8. KAPITEL

Zwar waren Stunden vergangen, seit Ginny im Wald die Beherrschung verloren hatte, dennoch verhielt sie sich immer noch verschlossen zu dem Thema. Und Sully war klug genug, vorläufig nicht darauf zu sprechen zu kommen. Stattdessen hatte er sie wie eine Tatverdächtige gnadenlos über jedes Detail ihrer Kindheit ausgehorcht. Auch wenn das Verhör hart gewesen war, hatte es Ginnys Nerven besänftigt, als hätte es sie an den wahren Grund ihres Zusammenseins und daran erinnert, was notwendig war, um eine Lösung für ihre Situation zu finden.

Neue Erkenntnisse hatten sich nicht ergeben. Allerdings fand Sully es merkwürdig, dass sich Ginny überhaupt nicht daran erinnern konnte, was in der speziellen Klasse an der Montgomery Academy geschehen war. Sie wusste nur, dass der Unterricht einmal pro Woche stattfand und eine Stunde dauerte. Aber was sie dort gelernt und warum man sie überhaupt ausgewählt hatte, blieb unklar. Sie war ein normales Kind gewesen, ohne besondere Begabungen oder Fertigkeiten, und sie war auch kein Genie, sondern von klein auf kränklich gewesen, da sie regelmäßig unter Asthmaanfällen litt. Die wurden im Lauf der Jahre glücklicherweise schwächer und verschwanden völlig, als sie ungefähr zehn war.

Schließlich brach er die Befragung ab, und Ginny bereitete in der Kochnische ein paar Sandwiches zu. Er hatte ihr seine Hilfe angeboten, aber sie hatte sie rundweg abgelehnt. Darüber war er nicht beleidigt, vielmehr amüsierte es ihn, weil er so wusste, dass er sie nervös machte. Das war viel besser, als wenn sie ihn ignorierte.

„Möchtest du einen Kaffee?“ fragte Ginny, während sie mit den Sandwiches beschäftigt war.

„Kann ich auch eine Cola haben?“

„Die sollst du bekommen. Etwas anderes habe ich sowieso nicht zu bieten.“

Ihr Sarkasmus stachelte ihn an und ließ ihn aus sich herausgehen.

„Ich denke schon, dass du noch was anderes zu bieten hast, aber für den Augenblick begnüge ich mich mit der Cola.“

Ginny erstarrte in ihrer Bewegung und erwischte sich dabei, dass sie grinste. Prompt unterdrückte sie es, bevor er etwas davon mitbekommen konnte. Er konnte genauso gut austeilen, wie er einstecken konnte. Das hatte ihr an einem Mann schon immer gefallen. Als sie sich umdrehte, war ihr Gesicht ausdruckslos.

„Bilde dir nichts ein, Agent Dean. Ich fühle mich zwar zu dir hingezogen, aber ich bin nicht scharf. Nimm dir zu trinken, was du willst, und dann setz dich wieder auf diesen Stuhl. Das Essen ist fertig.“

Sullys Grinsen wurde noch breiter, als er an ihr vorbeiging, um zwei Gläser aus dem Schrank zu nehmen. Er machte den Kühlschrank auf und spähte hinein.

„Milch, Orangensaft … hey, du hast mir etwas vorenthalten“, sagte er und brachte eine Flasche Wein zum Vorschein.

Ginny stellte die Sandwiches auf den Tisch und zwängte sich an Sully vorbei, um die Teller zu holen. Der bewegte sich absichtlich langsam und genoss mit kindlicher Freude das Gefühl, als sie mit ihrem Po an seiner Hüfte entlangstreifte.

„Auch einen?“ fragte er und hielt eine Flasche hoch.

„Nein, danke, ich trinke Milch.“

„Du magst das Zeug wirklich?“ fragte er, während er den Wein zurück in den Kühlschrank stellte und die Flasche Milch herausholte.

