11. KAPITEL

„Mr. Karnoff, haben Sie noch weitere Koffer, die in die Lobby gebracht werden müssen?“

„Nein, nur diese beiden“, erwiderte Emile. „Ich muss nur noch einige Telefonate erledigen, dann komme ich nach unten. Ach ja, ich brauche ein Taxi zum Flughafen.“

„Jawohl, Sir.“

Emile wartete, bis der Page die Tür geschlossen hatte, dann holte er verschiedene Dinge aus seinen Jackentaschen, darunter ein Adressbuch. Schließlich nahm er den Hörer ab.

„Ich brauche eine Verbindung in die Vereinigten Staaten“, sagte er zu der Dame, die an der Rezeption sein Gespräch annahm.

„Ja, Sir, einen Augenblick bitte.“

Emile wartete auf das Freizeichen, dann wählte er.

Als bei der St. Louis Daily ein Gespräch für Virginia Shapiro einging, ahnte der Anrufer nicht, dass es weitergeleitet wurde zum Apparat von Officer Bonnie Smith von der St. Louis Police. Während sie das Gespräch annahm, startete ein Tonbandgerät, und gleichzeitig versuchte ein anderer Officer, die Leitung zurückzuverfolgen.

„St. Louis Daily, Shapiro hier.“

Einen Moment lang herrschte Ruhe, dann klickte etwas. Sie glaubte, im Hintergrund etwas poltern zu hören, so wie ein ferner Donner. Dem Geräusch folgte ein Klingeln wie von einer Türglocke, das nur geringfügig lauter als das Donnern war. Sie wartete darauf, dass jemand etwas sagte, doch stattdessen wurde das Klingeln wiederholt. Als es zum dritten Mal zu hören war, rief sie: „Hallo? Hallo? Ist da jemand?“

Sie hörte jemanden erschrocken nach Luft schnappen, dann wurde aufgelegt.

„Hast du den Anrufer?“

„Er ist nicht lange genug drangeblieben, um ihn zurück- zuverfolgen.“

„Verdammt!“ sagte sie. „Vielleicht ruft er noch mal an. Mach aber schon mal eine Kopie von der Aufnahme und lass Detective Pagillia wissen, dass sie auf dem Weg zu ihm ist.“

Lucy Karnoff stand im Flur vor dem Zimmer ihres Sohnes. Sie hatte den ganzen Morgen damit zugebracht, ihr Zuhause und ihre Familie vorzeigbar zu machen, und jetzt das! Mit dem Argument, eine gute Mutter sein zu wollen, hatte sie ihr Belauschen gerechtfertigt. Wie sollte sie ihm helfen, wenn sie nicht wusste, was mit ihm los war? Aber was Phillip machte, ergab keinen Sinn. Er war allein in seinem Zimmer, aber er sprach so, als befände sich jemand bei ihm. Sie drückte ihr Ohr fester an die Tür, als es zu einem weiteren Ausbruch kam.

„Hör zu, du verrückter Bastard! Ich bin es leid, das auszubügeln, was du mir einbrockst! Hast du noch nie das Wort AIDS gehört? Und dein Geschmack in Sachen Frauen … mein Gott! Willst du etwa, dass dir dein bestes Stück abfault?“

Ich bin nicht verrückt, Phil, sondern du bist derjenige, der nicht die Kontrolle über seinen Kopf behalten kann. Ich weiß, wer ich bin. Ich habe das Sagen. Ich bin derjenige, der weiß, wie man anderen Leuten sagt, sie sollen sich zum Teufel scheren. Das kannst du nicht. Wenn du ein Rückgrat hättest, würdest du deinem alten Herrn sagen können, er solle sich verpissen.

„Du bist ekelhaft“, sagte Phillip. „Ich muss mir das nicht länger anhören.“

Da irrst du dich aber. Ich bin Tony, ich bin der Spieler, und ich werde dich nicht in Ruhe lassen, weil ich in deinem Kopf existiere, du Idiot.

