5. KAPITEL

Ginny erwachte wenige Minuten nach Mitternacht. Desorientiert stieg sie aus dem Bett und sah sich irritiert um. Ein Blitz erhellte für einen kurzen Moment den Raum, und sie erkannte Wände aus grob behauenem Stein und einen schäbigen Holzfußboden. Da fiel ihr wieder ein, dass sie auf der Flucht war.

Mit der Erinnerung kehrte die Trauer zurück. Georgia war tot.

Sie taumelte ins Badezimmer und entledigte sich auf dem Weg dorthin ihrer Kleidung. Sie ignorierte den Schimmel zwischen den alten Fliesen und seifte sich ein, als würde sie sich nie von der Furcht befreien können, die in ihr Leben getreten war. Wie sollte sie gegen einen Feind antreten, den sie nicht sehen konnte?

Schließlich wurde das Wasser kalt, und ihr wurde klar, dass sie wohl den Heißwassertank geleert hatte. Sie streckte ihren Arm durch den Plastikvorhang aus und tastete so lange, bis sie das Handtuch gefunden hatte.

Nackt und mit vom rauen Frotteestoff des Handtuchs geröteter Haut durchsuchte sie den Koffer nach neuer Kleidung. Vom Regen auf dem Dach der Hütte war nichts mehr zu hören, aber sie wusste, dass sich der Sturm noch nicht gelegt hatte. Das konnte sie nur allzu deutlich wahrnehmen.

Ginny zog eine Jogginghose und ein weites T-Shirt an, dann ging sie zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite, um nach dem Schalter für die Klimaanlage zu suchen. Sie ignorierte die Staubschicht auf der Anlage und schaltete sie in der Hoffnung ein, dass sie Abkühlung brachte und zugleich die Geräusche übertönte, die der Sturm verursachte. Sie rümpfte die Nase, als sie den modrigen Geruch wahrnahm, den die Klimaanlage verbreitete. Dann legte sie sich wieder ins Bett und zog das Laken bis zum Kinn hoch. Während sie erneut schläfrig wurde, beherrschte sie der Gedanke, weiter unentdeckt zu bleiben.

Kurz nach Mittag verließ Sully die Interstate 55 in Richtung Grenada, Mississippi. Er musste tanken, außerdem war es mehr als überfällig, dass er sich bei seinem Vorgesetzten meldete. Über kurz oder lang würde sein Verschwinden auffallen, und da das FBI höchstwahrscheinlich den Fall an sich angenommen hatte, wollte er keinem Kollegen in den Weg geraten. Die Erklärung, warum er sich überhaupt ohne Rücksprache mit seinem Chef auf die Suche gemacht hatte, konnte etwas heikel werden, aber auf der anderen Seite war es seine Sache, was er in seiner Freizeit machte.

Nachdem er voll getankt und sich eine Flasche Limonade und eine Packung Erdnuss-Cracker gekauft hatte, gab er auf seinem Handy die Nummer des Büros ein.

Während er darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam, aß er einen Cracker und nahm einen Schluck Limonade.

In dem Moment hörte er die vertraute Stimme von Myrna Page, der Sekretärin seines Vorgesetzten.

„Myrna, ich bins, Sully. Ich muss den Boss sprechen.“

„Guten Tag, Agent Dean, einen Augenblick bitte.“

Unwillkürlich musste er lächeln. Er kannte die Frau seit fast sechs Jahren, und noch immer sprach sie ihn nicht mit seinem Vornamen an.

„Dean, ich hatte Ihren Anruf schon gestern erwartet.“

Sully stellte die Flasche auf den Boden und fuhr sich durchs Haar. Auch wenn sein Boss ihn nicht sehen konnte, war der Reflex, vor dem Mann Haltung anzunehmen, ihm in Leib und Seele übergegangen.

„Ja, Sir, ich weiß. Aber es ist etwas dazwischengekommen.“

„Etwas Weibliches?“

Sully seufzte. „Ja, aber nicht so, wie Sie denken.“

„Dann klären Sie mich auf.“

Sully atmete tief durch. „Ich bin in Mississippi.“

Am anderen Ende der Leitung war nach einer kurzen Pause ein leises verärgertes Schnaufen zu hören.