„Ich stecke mir schon länger nichts mehr in den Mund, was ich nicht mag. Das habe ich zum letzten Mal gemacht, als ich zwei oder drei war.“

Sully starrte auf ihre Lippen, stellte sich vor, wie er seinen Mund auf ihren drückte, und fragte sich, welche Reaktion er damit bewirken würde. Ob ihre Küsse so feurig waren wie ihre Worte?

Ginny hielt ihm ihr Glas hin, aber er schien in Gedanken zu sein, also nahm sie ihm die Flasche aus der Hand und goss sich die Milch selbst ein.

„Prost“, sagte sie und trank einen Schluck. „Mmmh, gut und schön kalt. Komm schon, lass uns essen.“

Sie setzte sich an den Tisch, legte ein halbes Sandwich auf ihren Teller und schüttete eine Hand voll Kartoffelchips dazu. Als sie den ersten Bissen aß, wachte Sully auf. Er öffnete seine Cola, nahm auf dem anderen Stuhl Platz und türmte auf seinem Teller zwei Sandwichhälften aufeinander und drehte die Chipstüte so, dass er bequem hineingreifen konnte. Er angelte einige Chips heraus und steckte sie auf einmal in den Mund.

„Schmeckt gut“, sagte er, während er kaute.

„Das kommt daher, dass ich die nicht zubereitet habe“, gab Ginny zurück.

Er grinste und biss in sein Sandwich. Als er kaute, knirschte etwas. Er hatte nicht bemerkt, dass sie etwas anderes als Mayonnaise, Wurst und Käse auf das Brot gelegt hatte.

„Ähm … da hat was geknirscht“, sagte er.

„Das dürften die Radieschen sein.“

Er schluckte den Bissen herunter und legte das Sandwich auf den Teller, um zu überlegen, wie er den Inhalt analysieren konnte, ohne sie zu beleidigen. Sie ersparte ihm die Mühe.

„Wenn du sie nicht magst, nimm sie doch einfach herunter.“

Sully nickte und hob die oberste Brotscheibe an, um die Radieschenscheiben zu entfernen, die an der Mayonnaise klebten.

„Äh … Ginny, fass das bitte nicht falsch auf, aber darf ich dich etwas fragen?“

Sie kaute weiter und nickte.

„Ich sage ja nicht, dass ich sie nicht mag, aber ich habe sie noch nie auf einem Sandwich mit Wurst und Käse gegessen.“

„Tatsächlich?“

Er nickte. „Warum … warum machst du ein Sandwich auf diese Art?“

Sie klappte ihr Sandwich auf und erwiderte: „Es geht um die verschiedenen Gruppen der Grundnahrungsmittel. Natürlich Brot und Fleisch. Der Käse steht für Milchprodukte und für eine andere Form von Protein, die Mayonnaise ist ein Fett, die Radieschen sind das Gemüse. Zum Nachtisch esse ich Äpfel, also Früchte. Brot, Fleisch, Milchprodukte, Gemüse, Früchte und Fett. Eine ausgewogene Mahlzeit, richtig?“

Sully war sprachlos, während sie ihr Sandwich zuklappte und weiteraß. Er sah auf seinen Teller, zuckte mit den Schultern und legte die Radieschen zurück auf sein Brot.

„Hast du deine Meinung geändert?“

„Ich kann’s ja mal versuchen“, murmelte er und aß weiter.

Ihr Herz machte einen Satz. Noch nie hatte ein Mann das aufgegessen, was sie ihm zubereitet hatte, nicht einmal ihr Vater, der sie über alles liebte. Sullivan Dean wusste nicht, dass er in ihren Augen immens an Achtung gewann.

Sie waren gerade beim Nachtisch, als jemand an der Tür klopfte. Sully war aufgesprungen, ehe Ginny sich überhaupt bewegt hatte, und blickte zuerst aus dem Fenster und dann zu ihr, um ihr zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. Es war der Vermieter der Hütte.

„Ich wollte nur hören, ob alles in Ordnung ist, bevor ich nach Wingate fahre.“

„Ja, hier ist alles bestens“, sagte Sully.

