17. KAPITEL

Dan Howard kam zur gleichen Zeit im Haus an, als Emile Karnoff Santa Fe verließ. Eine halbe Stunde früher, und der Weg der beiden hätte sich hoch oben in den Lüften gekreuzt, ohne dass der eine etwas vom anderen wusste.

Er klopfte einmal, dann trat er ein. Obwohl es über vierzig Grad im Schatten war, saß Ginny in eine Decke gewickelt auf einem Stuhl und zitterte noch immer am ganzen Leib.

Seit sie am Morgen aufgewacht war, hatte sie keine Ruhe mehr gefunden. Außerdem hatte sie sich vehement geweigert, das Radio oder den Fernseher einzuschalten, aus Angst, ihr könnte wieder etwas zustoßen. Jedes Mal, wenn Sully das Zimmer verließ, in dem sie sich aufhielt, war sie so lange angespannt, bis er zurückkehrte. Sie fühlte sich wie eine Zeitbombe, die darauf wartete, hochzugehen.

„Komm rein“, sagte Sully.

Dan betrat das Wohnzimmer. Franklin Chee war dicht hinter ihm, während Holloway und Webster Chee draußen patrouillierten, um darauf zu achten, dass kein unerwünschter Besuch auftauchte.

Dan nickte Sully zu und sah dann Ginny aufmerksam an. Sully hatte Recht. Sie war wirklich im Begriff zusammenzubrechen. Er sah es an ihren Augen.

„Na, komme ich zu spät zum Essen?“ fragte er und versuchte, ihr ein Lächeln zu entlocken, doch stattdessen zog sie die Decke noch enger um sich.

„Zu spät? Wir kommen alle zu spät“, murmelte sie und sah an ihm vorbei, als erwarte sie noch einen Besucher.

Sully runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Dan nickte. Er hatte verstanden. Es war besser, auf lockere Unterhaltung zu verzichten.

„Hast du ein Band?“ fragte Sully.

Dan reichte es ihm, und Sully schob es in den Videorekorder, startete es aber noch nicht.

„Ginny, du weißt, worüber wir gesprochen haben?“

„Ja.“

„Bist du bereit, dir das anzusehen? Es sind Ausschnitte, die Karnoff zeigen.“

„Etwa fünfzehn Minuten“, sagte Dan. „Ich bin davon ausgegangen, dass das genügt. Wenn nicht, kann ich auch mehr bekommen.“

„Wenn es so ist wie beim letzten Mal, reichen auch fünfzehn Sekunden“, meinte Sully.

„So schnell?“ murmelte Dan erstaunt.

„Allerdings“, sagte Sully.

Franklin Chee ging zu Ginny und hockte sich neben sie. Er zwinkerte ihr zu, was sie so langsam erwiderte, als hätte man sie unter Drogen gesetzt.

„Was wollen Sie? Wollen Sie zusehen, wie mein Kopf zu rotieren beginnt?“

Franklin grinste. „Das schon. Aber wenn Sie sich übergeben, bitte nicht in meine Richtung. Ich habe einen schwachen Magen.“

Ginny musste angesichts seiner Bemerkung unwillkürlich grinsen. „Sie können anderen Menschen ziemlich gut neuen Mut machen, wie?“

„Jedenfalls sagt man mir das nach.“

„Sully?“ rief Ginny.

„Ich bin hier, mein Schatz.“

„Pass auf mich auf, machst du das?“

„Natürlich.“

Sie sah sich um, dann nickte sie.

„Okay, ich bin bereit. Spiel das Band vor.“

Der erste Ausschnitt zeigte eine Pressekonferenz, die abgehalten wurde, nachdem Karnoff davon in Kenntnis gesetzt worden war, dass ihm der Nobelpreis verliehen werden würde. Er stand rechts von einem Podium, ein großer und eleganter Gentleman um die sechzig. An seiner Seite stand eine kleine, vornehm gekleidete Frau, daneben ein junger Mann, vielleicht halb so alt wie Karnoff. Er wirkte wie eine blasse Ausgabe des Preisträgers, nicht ganz so groß, nicht ganz so selbstsicher. Und ganz offenbar nicht davon begeistert, in der Öffentlichkeit zu stehen.

Ginny betrachtete das Trio und versuchte, das Gesicht mit einem Mann aus ihrer Vergangenheit in Verbindung zu bringen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Er sah zu durchschnittlich aus. Sie blickte zu Dan und Sully und zuckte mit den Schultern.

