12. KAPITEL
Ginny dachte, sie sei allein. Gerade noch hatte sie am Pool gestanden und dem Plätschern des Wassers gelauscht, und jetzt flüsterte ihr Sully ins Ohr: „Komm mit ins Haus.“
Sie drehte sich um zu ihm und sah ihn an, wie er im Mondschein neben ihr stand. Sie wünschte sich, seine Gedanken lesen zu können.
„Bitte“, fügte er an.
Sie seufzte, und es überraschte sie beide, als sie sich von ihm in die Arme nehmen ließ und ihren Kopf an seine Brust legte.
„Ich weiß nicht, wie ich dieses Spiel spielen soll“, sagte Ginny. „Wir haben eine Linie überschritten, und ich habe das erst bemerkt, als es zu spät war. Aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich mich davon hätte aufhalten lassen, wenn es mir aufgefallen wäre.“
Instinktiv hielt er sie fest, aber die Überraschung über ihre Worte, darüber, wie sie ihm ihre Seele öffnete, war so groß, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
„Das ist auch keine Heldenverehrung“ fuhr sie fort. „Auch wenn du dich schon zweimal als mein Held entpuppt hast.“
Er schüttelte den Kopf und zwang sich, den Mund zu halten, obwohl er am liebsten auf der Stelle hier im Mondschein mit ihr geschlafen hätte. Er wollte es mehr als alles andere.
„Ich weiß, Sully, dass ich dir etwas bedeute. Aber ich weiß nicht, wie viel. Ist es deine Pflicht, die dich zu meinem Helden macht, oder ist es pure Lust?“
„Verdammt“, murmelte er und hätte sie am liebsten geschüttelt, dachte aber noch rechtzeitig an ihre Prellungen. „Das ist wieder typisch Frau. Alles und jedes muss analysiert werden.“
„Vielleicht, aber vielleicht ist es auch die Reporterin in mir. Ich muss immer alle Fakten kennen, ehe ich den nächsten Schritt mache.“
Er antwortete nicht.
Der Schmerz, von ihm abgelehnt worden zu sein, brach ihr das Herz, doch sie würde ihm nicht den Gefallen tun, es sich anmerken zu lassen.
„Tut mir Leid“, fuhr sie fort. „Ich schätze, ich habe mich zu weit vorgewagt, aber mach dir deswegen keine Sorgen. Ich werde mich nicht in ein Häufchen Elend verwandeln, nur weil mich ein Mann nicht will.“
Sie löste sich aus seiner Umarmung und fühlte einen plötzlichen Schauder.
„Weißt du was, Sully? Du hast dich geirrt. Es ist hier draußen kühler als im Haus. Jetzt bin ich müde. Richtig müde. Ich lege mich jetzt schlafen, und wenn wir morgen früh aufwachen, dann war das alles hier nur ein böser Traum.“
Er hörte an ihrer Stimme, dass sie ihre Tränen unterdrückte. Sie brachten das Fass zum Überlaufen. Ob er sich richtig verhielt oder nicht, seine Geduld war jetzt am Ende.
„Warte.“
Seine Stimme ließ sie anhalten, aber sie brachte es nicht fertig, sich zu ihm umzudrehen.
„Was ist?“ murmelte sie.