Der alte Mann versuchte vergeblich, über Sullys Schulter in die Hütte zu spähen. Sully hatte sich so hingestellt, dass niemand Ginny sehen konnte. Sein Anblick, wie er da in der Türöffnung stand, die Hände gegen den Türrahmen gestützt, als würde er ihn festhalten, ließ ihr Herz einen Satz machen.

„Na gut, dann bin ich jetzt mal unterwegs. Wird so zwei bis drei Stunden dauern. Wenn es einen Notfall gibt, draußen am Büro finden Sie ein Telefon.“

„Danke“, entgegnete Sully. „Wir kommen schon zurecht.“

„Gut … dann bis später.“

Sully wollte die Tür schließen, als der alte Mann sie plötzlich aufhielt.

„Das hätte ich ja beinah vergessen“, sagte er. „Wissen Sie schon, wie lange Sie bleiben wollen?“

Sully runzelte die Stirn. „Ich werde es Sie wissen lassen“, antwortete er und machte die Tür zu. Durchs Fenster beobachtete er, wie der Mann schließlich abfuhr.

Er wandte sich zu Ginny um und sah, dass sie die Teller zur Spüle brachte.

„Augenblick“, sagte er. „Du hast gekocht, ich mache den Abwasch.“

„Ich habe ein Messer, zwei Gläser und zwei Teller schmutzig gemacht. Das würde ich nicht gerade als kochen bezeichnen.“

Sully legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es an, bis sie ihm in die Augen sehen musste.

„Du hast mir etwas zu essen gemacht.“

„Und du passt auf mich auf.“

Ihre sanften Worte brachten für ihn alles aus dem Gleichgewicht, das er zu wahren versucht hatte.

„Und das ist der beste Job, den ich jemals hatte.“ Dann legte er seine Hände um ihr Gesicht und küsste sie zart auf die Stirn.

Ginny konnte sich nicht rühren. Das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut war berauschend. Als sich ihre Blicke trafen, sah sie in seinen Augen ein Verlangen nach mehr. Zu ihrer Enttäuschung sagte er nicht, was er gerade empfand, und der Augenblick verstrich. Zurück blieb betretenes Schweigen.

„Mach eine Pause, lies ein Buch oder ruh dich einfach nur aus. Ich wasche die Teller ab, und danach muss ich ein paar Telefonate erledigen, okay?“

Ginny wollte ihre Arme um seine Taille legen und ihren Kopf gegen seine Brust pressen. Stattdessen nickte sie nur.

Er musste ein wenig Abstand gewinnen, also wandte er sich von ihr ab und ließ Wasser ins Spülbecken ein. Ginny stand einen Moment lang da und sah ihm zu, dann zog sie sich zurück.

Als er fertig war, lag sie auf dem Bett und tat so, als sei sie in ein Buch vertieft.

„Ich bin gleich zurück“, sagte Sully.

Sie nickte, ohne zu ihm aufzublicken.

Wieder hatte sie sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, wenn auch nicht so tief wie zuvor. Er hoffte, von Dan Howard etwas Neues zu erfahren, und stellte sich auf die oberste Stufe der Treppe zur Veranda, um ihn anzurufen. Dabei bemerkte er in den Büschen eine flüchtige Bewegung, kam aber zu dem Schluss, dass es sich wohl um ein paar Vögel gehandelt haben musste. Dennoch beobachtete er die Umgebung aufmerksam, um sicher zu sein, dass sich dort nichts Ungewöhnliches abspielte. Er sah, dass einige Hütten vermietet worden waren, da neben einer ein Geländewagen mit einem Bootsanhänger und neben einer anderen ein Jeep abgestellt waren. In beiden Fahrzeugen konnte er umfangreiche Angelausrüstung erkennen. Obwohl der Pegel des Flusses inzwischen ein wenig gesunken war, konnte er sich nicht vorstellen, dass es viel Sinn machte, in einem so schnellen Gewässer zu angeln. Nach einigen Minuten kamen fünf Männer aus den beiden Hütten und packten Taschen und Kleidung in den Geländewagen. Als sie Sully bemerkten, winkten sie freundlich, aber distanziert, dann fuhren sie über einen schmalen Feldweg in Richtung Flussufer.