„Und warum?“

„Es hat als private Reise begonnen, Sir, aber ich vermute, es entwickelt sich zu einem Fall … unserem Fall.“

„Ich höre.“

„Ich nehme an, dass Sie von den Todesfällen in Verbindung mit der Montgomery Academy gehört haben. Das letzte Opfer war Schwester Mary Teresa vom Sacred Heart Convent im Norden von New York.“

„Wie zum Teufel wissen Sie etwas darüber?“

Sully zögerte. Jetzt kam der heikle Teil.

„Es hat angefangen mit dem Brief einer alten Freundin, und nachdem ich im Sacred Heart Convent gewesen war …“

„Sie waren im Kloster? Wissen Sie eigentlich, was Sie da machen?“

„Ja, Sir, das weiß ich. Und darum rufe ich auch an.“

Er begann zu erklären, was sich zugetragen hatte, und als er endete, war sein Vorgesetzter erkennbar ruhiger geworden.

„Sie sehen also, Sir, dass ich es nicht nur für meine Pflicht halte, Miss Shapiro zu finden und zu beschützen, bis der Fall gelöst ist. Es ist auch das Einzige, was ich noch für Georgia tun kann.“ Er wartete einen Moment, dann fügte er an: „Ich muss das machen, Sir, für meinen eigenen Seelenfrieden. Ich konnte Georgia nicht mehr helfen, aber Virginia Shapiro hat noch eine Chance.“

„Wissen Sie irgendetwas, das ich nicht weiß?“

„Nein, Sir. Detective Pagillia von der Polizei in St. Louis weiß so viel wie ich und so viel wie Miss Shapiro selbst. Sie ist auf der Flucht, Sir, und sie steht Todesängste aus. Lassen Sie mich sie suchen. Wenn es sicher erscheint, bringe ich sie mit, sonst bleibe ich so lange bei ihr, bis die Sache ausgestanden ist.“

Etwas in Sullys Stimme überzeugte den Chef.

„Ich verstehe Sie, auch wenn ich nicht sagen kann, dass mir Ihre Vorgehensweise gefällt. Beim nächsten Mal rufen Sie mich erst an, bevor Sie sich an eine so explosive Sache ranmachen.“

„Auf jeden Fall, Sir. Und vielen Dank.“

„Ich gehe davon aus, dass Sie sich regelmäßig melden.“

„Selbstverständlich.“

„Brauchen Sie noch irgendetwas?“ fragte der Vorgesetzte.

„Nun, gestern habe ich nach ihrem Namen suchen lassen, um zu sehen, ob sie irgendeine Spur hinterlassen hat, und dabei habe ich einen Treffer bei einem Geldautomaten erzielt. Sie war in Collins, Mississippi. Dorthin fahre ich im Augenblick.“

„Ich lasse Myrna weiter nachforschen. Haben Sie die Highway Patrol informiert?“

„Noch nicht, ich wollte mich erst bei Ihnen melden.“

„Dann warten Sie erst einmal ab, was Myrna herausfindet“, sagte er. „Ab jetzt sind Sie dazu autorisiert, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Frau zu finden und zu beschützen. Wenn Sie aber neue Informationen haben, melden Sie sich. Agent Howard leitet den Fall.“

Dan Howard war ein guter Mann. Sully war froh, dass er den Fall bekommen hatte.

„Ja, Sir, das werde ich machen.“

„Gut, das wäre es für den Moment“, sagte Sullys Chef. „Aber passen Sie auf, was Sie machen. Seit dem letzten Skandal im Weißen Haus sind die Journalisten wie die Bluthunde hinter jeder Abteilung her. Ich möchte keine negativen Schlagzeilen sehen.“

„Sie können auf mich zählen, Sir, und nochmals vielen Dank.“

„Ja ja, schon gut … finden Sie sie einfach.“ Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Sully legte das Handy zur Seite und fuhr los.

Nach nicht einmal einer Stunde klingelte es, und er fuhr an den Straßenrand, für den Fall, dass er sich etwas notieren musste.

„Sullivan Dean.“

„Agent Dean, hier ist Myrna. Ich habe Informationen für Sie.“

„Ich höre.“

„Die Kreditkarte von Miss Shapiro ist noch zwei Mal benutzt worden. Einmal gestern Abend in Tallahatchie River Landing. Dort wurde eine Hütte unter dem Namen Leigh Foster angemietet, dem Mädchennamen ihrer Mutter. Und zuletzt vor etwa einer Stunde in einem Lebensmittelgeschäft in einem Ort namens Wingate. Es sieht so aus, als hätte sie sich dort niedergelassen.“

„Können Sie mir sagen, wo ich dieses Tallahatchie River Landing finde?“

„Natürlich“, erwiderte Myrna und gab ihm die Daten durch.