„Du glaubst, ich will dich nicht? Ich liege nachts wach und male mir aus, was ich alles mit dir machen möchte. Ich träume davon, mit dir zu schlafen, und das hat weder etwas mit meinem Job noch mit purer Lust zu tun. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber dein Gesicht wird mir für den Rest meines Lebens nicht mehr aus dem Kopf gehen.“ Er berührte sie sanft am Hinterkopf und strich über eine dunkle, seidige Haarsträhne. „Du willst die Wahrheit hören? Na gut, hier ist sie. Ich habe Angst, dich zu berühren, da ich befürchte, dass dich meine Berührung an Carney Auger erinnert, dass du nur ihn sehen wirst, wenn ich dich in die Arme nehme.“
Ginny drehte sich um. „Oh Sully, nein“, gab sie entsetzt zurück. „Niemals. Nicht mit dir. Ich bin in deinen Armen eingeschlafen, weißt du noch? Du hast mich im Krankenhaus in deine Arme genommen, und als ich am Morgen aufgewacht bin, da habe ich zutiefst bedauert, dass die Umstände nicht anders waren. So oft habe ich darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, neben dir aufzuwachen. Ich hatte erwartet, dass wir uns in jener Nacht lieben würden. Und danach auch. Ich wollte nicht verprügelt werden und hässlich und halb verrückt sein.“
Ihre Worte bohrten sich wie ein Messer in seinen Verstand und schnitten sich durch Barrieren, von deren Existenz er nichts gewusst hatte. Ohne nachzudenken zog er sie an sich, und als sie ihre Arme um seine Hüfte legte, wusste er, dass es kein Zurück mehr gab.
„Ginny, du bist so wunderschön. Hässlich war nur das, was man dir angetan hat.“
Sie sah ihn an, auch wenn sie sein Gesicht in der Dunkelheit kaum noch ausmachen konnte. Dabei wurde ihr klar, dass sie ihn gar nicht sehen musste, um die Wahrheit zu wissen. Sein Tonfall und seine sanften Berührungen sagten ihr alles.
Sie seufzte und ließ ihren Kopf an seine Brust sinken.
„Und …?“
Sully musste über Ginnys Verhalten lächeln.
„Und ich gebe zu, dass zwischen uns sehr wohl etwas ist. Wolltest du das hören?“
„Ja.“
„Kann ich sonst noch irgendetwas für dich tun?“ murmelte er. „Soll ich mich umbringen, bevor ich einen noch größeren Narren aus mir mache?“
Sie erwiderte nichts. Stattdessen standen sie einfach nur einen Moment lang da und sahen sich in die Augen.
„Ein Teil von mir fürchtet sich davor, loszulassen und dir völlig zu vertrauen. Oh … ich weiß, dass du körperlich auf mich aufpassen wirst, aber mein Herz ist in Gefahr. Im Moment muss ich glauben können, dass du mir die Wahrheit sagst.“
„Verdammt, Ginny, ich weiß nicht, was ich sonst noch …“
„Warte“, bat sie ihn und legte einen Finger auf seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Was ich damit sagen will … wenn das hier nur eine Illusion ist und du mir einfach das erzählst, was ich hören will … dann will ich davon nichts wissen.“
Verletzt und verärgert kämpfte Sully mit sich, auf der Stelle ins Haus zurückzukehren. Doch ein Teil von ihm konnte sie in gewisser Weise verstehen. Sie hatte bereits so viel verloren. Und sie war immer noch in Gefahr. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, auch noch ihr Herz zu verschenken, das das Einzige war, was sie noch besaß.
„Ich bitte dich noch mal“, sagte er, „mit ins Haus zu kommen.“
„Ja, ich glaube, es wird Zeit.“
Der Mond warf helle Lichtstreifen auf den Fußboden, als Sully sie langsam auszog. Ginny wusste, was sich abspielen würde, aber ihr kam es vor, als würde sie sich selbst aus einiger Entfernung zusehen. Nichts schien real zu sein. Ihr Kleid lag wie ein Tintenklecks auf dem Boden, das tiefe Blau verlor sich zwischen den Schatten. Sie spürte Sullys heißen Atem auf ihrem Gesicht, als er sie umfasste, um ihren BH zu öffnen. Die Kühle des klimatisierten Raums ließ ihre Brustspitzen hart werden und so wirken, als flehten sie danach, berührt zu werden.
Und das machte er dann auch.
Sie atmete heftig ein, als sie seine Zunge auf ihrer Haut spürte. Als sie merkte, dass er unendlich sanft mit seinen Zähnen an ihrem Busen spielte, riss sie ihn an sich, weil sie mehr wollte – mehr Lust und mehr Schmerz. Aber er machte nicht weiter. Noch nicht.