Sully war beruhigt, dass alles in Ordnung war, und erledigte seine Telefonate. Weder Dan Howard noch Detective Pagillia in St. Louis konnten mit neuen Erkenntnissen aufwarten, allerdings erfuhr er, dass Ginnys Telefonanschlüsse zu Hause und in der Redaktion angezapft worden waren. Frustriert beendete er das Gespräch und kehrte zurück in die Hütte.

Er wollte ihren Namen rufen, als er die Tür zum Schlafzimmer öffnete, unterließ es aber, als er sah, dass sie eingeschlafen war. Das Buch war zu Boden gefallen, sie hatte sich zusammengerollt, die Füße unter ein Kissen gesteckt, und die Hände unter ihrem Kinn gefaltet, als wäre ihr kalt. Leise schloss er die Tür und ging dann zu ihr. Als er sie so friedlich schlafen sah, wurde ihm bewusst, wie einsam er war. Wie würde es wohl sein, die Freiheit zu haben, sich zu ihr ins Bett zu legen und seine Arme wie einen Schutzschild um sie zu legen? Anstatt aber diesem Drang nachzugeben, deckte er sie mit einem Laken zu und verließ die Hütte, solange sein Verstand noch die Oberhand hatte.

Carney war müde und ihm war schlecht, was ihn nur noch wütender machte. Freddie und Dale hatten ihn gut einen halben Kilometer vor den Hütten aus dem Wagen geworfen und ihn seinem Zorn selbst überlassen, da sie nichts damit zu tun haben wollten, was er plante. Hinzu kam, dass sich sein alter Herr auch noch geweigert hatte, ihm eine Hütte zu geben, weil er die für zahlende Kunden freihalten wollte. Carney war wutentbrannt aus der Rezeption gestürmt und hatte sich in die Wälder zurückgezogen, während er alle zur Hölle wünschte. Er würde dem Dreckskerl in der letzten Hütte noch viel Kummer bereiten, und danach konnten sie ihn alle mal. Er würde Mississippi für immer verlassen. Hier gab es nur noch Unerfreuliches für ihn. Wenn sich ein Mann nicht auf seine Familie verlassen konnte, dann konnte er sich auf niemanden mehr verlassen. Und ob er seine Frau jemals wieder sah, war ihm auch egal. Sie hatte ihn ohnehin immer nur genervt, er solle sich einen besseren Job suchen. Verdammt, es war doch nicht seine Schuld, dass Dachdecker nicht so regelmäßig arbeiteten wie andere Leute. Er konnte nur arbeiten, wenn das Wetter gut war, aber nicht, wenn es regnete oder zu kalt war.

Während er so dasaß, seinen Zorn schürte und gleichzeitig versuchte, den Kopfschmerz unter Kontrolle zu bekommen, sah er, wie sein Vater die Rezeption verließ, in den Wagen stieg und wegfuhr.

Carney stand abrupt auf und begann zu grinsen. Nachdem er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, ging er um das Haus seines Vaters herum und betrat es durch die Hintertür. Es roch nach angebranntem Speck und nach feuchtem, modrigem Holz, aber Carney war nicht wählerisch. Er wusste, wo sein Vater den Alkohol versteckte, und er brauchte unbedingt einen Drink. Nachdem er sich zwei Gläser Tennessee Red eingeschenkt und runtergeschüttet hatte, durchsuchte er den Kühlschrank nach etwas Essbarem. Schließlich ließ er sich in Daddys Sessel nieder, nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Bis es dunkel wurde, konnte er sich ruhig noch ein wenig die Zeit vertreiben. Er kannte seinen alten Herrn so gut, dass mit dessen Rückkehr frühestens in zwei bis drei Stunden zu rechnen war.

Carney lehnte sich zurück, genoss die kühle Luft im Zimmer und die Tatsache, dass sein Magen mit Alkohol und Essen gut gefüllt war, und schloss die Augen.