„Sie sind gut, Myrna“, sagte er schließlich. „Wenn Sie irgendwann mal keine Lust mehr haben, für den Boss die Gespräche anzunehmen, könnten Sie doch als meine Partnerin arbeiten, oder?“

„Nein.“

Er kicherte. „So schlimm bin ich nicht.“

„Natürlich nicht, Sir. Gibt es sonst noch etwas?“

„Im Augenblick nicht. Ich melde mich, sobald sich etwas ergibt.“

„Gut“, erwiderte Myrna und legte auf.

Sullys Sorge legte sich ein wenig, da er nun wusste, wo sie war. Jetzt kam es nur noch darauf an, sie anzutreffen, ehe sie weiterfuhr.

Ginny schloss die Tür hinter sich ab, nachdem sie die letzte Einkaufstüte in die Hütte gebracht hatte. Das einzig Gute an dieser Hütte war die kleine Kochnische neben dem Schlafzimmer. Dadurch, dass sie hier essen und schlafen konnte, wurde der Ort zu einem perfekten Versteck. Dass es kein Telefon gab, war ein weiterer Vorteil. Wenn sie telefonieren wollte, konnte sie ihr Handy benutzen, das sie im Wagen gelassen hatte, und bei einem Notfall konnte sie sich noch immer zur Rezeption begeben. So konnte sie nicht im Halbschlaf einen Anruf entgegennehmen, der möglicherweise ihren Tod bedeutete.

Die Schränke waren zwar klein, boten aber genug Platz, um die Lebensmittel zu verstauen, die sie gekauft hatte. Milch, Eier und ein paar andere Dinge, die sie nicht der Wärme aussetzen konnte, stellte sie in den Kühlschrank. Im Tiefkühlfach war neben der Eiswürfelschale gerade genug Platz für die Portion Schokoladeneis, die sie mitgebracht hatte. Sie leerte die letzte Tüte aus und stellte die magere Ausbeute an Dosen rechts von der Spüle ab. Gerade wollte sie die Schranktür schließen, als sie ein Stück Papier unter einer der Dosen bemerkte. Neugierig holte sie es hervor und erkannte, dass es sich um den Beleg für den Kauf auf Kreditkarte handelte, den sie aufbewahren musste.

Sie nahm ihre Brieftasche, um den Beleg zu den anderen zu stecken, als sie plötzlich stutzte. Sie riss die Augen auf, ihr Herz blieb fast stehen, als sie ihren Fehler erkannte. Mit zitternden Händen durchsuchte sie ihre Handtasche und holte die übrigen Quittungen heraus, um sie vor sich auf dem Tisch auszubreiten. Die Nachlässigkeit, die sie sich geleistet hatte, war nicht zu übersehen.

„Oh nein … was habe ich getan?“

Unbeabsichtigt hatte sie eine Spur hinterlassen, die fast so gut wie eine Landkarte war, angefangen vom Tankbeleg gleich bei ihr zu Hause um die Ecke über Arkansas und Collins bis hin zum Tallahatchie River Landing. Sie hätte sich ebenso gut eine Zielscheibe auf den Rücken hängen können.

Voller Panik lief sie zum Fenster und spähte hinaus. Niemand war zu sehen. Von dem Geschäftsführer, einem Mann namens Marshall Auger, abgesehen, der in der Hütte lebte, in der sich der Empfang befand, war sie der einzige Gast. Aber wie lange würde es noch so bleiben? Sollte sie abreisen? Und wenn ja, wohin? Dieser Ort war ideal gewesen, aber sie hatte es sich selbst verdorben.

Sie sah zum Bett und überlegte, wie lange es dauern würde, um zu packen. Während sie dastand, durchdrang ein vertrautes Geräusch ihre Panik. Sie wirbelte herum und sah durchs Fenster zum Himmel, wo sich ein weiteres Gewitter zusammenbraute. Würde dieses Wetter denn nie ein Ende finden?

Da sie dem Schloss allein nicht traute, schob sie einen Stuhl vor die Tür und ließ sich auf ihr Bett fallen. Jetzt aufzubrechen, stand völlig außer Frage. Dieses entsetzliche matte Gefühl, das sie bei jedem Unwetter befiel, machte Autofahren praktisch unmöglich. Die Gefahr, in der sie schwebte, war schon groß genug, da war es nicht nötig, den Wagen zu Schrott zu fahren.