Während sie nach Luft schnappte, schob er seine Finger unter ihren Slip und zog ihn ihr aus.
Er beugte den Kopf vor und nahm ihr Ohrläppchen in den Mund, um mit der Zunge daran zu spielen und sich dann wieder zurückzuziehen. Die kühle Luft traf auf die Stelle, die gerade eben noch von ihm gewärmt worden war. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Dann hob er sie hoch und legte sie auf sein Bett, um sich der nächsten Stufe der Verführung zu widmen.
Fast schon objektiv sah sie ihm zu, während er begann, sich Stück für Stück seiner Kleidung zu entledigen. Sie betrachtete seine breite Brust und seinen flachen Bauch, die langen muskulösen Beine. Noch bevor er seine Shorts auszog, sah sie, wie erregt er war. Als er völlig nackt war, machte seine Größe sie sprachlos.
Er hörte, wie sie nach Luft schnappte, und sah nach unten.
„Ich werde dir nicht wehtun.“
„Das meine ich gar nicht.“
„Hast du Angst? Du musst nur Nein sagen, dann höre ich auf.“
„Nein … das auch nicht. Nichts, was du meinst.“
„Was denn?“ fragte Sully.
„Ich möchte es so sehr. Ich möchte, dass es dir genauso viel bedeutet wie mir.“
„Warum habe ich das Gefühl, dass da gleich ein ‚Aber‘ folgt?“
„Versteh mich nicht falsch.“
Er seufzte. „Ginny, ich bin so wehrlos, wie ein Mann überhaupt nur sein kann. Sag, was dir auf dem Herzen liegt. Du wirst meine Reaktion sehen, so oder so.“
„Bei diesem ersten Mal … ich weiß nicht, wie ich sein werde. Aber ich brauche es, um die schlimmen Erinnerungen zu bewältigen. Kannst du das für mich machen? Kannst du mir verzeihen, wenn ich zögere – wenn ich zurückzucke oder anfange zu weinen? Wirst du trotzdem mit mir schlafen? Ich muss die Augen zumachen und etwas anderes sehen als das Gesicht dieses Mannes über mir.“
Seine Hände zitterten, als er sich neben sie legte. Bitte, Gott, lass mich nichts falsch machen. Als er seine Hand über ihren Bauch gleiten ließ, zuckte sie leicht zusammen.
„Sully, ich …“
„Schhht. Sag nichts. Fühl es einfach. Wenn es dir hilft, Baby, dann mach die Augen zu. Und denk immer daran, dass ich es bin.“
Tränen tropften aus ihrem Augenwinkel auf das Kissen. Er stützte sich auf einem Ellbogen auf und küsste die Tränen fort. Dann begann er mit einer Reise über Ginnys Körper, die keiner von ihnen vergessen würde.
Er rutschte ans Fußende des Bettes und begann, ihren rechten Fuß zu massieren und sich langsam zur Ferse und zum Knöchel vorzuarbeiten.
Sie spürte ein leichtes Kribbeln in ihren Zehen und entspannte sich zusehends. Er legte auch ihren anderen Fuß in seinen Schoß, und nach einer Weile bewegte er sich weiter die Beine hinauf. Sie wusste, dass alles in Ordnung sein würde. Es war ihr nicht leicht gefallen, seine Hände auf ihrem Körper zu akzeptieren, aber es war gelungen. Sully ließ seine magischen Hände über ihre Waden wandern, dann über ihre Oberschenkel. Sie streichelten sie fortwährend, manchmal übten sie mehr Druck aus, wenn ein verhärteter Muskel zu spüren war, und vermischten auf eine atemberaubende Weise Schmerz mit Lust. Als seine Daumen einen Moment lang am obersten Punkt ihrer Schenkel ruhten, erkannte sie das Ziel seiner Wanderung. Der Drang, sich ihm zu öffnen, war einfach überwältigend. Umso erschrockener reagierte sie, als er sie dort nur flüchtig mit dem Handrücken berührte und dann weiter zu ihrem Bauch wanderte.
