully.

Minuten später war er bereits auf dem Weg zum Hauptquartier der St. Louis Police. Als er dort ankam, merkte er, dass Redford ihn bereits angekündigt haben musste: Anthony Pagillia wartete vor dem Haupteingang auf ihn.

„Agent Dean, ich freue mich, Sie zu sehen“, sagte Pagillia.

„Das hat sich schnell herumgesprochen“, entgegnete Sully. „Ich nehme an, dass Redford Sie angerufen hat.“

„Er ist um Miss Shapiro besorgt, so wie wir alle. Aus purer Neugierde: Was haben Sie mit der ganzen Sache zu tun?“

„Ich bin mit Georgia Dudley aufgewachsen … das heißt, mit Schwester Mary Teresa. Ihr Bruder ist mein bester Freund, und sie wusste, dass ich ihr helfen würde. Leider habe ich ihre Nachricht zu spät erhalten, um ihr noch helfen zu können.“

„Ja, das war ein harter Schlag“, sagte Pagillia. „Man kann sich kaum vorstellen, dass eine Nonne Selbstmord begeht.“

Sully presste die Lippen aufeinander. „Sie wurde ermordet.“

„Wissen Sie etwas, das ich nicht weiß?“ fragte Pagillia.

„Ja“, antwortete Sully. „Ich kannte Georgia. Sie konnte nicht schwimmen und hatte Angst vor Wasser. Selbst wenn sie sich hätte umbringen wollen, wäre sie niemals in einen Fluss gesprungen.“

„Wir haben Informationen, dass ein Priester ihren Tod mit angesehen hat.“

„Ich bestreite nicht, dass sie ertrunken ist, aber irgendjemand hat dafür gesorgt.“

„Das können Sie wohl kaum beweisen“, gab Pagillia zu bedenken.

„Es sei denn, ich finde Virginia Shapiro“, sagt Sully. „Soweit wir wissen, ist sie die einzige Überlebende aus der Gruppe, abgesehen von der Person, die das alles eingefädelt hat.“

„Ich habe die anderen Polizeistationen informiert, die mit den übrigen Todesfällen zu tun hatten. Hier in St. Louis wird eine zentrale Kommission eingerichtet. Aber da der Fall über die Landesgrenzen hinausgeht, kann ich wohl annehmen, dass das FBI ihn übernehmen wird, oder?“

Sully zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, aber nicht durch mich. Ich bin zu sehr persönlich in die Sache verstrickt, als dass man mir den Fall übertragen würde. Was ich hier mache, ist völlig inoffiziell.“

„Verstehe. Aber falls Sie irgendetwas benötigen, können Sie auf unsere Unterstützung bauen.“

„Danke“, sagte Sully.

„Und was haben Sie jetzt vor?“ fragte Pagillia.

„Ich werde mir einen Wagen mieten und ein Versprechen einlösen, das ich einem sehr alten Freund gegeben habe.“

Um Viertel nach drei am Nachmittag neigte sich die Tankanzeige der Reservemarke zu, und Ginnys Magen begann zu knurren. Sie fuhr durch eine lang gestreckte Kurve und sah, dass sie sich einer Stadt näherte. Sie atmete erleichtert durch, als ihr Blick auf das Schild am Ortseingang fiel.

Collins, Mississippi, 2.541 Einwohner

Zwar eine Kleinstadt, aber wohl groß genug, um ihr alles zu bieten, was sie benötigte. Sie ließ den Wagen an einer kleinen Tankstelle ausrollen, sofort kam der Tankwart zu ihr.

„Volltanken?“ fragte er.

„Ja, bitte“, antwortete Ginny. „Und sehen Sie bitte nach dem Öl.“

„Wird gemacht, Ma’am. Verdammt heiß für einen Juli, nicht wahr?“

Sie nickte. „Gibt es hier irgendwo einen Geldautomaten?“

Er zeigte zur Straße. „Sehen Sie die Bank da vorne? Gleich um die Ecke ist der Automat.“

„Ich bin in ein paar Minuten wieder da“, sagte Ginny und ging in Richtung Straße.

Als sie kurz darauf zurückkehrte, war ihr Wagen voll getankt, und der Mann wischte gerade noch über das letzte Fenster.

„Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“ fragte sie.

„Dreiundzwanzig fünfzig.“

Ginny gab ihm das Geld genau passend. „Oh, das hätte ich ja fast vergessen. Ich brauche noch eine Straßenkarte.“

Er holte eine Karte von Mississippi und reichte sie ihr: „Irgendein bestimmtes Ziel?“

„Eigentlich nicht“, antwortete sie, zahlte und fuhr ab. Einige Häuserblocks weiter hielt sie an einem Drive-in an und bestellte einen Hamburger und ein Milchshake. Der Geruch von gegrilltem Fleisch und die Hitze, die an diesem Tag herrschte, erinnerte sie an Picknicks mit der ganzen Familie. Sie presste sich in den Sitz, schloss die Augen und kämpfte gegen Tränen an. Wenn doch bloß ihre Eltern noch lebten. Wenn …

Sie setzte sich ruckartig auf. Selbstmitleid würde ihr nicht weiterhelfen. Im Gegensatz zu ihren alten Freundinnen lebte sie schließlich noch.

Ein Mädchen im Teenager-Alter kam mit einem Tablett aus dem Drive-in. Ginny griff nach ihrer Geldbörse. Nachdem sie sich gestärkt hatte, fuhr sie vom Parkplatz und ließ kurz darauf die Stadt Collins hinter sich.

Der Drang, so schnell wie möglich das Weite zu suchen und sich dann vor der Welt zu verstecken, war einfach übermächtig. Bis jetzt war sie einfach unterwegs gewesen und hatte versucht, sich so weit wie möglich von St. Louis zu entfernen, aber sie konnte nicht ewig weiterfahren. Irgendwann würde sie stoppen müssen. Was sie brauchte, war eine Unterkunft, die von den üblichen Routen so weit abgelegen war, dass sich normalerweise niemand dorthin verirren würde. Aber wo sollte sie einen solchen Ort finden?

Dunkle Wolken türmten sich seit Stunden am Horizont auf. Ginny wurde allmählich nervös. Es sah ganz danach aus, dass sie mitten in das drohende Unwetter fahren würde, und das wollte sie keinesfalls. Sie musste vorher einen Unterschlupf finden, da allein der Gedanke an Blitz und Donner sie zu lähmen schien. Sie fuhr an den Straßenrand und studierte die Karte, um ihren Standort zu bestimmen. Sie wusste, dass sie seit einer Weile durch den DeSoto National Forest fuhr und dass sie sich auf dem Highway 29 befand, ein gutes Stück nördlich von Biloxi.

Im gleichen Moment begann es leicht zu regnen. Nervös sah sie auf und bemerkte, dass das Unwetter sie fast erreicht hatte. Sie warf die Karte auf den Beifahrersitz, lenkte den Wagen zurück auf den Highway und gab behutsam Gas. Irgendwo würde sie schon anhalten können.

Zwanzig Minuten später entdeckte sie im strömenden Regen die Umrisse eines Schilds und wurde langsamer, um es lesen zu können.

Tallahatchie River Fishing Dock – ein Kilometer. Hütten zu vermieten.

„Gott sei Dank“, murmelte Ginny.

Wenig später entdeckte sie ein weiteres Schild in Form eines großen Pfeils, der früher einmal in strahlendem Gelb gestrichen war und der nach links zeigte.

„Tallahatchie River Landing“ stand darauf geschrieben. Sie bog nach links in einen alten Kiesweg ein. Wasser

spritzte gegen die Radkästen, als sie eilig durch Pfützen fuhr, während die Scheibenwischer mit höchster Leistung arbeiteten.

„Bitte, bitte, bitte“, flüsterte sie. Ihr Kopf fühlte sich bereits leer an, ihre Konzentration entglitt ihr, und sie hatte das Gefühl, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren. Sie musste raus aus dem Wagen.

Und dann endlich sah sie die kleine Ansammlung rustikaler Hütten vor einer dichten Baumreihe. Eine Hütte stand ein Stück von den anderen entfernt, vermutlich das Büro.

Nachdem sie angehalten hatte, rannte sie durch den Wolkenbruch in das Büro und kehrte nach wenigen Minuten mit einem Schlüssel für Hütte Nummer zehn zurück, die am Schluss der Gebäudereihe stand. Nachdem sie den Wagen direkt davor abgestellt hatte, nahm sie ihren Koffer und eilte abermals durch den Regen. Die Ironie ihres neuen Zuhauses entging ihr nicht. Nachdem sie die ganze Zeit über davongelaufen war, befand sie sich jetzt buchstäblich am Ende.