Sie wollte weinen, doch stattdessen rollte sie sich auf dem Bett zusammen. Sie starrte auf die Tür, während sie am ganzen Leib zitterte. Für den Augenblick musste sie hier bleiben, ob es ihr gefiel oder nicht.

Etwas später begann es zu regnen. Nicht so schlimm wie in der Nacht zuvor, aber so beständig, dass der Tallahatchie in erschreckendem Maß anstieg.

Sully hielt vor der Rezeption des Tallahatchie River Landing an und stellte den Motor ab. Erst jetzt fiel ihm auf, wie eisern er das Lenkrad umklammert hatte. Seine Finger waren verkrampft, ebenso seine Beine, aber wenigstens war er hier. Obwohl es bereits dunkel war, konnte er vor einer der entfernt liegenden Hütten die Umrisse eines Wagens ausmachen. Er stieg aus und lief mit eingezogenem Kopf zum ersten Gebäude. Er schlug gegen die Tür, wartete eine Minute im strömenden Regen, dann schlug er noch nachdrücklicher gegen die Tür. Drinnen wurde das Licht angemacht, und ein Bär von einem Mann kam, um ihm aufzuschließen. Sobald die Tür weit genug geöffnet war, stürmte Sully unaufgefordert hinein.

„Marshall Auger ist mein Name“, sagte der alte Mann. „Sie sind spät dran, nicht?“

„Der Regen hat mich aufgehalten“, antwortete Sully. „Ich brauche ein Zimmer.“

„Allein?“ fragte Marshall und blickte über Sullys Schulter in die Dunkelheit.

„Ja.“

„Kostet mehr, wenn jemand mit dabei ist“, schob Marshall nach.

„Ich sagte, ich bin allein“, erwiderte Sully. „Sie können es gerne nachprüfen, der Wagen ist offen.“

Marshall warf einen Blick auf den Dauerregen, dann sah er sich Sully an, dem das Wasser aus den Haaren über das Gesicht lief, und schließlich zuckte er mit den Schultern.

„Macht fünfundzwanzig plus Steuer.“

Sully legte einen Hunderter auf die Theke.

„Wie lange bleiben Sie?“

„Das werde ich Ihnen noch sagen“, erwiderte Sully.

Marshall steckte das Geld ein und gab ihm einen Schlüssel.

„Welche Hütte ist das?“ fragte Sully.

„Von hier aus die dritte“, brummte Marshall.

„Ich hätte gern die letzte Hütte“, sagte Sully und reichte dem Mann den Schlüssel zurück.

„Schon weg. Die daneben?“

„Ja, auch gut“, meinte Sully. „Solange ich keine Familie mit einem Rudel Kinder neben mir habe.“

„Nee, nur ‘ne Frau. Sehr ruhig.“

Ha! Da habe ich die Antwort und musste nicht mal fragen. „Sehr gut“, sagte Sully und nahm den anderen Schlüssel an sich, den der Mann ihm hinhielt.

„Fernsehen und Telefon gibts in den Hütten nicht“, fügte Marshall an. „Das hier ist ein Camp für Angler. Wenn Sie was anderes erwartet haben, dann haben Sie Pech.“

„Ich brauche nur etwas, wo ich schlafen kann“, entgegnete Sully.

„Träumen Sie was Schönes“, sagte Marshall und bleckte seine gelblichen Zähne, als er ihn breit angrinste.

Sully rannte zum Wagen zurück und fuhr an den Hütten entlang, hielt aber nicht an der, die Marshall ihm gegeben hatte, sondern blieb erst hinter dem anderen Wagen stehen. Ein kurzer Blick auf das Kennzeichen verriet ihm, dass er Virginia gefunden hatte.

Er wollte aussteigen, zögerte dann aber. Durch die Fenster drang kein Licht, und wahrscheinlich schlief sie längst. Sollte er sie jetzt wecken und dabei riskieren, ihr noch mehr Angst einzujagen, oder sollte er bis zum Morgen warten? Sein Instinkt sagte ihm, sofort zu handeln. Zu viele Menschen hatten schon sterben müssen, da konnte er keine Rücksicht auf Anstandsregeln nehmen.

Auf dem Weg zur Tür dachte er an das Foto, auf dem sie mit ihren Eltern zu sehen war. Fröhlich lachend. Er ballte die Hand zur Faust und schlug kräftig gegen die Tür.