Ein Sprecher erklärte: „Meine Damen und Herren, es ist jetzt offiziell. Dr. Emile Peter Karnoff ist soeben für seine Leistungen, durch Hypnose eine körperliche Heilung zu erzielen, mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden. Dr. Karnoff, im Namen der amerikanischen Öffentlichkeit möchte ich Ihnen als Erster zu dieser Leistung gratulieren.“

Emile betrat das Podium, lächelte seine Frau und seinen Sohn an, nickte den Reportern vor dem Podium zu und räusperte sich dann.

Ginny hielt den Atem an.

„Heute ist ein bedeutender Tag für mich und meine Familie …“

Die Luft wich aus ihren Lungen, als hätte ihr jemand einen Fausthieb verpasst.

„… die so viel geopfert hat, damit ich meiner Vision folgen konnte. Mir ist eine große Ehre zuteil geworden, die aber nicht annähernd so wunderbar ist …“

Ihre Augenlider wurden schwer … so schwer. Seine Stimme zog sie völlig in ihren Bann.

„… wie das Wissen, dass meine Entdeckungen noch immer Bestand haben werden, wenn ich schon längst nicht mehr unter Ihnen weile.“

Der Klang seiner Stimme umspülte sie, und einem anerzogenen Gehorsam folgend, ließ sie es geschehen. Sie unterwarf sich der Stimme, die so warm und wohlklingend war.

Im gleichen Moment stoppte Sully das Band. Je mehr sie mit ihrem Geist experimentierten, umso gefährlicher konnte es für sie werden. Es interessierte ihn nicht, was Ginny oder sonst jemand sagte – das würde er nicht noch einmal zulassen.

„Siehst du“, sagte er. „Sie ist weg.“

Ihre Augenlider waren geschlossen, ihr Körper schien eine Art Erwartungshaltung eingenommen zu haben. Sie schlief nicht, sondern wartete darauf, dass jemand etwas mit ihr machte.

Dan berührte ihren Arm. „Ginny?“

Sie atmete langsam ein.

Sully nickte Franklin zu, der sofort zur Tat schritt.

„Ginny, hör auf meine Stimme. Dort, wo du bist, kannst du mich klar und deutlich verstehen. Ist das richtig?“

Sie nickte.

„Ich zähle gleich von fünf rückwärts. Wenn ich ‚Jetzt‘ sage, wachst du auf, fühlst dich gut und ausgeruht und du wirst dich an alles erinnern, was wir gesagt haben. Bist du bereit?“

„Ja.“

Ihre Stimme hatte einen hohlen Klang. Franklin nahm ihre Hand.

„Ich bin bei dir, du fühlst meine Hand, du hörst meine Stimme. Ich werde gleich anfangen zu zählen, und wenn ich ‚Jetzt‘ sage, wachst du auf. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Jetzt!“

Ginny atmete tief durch und sah sich lächelnd um.

„Es ist schon wieder passiert, oder? Er hat etwas damit zu tun, nicht wahr, Dan?“

Es fiel Dan schwer, das Offensichtliche abzustreiten, auch wenn er vorsichtig sein musste, da ein Mann zum Hauptverdächtigen geworden war, der im Rampenlicht stand und sich großer Beliebtheit erfreute.

„Die Möglichkeit besteht“, sagte er. „In einigen Stunden werde ich mehr wissen.“

„Worauf warten wir?“ wollte Ginny wissen. „Was fehlt uns noch, um ihn mit dem Tod der anderen in Verbindung zu bringen?“

Sully setzte sich auf die Armlehne des Sessels, in dem Ginny Platz genommen hatte, und legte seine Hand auf ihre Schulter.

„Zunächst einmal brauchen wir hieb- und stichfeste Beweise, dass er wirklich unser Mann ist. Zum Beispiel Telefonlisten, die belegen, dass er die Frauen angerufen hat, die in den Tod gegangen sind. Oder einen Beweis, dass er zum Zeitpunkt ihres Todes in der Stadt war.“

„Und wenn die Beweise nicht zu finden sind? Es ist doch offensichtlich, dass der Mann genial ist. Ich glaube nicht, dass er so dumm ist und eine Spur hinterlässt, die ihn verraten würde.“

Keiner von ihnen konnte etwas sagen. Es gab einfach nichts, was man auf Ginnys Worte hätte erwidern können.