Einige Zeit später wachte er auf, als er das Schlagen einer Wagentür hörte. Daddy ist zurück! schoss es ihm durch den Kopf. Er griff nach der Fernbedienung, die ihm auf den Schoß gerutscht war, schaltete den Fernseher aus und verschwand durch die Hintertür ins nahe gelegenen Unterholz. Als er sicher war, dass ihn wiederum niemand gesehen hatte, machte er sich auf den Weg zurück zu Ginnys Hütte, wo er sich schließlich niederließ und darauf wartete, dass es dunkel wurde. Dann würde er dieser Frau einen richtigen Besuch abstatten, und diesmal würde sie allen Grund zum Schreien haben.

Sullys Telefon klingelte, als er Gemüse für das Omelett klein hackte, das er für sie zubereitete.

„Kannst du bitte mal rangehen, Ginny?“ rief er, ohne nachzudenken. Fast im gleichen Augenblick stürmte er los, das Messer noch immer in der Hand. „Tut mir Leid, tut mir Leid!“ rief er, als er nach dem Telefon griff. „Ich habe nicht daran gedacht.“

„Macht nichts, ich habe daran gedacht“, murmelte sie und nahm ihm das Messer aus der Hand.

„Schneide das Gemüse noch ein bisschen kleiner“, rief er ihr nach, als sie in Richtung Herd ging. „Ich erledige den Rest.“

Sie musste grinsen. Die Wahrheit über ihre Kochkünste war ihm schnell klar geworden. Sie konnte nicht besonders gut kochen, na und? Vielleicht würde sie irgendwo einen Kochkurs machen, wenn das hier hinter ihr lag. Sie konnte sehr wohl Kochrezepte verstehen, sie dachte nur meistens nicht daran, sie vor der Zubereitung gründlich zu lesen. Was zu einem Gericht gehörte, wusste sie, aber die Mengen und die Zeiten brachten sie immer wieder aus dem Konzept.

Sie hackte das restliche Gemüse, dann drehte sie sich um zu Sullivan, bemerkte seinen Gesichtsausdruck, während er telefonierte, und ging zurück zu ihm.

„Was ist?“ fragte sie, als er das Gespräch beendet hatte.

Sully atmete tief durch und überlegte, was er sagen sollte. Würde sie in Panik geraten? Oder würde sie die Neuigkeit nur als etwas Zwangsläufiges betrachten?

„Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren“, sagte sie ernst.

„Ich habe nicht die Absicht, dir etwas zu verschweigen“, sagte er und warf das Handy aufs Bett.

„Und? War das Agent Howard?“

„Nein, das war Pagillia von der St. Louis Police“, begann er langsam. „Man hat das Telefon in deinem Apartment wieder angeschlossen und mit einer Fangschaltung versehen. In den letzten Tagen wurde vierzehn Mal angerufen und jedes Mal wieder aufgelegt.“

Ginny schauderte. „Hat die Fangschaltung funktioniert?“

„Nein.“

„Ich kann nicht glauben, dass man heutzutage nicht mühelos herausfinden kann, von wo aus jemand anruft.“

„Pagillia hat etwas von einer Blockade am anderen Ende erwähnt“, sagte Sully. „Auf jeden Fall hat man feststellen können, dass die Anrufe aus einem anderen Bundesstaat kamen.“

Ginny ließ sich auf die Ecke des Betts fallen. Sully legte ihr eine Hand auf den Kopf.

„Geht es dir gut?“ fragte er leise.

Sie seufzte, dann blickte sie auf und nickte.

„Kann ich irgendetwas für dich tun?“ wollte er wissen. Am liebsten hätte er dafür gesorgt, dass die Verzweiflung aus ihren Augen verschwand.

Sie rang sich zu einem Lächeln durch: „Kochst du für mich?“

„Nur, wenn du mir Gesellschaft leistest.“

Er zog sie vom Bett und begleitete sie zum Tisch, Minuten später servierte er ihr ein Omelett und begab sich dann daran, für sich ebenfalls eines zuzubereiten.