Sehr vorsichtig und immer mit Rücksicht auf ihre Prellungen bewegte er seine Hände über ihre Haut, bis Ginny es nicht mehr auszuhalten schien. Als er seine Hände um ihre Brüste legte und ihre Brustspitzen mit seinen Fingern massierte, drückte sie reflexartig den Rücken durch und presste ihre Hüfte gegen ihn. Sie begann zu stöhnen und umklammerte erst seine Arme, dann seine Hände.
„Noch nicht, Baby, noch nicht“, hörte sie ihn flüstern.
Widerwillig bohrte sie ihre Finger stattdessen in die Matratze.
Sully war fast so weit, dass er sich selbst nicht mehr unter Kontrolle hatte. Dennoch wollte er seine Lust erst erfüllt sehen, wenn sie auch so weit war. Ihr Atem fühlte sich auf seiner Haut heiß an, als er den Kopf hinunterbeugte und seine Lippen auf ihre presste. Als sie mit ihren Fingern durch seine Haare fuhr und an seiner Unterlippe zu knabbern begann, wusste er, dass die Zeit gekommen war.
Er bewegte sich geschickt und achtete darauf, nicht sein ganzes Gewicht auf sie zu verlagern. Seine Hände glitten wieder über ihre Schenkel und bewegten sich unaufhörlich nach oben, bis sie das Zentrum ihrer Lust gefunden hatten. Hier begann und endete die Lust.
„Ginny, mach die Augen auf.“
Als sie seinem Wunsch nachkam, begann er sie zu streicheln. Welche Panik sie auch immer zuvor erfasst hatte, sie war in der Wollust vergangen, die Ginny jetzt verspürte. Er hörte sie seufzen und leise stöhnen, und er streichelte sie weiter in ihrer nicht enden wollenden Ekstase. Als sie sich ihm noch mehr öffnete und er weiter in sie eindringen konnte, bäumte sie sich mit einem Mal unkontrolliert auf. Da wusste er, dass er auf dem richtigen Weg war.
Er betrachtete ihr Gesicht. Sie hatte die Augen wieder geschlossen, verloren in sich selbst und seinen Händen ausgeliefert. Das Verlangen, in sie einzudringen, war nahezu übermächtig, und er wusste, dass er etwas unternehmen musste, ehe es zu spät war.
„Baby …“
Das Flehen in seiner Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie öffnete die Augen in dem Moment, als er seine Position veränderte. Sie fühlte, wie er sich nach vorne bewegte und tief in sie eindrang.
„Sieh mich an. Sieh mich an“, drängte er sie.
Sie sah ihn an, und eine Sekunde lang schien die Zeit stillzustehen.
Ihr Körper bebte und befand sich scheinbar unendlich lang am Rand zu einem Höhepunkt. Sein Gesicht war angestrengt, seine Muskeln zuckten, während er um jeden Preis vermeiden wollte, dass sie sein Gewicht auf sich spürte und dabei nicht sah, dass er es wirklich war. Aber sie konnte ihn tief in sich fühlen, wie er sich bewegte, und sie brauchte mehr. Ohne etwas zu sagen, schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich heran.
Da wusste er, dass sie es überwunden hatte. Er ließ sich ganz auf sie herabsinken, während sie ihren Unterleib gegen seinen presste, um ihn so tief wie möglich in sich aufzunehmen.
Sie kam nur Sekunden später mit einem lauten Stöhnen, und er fühlte jedes Zusammenziehen ihrer Muskeln. Im nächsten Moment gab es für Sully kein Halten mehr.