„Ich gebe dir und deinen Leuten zwei Tage, um sein Leben zu durchforsten, und wenn dabei nichts Brauchbares herauskommt, gehe ich.“

Sully sprang auf. „Was soll das heißen, dass du gehst?“

Sie stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn hitzig an. „Ich bin es leid, das Opfer zu sein. Ich bin es leid, mich zu verstecken. So wie ich das sehe, komme ich aus meinem Versteck, dann erhalte ich einen Anruf, und dann liegt es an euch, dass ich am Leben bleibe. Wie klingt das?“

„Das ist Unsinn“, gab Sully zurück.

„Das hier auch“, konterte Ginny.

„Es ist keine gute Idee“, meinte Franklin Chee, und Dan stimmte ihm nickend zu.

„Ich habe nicht behauptet, es wäre eine gute Idee. Aber es ist, was ich machen werde.“

Als ihre Stimme leicht zitterte, erkannten die Männer, welche Beherrschung es sie kostete, sich mutig zu zeigen. Damit hatte sie sie auf ihre Seite geholt.

„Also, Jungs … spielt ihr für mich das Sprungtuch, wenn ich abstürze?“

Sully sah sie an und seufzte. „Du weißt, dass ich für dich da bin.“

„Webster und ich haben allmählich genug von der Hitze. Wenn Sie so weit sind, dann sind wir abmarschbereit.“

Dan ließ sich in einen Sessel fallen.

„Ich nehme Holloway mit, er hat einen Riecher dafür, wenn irgendwo Probleme auftauchen. Und ich organisiere die Rückendeckung. Ich habe ein paar Leute in Reserve, die wir notfalls dazuholen können. Aber fangt noch nicht an zu packen, vielleicht haben wir ja Glück. Vielleicht hat er eine so offensichtliche Spur hinterlassen, dass Sie gar nicht erst den Köder spielen müssen.“

„Danke“, sagte Ginny.

Chee nickte und ging, um die anderen über die Ereignisse zu informieren, während Dan sein Handy aus der Tasche holte und ins Nebenzimmer ging, um einige Gespräche zu führen.

„Bist du wütend auf mich?“ fragte Ginny.

Sully steckte die Hände in die Hosentaschen.

„Nein.“

„Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Aber ich muss wissen, dass du hinter mir stehst.“

„Ich stehe hinter dir. Außerdem versuche ich, den Mut zu finden, dir etwas zu sagen, obwohl ich sicher bin, dass dies nicht der ideale Zeitpunkt ist.“

„Wer weiß, ob es später einen idealen Zeitpunkt geben wird“, gab sie zurück.

„Wer weiß“, stimmte er zu.

„Es liegt an dir“, sagte sie und wollte aus dem Zimmer gehen.

„Okay.“

Sie blieb stehen und drehte sich um. „Was ist okay?“

„Ich werde es dir sagen.“

Wieder stemmte sie die Hände in die Hüften und hielt sich nur mit Mühe davon ab, unruhig mit dem Fuß zu wippen. Warten zu müssen zählte nicht zu ihren Stärken.

Sully atmete durch. Er wusste, dass das, was er sagen würde, alles zwischen ihnen verändern würde. Ob zum Guten oder zum Schlechten, würde sich erst noch zeigen …

„Sully …“

„Ja, ja, einen Augenblick noch“, murmelte er.

„Egal, was du sagen wirst, aber nichts kann schlimmer sein als das, was bislang geschehen ist.“

„Ich habe auch nicht gesagt, dass es schlimmer wird.“

Sie warf die Hände in die Luft, ihre Geduld war am Ende.

„Was denn dann, um Himmels willen?“

„Ich liebe dich. Mich interessiert nicht, ob du kochen kannst. Und es ist mir auch egal, dass du so unglaublich streitlustig bist. Es kümmert mich nicht, dass du mehr als nur deine Hälfte des Betts für dich beanspruchst. Ich möchte dich nicht verlieren, wenn das hier vorüber ist.“

Ginny war sprachlos. Die ganze Zeit war ihr bewusst gewesen, wie perfekt sie eigentlich zusammenpassten. Und sie hatte die Tatsache akzeptiert, dass sie stärker für ihn empfand als er für sie. Aber seine Worte machten alle Theorien zunichte, die sie über Sullivan Dean entwickelt hatte. Sie musste grinsen.