„Warte nicht auf mich“, sagte er. „Das wird schnell kalt.“

Sie nahm einen Bissen und seufzte leise auf, als der Geschmack von Eiern und geschmolzenem Käse ihre Zunge verwöhnte. Das Gemüse war genau richtig, ebenso der Toast, den er dazugelegt hatte. So sollte man öfter mal verwöhnt werden.

„Weißt du, wenn du irgendwann mal nicht mehr für Uncle Sam arbeiten möchtest, kannst du dein eigenes Restaurant aufmachen. Du bist richtig gut.“

„Ich bin in vielen Dingen gut, Virginia“, gab er zurück.

Sie hielt den Atem an, während sie im Geist alle Möglichkeiten durchging, auf die diese Bemerkung zutreffen konnte. Er zwinkerte ihr zu, dann beschäftigte er sich wieder mit seinem Omelett.

Wenige Minuten später setzte er sich zu ihr an den Tisch, nahm seine Gabel und sah Ginny unschuldig an.

„Was denn? Schon satt?“

Sie blickte ihn durchdringend an und zeigte dann mit der Gabel auf ihn. „Spiel nicht den Ahnungslosen, Mister. Ich habe jedes Wort gehört.“

Sully grinste nur, nahm einen großen Bissen und verdrehte die Augen vor gespielter Begeisterung.

Am liebsten hätte Ginny ihm ihr Essen auf den Schoß gekippt, aber sie war viel zu hungrig. Also beließ sie es bei einem zweiten giftigen Blick und begann dann zu essen.

Sie hatten gerade ihre Mahlzeit beendet und spülten ab, als er die nächste Bombe platzen ließ.

„Erzähl mir von Yellowstone“, sagte er. „Was hat dir am besten gefallen?“

Ginny erstarrte in ihrer Bewegung und drehte sich zu ihm um.

„Woher weißt du, dass ich in Yellowstone war?“

„Ich habe das Foto in deinem Apartment gesehen.“

„Du warst in meinem Apartment?“

Die Verärgerung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Ich habe nach dir gesucht, erinnerst du dich?“

„Aber warum …“

Sully legte eine Hand auf ihren Arm.

„Virginia, verstehst du nicht? Ich habe geklingelt, und es wurde nicht geöffnet. Ich war besorgt.“ Er sah fort und schüttelte den Kopf, als wolle er sich der Angst entledigen, die er empfunden hatte. „Ich konnte nicht in ein Hotel gehen, ohne zu wissen, dass es dir gut geht.“

„Ach so, verstehe.“

„Also, wie war das mit Yellowstone?“

Ginny seufzte. „Das kommt mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Mom und Dad kamen noch im selben Jahr kurz vor Weihnachten ums Leben.“

„Das tut mir Leid. Was ist ihnen zugestoßen?“

Die Wut von damals kam wieder in ihr auf. „Es war so sinnlos. Aus der Heizung in ihrem Haus trat Kohlenmonoxid aus. Sie sind im Schlaf gestorben.“

Sully ließ sie weiterreden, da es nichts gab, was er dazu hätte sagen können.

„Wir hatten in dem Sommer so viel Spaß. Es war das erste Mal seit Jahren, dass wir etwas gemeinsam unternahmen … wie eine richtige Familie, meine ich. Wir waren zwei Wochen lang in einer Hütte in Yellowstone und wollten im Jahr darauf wieder dorthin fahren.“ Sie zuckte mit den Schultern und sah ihn an. Zum ersten Mal sah sie ihm direkt in die Augen. „Aber du weißt ja, was alles passieren kann, wenn man sich etwas so fest vornimmt. Ich habe das Foto behalten, um mich immer daran zu erinnern. Es ist mein Lieblingsfoto.“

„Es tut mir Leid“, sagte Sully. „Soll ich dich in meine Arme nehmen?“

Sie kämpfte gegen die Tränen an und nickte.