Diese schmerzhafte Wahrheit war mehr, als Phillip ertragen konnte. Er sank auf die Knie und legte die Hände über seine Ohren, als könne er so die Stimme fern halten. Aber es gelang ihm nicht. Tony bohrte weiter in der Wunde, und der Wahnsinn wollte kein Ende nehmen. Was Phillip am meisten Angst machte, war die Tatsache, dass Tony immer stärker wurde. Er konnte fühlen, wie er selbst jeden Tag ein wenig mehr an Boden verlor. An manchen Tagen glaubte er, nicht weitermachen zu können.

Oh nein, das machst du nicht. Du bringst dich nicht um, das werde ich nicht zulassen. Außerdem bist du Mamas kleiner Junge, weißt du noch? Was sollte sie ohne ihren kleinen Jungen machen?

„Sei ruhig! Sei endlich ruhig!“ murmelte Phillip.

Okay, ich bin sowieso müde. Warum spielst du nicht ein bisschen an dir rum, kleiner Junge, und wenn ich wieder da bin, zeige ich dir, was einen richtigen Mann ausmacht?

Phillip kroch auf allen vieren zum Bett, zog sich hoch und sackte auf der Tagesdecke zusammen.

„Lieber Gott, vergib mir, denn ich habe gesündigt“, flüsterte Phillip und schloss die Augen.

Lucy legte die Hand vor ihren Mund und wandte sich ab. Das war noch viel schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Und es war mehr, als sie allein in den Griff bekommen konnte. Sie eilte zum Telefon und rief das Dubliner Hotel an, aber Emile war schon abgereist. Damit hatte sie keine Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten, bis er sich bei ihr meldete, doch diese Sache mit Phillip konnte nicht warten. Es musste in Emiles Büro irgendetwas geben, um ihm zu helfen. Als seine Assistentin wusste sie, wo er alle Akten und Aufnahmen aufbewahrte, zumal sie in der Anfangszeit sogar mitgeholfen hatte, alles zu katalogisieren. Sie stürmte ins Büro ihres Mannes und ignorierte die Tatsache, dass er sehr verärgert sein würde, wenn er wüsste, was sie vorhatte.

Die Aufnahmen waren mit Datum und Thema versehen. Was sie benötigte, war etwas zum Thema Selbstmotivierung. Was Phillip nötig hatte, war ein Anstoß in die richtige Richtung. Sie wanderte mit ihrem Finger über die Liste.

Erforschung der menschlichen Psyche

Verhaltenszüge: Genetisch bedingt oder erlernt?

Steigerung der Persönlichkeit

Plötzlich fiel ihr Blick auf Unterbewusste Botschaften.

Das war genau das, was sie brauchte! Phillip würde das niemals freiwillig mitmachen, also brauchte sie etwas, das sie einsetzen konnte, sobald er schlief.

Sie legte die Kassette in den Rekorder und hörte sich ein kurzes Stück an, um sicher zu sein, dass die Beschriftung stimmte. Der vertraute Klang der Stimme ihres Mannes trieb ihr Tränen in die Augen.

Oh Emile, Emile … ich brauche dich so sehr.

Sie war sicher, dass diese Aufnahme helfen würde, und nahm Kassette und Rekorder mit. Sobald Phillip heute Nacht eingeschlafen war, würde sie es ihm vorspielen. Auch wenn Emile nicht anwesend war, würde seine Methode einmal mehr Wunder wirken.