„Du meinst das ernst, nicht wahr?“

Er wischte sich mit einer verschwitzten Hand durchs Gesicht und wünschte sich einen harten Drink.

„Ja, völlig ernst.“

„Du liebst mich? Du meinst, wie in ‚Willst du, Ginny, diesen Mann …‘“

„Virginia. Ich mag den Namen, und du wirst zumindest das eine Mal auf ihn reagieren müssen, wenn wir heiraten.“

Ihr Lächeln wurde noch strahlender. „Heiraten.“

„Ja. Würdest du?“

„Ja, wenn du mich fragen würdest.“

Jetzt lächelte auch er und lief quer durchs Zimmer, um sie in seine Arme zu nehmen und hochzuheben.

„Baby, ich bin völlig verzweifelt. Ich habe einen Bruder, den ich mag, eine Mutter, die ihren eigenen Namen nicht mehr weiß, aber ich habe auch einen festen Job, Vergünstigungen und eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie ich meinen Lebensabend verbringen möchte.“ Er küsste sie auf den Hals und knabberte dann an ihrem linken Ohrläppchen, weil er genau wusste, wie ihr Körper darauf reagierte. „Wenn ich dich also ganz brav fragen würde, würdest du mich dann heiraten, unsere Kinder zur Welt bringen und mich an der Stelle meines Rückens kratzen, an die ich nicht herankomme?“

Ginny musste laut auflachen, da kam Dan zurück ins Zimmer.

„Habe ich etwas verpasst?“ fragte er und grinste, da er die beiden offensichtlich gestört hatte.

„Nichts Wichtiges“, sagte Ginny, als Sully sie absetzte. „Aber wenn Sie nicht zu unserer Hochzeit kommen, werden wir keines unserer Kinder nach Ihnen benennen.“

„Na, dafür werde ich schon sorgen“, jubelte er und klatschte in die Hände. „Das ist doch ein Grund zum Feiern. Hey, Sully, hast du den Champagner schon geköpft?“

„Nein, aber …“

„Wunderbar! Ich hole die Gläser.“ Er eilte aus dem Zimmer, ehe Sully etwas erwidern konnte.

Ginny drehte sich um und sah Sully an. „Ich werde dich immer lieben“, sagte sie leise.

„Danke, Baby.“

„Bedank dich nicht zu früh“, warnte sie ihn. „Du hast noch nicht meine Pasteten probiert.“

Emile saß an Lucys Bett und versuchte, seine perfekte kleine Frau in der mitgenommenen alten Frau zu finden, die dort lag. Ihr Haar war zerzaust, rote Ränder umgaben ihre Augen, die konstant Tränen absonderten. Seit fast vierundzwanzig Stunden hielt er sich jetzt schon im Krankenhaus auf, ohne irgendeine Reaktion von ihr zu erhalten. Sie murmelte immer wieder etwas von irgendwelchen Kassetten, was ihm als Thema etwas seltsam vorkam, wenn man in Betracht zog, dass ihr Sohn erst noch beerdigt werden musste.

Emile lehnte sich in seinem Stuhl so weit nach vorne, dass seine Stirn die Matratze berührte. Körper und Geist waren so erschöpft, dass er das Gefühl hatte, nicht mehr weitermachen zu können. Er war Mr. Wichtig gewesen, er hatte sich um die Gesundheit aller möglichen Menschen gesorgt und sich um das Geschäft gekümmert, aber für seine Familie hatte er nie Zeit gefunden. Sein Ego und sein Ruhm hatten vor der Familie immer Vorrang gehabt.

Lucy drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und bearbeitete das Bettlaken mit ihren Fingernägeln, als würde sie versuchen, etwas aufzuheben. Er legte seine Hand auf ihre und tätschelte sie sanft.

„Lucy, meine Liebe. Ich bin es. Emile. Ich bin hier. Du musst diese Last nicht alleine tragen.“

„… stark und entschlossen … unter dem Bett … so ein guter Junge …“

Er vergrub das Gesicht in seinen Händen.

„Dr. Karnoff?“

Er sah auf.

Lucys Arzt war ins Zimmer gekommen.

„Dr. Rader?“

„Richtig. Es tut mir Leid, Ihnen unter diesen Umständen zu begegnen, aber ich möchte Ihnen sagen, dass ich schon seit langem Ihre Arbeit bewundere.“

Emile deutete eine leichte Verbeugung an, obwohl das alles jetzt so völlig unbedeutend erschien.

„Es ist bedauerlich, dass Ihre Techniken bei einem mentalen Trauma nicht wirken“, meinte Rader. „Ich kann mir vorstellen, dass das für Sie besonders frustrierend sein muss … so vielen Menschen können Sie helfen, aber in dieser Situation nützt Ihnen all Ihre Erfahrung nichts.“

Emiles Gesichtsausdruck verriet nichts, doch am liebsten hätte er den Arzt erwürgt, weil der so taktlos mit dieser Tragödie umging.

„Wann kann ich meine Frau mit nach Hause nehmen?“ fragte er.

„Nun, Sie sehen ja, in welcher Verfassung sie sich befindet. Sie kann sich im Augenblick nicht einmal um sich selbst kümmern und …“

„Sie muss nach Hause kommen. Ich werde dafür sorgen, dass sie rund um die Uhr betreut wird.“

„Sind Sie schon zu Hause gewesen? Man hat mir gesagt, dass es dort sehr schlimm aussehen soll.“

Emiles Argument blieb ihm im Hals stecken. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er hatte sich alle Räume so sauber und wohlriechend wie immer vorgestellt, mit frischen Blumen aus Lucys Garten.

„Wir haben eine Putzfrau. Sie wird dafür sorgen, dass alles wieder in einen einwandfreien Zustand versetzt wird, auch wenn das etwas länger dauern sollte. Werden Sie sie in meine Obhut entlassen?“

Dr. Rader nickte. „In dieser besonderen Situation beuge ich mich Ihrem überlegenen Wissen, was das Wohlergehen Ihrer Frau angeht. Sie kennen sie am besten. Vielleicht holt die vertraute Umgebung sie aus dem Schock.“

Vielleicht macht es auch etwas aus, wenn sie keine bewusstseinsverändernden Medikamente mehr bekommt. Er behielt seine Meinung für sich, stattdessen streckte er seine Hand aus.

„Ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich um meine Frau kümmern.“

„Das ist doch selbstverständlich. Ich möchte Ihnen auch noch einmal mein aufrichtiges Beileid zum Verlust Ihres Sohnes aussprechen.“

„Ich werde jetzt nach Hause gehen“, sagte Emile. „Aber morgen früh werde ich sie abholen kommen.“

„Bis dahin habe ich alles Notwendige veranlasst“, erwiderte Rader und setzte seine Visite fort.

Emile drehte sich wieder zu seiner Frau um, beugte sich über sie und küsste sie auf die Wange.

„Ich muss jetzt gehen, aber morgen früh komme ich wieder und bringe dich nach Hause.“

„… unter dem Bett … unter dem Bett …“

Er seufzte und sagte dann: „Ja, ich werde unter dem Bett nachsehen.“

Zu seiner Überraschung schienen seine Worte sie zu beruhigen.

Als er im Taxi saß, rief er sich wieder und wieder ins Gedächtnis, unter dem Bett nachzusehen.

Die Fahrt kam ihm endlos vor, doch je näher er seinem Zuhause kam, umso angespannter war er. Was, wenn der Arzt Recht hatte und das Haus wirklich in Trümmern dalag?

„Alles zu seiner Zeit“, murmelte er.

„Haben Sie was gesagt, Mister?“ fragte der Taxifahrer.

„Ich führe Selbstgespräche.“

Fünf Minuten später bogen sie in die Auffahrt zum Haus ein. Emile warf das Geld auf den Vordersitz und stieg aus.

„Ich nehme mir mein Gepäck selbst aus dem Kofferraum“, sagte er.

„Schönen Tag auch noch“, meinte der Fahrer, bevor er das Grundstück verließ.

Emile stand einige Minuten lang vor dem Haus, unfähig, hineinzugehen. Die Neugierde der Nachbarn war es, die ihn schließlich weiter vorantrieb. Er war nicht in der Laune, mit irgendjemandem zu reden.

Er schaffte es mit Mühe bis ins Haus und schloss die Tür hinter sich ab. Reglos stand er da und fürchtete sich vor dem, was er vorfinden mochte.

Das Haus wirkte verlassen, als wäre mit Lucy alles Leben aus ihm gewichen. Sogar die Standuhr war stumm. Emile ging zu ihr, stellte die richtige Uhrzeit ein und gab dem Pendel einen leichten Stoß. Das vertraute Ticken gab ihm die Kraft, sich im Haus umzusehen.

Auf dem Boden entdeckte er eine dunkle Stelle, vermutlich von einem Absatz. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Menschen sich seit den entsetzlichen Ereignissen in seinem Haus aufgehalten hatten. Er fühlte sich erniedrigt, so wie ein Mann, der seine Frau beim Seitensprung erwischt hatte. Ihm kam es so vor, als würde alles, was ihm gehört hatte, auf einmal allen gehören.

Als er zur Treppe ging, wurde ihm klar, dass er gar nicht wusste, wo sein Sohn gestorben war. Er nahm an, dass es in seinem eigenen Zimmer geschehen sein musste, da er sich nur selten anderswo im Haus aufgehalten hatte. Dann aber sah er im Esszimmer die Blutflecken und das Klebeband, das markierte, wo der Leichnam gelegen hatte. Er begann zu taumeln und konnte sich gerade noch fangen.

„Phillip, mein armer Phillip. Welche Qualen hast du bloß erdulden müssen?“

Er wandte sich rasch ab und eilte auf der Treppe nach oben, voller Hoffnung, dass er im Schlafzimmer Zuflucht vor dem Schrecken finden würde. Doch als er die oberste Stufe erreicht hatte, sah er, dass das Chaos im ersten Stockwerk seinen Anfang genommen haben musste. Überall lagen zertrümmerte Möbel, und ein Strauß vertrockneter Blumen lag inmitten der Überreste einer Vase. Wie in Trance bewegte Emile sich auf das Zimmer seines Sohns zu.

Er hatte einen verwüsteten Zustand erwartet, aber mit einem solchen Ausmaß hätte er niemals gerechnet. Einen Moment lang stand er einfach nur da und versuchte vergeblich, sich den unbändigen Zorn vorzustellen, der einen Mann zu einer derartigen Tat treiben konnte. Er war zu erschöpft, um sich Gedanken darüber zu machen, wie lange es wohl dauern würde, das Chaos zu beseitigen. Gerade wollte er sich abwenden, als ihm etwas unter Phillips Bett auffiel.

In dem Moment erinnerte er sich an das Versprechen, das er Lucy gegeben hatte. Vielleicht hatte sie dieses Etwas gemeint, als sie von einem Bett gesprochen hatte. Er bahnte sich einen Weg durch das heillose Chaos, erreichte das Bett und kniete sich hin. Er zog das Objekt hervor und musste enttäuscht feststellen, dass es sich lediglich um einen Kassettenrekorder handelte.

Er stand auf und warf den Rekorder aufs Bett, dessen Deckel dabei aufsprang und eine Kassette herausrutschen ließ. Emile wollte sich einreden, dass er sich täuschte, doch die schwarze Schrift war ihm so vertraut, dass ein Irrtum unmöglich war.

Unterbewusste Botschaften – 1980 – Studien im Yarmouth Laboratory

Er nahm die Kassette und sah sie sich genauer an. Nein, er hatte sich nicht geirrt.

Es war eine von seinen Kassetten. Wie war sie in Phillips Zimmer gelangt? Sie gehörte zu einer fehlgeschlagenen Studie, mit der er hatte beweisen wollen, dass die Angst vor dem Tod der Auslöser war, der den menschlichen Körper gegen seine eigenen Krankheiten kämpfen ließ.

Die Untersuchung hatte keine Resultate ergeben, wenn man davon absah, welche Wut bei den Patienten ausgelöst wurde, die unter Depressionen litten. Er ging zur Tür, da wurde ihm etwas klar. Lucy hatte gewusst, dass die Kassette unter dem Bett versteckt war. Sie konnte das nicht bemerkt haben, als Phillip seinen Zusammenbruch erlitt. Er blieb stehen und sah noch einmal auf die Beschriftung. Was, wenn sie Phillip die Kassette gegeben hatte, weil sie glaubte, dass sie ihm bei seinen Depressionen half, während sie in Wahrheit erst das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen gebracht hatte?

„Oh Gott, bitte nicht das“, flüsterte Emile und ging ins Schlafzimmer, wo er sich unter der Last von Schuld und Verzweiflung auf sein Bett fallen ließ.

Um zehn Minuten nach eins in der Nacht stürmte Dan aus seinem Zimmer. Sully hörte ihn und stand auf. Irgendetwas war geschehen. Er wusste nur noch nicht, was es war. Er zog seine Jogginghose an und ging aus dem Schlafzimmer. Dan traf er in der Küche an, wo der sich gerade einen Snack zusammenstellte.

„Was ist los?“ fragte Sully und rieb sich verschlafen die Augen.

„Oh, tut mir Leid. Bist du von meinem Telefonat wach geworden?“

„Nein, sondern davon, dass du wie verrückt durch den Flur gerannt bist.“

Dan grinste. „Ich feiere etwas“, sagte er.

„Du hast das letzte Glas Champagner getrunken, wir haben nichts mehr.“

„Ein Wurstbrot tut es auch“, erwiderte er und bestrich ein paar Scheiben Brot mit Mayonnaise.

„Erzähl endlich“, drängte Sully. „Was ist mitten in der Nacht ein Wurstbrot wert?“

Dan schwenkte triumphierend das Messer. „Telefonlisten. Nicht von Karnoff zu Hause, sondern von einem Handy, das auf seinen Namen registriert ist. Er ist nicht so klug, wie er wohl glaubt.“

Sully sah ihn verdutzt an. „Willst du sagen, dass die Nummern passen?“

„Jede Einzelne von ihnen, sogar ein Anruf in Ginnys Apartment. Vermutlich einer von diesen Anrufen, bei denen wieder aufgelegt wurde.“

Sully ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen.

„Ich kann es nicht glauben.“

„Das ging mir auch so, aber die Aufzeichnungen lügen nicht. Wir haben genug für einen Durchsuchungsbefehl. Ich werde Karnoffs Welt mit dem größten Vergnügen in Stücke reißen.“

„Bekomme ich auch ein Brot?“

Sie drehten sich um und sahen Ginny in der Tür. Sie trug Sullys T-Shirt und lächelte die beiden an.

„Wir wollten dich nicht aufwecken“, sagte Sully und zog sie zu sich auf seinen Schoß. „Aber wenn du schon auf bist, kannst du auch gleich die gute Nachricht erfahren. Wir hatten Erfolg, Schatz. Karnoff hat von seinem Handy jedes der Opfer angerufen.“

„Oh mein Gott! Wie kann er denn so dumm gewesen sein?“

„Vielleicht ist er ein wenig abgehoben“, überlegte Dan. „Möglicherweise kennt er sich in der digitalen Welt nicht so gut aus wie bei seinen Heiltechniken. Wer weiß? Jedenfalls reise ich in ein paar Stunden ab, um so früh wie möglich in Connecticut zu sein. Ich will den Durchsuchungsbefehl persönlich übergeben.“

„Ich möchte mitkommen.“

Sully hielt sie fester umschlossen. „Auf gar keinen Fall.“

„Wie soll er mir etwas tun?“ fragte sie. „Es wird vor Polizisten wimmeln, richtig? Und wenn er einen letzten Funken Menschlichkeit besitzt, wird er den Fluch von meinem Gehirn nehmen, bevor er am nächsten Baum aufgehängt wird.“

„Ich halte das für keine gute Idee“, sagte Dan. „Vielleicht kann ich etwas arrangieren, damit Sie ihn später besuchen können.“

„Ich will den Mann nicht erst sehen, wenn er im Gefängnis sitzt. Seine einzige Hoffnung auf Strafmilderung besteht darin, dem einzigen überlebenden Opfer zu helfen.“

Sully und Dan wussten, dass sie ein gutes Argument vorgetragen hatte. Dennoch wollte keiner von ihnen ein Okay für eine Sache geben, die ganz verheerend nach hinten losgehen konnte.

„Oder ist es dir lieber“, sagte sie schließlich, „wenn die Mutter deiner Kinder eines Tages von einer Brücke springt, nur weil im Radio der falsche Song läuft?“

Sully wurde blass. „Weißt du eigentlich, dass du mit verdammt harten Bandagen kämpfst, Baby?“

„Es ist mein Leben, Sully. Lass mir die Würde, es zu leben.“

Nach nicht einmal einer Stunde hatten sie gepackt und das Haus verlassen.