In seinen Armen hatte sie das Gefühl, dass seine körperliche Stärke und das kraftvolle Schlagen seines Herzens das Bollwerk waren, das sie vor der Aufgabe bewahrte. Sie standen da, ohne ein Wort zu sagen, und fragten sich beide, wie es wohl wäre, die Stufe nach der Umarmung in Angriff zu nehmen.

Plötzlich fuhr Sully zusammen. „Ich Idiot! Wie konnte ich das nur vergessen?“

„Was vergessen?“ fragte Ginny.

„Das Jahrbuch!“ sagte er. „Ich bin ja ein toller Agent. Ich habe doch völlig Georgias Jahrbuch vergessen. Es liegt bei mir im Wagen.“

„Welches Jahrbuch?“

„Ein Jahrbuch von der Montgomery Academy!“

Ginny riss die Augen auf. „Ich wusste nicht mal, dass es das gegeben hat.“

„Georgia hatte es im Kloster. So wie es aussieht, hat sie es sich kurz vor ihrem Tod von ihrer Mutter zuschicken lassen.“

„Sind wir da drin?“ fragte sie. „Ich meine … bist du sicher, dass es nicht vom Jahrgang vor uns stammt? Die Schule ist vor dem Ende des Schuljahrs abgebrannt.“

„Doch, ich bin sicher. Ich habe dein Foto gesehen. Richtig süß, wenn man auf zahnloses Lächeln steht.“

„Mach nur weiter so“, murmelte sie. „Mach dich über mich lustig, aber ich wette, deine Fotos aus der ersten Klasse sind nicht besser.“

„Sie sind viel schlimmer“, erwiderte er. „Ich hatte ein blaues Auge und ein Pflaster quer über die Nase. Das hatte ich meinem neuen Skateboard und einem geschlossenen Tor zu verdanken.“

„Autsch“, sagte Ginny lächelnd und versuchte, sich den Mann Sullivan als kleinen Jungen vorzustellen, während er zur Tür ging.

„Ich verstehe nur nicht, wie die Jahrbücher das Feuer überlebt haben“, wunderte sie sich.

Er blieb kurz stehen und erwiderte: „Ich habe nachgefragt. Sie lagen noch beim Drucker, als es geschah.“

„Möchte bloß wissen, warum ich keines bekommen habe.“

„Vielleicht haben deine Eltern keines bestellt. Oder die Schule hatte keine aktuelle Adresse, da ihr doch umgezogen wart.“

Ginny nickte. „Ja, das könnte sein.“ Dann klatschte sie erwartungsvoll in die Hände: „Ich will es sehen. Vielleicht finden wir ja etwas, das uns weiterhilft. Wo hast du es?“

„Im Kofferraum. Ich hole es schnell. Willst du hinter mir abschließen?“ fragte er, aber sie schüttelte den Kopf.

„Du bist ja direkt wieder zurück.“

Er zog die Tür zu und ging zu seinem Wagen. Aus der Ferne hörte er Grillen und Frösche. Der Jeep und der Geländewagen waren noch da, und aus einer der Hütten drang leises Lachen an sein Ohr. Wahrscheinlich erzählten sie sich Anglerlatein und tranken Bier. Vom Standpunkt eines Mannes aus betrachtet, war das meist das Beste an einem Angelausflug.

Er sah in den Kofferraum und überlegte, wo genau er das Jahrbuch hingelegt hatte, als er hinter sich Schritte auf dem Kies hörte. Er drehte sich um, war aber einen Sekundenbruchteil zu langsam. Ein entsetzlicher Schmerz breitete sich rasend schnell von der Seite seines Kopfes aus und raubte ihm das Bewusstsein.

Ginny war im Badezimmer, als sie das Quietschen der Hüttentür hörte.

„Bin gleich da!“ rief sie und trocknete die Hände ab. Sie wunderte sich, dass im Nebenzimmer das Radio auf einmal so laut gestellt wurde. Bevor sie aber etwas sagen konnte, wurde die Badezimmertür geöffnet. Aus ihrer Überraschung wurde Entsetzen und dann bodenlose Angst.

„Mach dir keine Mühe“, sagte Carney Auger. „Ich komm einfach rein.“