Detective Anthony Pagillia legte den Hörer auf und war sichtlich bester Laune. Soeben hatte er mit Officer Smith gesprochen. Es war zwar recht ärgerlich, dass es trotz Fangschaltung nicht gelungen war, den Anruf zurückzuverfolgen. Aber die Tatsache, dass der Anruf an sich aufgezeichnet worden war, machte das mehr als wett. Mit etwas Glück fanden sich verräterische Geräusche, mit denen sich der Anrufer selbst ans Messer liefern würde. Er ließ zwei Kopien von der Aufnahme machen, von denen eine an ihn und die andere an Agent Dan Howard ging. Zufrieden klatschte er in die Hände und stand auf. Das war der erste Erfolg in diesem Fall. Jetzt musste er Howard anrufen und ihm melden, dass das Band auf dem Weg zu ihm war.

Dan Howard half Sullivan, das Gepäck aus dem Helikopter zu laden, als sein Handy klingelte.

„Geh ruhig ran“, sagte Sully. „Ich nehme den letzten Koffer.“

„Howard“, meldete sich Dan, während Sully ins Haus ging.

„Agent Howard, hier ist Detective Pagillia aus St. Louis.“

„Hallo, Anthony, was gibt es Neues?“

„Wir hatten einen Anruf für Miss Shapiro.“

„Und? Hat die Fangschaltung etwas ergeben?“

„Nein, es wurde zu schnell aufgelegt, aber wir haben einen Mitschnitt. Vielleicht können Ihre Leute in Quantico damit etwas anfangen. Es soll sich vorwiegend um Geräusche handeln. Falls jemand etwas gesagt hat, dann konnten meine Leute davon nichts hören.“

Dan ging schnell zum Haus. „Das sind hervorragende Neuigkeiten. Schicken Sie das Band an mein Büro in D.C. Ich werde heute Abend dort sein.“

„Ja, Sir.“

„Gute Arbeit, Detective“, sagte Dan.

„Ach … Agent Howard … wenn ich mir die Frage erlauben darf: Wie geht es Miss Shapiro? Ich habe Ihre Nachricht erhalten, was ihr zugestoßen ist.“

Dan blieb stehen, da er nicht im Haus darüber reden wollte, wo Ginny ihn hören konnte. Es war sicher besser, sie noch zu schonen.

„Sie schlägt sich tapfer, mehr kann ich dazu nicht sagen. Es hat sie sehr mitgenommen.“

„Und Agent Dean? Er wurde doch auch verletzt.“

Dan musste lachen. „Oh ja, der Kerl hat ihm fast den Schädel eingeschlagen. Aber er hat die Situation trotzdem unter Kontrolle gebracht, bevor noch Schlimmeres passieren konnte. Er ist besorgter als eine Glucke, die auf ihre Küken achtet.“

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen. An dem Tag, als er hier war, machte er bereits einen sehr entschlossenen Eindruck, Miss Shapiro zu finden. Auf jeden Fall danke für die Auskunft.“

„Ich habe auch zu danken“, erwiderte Dan und beendete die Verbindung.

„Hey, Sully“, rief er dann. „Gute Nachrichten!“

Ginny hatte sich in dem streng bewachten Haus gründlich umgesehen, um sich mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen, und dabei auch die Wachleute bemerkt, die für die Dauer ihres Aufenthalts ihre ständigen Begleiter sein würden.

Das Haus an sich war sehr schön, und unter anderen Umständen hätte sie sich hier wohl fühlen können. Das flache Gebäude im Stil einer Ranch war nach Westen in Richtung der Maricopa Mountains ausgerichtet, im Osten befand sich irgendwo ein Indianerreservat. Von diesen Angaben abgesehen, hatte sie keine Vorstellung davon, wo sie sich eigentlich befand. Allerdings war ihr klar, dass das Grün rund um das Gebäude die Folge künstlicher Bewässerung war, denn das übrige Land war trocken und glich einer Wüste, auch wenn sie auf dem Herflug gelegentlich ein Feld gesehen hatte, das erkennbar bestellt wurde.

Das Haus selbst war von einer Vielzahl von Kakteen umgeben, von denen Ginny einige erkannte, während sie andere Sorten noch nie gesehen hatte.