Der Digitalwecker zeigte kurz nach vier Uhr an, als Ginny aufwachte. Sie musste zur Toilette, aber es war unmöglich, sich aus Sullys Umarmung zu lösen, ohne ihn dabei aufzuwecken.
„Sully, ich muss aufstehen.“
Er war sofort hellwach. „Ist alles in Ordnung?“
„Ja, ich will zur Toilette.“
„Okay.“
Er rollte sich zur Seite und sah ihr nach, wie das Mondlicht ihrem Körper einen silbernen Schimmer verlieh. Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, drehte er sich auf den Bauch und schloss die Augen. Die Erkenntnis, die ihn in den Schlaf begleitet hatte, war immer noch da. Er liebte sie, und das hatte nichts mit Sex zu tun. Nein, korrigierte er sich. Das stimmte so nicht. Aber er hatte noch nie zuvor mit einer Frau geschlafen, die er zugleich auch geliebt hatte. Die Kombination aus beidem hatte etwas ungeheuer Explosives an sich. Sein Beschützerinstinkt lieferte sich einen Machtkampf mit seiner Libido. Er wusste nicht, ob er Ginny auf einen Sockel stellen oder sie genau von dort herunterzerren sollte, um sie wie verrückt zu lieben.
Als er hörte, dass sie zurück ins Schlafzimmer kam, machte er ihr Platz und breitete die Arme aus. Sie legte sich zu ihm und war innerhalb weniger Sekunden wieder fest eingeschlafen. Sully lag bewegungslos da. Das war also Liebe. Aber wenn es so gut war, warum hatte er dann solche Angst?
Nach Einbruch der Dunkelheit war kräftiger Wind aufgekommen – ein Vorzeichen für einen Wetterumschwung. Lucy hoffte auf Regen. Die Blumenbeete und der Rasen konnten das gut gebrauchen. Falls es nicht regnete, würde sie am Morgen den Rasensprenger suchen und aufstellen. Emile sollte nicht nach Hause kommen, ohne alles in bester Ordnung vorzufinden.
Sie saß an ihrem Schreibtisch und ging die Post durch, die sie im Lauf der letzten Woche erhalten hatte, doch diesmal bereitete ihr diese Arbeit nicht die sonst übliche Freude. Sie musste immer nur an Phillip denken. Er hatte sich in den letzten zwei Jahren so sehr verändert. Früher war er so entgegenkommend gewesen, so hilfsbereit. Diese andere, hässliche Seite an ihm fand sie mehr als beunruhigend. Manchmal hatte sie sich sogar regelrecht vor ihm gefürchtet. Sie gab sich einen Ruck und schüttelte den Kopf. Wie lächerlich von ihr, vor dem eigenen Kind Angst zu haben.
Sie sah auf die Uhr, nachdem sie auf den letzten Brief eine Marke geklebt hatte. Es war Zeit. Phillip würde jetzt schlafen. Sie hatte gesehen, wie er eine Schlaftablette genommen hatte. Normalerweise hätte sie ihn gefragt, ob er das für eine gute Idee hielt, aber es passte hervorragend zu ihrem Plan. Mit leisen Schritten eilte sie durch den Flur, den Kassettenrekorder fest an sich gepresst. Oh, Emile würde so stolz auf sie sein, wenn er wüsste, dass sie die Initiative ergriffen hatte. Es würde funktionieren. Es musste funktionieren. Nichts durfte sich dem aufstrebenden Stern ihres Mannes in den Weg stellen, nicht einmal die Probleme ihres eigenen Sohnes.
Sie hielt den Atem an, als sie in sein Zimmer blickte. Phillip lag auf der Seite, mit dem Rücken zur Tür. Sein gleichmäßiges Atmen und das leise Schnarchen waren für sie das Zeichen, um weiterzumachen. Sie zog ihre Schuhe vor der Tür aus und schlich durch den Raum. An seinem Bett angekommen, kniete sie sich hin und stellte den Rekorder darunter. Zwar hatte sie die Lautstärke bereits eingestellt, dennoch wollte sie lange genug warten, um sicher zu sein, dass er nicht geweckt würde. Die Aufnahme sollte ja nur das Unterbewusstsein ansprechen.