Ginny war augenblicklich hellwach und drückte das Laken an sich, während sie aufrecht im Bett saß. Jemand schlug gegen die Tür! Sie bewegte sich nicht, während ihr Herz raste. Vielleicht hatte sich jemand geirrt und ging gleich weiter.

Tatsächlich kehrte Ruhe ein, aber die Hoffnung, die in ihr aufkam, wurde sofort zunichte gemacht, als wieder geklopft wurde. Diesmal hatte sie sogar das Gefühl, jemand würde ihren Namen rufen. Das konnte nicht sein! Sie hatte sich mit Leigh Foster eingetragen, und trotzdem kam es ihr so vor, als hätte jemand ihren wahren Namen benutzt.

Voller Panik sprang sie mit einem Satz aus dem Bett und suchte den Raum nach etwas ab, das sie als Waffe benutzen konnte. Gerade griff sie nach einem Schürhaken neben dem Kamin, als sie den Fremden wieder hörte.

„Miss Shapiro! Miss Shapiro! Lassen Sie mich bitte herein!“

Sie schlich zum Fenster, sah vorsichtig nach draußen und konnte die Umrisse eines Mannes ausmachen, der vor ihrer Tür stand.

„Gehen Sie fort!“ schrie sie. „Hier gibt es niemanden, der so heißt.“

Das Klopfen hörte auf. Sie ging zur Tür und drückte ein Ohr auf das Holz, während sie hoffte, dass der ungebetene Besucher sich entfernte.

Sully atmete langsam durch und versuchte, das Rinnsal zu ignorieren, das vom Dach genau in seinen Kragen lief.

„Miss Shapiro, ich bin Sullivan Dean. Georgia war eine gute Freundin von mir. Sie hat mir die gleichen Informationen geschickt wie Ihnen. Ich suche seit zwei Tagen nach Ihnen. Lassen Sie mich bitte herein. Wir müssen uns unterhalten.“

Ginny stöhnte auf. Sollte das tatsächlich der Mann sein, den Georgia in ihrem Brief erwähnt hatte? Sollte sie ihm glauben?

„Wie kann ich Ihnen trauen?“ fragte sie.

Sully seufzte. „Ich weiß nicht, was ich Ihnen erzählen soll“, sagte er. „Vielleicht könnten Sie ja die Verandabeleuchtung einschalten, dann kann ich Ihnen meine Dienstmarke zeigen.“

„Dienstmarke?“

„Ja, Ma’am“, sagte Sully. „Ich bin FBI-Agent. Bitte, Ma’am, könnten Sie …“

Das plötzlich eingeschaltete Licht blendete Sully, der sein Gesicht mit einer Hand abschirmte, während er mit der anderen nach seiner Marke griff. Rechts von ihm wurde der Vorhang ein Stück zur Seite geschoben, und er konnte verschwommen ein dunkles Augenpaar und die Umrisse eines Gesichts sehen. Dann wurde der Vorhang wieder geschlossen.

„Oh Gott, hoffentlich ist das kein Trick“, murmelte Ginny und öffnete langsam die Tür.

Sully sah sie, wie sie im Halbdunkel der Hütte stand und den Schürhaken in der Hand hielt. Obwohl sie hoch gewachsen war und eine behelfsmäßige Waffe hatte, die durchaus todbringend sein konnte, war er äußerst überrascht, wie zerbrechlich sie aussah.

„Miss Shapiro?“

„Ja.“

„Kann ich hereinkommen?“

Ginny zögerte, dann trat sie zur Seite, hielt den Schürhaken aber nach wie vor fest umschlossen.

Sully machte das Licht an, als er eintrat, dann schloss er die Tür hinter sich. Um seine Füße herum bildeten sich sofort kleine Pfützen.

„Wenn Sie einen Mop oder etwas Ähnliches haben, dann könnte ich …“

Ginny schüttelte den Kopf und deutete auf einen Stuhl.

„Bitte … nehmen Sie Platz.“

„Den mache ich auch noch nass“, sagte er.

„Das wird schon wieder trocknen.“

Er setzte sich hin.

Ginny fuhr sich nervös durchs Haar und erinnerte sich daran, dass sie bis gerade eben noch fest geschlafen hatte. Sie musste schrecklich aussehen. Sie sah Sully nervös an, dann blickte sie zur Seite, während der Schürhaken sanft auf dem Boden aufschlug.

Sully blickte sie eindringlich an, sah ihr zartes Gesicht an und fragte sich, wie es wohl wäre, für den Rest seines Lebens jeden Morgen neben einer Frau aufzuwachen, die so aussah wie sie.

„Könnten Sie …“

„Würde es Ihnen etwas ausmachen …“

Sie sprachen gleichzeitig, brachen ab, unternahmen einen weiteren Anlauf und verstummten dann abermals.

Sully wischte sich über sein Gesicht. „Sie zuerst.“

Ginny zögerte. „Ich bringe Ihnen ein Handtuch.“

Sully sah ihr nach, wie sie das Zimmer verließ, und wandte sich sofort ab, als er merkte, dass sein Blick von ihren langen Beinen angezogen wurde. Er war hergekommen, um ihr zu helfen, nicht, um mit ihr zu schlafen.

Sie reichte ihm das Handtuch und machte einen Schritt nach hinten, noch immer nicht im Klaren darüber, ob sie einen Mörder oder einen Retter in ihre Hütte gelassen hatte.

Sully rieb sich die Haare trocken, dann wischte er sich das Gesicht ab.

„Wenn Georgia eine gute Freundin von Ihnen war, warum haben Sie dann nach mir gesucht, obwohl sie bereits tot ist?“

Er erwiderte nichts, sondern nahm die Angst in ihrer Stimme wahr. Zwar konnte er Ginny verstehen, trotzdem fühlte er sich ein wenig verletzt, dass sie seine Motive anzweifelte, nachdem er so fieberhaft nach ihr gesucht hatte.

„Sie hat mich um Hilfe gebeten, und ich bin zu spät gekommen, um sie zu beschützen. Offenbar haben Sie ihr eine Menge bedeutet, und sie hat mir viel bedeutet.“ Seine Stimme versagte, und er blickte fort, da er nicht wollte, dass seine Gefühle für sie so offen erkennbar waren.

Doch dafür war es schon zu spät. Ginny hatte die Träne gesehen und das Zittern in seiner Stimme bemerkt. Das genügte ihr. Sie machte einige Schritte nach vorne und berührte Sully kurz an der Schulter, ehe sie sich wieder zurückzog.

„Es tut mir Leid“, sagte sie. „Aber Sie müssen verstehen, dass ich entsetzliche Angst habe.“

Etwas in ihrem Blick veranlasste ihn aufzustehen. Ihre Augen flehten um Hilfe.

„Ich weiß“, sagte er sanft. „Ich bin so schnell hergekommen, wie ich konnte.“

Plötzlich begann Ginny zu weinen, und Sully legte seine Arme um sie.

„Jetzt mache ich Sie auch noch ganz nass“, sagte er heiser und versuchte, einen Schritt zurückzutreten.

Ginny schluchzte und sah ihn an. Ob seine Kleidung durchnässt war oder nicht, kümmerte sie im Augenblick nicht.

„Sie werden mich nicht sterben lassen?“

Er stieß einen lautlosen Fluch aus, dann zog er sie wieder dicht an sich.

„Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich Sie nicht sterben lasse.“

Ginny versteifte sich, als sie über die Bedeutung seiner Worte nachgedacht hatte.

„Das könnte schwieriger sein, als Sie glauben.“

„Wie meinen Sie das?“

Sie deutete auf den Tisch, auf dem sie ihre Kreditkartenbelege ausgebreitet hatte.

„Meine Kreditkarte. Ich habe nicht darüber nachgedacht.“

„Ja, davon weiß ich“, sagte er. „Aber das geht schon in Ordnung.“

„Sie wissen davon?“

Er unterdrückte ein Lächeln. „Was glauben Sie, wie ich Sie gefunden habe?“

Sie warf einen beunruhigten Blick in Richtung Tür.

„So einfach ist das nicht“, fügte er an, um sie zu beruhigen. „Ich habe Zugriff auf mehr Informationen als normale Menschen.“

„Und wie kommen Sie auf die Idee, dass derjenige, der für all das verantwortlich ist, ein normaler Mensch ist?“

Sully seufzte. „Es war nicht so scherzhaft gemeint, wie ich es gesagt habe. Tut mir Leid.“

„Entschuldigung angenommen“, sagte sie und fügte dann an: „Ich glaube, ich schulde Ihnen was.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ein Dankeschön.“

Sully gestattete sich ein schwaches Lächeln. „Ich habe gar nichts getan.“

„Oh doch, das haben Sie“, sagte Ginny. „Sie sind hier.“

Er blickte sie wieder an und hatte das Gefühl, sie erst jetzt zum ersten Mal richtig wahrzunehmen. Ihr dunkles schulterlanges Haar und ihre auffallend blauen Augen machten ihr Gesicht zu einem unvergesslichen Anblick, daran zweifelte er nicht im Geringsten. Aber am viel sagendsten war ihr markantes Kinn. Diese Frau gab nicht so schnell klein bei.

„Tja, so bin ich nun mal“, sagte er und blickte auf den Boden, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. „Die Pfütze, in der ich stehe, wird mit jedem Augenblick größer. Ich gehe mich besser umziehen, bevor wir noch beide in den Fluss gespült werden.“

Ginny sah ihn beunruhigt an. Er war gerade erst gekommen, und jetzt wollte er schon wieder fort.

„Wohin gehen Sie?“ fragte sie. Sie hasste das Zittern in ihrer Stimme.

„Nur nach nebenan. Ich habe die nächste Hütte gemietet. Es wird Ihnen nichts passieren, Miss Shapiro, aber wenn Sie Angst bekommen, schreien Sie nach mir. Ich bin nur ein paar Schritte von Ihnen entfernt.“

Sie verabscheute den Gedanken, dass er sie tatsächlich allein lassen wollte, und bot ihm an: „Ich könnte Ihnen eine Suppe heiß machen.“

Sully zögerte. Er wollte seine nasse Kleidung loswerden und sich schlafen legen, aber er spürte, dass sie noch nicht so weit war, um wieder allein gelassen zu werden.

„Wissen Sie was“, sagte er. „Wie wäre es, wenn ich erst einmal meine Tasche auspacke und mir etwas Trockenes anziehe? In einer Viertelstunde bin ich wieder da.“

Aus Verlegenheit, dass sie ihn praktisch angefleht hatte, noch zu bleiben, fügte sie an: „Gut, aber nur, wenn Sie wirklich etwas essen möchten. Ansonsten ist das für mich auch kein Problem.“

Er bewunderte ihre Art, wie sie versuchte, so mutig zu sein.

„Ich weiß“, sagte er. „Aber eine Suppe wäre jetzt wirklich eine gute Sache.“

Sie sah ihn erleichtert an und lächelte, als sie sich zur Kochnische begab.

„Es dauert nicht lange“, erklärte er, aber sie hatte bereits einen Kochtopf bereitgestellt und suchte nach einem Dosenöffner.

Auf dem Weg zurück zum Wagen beeilte er sich nicht. Er war bereits so durchnässt, dass es nicht schlimmer kommen konnte. Stattdessen holte er in aller Ruhe seine Tasche und ging dann zur nächsten Hütte. Seinen Wagen ließ er nebenan stehen. Wenn jemand nach Ginny suchte, würde er bei zwei Autos vor ihrer Hütte sicher nachdenklich werden. Für sie beide konnte das den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.

Die Scharniere quietschten, als er die Tür zu seiner Unterkunft öffnete. Er schaltete das Licht ein und verzog das Gesicht, als er die Tür hinter sich schloss. Es sah hier nicht besser aus als in ihrer Hütte, aber er war auch nicht wegen der Bequemlichkeiten hier. Er stellte seine Tasche vor das Bett, fand sofort das Badezimmer und zog sich die nasse Kleidung aus. Keine zehn Minuten später hatte er geduscht und war bereits auf dem Weg zu Virginia Shapiro.

Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, trotzdem beeilte er sich. Er klopfte kurz an und umfasste den Türgriff. Zu seiner Erleichterung hatte sie nicht abgeschlossen.

Ginny drehte sich um, als sie die Tür und Schritte hörte, beruhigte sich aber sofort, als sie sah, dass er es war.

Dean. Sullivan Dean. Sie versuchte noch immer, sich an seinen Namen zu gewöhnen.

„Die Suppe ist fertig. Sage ich zu Ihnen Mr. Dean oder Agent Dean oder …“

„Sully. Nennen Sie mich einfach Sully.“

„Aber nur, wenn Sie Ginny zu mir sagen.“

Er grinste. „Stimmt. Harry Redford hat mir gesagt, dass Sie auf nichts anderes reagieren.“

Ginny riss die Augen auf. „Sie kennen Harry?“

„Wir haben uns getroffen“, sagte Sully knapp. „Er ist besorgt um Sie.“

Sie füllte die Suppe in zwei Teller.

„Es ist schön, für ihn zu arbeiten. Ich mag ihn.“

Sully nickte. „Riecht gut.“

Ginny stellte die beiden Teller auf den Tisch. „Das ist Fleischbrühe mit Gemüse. Es kommt aus der Dose, ich habe nur etwas Wasser dazugegeben und das Ganze erhitzt. Möchten Sie eine Scheibe Toast dazu haben?“

„Gerne“, erwiderte Sully. „Kann ich mich irgendwie nützlich machen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich mache das schon. Nehmen Sie etwas in Ihren Kaffee?“

„Einfach nur schwarz“, sagte Sully, als sie die Tasse neben seinen Teller stellte.

Sie saßen sich gegenüber und aßen schweigend, das einzige Geräusch stammte von einem der Löffel, wenn er den Teller berührte.

Ginny hatte die lange feine Narbe nahe seinem linken Ohr bemerkt und ihren Verlauf bis zum Genick mit einem Blick erfasst, wollte sich aber keine Gedanken darüber machen, wie er sie sich zugezogen hatte. Alles in allem war er ein großer Mann mit breiten Schultern. Seine Beine waren lang und muskulös, und sie konnte ihm ansehen, dass er ins Fitnessstudio ging. Allerdings war es wohl so, dass er in seinem Beruf zwangsläufig fit sein musste. Er hatte kurzes und dichtes Haar, das ein wenig heller war als seine tiefbraunen Augen. Auf einmal bemerkte sie, dass er sie dabei ertappt hatte, wie sie ihn anstarrte.

„Tut mir Leid“, sagte sie. „Das wollte ich nicht, aber hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie Harrison Ford ähnlich sehen?“

Er verzog das Gesicht. „Kann schon sein.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Das war nur eine Feststellung.“

Sie stand auf und brachte ihren Teller und die Tasse zur Spüle. „Noch etwas Kaffee?“

„Dann werde ich nicht schlafen können“, sagte er.

Ginny sah auf die Uhr. „Apropos Schlafen. Sie müssen doch hundemüde sein, es ist schon nach drei Uhr.“

Sully deutete das als Aufforderung zum Gehen. „Vielen Dank für die warme Mahlzeit.“

Ginny nahm ihm den Teller aus der Hand. „Darum kümmere ich mich“, sagte sie. „Es war mir ein Vergnügen.“

Jetzt, wo es Zeit war zu gehen, fühlte Sully ein gewisses Bedauern, dass er sie verließ.

„Ich bin gleich nebenan.“

Sie nickte.

„Wenn Sie etwas brauchen oder wenn irgendetwas los ist, rufen Sie einfach, ich habe einen sehr leichten Schlaf.“

„Das werde ich machen.“

„Also gut … und Sie sind sicher, dass alles in Ordnung ist?“

„Ja … jetzt, da Sie hier sind.“

Das Vertrauen, das sie ausstrahlte, hatte etwas Angst Einflößendes. Sullys Herz stockte kurz, als er zur Tür ging. Oh Gott, lass mich das nicht verderben. Er öffnete die Tür und sah sich zu ihr um. Ginny stand da und starrte ihn an. Er wollte etwas sagen, aber es gab nichts, worüber er hätte reden können. Stattdessen nickte er ihr zu und schloss die Tür hinter sich. Sekunden später hörte er, wie sie abschloss.

Der Wind wehte ihm die Haare aus dem Gesicht, während er vor der Tür stand und darauf wartete, dass sie das Licht ausmachte. Es hatte aufgehört zu regnen, dafür kamen ihm Dunstschwaden entgegen. In der Ferne konnte er das Rauschen eines Flusses hören. Dann machte Ginny das Licht in ihrer Hütte aus.

Er wandte sich um und betrachtete die Umgebung, bis er sicher war, dass niemand sonst sich dort aufhielt. Dann ging er in seine Hütte, setzte sich auf die Bettkante und holte sein Telefon aus der Tasche.

„Sir, hier ist Agent Dean.“

„Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?“ hörte er die verschlafene Stimme seines Vorgesetzten.

„Ja, Sir. Tut mir Leid, Sir. Aber ich wollte Sie wissen lassen, dass ich sie gefunden habe.“

„Gute Arbeit. Ich informiere morgen Agent Howard.“

„Ja, