6. KAPITEL
Überall war Regen. Er kam durch die Wände, er stieg durch den Boden nach oben. Das Dach zerfloss, die Farben der Möbelstücke flossen ineinander wie in einem bizarren Albtraum. Der Boden unter ihren Füßen begann nachzugeben, und Ginny fühlte, wie sie in ihm versank. Zuerst spürte sie nur Verärgerung, weil der Schlamm ihre Schuhe verdreckte, aber es dauerte nur einige Augenblicke, bis daraus bloßes Entsetzen wurde, als sie erkannte, dass alle Versuche vergeblich waren, Halt zu finden. Donner hallte ohrenbetäubend laut und zehrte an ihrer Kraft, bis sie zu schwach war, um sich überhaupt noch zu bewegen. Wie aus dem Nichts stand ihr das Wasser auf einmal bis zu den Knien, im nächsten Moment durchtränkte es ihr T-Shirt. Sie begann zu schreien, während sie versuchte, sich an einem Ufer festzuklammern, das sich vor ihren Augen in Nichts auflöste. Als das Wasser ihre Mundwinkel erreicht hatte, warf sie den Kopf nach hinten und schrie: „Hilf mir, bitte hilf mir! Lass mich nicht ertrinken! Lass mich nicht sterben.“
Ginny erwachte und saß aufrecht im Bett. Sie schnappte nach Luft. Das Bettlaken war eng um ihre Beine gewickelt, und obwohl die Klimaanlage lief, waren ihre Haare schweißnass und klebten am Nacken. Zitternd hockte sie sich auf die Bettkante, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub den Kopf in ihren Händen.
Ein Traum. Es war nur ein alberner Traum.
Als sie sich wieder gefasst hatte, ging sie mit unsicheren Schritten ins Badezimmer und spritzte sich lauwarmes Wasser ins Gesicht. Sie wollte sich nicht wieder schlafen legen, solange die Erinnerung an den Traum noch so lebendig war. Stattdessen machte sie das Licht an der Kochnische an und goss sich einen Kaffee auf. Dabei fiel ihr Blick auf die beiden Teller in der Spüle, und sie erinnerte sich daran, dass sie nicht länger allein war. Nachdem sie sich eine Tasse eingeschenkt hatte, schlüpfte sie in ihre Turnschuhe und machte die Tür der Hütte auf. Neugierig auf den neuen Tag trat sie ins Freie und atmete die frische Luft tief ein. Der Himmel hatte sich aufgeklart, nur ein paar vereinzelte graue Wolken waren noch zu sehen.
Ginny nippte vorsichtig an der Tasse und genoss den wohltuend heißen Kaffee. Sie inspizierte gründlich die wacklige Treppe, dann setzte sie sich auf die oberste Stufe, um dort ihren Kaffee auszutrinken. Erst in dem Moment bemerkte sie, dass Sullivan Dean seinen Wagen genau hinter ihrem geparkt hatte. Sie sah zu seiner Hütte, die aber noch völlig dunkel war. Wahrscheinlich schlief er noch tief.
Ein leichter Wind fuhr durch ihr Haar und ließ es trocknen. Sie hob den Kopf und betrachtete den Himmel. Es sah nicht nach einem weiteren Unwetter aus.
Unwetter bereiteten ihr immer Unbehagen, und im Moment war ihre ganze Situation an sich schon unbehaglich genug, da konnte sie auf jedes Unwetter gut verzichten. Aus der Ferne hörte sie ein Radio und kam zu dem Schluss, dass sich wahrscheinlich der Radiowecker des Betreibers der Anlage eingeschaltet hatte. Als die Klänge abrupt verstummten, grinste sie und nahm wieder einen Schluck Kaffee. Offenbar lag sie mit ihrer Vermutung richtig, und er wollte noch nicht aufstehen.
In einem nahe stehenden Baum hörte sie einen Vogel zwitschern, die Antwort kam von irgendwo hinter ihrer Hütte. Sie stellte die Tasse auf die Stufe und ging um die Hütte herum, wo sie in den Ästen der Bäume den zweiten Vogel suchte. Dabei fiel ihr ein anderes Geräusch auf, das etwas Unheilvolles an sich hatte. Das Geräusch von rauschendem Wasser.
Der Fluss! Natürlich. Nach dem heftigen Regen musste er weit über die Ufer getreten sein. Das Bild weckte die Erinnerung an Georgia, die aus scheinbar unerfindlichen Gründen in einen solchen Hochwasser führenden Fluss gesprungen war.
Sie wandte sich ab. Die Freude über den neuen Tag war ihr vergangen. Da hörte sie, dass sich ein Fahrzeug näherte. Auch wenn sie sich einigermaßen sicher fühlte, musste sie daran denken, dass Sullivan Dean sie gefunden hatte. Das bedeutete, dass praktisch jeder andere sie auch finden konnte. Es war eine Bedrohung, die kein Gesicht hatte, und das war für Ginny der Grund gewesen, einfach wegzurennen.
Als sie zwischen den beiden Hütten vortrat, fuhr ein Pick-up am Empfang vor. Auf der Ladefläche befand sich eine Anglerausrüstung, die mit viel Lärm verrutschte, als der Fahrer kräftig auf die Bremse trat. Ginny sah, wie drei Männer lachend und laut redend aus dem Führerhaus stiegen. Einer warf eine leere Bierdose auf den Boden und griff dann auf die Ladefläche, um eine neue Dose Bier aus einer teilweise verdeckten Kühltasche hervorzuholen.
Als er den Deckel eindrückte und den ersten Schluck nehmen wollte, entdeckte er Ginny. Das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, machte sie nervös. In dem Moment wusste sie, dass sie nicht hätte stehen bleiben und zu der Gruppe sehen sollen. Sie versuchte, gleichgültig zu wirken, während sie langsam zu ihrer Hütte zurückkehrte, obwohl sie viel lieber gerannt wäre.
„Hey, Baby! Warte auf mich!“ brüllte der Mann. „Ich hab was für dich, das deine Hüften schwingen lassen wird.“
Ginny glaubte zu hören, dass die anderen Männer sagten, er solle ruhig sein, aber er war offenbar entschlossen, sie zu ignorieren.
Sie schätzte die Entfernung zur Tür ihrer Hütte auf gut zehn bis fünfzehn Meter, als sie hinter sich auf dem Kies eilige Schritte hörte. Sie drehte sich um und sah, wie der Mann auf sie zugelaufen kam.
Sie dachte nicht nach, sie reagierte einfach. Sully hatte gesagt, sie solle schreien, wenn sie ihn brauchte. Genau das machte sie jetzt.
Zwei Mal. So laut sie nur konnte.
Es war schwer zu sagen, wer von ihnen überraschter war – Ginny oder der Fremde –, als ein halb nackter bewaffneter Mann aus der Hütte zwischen ihnen gestürmt kam. Sullys Haar war zerzaust, sein Oberkörper nackt, aber sein Gesichtsausdruck und die Waffe in seiner Hand ließen keinen Zweifel an seinen Absichten. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, um zu sehen, ob sie unversehrt war, dann rief er:
„Gehen Sie in die Hütte.“
Ginny wirbelte herum und blieb erst wieder stehen, als sie die Tür hinter sich zugeworfen hatte. Sie eilte ans Fenster und sah, dass Sully den Fremden mit dem Fuß auf den Boden drückte und dessen Taschen durchsuchte, während er die beiden anderen Männer mit seiner Waffe in Schach hielt. Augenblicke später riss er den Mann hoch und wartete, bis die drei sich zurückgezogen hatten und wieder abgefahren waren. Nachdem der Pick-up fort war, sah Sully sich nach ihr um.
Ginny wäre am liebsten losgestürmt, um sich ihm vor Dankbarkeit an den Hals zu werfen, aber als er sich ihrer Hütte näherte, entschied sie sich für eine nicht so melodramatische Variante und empfing ihn einfach nur an der Tür.
„Ich schätze, ich habe überreagiert“, meinte sie.
Er wollte ihr sagen, dass sie ihm einen gewaltigen Schreck eingejagt hatte. Dass die Furcht in ihrer Stimme ihn gnadenlos aus einem tiefen Schlaf gerissen hatte. Dass sein einziger Gedanke ihre Sicherheit war, als er seine Jeans übergezogen hatte und nach draußen gestürmt war. Und dass er schreckliche Angst gehabt hatte, er könnte zu spät für sie da sein. Doch stattdessen zuckte er nur mit den Schultern und schüttelte beiläufig den Kopf.
„Sie haben nur das gemacht, was ich Ihnen gesagt habe.“
Ginny nickte. Als ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief, schlang sie ihre Arme fest um sich.
„War er betrunken?“
„Nicht nur das. Er war auch high.“
„Mein Gott“, murmelte sie. „Glauben Sie, dass sie wiederkommen?“
„Wahrscheinlich schon. Der Betreiber dieser Anlage hier ist ihr Vater.“
Ginny zuckte zusammen. „Dann haben wir bei ihm ja jetzt auch gute Karten“, meinte sie ironisch.
„Ich habe ihnen gesagt, dass Sie zu mir gehören, und dass sie Sie in Ruhe lassen sollen.“ Ihr beunruhigter Gesichtsausdruck verwunderte ihn nicht, aber er machte sich auch nicht die Mühe, etwas zu erklären. Sie konnte sich das selbst ausrechnen.
Was ihn wirklich überraschte, war die Tatsache, dass Ginny nichts dazu sagte. Stattdessen deutete sie auf die Veranda und fragte: „Könnten Sie mir bitte meine Tasse geben?“
Er drehte sich um und sah die leere Kaffeetasse, nahm sie und reichte sie ihr.
„Möchten Sie einen Kaffee?“ fragte sie, als er in die Hütte kam.
„Gerne“, sagte er. „Wenn Sie noch welchen haben.“
Ginny nickte. „Ich bin Ihnen schon wieder etwas schuldig.“
Sully berührte sie kurz an der Schulter, zog sich aber sofort wieder zurück. Mehr durfte er sich nicht gestatten.
„Wir sollten uns nicht vorhalten, wer was bei wem gut hat, okay?“
Sie lächelte, und dann holte sie ihm einen Kaffee.
Sully seufzte leise, als er ihr nachsah. Ihr T-Shirt wies knapp oberhalb des Saums ein Loch auf, außerdem hatte es eine hässlich verwaschene graue Färbung angenommen. Auch ihre Jogginghose war in keinem nennenswert besseren Zustand. Und doch wirkte sie so verdammt hübsch, dass es ihn schmerzte, ihr nicht näher sein zu können.
Er legte die Waffe auf den Tisch und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Als er sich setzte, wählte er einen Platz aus, von dem aus er sie am besten bei der Arbeit beobachten konnte. Im gleichen Moment wusste er, dass diese Angelegenheit eine zu persönliche Note annahm.
Er seufzte.
Verdammt. Hätte er doch bloß nicht in ihrem Bett geschlafen.
Als sie sich zu ihm umdrehte, überspielte er seine Empfindungen mit einem Gähnen und bedankte sich mit einem Nicken, als sie ihm die Kaffeetasse reichte.
„Da Sie ja nun schon wach sind …“
Er grinste sie an.
„Ich mache mir etwas Rührei. Für Sie auch?“
Vor die Wahl gestellt, noch ein paar Stunden zu schlafen oder ihr am Tisch gegenüberzusitzen, fiel die Entscheidung für Letzteres aus.
„Klingt gut. Soll ich Ihnen helfen?“
Ginny sah ihn aufmerksam an. „Können Sie kochen?“
„Ich bin nicht gerade schlecht darin.“
„Das ist mehr, als ich von mir sagen kann“, murmelte sie. „Nehmen Sie Ihre Tasse mit, Sie kümmern sich um den Speck.“
„Und was machen Sie?“ fragte er.
„Zusehen.“
Sully hob eine Augenbraue, als er ihr zur Kochnische folgte. Verdammt, er steckte schon tiefer drin, als ihm recht sein konnte.
Während sich Sully und Ginny ihrem Frühstück widmeten, hatte das Trio, das er vertrieben hatte, völlig andere Pläne. Carney, Dale und Freddie Auger mochten es nicht, von dem Grund und Boden verjagt zu werden, auf dem ihr Vater sein Geschäft betrieb. Sie hatten nichts weiter als eine Unterkunft für ihre dreitägige Angeltour gesucht. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie mehr Zeit mit dem Saufen als mit dem Angeln zubrachten, und es würde ganz sicher nicht das letzte Mal sein. Aber sie wussten nur zu gut, dass sie in dieser Verfassung nicht nach Hause kommen konnten. Ihre Frauen hätten ihnen das noch lange Zeit nachgetragen. Carney, der sich für Ginny interessiert hatte, war derjenige mit der größten Wut im Bauch, und er hatte in der letzten Stunde über fast nichts anderes geredet.
„Gottverdammt! Ich sags euch noch mal … ich lasse mich nich von so ’nem Drecksack auf den Boden drücken. Soll nich glauben, dass er ungeschoren davonkommt.“
Freddie saß am Steuer und machte sich nicht die Mühe, etwas zu erwidern, sondern überließ das Bemitleiden Dale, dem jüngsten der drei Brüder. Der war von klein auf ein Ja-Sager gewesen. Ganz egal, was sie machten, er war immer mit dabei, selbst wenn er wusste, dass er einen Fehler beging. Freddie hatte keinen großen Respekt vor Dale, andererseits machte es ihm aber auch nichts aus, wenn er mit dabei war.
„Kann ich voll verstehen“, sagte Dale. „Der Kerl hat kein Recht, ’ne Knarre auf dich zu richten. Du wolltest doch nur ’n bisschen Spaß haben.“
„Verdammt Recht hast du!“ polterte Carney und nahm noch einen Schluck Bier.
Sie legten einige Kilometer zurück, während sich Carney weiter betrank. Plötzlich schlug er mit der Faust auf das Armaturenbrett des Pick-ups.
„Fahr die Scheißkarre zurück“, lallte er. „Ich will zu Daddy. Wir sind zu Daddy gefahren, und ich will ihn sehen.“
„Hör auf damit, Carney, du schlägst mir noch eine Beule in meinen Wagen. Jetzt beruhige dich. Wir fahren morgen zu Daddy, wenn du wieder nüchtern bist, klar?“
„Nein, ich will sofort zu Daddy! Er wird auch nich jünger. Stell dir vor, er gibt den Löffel ab, und ich kann mich nich mal von ihm verabschieden!“ Die tränenerstickte Stimme wandelte sich zu einem Wutausbruch, der seine Gedanken nur noch wirrer werden ließ. „Das is die Schuld von dieser Schlampe! Ihre Schreierei und überhaupt. Was hat diese Schlampe gemeint, was ich von ihr wollte?“
Freddie sah ihn wütend an. „Du weißt, wie du bist, wenn du zu viel Dope intus hast. Wahrscheinlich dachte sie, du dämliches Arschloch wolltest sie vergewaltigen. So was hatte ich selbst ja auch schon befürchtet.“
„Genau, Carney, du hast ihr doch gesagt, was du von ihr wolltest“, stimmte Dale zu.
Carney schlug ihm gegen die Schulter. „Halt dein bescheuertes Maul“, murmelte er und warf die leere Bierdose aus dem Seitenfenster. „Wir suchen uns jetzt ’n Motel. Und morgen früh fahr’n wir zu Daddy, damit das klar is!“
Die beiden anderen Brüder schwiegen für den Moment, aber Carneys Wut kochte weiter. Er würde dafür sorgen, dass die Frau und der Typ bei ihr es noch bedauern sollten, was sie ihm angetan hatten.
Sully hatte sich fast fertig angezogen, als sein Handy klingelte. Er ging um das Bett herum und antwortete beim dritten Klingeln.
„Sullivan Dean.“
„Hallo, Sully. Dan Howard hier. Wie geht’s?“
Er setzte sich auf die Bettkante. „Ganz gut. Ich nehme an, der Boss hat dich angerufen.“
„Genau. Ich wollte mich mal bei dir melden und dich auf den neuesten Stand bringen. In allen sechs Städten tragen Leute für mich Daten über jedes der Opfer zusammen. Die ganze Sache bereitet mir eine Gänsehaut. Auch wenn sie sich auf den ersten Blick umgebracht haben, ist das verdammt bizarr.“
„Ich weiß, was du meinst“, sagte Sully. „Und wenn du mich fragst, ist der Fall von Schwester Mary am bizarrsten von allen.“
„Ich habe gehört, dass du sie gekannt hast. Mein Beileid.“
„Danke. Genau genommen ist sie der Grund, dass ich mich in diese Sache vertieft habe.“
„Was ist mit dieser Miss Shapiro? Glaubst du, dass sie irgendetwas weiß?“
„Nein. Sie steht Todesängste aus und versteckt sich vor der ganzen Welt und sämtlichen Telefonen. Aber sie steckt es trotzdem sehr gut weg.“
„Sonst noch etwas, das ich wissen sollte?“ fragte Dan.
„Ich bin gestern mit drei Kerlen hier aus der Gegend aneinander geraten, aber ich glaube nicht, dass es etwas Ernstes ist. Ich werde sie trotzdem mal überprüfen lassen, nur um sicher zu sein.“
„Könnten sie etwas mit dem Fall zu tun haben?“
„Nein. Ihr Dad vermietet diese Anglerhütten, in denen wir untergekommen sind. Ich glaube, das war nur eine unglückliche Verkettung von Zufällen.“
„Okay, aber wenn du irgendetwas in Erfahrung bringst, meldest du dich bei mir.“
„Mache ich. Du aber auch“, erwiderte Sully und legte auf.
Er dachte einen Moment lang darüber nach, wie er am besten vorgehen sollte, um über die drei Brüder etwas in Erfahrung zu bringen, und entschied dann, Myrna anzurufen. Wenn er sich an die örtlichen Behörden wandte, würden viele Leute mitbekommen, dass er vom FBI war, und das würde eine Aufmerksamkeit wecken, die er nicht gebrauchen konnte.
„Myrna, hier ist Sully“, sagte er, nachdem die Sekretärin seinen Anruf angenommen hatte.
„Guten Morgen, Agent Dean. Es tut mir Leid, aber der Chef ist den ganzen Tag in verschiedenen Besprechungen.“
„Ich wollte auch nicht mit ihm sprechen, sondern mit Ihnen.“
„Was möchten Sie?“
Sully grinste. Diese Frau kam gleich auf den Punkt.
„Ich weiß, dass das nicht zu Ihrer Tätigkeitsbeschreibung gehört, aber ich habe hier drei Brüder, die ich überprüfen lassen möchte. Könnten Sie für mich das Kennzeichen checken lassen und sehen, ob die drei etwas ausgefressen haben?“
„Ja, das könnte ich.“
Sully musste grinsen, als sie das könnte betonte, nicht aber das ja.
„Werden Sie das auch machen?“
„Wird mein Boss darüber sauer sein?“
Sullys Grinsen wurde noch breiter. Diese Frau war wirklich mit allen Wassern gewaschen.
„Nein, Ma’am, ich würde Sie nichts machen lassen, was Ihnen Ärger mit dem Chef einbringen könnte. Außerdem weiß Agent Howard davon, er leitet den Fall.“
„Dann brauche ich das Kennzeichen und die Namen.“
„Jawohl, Ma’am“, sagte Sully und las seine Notizen vor.
„Wäre das alles?“ fragte Myrna.
„Sind Sie sicher, dass Sie nicht mit mir zusammenarbeiten wollen?“
Sully hatte das Gefühl, ein kurzes Schnaufen gehört zu haben, unmittelbar bevor sie die Verbindung trennte.
Er steckte das Telefon in die Hosentasche und ging zu Ginnys Hütte. Es mussten Überlegungen angestellt werden, die ihre Sicherheit betrafen. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn er sie in ein sicheres Haus hätte bringen können, das besser überwacht werden konnte.
„Ich bins“, rief er und klopfte einmal an, bevor er eintrat.
Ginny saß auf dem Bett, vor sich einen Notizblock und die Kopien, die Georgia ihr geschickt hatte. Sie sah nicht einmal auf, als Sully hereinkam.
„Was machen Sie da?“ fragte er.
„Ich stelle Listen auf.“
„Listen? Welcher Art?“
„Ähnlichkeiten, Abweichungen.“
Er sah beeindruckt auf die detaillierten Notizen, die sie bislang zusammengetragen hatte.
„Woher wissen Sie das?“ fragte er und zeigte auf einen Punkt auf der Liste, die die Abweichungen in Jo-Jos Fall aufführte.
„Ich habe den Eigentümer des Lokals gefragt, in dem sie gearbeitet hat.“
„Sie hatte Unterleibskrebs?“
„Das hat er mir gesagt. Außer ihm soll niemand davon gewusst haben.“
Sully zog einen Stuhl heran und setzte sich, da sie sein Interesse geweckt hatte.
„So etwas kann bei manchen Leuten die Einstellung zum Leben radikal verändern. Vielleicht ist sie ausgerastet und wollte sich wirklich umbringen.“
„Ja, ich weiß. Aber wenn sie es darauf abgesehen hätte, sich jetzt das Leben zu nehmen, um später nicht leiden zu müssen, warum nahm sie dann keine Schlaftabletten? Wenn sie sicher war, sie würde die Schmerzen nicht ertragen können, warum will sie dann aus dem Leben gehen, indem sie sich von einem Lastwagen überfahren lässt?“ Sie sah ihn an. „Das ergibt alles keinen Sinn.“
„Zugegeben, es gibt hier viele Variablen. Keine der Frauen hat sich eine Waffe an die Schläfe gesetzt und abgezogen, aber sie haben sich alle in eine Situation begeben, die ihnen den Tod gebracht hat. Ich meine … welchen anderen Zweck soll jemand verfolgen, der ins Wasser geht?“
Ginny sprang vom Bett, da sie zu unruhig war, als dass sie noch länger hätte herumsitzen können.
„Ich weiß es nicht, verdammt! Wenn ich die Antworten hätte, müsste ich mich nicht verstecken und mich vor meinem eigenen Schatten erschrecken.“
Sully ließ sie laut werden. Ein Wutausbruch war wesentlich gesünder als permanente Todesangst.
„Was wissen Sie noch, was ich nicht weiß?“
Ginny warf die Hände in die Luft. „Keine Ahnung! Ich habe mit den Familien der Verstorbenen telefoniert. Sie auch?“
Sully lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten. „Wann haben Sie das denn alles gemacht?“
„Bevor ich St. Louis verlassen habe. Nachdem ich wusste, dass Georgia tot war.“
„Haben Sie Notizen gemacht?“
„Ich bin Reporterin, Agent Dean. Was glauben Sie, was ich gemacht habe?“
„Ich glaube, ich habe Sie unterschätzt. Und nennen Sie mich bitte Sully.“
Im nächsten Moment war Ginnys Zorn verflogen. „Tut mir Leid“, sagte sie und ließ sich auf der Bettkante nieder, nur Zentimeter von seinem Knie entfernt.
Sullys Blick fiel auf eine pulsierende Ader an ihrem Hals und auf die Schweißperlen, die sich auf ihrer Haut gebildet hatte. Sie mussten salzig schmecken.
Er gab sich einen Ruck, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige verpasst, während Ginny Shapiro nicht ahnte, in welche Richtung seine Gedanken abgeschweift waren.
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Wir sollten nur beide auf dem gleichen Wissensstand sein.“
„Ich hole meine Notizen“, sagte Ginny und beugte sich quer über das Bett, um nach dem Block zu greifen.
Sein Telefon klingelte, und Ginny erstarrte mitten in der Bewegung. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als sie sah, wie er in seine Tasche fasste.
„Ginny … ganz ruhig. Mein Telefon tut Ihnen nichts.“
Sie entspannte sich und war verlegen, dass sie so verängstigt reagiert hatte. Natürlich konnte sein Telefon ihr nichts anhaben. Was ging bloß in ihrem Kopf vor?
„Ich weiß“, murmelte sie und ging nach draußen.
Sully fluchte leise und nahm das Gespräch an. Es war Myrna.
„Der Ford, Baujahr ’95 mit dem Kennzeichen 4XJ99 aus Mississippi, ist registriert auf einen Freddie Joe Auger aus Hemphill, Mississippi. Er ist einige Male wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet worden, aber nichts Ernstes. Dale Wayne Auger, ebenfalls aus Hemphill, ist neun Mal wegen überhöhter Geschwindigkeit belangt worden, weiter nichts. Carney Gene Auger hat ein Vorstrafenregister, das länger ist als die Haare von Lady Godiva. Soll ich alles vorlesen?“
Sullys Magen verkrampfte sich. Er hätte wissen müssen, dass es nicht so einfach sein würde, wie er zuerst geglaubt hatte.
„Nein, nur die wichtigsten Punkte.“
„Etliche Verhaftungen in Verbindung mit Drogen, Diebstahl, tätlicher Angriff mit einer tödlichen Waffe. Er ist ein richtiger Musterknabe.“
„Ich nehme nicht an, dass noch ein Haftbefehl gegen ihn läuft, oder?“
„Nein.“
Sully seufzte. „Natürlich nicht, wäre ja auch zu einfach gewesen.“
„Ihr Vater Marshall Auger ist der Bruder eines örtlichen Richters. Er ist Eigentümer und Leiter eines Angelreviers am Tallahatchie River, rund 160 Kilometer nördlich von Biloxi.“
So viel wusste er selbst auch schon. „Okay, Myrna. Diesmal haben Sie bei mir aber richtig was gut. Wenn ich wieder in D.C. bin, lade ich Sie zum größten Steak der Stadt ein.“
„Ich bin Vegetarierin.“
Sully lachte. „Von wegen. Ich habe selbst gesehen, wie Sie auf der letzten Weihnachtsfeier bestimmt ein halbes Dutzend Shrimps verzehrt haben.“
„Das war ein Rückfall, darüber bin ich jetzt hinweg.“
„Myrna, darf ich Sie mal etwas Persönliches fragen?“
„Nein.“
Die Leitung wurde unterbrochen. Sully nahm sich vor, ihr Blumen zu schicken, sobald das alles vorüber war, dann stand er auf, um nach Ginny zu sehen.
Sie saß auf der Treppe vor der Hütte.
„Ich möchte Sie an einen sicheren Ort bringen.“
Beunruhigt sprang sie auf. „Warum? Um was ging es in dem Anruf? Wissen Sie, wer …“
Sully fasste sie am Arm. „Nein, nein. Beruhigen Sie sich und lassen Sie mich erklären.“
Sie verstummte, beruhigte sich aber nicht. Er erkannte, dass sie nach wie vor angespannt war.
„Es hatte nichts mit den Todesfällen zu tun. Es ging um den Kerl, der Sie heute Morgen belästigt hat.“
Ginny runzelte die Stirn. „Was hat er damit zu tun? Ich dachte, er wäre hier aus der Gegend und hätte nichts …“
„Er ist auch aus der Gegend. Sein Vater ist der Chef von diesem Laden, was bedeutet, dass er wiederkommen wird, um es noch einmal mit uns aufzunehmen. Ich habe ihn heute Morgen ganz schön auflaufen lassen.“
Ginny seufzte und fuhr sich frustriert mit den Fingern durchs Haar.
„Nein! Verdammt noch mal, nein!“
„Was meinen Sie?“
„Ich renne bereits vor jemandem weg, den ich nicht identifizieren kann. Ich werde nicht schon wieder weglaufen. Ich habe lieber einen Feind, den ich kenne. Ich werde nicht in irgendeine Stadt mitkommen. Da sind zu viele Menschen und Orte, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Ich möchte nirgendwohin, wo man mich aus dem Schatten heraus beobachten und alles notieren kann – von der Tatsache, dass ich im Schlaf weine, bis hin zur Feststellung, wie oft ich zur Toilette gehe.“
Sully war so perplex über ihre Offenheit, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte.
„Sie weinen im Schlaf?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Manchmal schon.“
Er wollte sie berühren, aber etwas sagte ihm, dass er die Distanz wahren sollte.
„Wieso?“
„Ich weiß nicht. Vermutlich träume ich. Ich kann mich nicht erinnern, aber wenn ich aufwache, merke ich, dass ich geweint habe.“
„Na so was“, murmelte er und dachte an die anderen sechs Frauen. Ob sie auch im Schlaf geweint hatten?
„Ich will nicht fort von hier“, sagte Ginny und hasste gleichzeitig ihren bettelnden Tonfall. Aber eine innere Stimme sagte ihr, da zu bleiben, wo sie jetzt war. Und sie war lange genug Reporterin, um auf diese Stimme zu hören.
Sully seufzte. „Wir werden sehen“, meinte er dann. „Wenn das mit diesen Männern eskaliert, werden Sie keine andere Wahl haben.“
„Einverstanden.“
„Zurück zu Ihren Notizen. Wollen Sie sie weiter mit mir durchgehen?“
Er bat sie darum, er verlangte es nicht, und damit stieg er ein weiteres Mal in Ginnys Achtung. Er sah so verdammt gut aus, und wenn der heutige Morgen eines gezeigt hatte, dann die Tatsache, dass er ohne Kleidung noch besser aussah. Er war gekommen, um sie zu retten. Nicht, weil er es musste, sondern im Gedenken an ihre gemeinsame Freundin Georgia. Und er war noch immer da, um sie zu retten. Sie musste gut aufpassen, damit sie sich nicht emotional zu einem Mann hingezogen fühlte, der genau genommen ein Fremder war.
Ginny deutete auf die Hütte. „Nach Ihnen … Sully.“
Sie hatte ihn beim Vornamen genannt. Er sah sie an und grinste.
Ginny blieb in dem Augenblick die Luft weg. Warum musste er aussehen wie Harrison Ford, warum konnte er nicht aussehen wie Walter Matthau?