Schließlich stand sie auf, betrachtete ihren Jungen und fragte sich, ob aus ihm jemals ein Mann werden würde. Sie sehnte sich nach einer Schwiegertochter, einer Frau, der sie sich anvertrauen konnte, die so häuslich war wie sie selbst und die ihr die Enkel schenken würde, nach denen sie so verzweifelt trachtete. Doch Phillip musste mehr sein als der Junge, der er war, wenn es jemals dazu kommen sollte. Die Tatsache, dass er sich nicht dem anderen Geschlecht näherte, war für sie nach wie vor ein Rätsel. Aber sie war sicher, dass alles in geordneten Bahnen verlaufen würde, wenn er erst einmal der Richtigen begegnete.
Das Band war inzwischen so weit gelaufen, dass Emiles Stimme ertönte:
Du wirst nun auf den Klang meiner Stimme hören, und zwar nur auf diesen Klang. Du wirst deinen Geist von allem befreien. Alle Gedanken werden weggewischt wie Kreide von einer Schiefertafel. Du stehst am Fuß einer langen, steilen Treppe, die zu einem wundervollen Licht führt. Du wirst auf dieser Treppe dem Klang meiner Stimme folgen, und gemeinsam werden wir in das Licht eintreten. Du mit mir. Ich mit dir.
Lucy schauderte. In all den Jahren hatte sich bei Emile mit zunehmendem Alter eines nie verändert: seine Stimme. Diese wunderbare, ansprechende, fantastische Stimme. Nach einem letzten Blick zu Phillip, der von der Stimme nicht aufgewacht war, schlich sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und griff nach ihren Schuhen. Bevor sie die Tür schloss, warf sie ihm einen Kuss zu.
„Schlaf gut, mein Liebling“, sagte sie leise. „Mutter kümmert sich um alles.“
Dan Howard warf die Akte zur Seite, die er Augenblicke zuvor erhalten hatte, und unterdrückte einen Fluch.
„Ich kann es nicht fassen, dass wir nichts davon gebrauchen können.“
Der Tontechniker zuckte mit den Schultern. „Tut mir Leid, Sir, aber wir haben unser Bestes gegeben. Es gibt keine versteckten Botschaften, keine geflüsterten Worte. Nichts, was man nicht auch so hören kann.“
„Eine verdammte Türklingel und ein Donnern irgendwo in weiter Ferne. Ich hätte auch noch etwas pfeifen können, dann hätten wir wenigstens ein bisschen Unterhaltung.“
„Es tut mir Leid, Sir. Gibt es sonst noch etwas …?“
Er ließ den Satz unvollendet und wartete darauf, dass er sich entfernen konnte, was Howard ihm auch prompt erlaubte.
Als Dan wieder allein war, dachte er darüber nach, wie weit sie mit dem Fall waren. Im Prinzip standen sie immer noch ganz am Anfang. Es gab sechs tote Frauen, aber keine neuen Spuren. Er musste Sully anrufen. Vielleicht war ihm ja die Antwort auf alle Fragen auf himmlische Weise in den Schoß gefallen.
Er kehrte zum Schreibtisch zurück, suchte Sullys Nummer heraus und rief ihn an. Erst als er auf seine Uhr sah, kam es ihm in den Sinn, dass es viel zu früh sein könnte. Andererseits wartete das Verbrechen auf niemanden, so wenig wie die Zeit.
Als das Telefon klingelte, schreckte Ginny aus dem Schlaf hoch. Ihr Herz raste, und sie versuchte, sich zu orientieren. Sie rechnete damit, dass Sully den Anruf irgendwo im Haus annahm, aber dann hörte sie Wasser laufen. Sie sah zum Badezimmer, offenbar stand er gerade unter der Dusche.