Als sie die Stimmen hörte, kehrte sie zurück ins Wohnzimmer. Dabei fielen ihr erneut die dicken Mauern aus Adobeziegeln, die schmalen Fenster und die hohen gewölbten Decken auf. Alles war darauf ausgelegt, Strom zu sparen.

In dem Moment, in dem sie das Wohnzimmer betrat, sah sie noch, wie Sully zu grinsen begann und Dan Howard einen Klaps auf den Rücken gab.

„Habe ich etwas verpasst?“

Sully drehte sich zu ihr um.

„Wir haben einen ersten Erfolg erzielt. Es gibt ein Band von einem verdächtigen Anruf, der auf deinem Apparat bei der Daily eingegangen ist.“

Ginny erstarrte. „Ein Anruf? Was hat der Anrufer gesagt?“

„Wir haben das Band noch nicht gehört“, antwortete Dan. „Ich weiß nur, was Detective Pagillia mir erzählt hat. Es sollen wohl in erster Linie Hintergrundgeräusche zu hören sein, aber vielleicht kann unser Labor etwas finden.“

„Was für Geräusche?“ fragte Ginny.

„Es soll sich nach einem Unwetter angehört haben, es war Donner zu hören. Dann folgte eine Art Türklingel, die immer wieder betätigt wurde. So, als würde jemand hartnäckig klingeln. Es könnte sein, dass der Anrufer von einem unerwarteten Besucher gestört wurde.“

Die Erinnerung an etwas, das sehr lange her war, blitzte auf, aber Ginny versuchte vergebens, das flüchtige Bild festzuhalten, um es erkennen zu können.

Sully bemerkte ihren Gesichtsausdruck.

„Ginny? Was ist los?“

Sie runzelte die Stirn, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist es nichts. Werden wir das Band hören können?“

„Ja, sicher … sobald ich es …“

„Nein, du nicht“, warf Sully ein.

Ginny sah ihn überrascht an. „Aber …“, setzte sie an.

„Du hörst es dir so lange nicht an, bis ich weiß, ob dieser Anruf irgendeine Zeitbombe in deinem Kopf aktiviert, okay?“

Sie wurde blass. „Natürlich. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“

Sully legte eine Hand auf ihren Rücken, dann zog er sie an sich heran.

„Darum bin ich ja hier“, sagte er.

„Ja, aber wie lange werde ich hier sein?“ fragte sie grimmig.

Es gab nichts, womit die beiden Männer sie hätten trösten können. Sie ließ die Schultern sinken und ging aus dem Zimmer.

„Sie klingt nicht sehr begeistert“, meinte Dan.

Sully warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Das würdest du auch nicht, wenn es nicht mal eine Woche her wäre, dass dich jemand in Stücke schneiden wollte.“

„Sorry“, erwiderte Dan und hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte ihr nicht zu nahe treten … und dir auch nicht.“

Der Blick wurde noch ärgerlicher, während Dan breit grinste.

„Hast du denn gar nichts anderes zu erledigen?“ fragte Sully.

Dan sah auf seine Uhr. „Doch, das habe ich. Übrigens, draußen halten insgesamt drei Männer Wache. Sie wohnen im Gästehaus und haben ihre Befehle. Du wirst mit ihnen so gut wie keinen Kontakt haben, es sei denn, du benötigst irgendetwas Bestimmtes. Zwei von ihnen, Franklin und Webster Chee, sind Navajo-Indianer, die hier in der Gegend aufgewachsen sind. Sie sind Brüder und gehören zu den besten Leuten, die das FBI hat. Kevin Holloway, der dritte Mann, ist ebenfalls ein guter Agent. Ich habe mehrmals mit ihm zusammengearbeitet.“

„Ich kenne die Ausbildung“, erwiderte Sully.

„Ja, ich weiß. Aber hals dir nicht zu viel auf. Du bist auch gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen. Wenn irgendwelche schweren Arbeiten zu erledigen sind, bitte sie um Hilfe.“

Sully grinste. „Ja, Mutter.“

Dan erwiderte das Grinsen. „Also gut, wenn du es auf die Tour willst, dann gib Mommy einen Abschiedskuss. Ich muss nämlich jetzt los.“

Diesmal hob Sully beschwichtigend die Hände. „Du gewinnst, Howard. Du bist viel zu hässlich, als dass ich dich küssen würde.“

„Vielleicht, aber ich bin treu“, sagte Dan.

„Erzähl das deiner Frau. Ich bin nicht interessiert.“

Dan winkte zum Abschied. „Ich melde mich.“

Wenige Augenblicke darauf sah Sully dem abfliegenden Hubschrauber nach. Dann wandte er sich um und begann, mit dem Blick eines Agenten das Haus zu begutachten und nach Stellen zu suchen, die vom Standpunkt der Sicherheit ein Problem darstellen konnten.

Erst in dem von einer Mauer umgebenen Garten hinter dem Haus traf er Ginny an, die an einem kleinen Pool saß und die Füße im Wasser baumeln ließ.

„Warum schwimmst du nicht eine Runde?“ fragte er. „Könnte nach dem langen Flug ganz angenehm sein.“

„Kein Badeanzug“, erwiderte sie.

„Komm mit“, sagte er und nahm ihre Hand. Sie folgte ihm und hinterließ auf dem Weg durch das Haus nasse Fußabdrücke auf den dunkelroten Fliesen, die aber bei der Hitze rasch trocknen würden.

Sie gingen in das erste Badezimmer, wo er auf einen Schrank zeigte.

„Ich hatte mich schon mal umgesehen. Schau mal hinein, vielleicht passt dir davon ja etwas.“

Ginny öffnete die Türen und fand ein ganzes Sortiment Badebekleidung für Herren und Damen vor.

„Ich nehme an, ich bin nicht die Erste, die auf der Flucht ist“, sagte sie und dachte darüber nach, dass sich vor ihr schon viele andere Menschen hier versteckt haben mussten.

„Such mir auch etwas aus“, sagte Sully. „Ich mache uns was zu trinken.“

Ginny lächelte, als sie sich wieder dem Schrank zuwandte. Vielleicht würde es hier doch nicht ganz so schlimm werden.

Sully begutachtete den gut gefüllten Vorratsschrank, um etwas zu essen zu suchen, als Ginny in die Küche kam. Ihr schulterlanges Haar hatte sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden und hochgesteckt. Das Einzige, was sie in ihrer Größe hatte finden können, war ein Zweiteiler, der im Vergleich zu anderen Bikinis im Schnitt eher an einen BH und einen Slip erinnerte. Der wenige Stoff enthüllte dabei das, was sie nicht verleugnen konnte, und sie wünschte sich einmal mehr, besser gebaut zu sein. Wäre es nicht Sully gewesen, der sie so sehen konnte, hätte sie nicht den Mut gehabt, den Zweiteiler anzuziehen.

„Ich habe einige Badehosen auf das Bett gelegt, die dir passen könnten“, sagte sie. „Was gibt es zu trinken?“

Er lächelte und drehte sich zu ihr, in einer Hand ein Tütchen mit Knabbergebäck. Sein Lächeln erstarrte und verschwand. Er hatte die Prellungen in ihrem Gesicht und an den Armen gesehen, aber jetzt sah er zum ersten Mal, wie Auger ihren ganzen Körper zugerichtet hatte. Auch wenn die Stellen längst nicht mehr so dunkel verfärbt waren wie noch ein paar Tage zuvor, erinnerten sie schmerzhaft daran, was Ginny über sich hatte ergehen lassen müssen.

„Ich werde wohl ewig bedauern, dass ich diesen Kerl nicht umgebracht habe“, sagte er leise.

Ginny lief rot an und verschränkte abwehrend die Arme vor dem Bauch.

„Mach das nicht“, sagte er und zog ihre Arme weg vom Körper.

„Ich wollte …“

Er legte seine Hände um ihr Gesicht. Sie stand bewegungslos da und sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Sie wusste, dass er sie küssen würde. Es war, als hätten sie seit dem Moment darauf gewartet, als er an der Hütte angeklopft und aus dem Regen ins Trockene gekommen war.

„Sully …“

„Schhhht“, machte er leise und strich mit dem Daumen vorsichtig über die Verletzung auf ihrer Unterlippe. „Ich möchte dir nicht wehtun.“

„Ich bin zäh, weißt du noch?“

Außerdem wirst du mir spätestens dann wehtun, wenn du mich verlässt.

Er atmete langsam ein und senkte seinen Kopf. Ihre Lippen waren weich und voller Verlangen. Er fuhr mit den Händen durch ihr Haar, zog sie näher an sich heran und fühlte das Zögern und schließlich das Akzeptieren einer Frage, die noch nicht ausgesprochen worden war und von der er nicht wusste, ob er sie stellen konnte.

Sullivan machte als Erster einen Rückzieher. Er stöhnte leise auf. „Verzeih mir, Ginny, das hätte ich nicht machen dürfen.“

Sie sah ihn verwundert an, dann schüttelte sie den Kopf und ging aus der Küche.

Sully wollte sie zurückrufen, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Verdammt, ja, er wollte mit ihr schlafen. Mehr als alles andere. Aber er war einmal nachlässig geworden und hätte beinahe Ginnys Leben auf dem Gewissen gehabt. Er blieb so lange in der Küche stehen, bis er sicher sein konnte, dass sie im Pool war. Einer der Wachmänner tauchte kurz an der Ecke des Hauses auf, woraufhin Sully beruhigt nach oben ging, um sich umzuziehen. Er wusste, dass sie im Moment in Sicherheit war.

Ginny hatte versucht, eine Bahn zu schwimmen, aber es war ihr zu anstrengend. Stattdessen hielt sie sich am Beckenrand auf und ließ sich vom Wasser treiben. Das kühle Wasser war ein angenehmer Kontrast zur unerträglichen Hitze, doch je länger sie im Pool blieb, umso stärker wurde ihr die Umgebung bewusst.

Es war die Stille, die ihr auffiel. Kein Auto, kein Flugzeug, keine Polizeisirenen. Nicht einmal die Stimmen anderer Leute. Nur das Plätschern des Wassers am Rand des Pools war zu hören, begleitet von einem leisen Summen, wenn die Klimaanlage im Haus sich einschaltete.

„Ginny, komm bitte einen Moment aus dem Wasser.“

Sie sah auf und entdeckte Sully, der mit einer kleinen Plastikflasche in ihrer Höhe neben dem Pool stand.

„Sonnenschutzcreme.“

Sie legte eine Hand auf ihren Arm, der bereits heiß war.

„Oh, stimmt ja.“ Sie hob ihre Hand und ließ sich von ihm aus dem Wasser ziehen.

„Autsch, der Betonboden ist ja kochend heiß“, rief sie und sprang von einem Fuß auf den anderen.

Sully warf ein Handtuch auf den Boden. „Stell dich da drauf“, sagte er.

Dankbar trat sie auf den Frotteestoff, der die Hitze zurückhielt.

„Es dauert nicht lange“, meinte Sully. „Ich muss allerdings das Oberteil aufmachen, damit ich deine Schultern eincremen kann.“

Sie nickte und drückte ihr Oberteil mit beiden Händen an sich. Im nächsten Moment legten sich seine Hände auf ihre Schultern und begannen, die Lotion zu verreiben.

Es war ein Reflex, der sie zusammenzucken ließ, aber er entging Sully nicht. Sofort hörte er auf.

„Tut mir Leid, Ginny. Vielleicht solltest du das besser selbst machen, anstatt mit dem Gefühl von Männerhänden auf deiner Haut klarzukommen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, sei nicht albern. Es war nur ein Reflex. Die Creme ist kalt, weiter nichts.“

Er wusste, dass sie log, aber es machte ihn nur noch vorsichtiger, was das Abschweifen seiner Gedanken anging.

„Ich beeile mich“, sagte er. „Beugst du den Kopf einen Moment nach vorn? Ich muss deinen Nacken einreiben.“

Sie befolgte seine Anweisung und nahm das Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut in sich auf, wie sie langsam die Sonnenlotion verrieben. Plötzlich tauchte vor ihrem geistigen Auge das Bild von Carney Auger auf, der über sie herfiel. Doch ehe sie in Panik geraten konnte, wurde aus dessen Gesicht das von Sully. Das Gefühl, dass sich ihr Magen umdrehen müsste, verschwand und wurde durch die Vorstellung ersetzt, Sullys Körper zwischen ihren Beinen zu fühlen. Ohne es erlebt zu haben, wusste sie schon jetzt, dass er sie genauso wunderbar lieben würde, wie er alles andere machte. Er würde völlig auf sie konzentriert sein, und das Einzige, was ihn interessieren würde, war, ihr Freude zu bereiten.

Sie stöhnte auf, und Sully hielt sofort inne. „Habe ich dir wehgetan, Schatz?“

„Nein, es fühlt sich einfach gut an.“

„Okay, das dürfte jetzt genügen“, sagte er. „Deine Beine cremst du dir bitte selbst ein.“ Er gab ihr die Flasche und sprang in den Pool, froh darüber, sich ins lauwarme Wasser zurückziehen zu können. Er musste mehr Distanz zwischen sich und Ginny bringen, und das war das Einzige, was er im Moment zu tun hatte.

Ginny verrieb die Lotion auf ihren Beinen. Als sie fertig war, befand sich Sully vor ihr. Er stand bis zur Brust im Wasser und wartete auf sie.

„Bist du so weit, dass du wieder ins Wasser kommst?“

„Ja.“

„Brauchst du Hilfe?“

„Es geht schon“, erwiderte sie und empfand ein Gefühl der Enttäuschung, als er davonschwamm.

Das Abendessen war beinahe so angespannt wie an dem Abend in der Hütte, als sie sich fast gegenseitig an den Kragen gegangen waren. Diesmal aber wusste Sully, welche Ursache die angespannte Atmosphäre hatte.

Anziehung, Lust.

Aber zumindest für ihn war da noch mehr im Spiel. Als er Ginny auf dem Foto in ihrem Apartment gesehen hatte, war aus ihr mehr als nur Georgias Freundin geworden – mehr als nur das Ziel eines Anschlags. Sie war real geworden. Und als er sich in ihrem Bett schlafen gelegt hatte, war es ihm vorgekommen, als würde er in ihre Haut schlüpfen. Er war ihr zu schnell zu nahe gekommen, und jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. Sully hatte sich in sie verliebt, auch wenn er keinen ungünstigeren Zeitpunkt dafür hätte erwischen können.

Ginny versuchte, Sully nicht anzustarren, obwohl es fast unmöglich war, ihn zu ignorieren. In seinem weißen Polohemd und der hellblauen Jeans sah er aus wie ein Model aus einem Modekatalog. Es war ein ungewohnter Anblick, vor allem, wenn sie an das T-Shirt und die Jeans dachte, die er in der Hütte getragen hatte. Die kleine Stelle, an der sie im Krankenhaus seinen Kopf hatten rasieren müssen, um seine Verletzung zu behandeln, begann schon wieder zuzuwachsen. Dank der leicht strubbeligen Frisur, die er zu bevorzugen schien, fiel die Stelle nicht so sehr auf.

„Ist der Hamburger nicht durch?“ fragte er, als er merkte, dass sie kaum etwas gegessen hatte.

Ginny zwinkerte und sah auf ihren Teller. „Oh … nein, nein … er ist genau richtig.“

Mit einem Mal wurde ihr klar, wie hungrig sie war, und sie nahm den Hamburger in beide Hände, um einen großen Bissen abzubeißen.

Sully schüttelte den Kopf und legte dann Kartoffelsalat nach. Der war zwar nicht so lecker wie der, den seine Mutter zubereitete, aber da er Ginnys Kochkünste kennen gelernt hatte, war alles akzeptabel, das bereits fertig zubereitet war.

„Du hast dir einen leichten Sonnenbrand geholt“, sagte Sully und deutete auf ihre Nase.

Sie nickte, während sie schluckte.

„Ich glaube aber nicht, dass sich die Haut abschälen wird“, fügte er an. „Sie ist nur ein wenig gerötet.“

Ginny legte den Hamburger auf den Teller und wischte sich den Mund mit der Papierserviette ab. Es ging ihr auf die Nerven, dass sie beide ständig um den heißen Brei herumredeten, anstatt einfach auf den Punkt zu kommen. Das musste ein Ende nehmen.

„Sully, hör auf damit.“

Überrascht verschluckte er den nur halb gekauten Bissen.

„Womit soll ich aufhören?“

„Dieser … dieser … Small Talk. Um Himmels willen, wir beide haben zusammen doch schon genug durchgemacht.“

Sully legte seine Gabel auf den Teller und lehnte sich zurück. „Also kein Small Talk mehr?“

„Ja, bitte“, antwortete sie und wischte in Gedanken vertieft die Krümel von ihrem Kleid. Früher oder später würde sie eine Reinigung finden müssen, sonst hätte sie nichts Sauberes mehr anzuziehen. In dem Moment fielen ihr die Waschmaschine und der Trockner ein, die sie im Haus gesehen hatte.

„Und worüber sollen wir dann sprechen? Bestimmt nicht über den Zwischenfall, der uns beiden einen Krankenhausaufenthalt beschert hat. Und du bist auch sicher nicht in der Stimmung, noch einmal über die Montgomery Academy mit mir zu reden.“

„Nun, nicht unbedingt.“

„Abgesehen von Geschichten aus unserer Kindheit, die wir ja schon in der Hütte im großen Stil ausgetauscht haben, bleiben uns dann nur noch Sex und Brettspiele. Und ich bin ziemlich sicher, dass wir hier kein Monopoly finden.“

Ginny schluckte, wollte ihn aber nicht damit durchkommen lassen. Nicht schon wieder.

„Über was reden Männer, wenn sie zusammen sind?“ fragte sie.

„Sport, Arbeit, Frauen und Sex.“

Sie kniff verärgert die Augen zusammen.

„Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“

Sully grinste. „Nein, aber es hat dich aufhorchen lassen, stimmts?“

Ihr wütender Blick hielt sich noch eine Sekunde lang, dann begann sie zu grinsen.

„Du bist unmöglich, weißt du das?“

Er wurde ernst und senkte die Stimme: „Schatz, ich bin so pflegeleicht, dass dir schwindlig werden könnte.“

Ginny hatte die Vision nackter schweißgebadeter Körper, woraufhin sie abrupt aufstand.

„Wohin gehst du?“ fragte Sully.

„Ich muss an die Luft.“

„Draußen ist es aber heißer als hier im Haus.“

„Da wäre ich nicht so sicher“, erwiderte sie und verließ das Zimmer. Sie überließ es ihm, ihre Bemerkung zu deuten.

Sully wollte ihr folgen, blieb dann aber stehen. Er hatte es wieder gemacht, sie gedrängt, obwohl er sich hätte zurückhalten müssen. Wütend brachte er das benutzte Geschirr in die Küche. Abwaschen konnte er später immer noch. Auch wenn sie allein sein wollte, würde er sie nicht aus den Augen lassen.