„Sully!“ schrie sie, erhielt jedoch keine Antwort.
Das Telefon klingelte unerbittlich weiter, während sie aus dem Bett sprang und zur Badezimmertür lief.
„Sully! Telefon!“
Das Wasser wurde abgestellt, und Augenblicke spätter kam er triefend nass ins Schlafzimmer gestürmt.
„Hallo?“
„Sully, ich bins, Dan.“
Sully bedeutete Ginny, dass alles in Ordnung war, und bat sie um ein Handtuch. Sie verschwand lächelnd im Badezimmer.
„Was gibt es?“ fragte Sully.
„Das Band war eine Pleite.“
„Bist du sicher?“
„Das Labor konnte nichts identifizieren, was uns irgendeinen Hinweis geben könnte.“
„Verdammt.“
„Auch auf die Gefahr hin, dich zu ärgern und Ginny in Gefahr zu bringen, wäre es mir lieb, wenn sie sich das Band anhören könnte.“
„Ich weiß nicht“, erwiderte Sully und sah zu Ginny, die mit einigen Handtüchern aus dem Badezimmer kam.
„Stimmt was nicht?“ fragte sie.
„Einen Augenblick“, sagte Sully zu Dan und berichtete Ginny, was er soeben erfahren hatte. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand. So viel hing von dieser einen Spur ab, auch ihr Leben.
„Ganz sicher?“ wollte sie wissen.
„Sie glauben, dass nichts zu finden ist, aber er will dir die Aufnahme vorspielen.“
Sie stand da, den Kopf gesenkt, den Blick auf die nasse Spur, die Sully aus dem Badezimmer hinter sich hergezogen hatte.
„Hör zu, Schatz, du musst das nicht machen. Mir wäre es ohnehin lieber, wenn …“
„Sag ihm, er soll das Band herbringen.“
Jetzt verspürte Sully einen Anflug von Panik, da sie ihm die Entscheidung aus der Hand genommen hatte. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn er es einfach hätte ablehnen können. Aber ihr Leben war zum Stillstand gekommen, und außerdem hatte Dan gesagt, es sei nichts zu hören.
„Bist du sicher?“
Sie nickte.
Sully seufzte und hob den Hörer ans Ohr. „Dan, sie will das Band hören. Aber ich warne dich. Wenn das schief geht …“
„Ich habe alles im Griff“, erwiderte Dan. „Ich bin heute Nachmittag da.“
„Ja, alles klar … ach, Dan?“
„Ja?“
„Wenn du schon herkommst, könntest du ein paar Flaschen Champagner und eine Schachtel belgische Pralinen mitbringen?“
Ginnys Augen leuchteten auf.
„Was haben wir denn zu feiern?“
„Ich habe nicht gesagt, dass es irgendetwas mit dir zu tun hat“, sagte Sully. „Bring das bitte einfach nur mit, okay?“
Dan kicherte. „Oh, ich ahne etwas. Sag bloß nicht, der mächtige Sullivan ist von seinem Sockel geholt worden.“
„Geht dich nichts an“, gab er knapp zurück. „Mach es einfach.“
„Okay, okay, fahr nicht gleich aus der Haut.“
Sully legte auf und wollte sich umdrehen, als er etwas Warmes und Weiches an seinem Bein fühlte. Ginny trocknete ihn ab! Er stand völlig ruhig da und genoss das Gefühl ihrer Hände auf seiner Haut, bis sie mit dem Handtuch zwischen seine Oberschenkel wanderte. Er drehte sich um, gab einen Wohllaut von sich und nahm ihr das Handtuch aus der Hand.
„Möchtest du oben oder unten liegen?“
„Beides“, sagte sie und überraschte ihn mit einem vergnügten Lachen.
Er schob sie nach hinten auf die Matratze und verzichtete auf einen Kuss und das Vorspiel, um sie auf der Stelle voller Leidenschaft zu lieben.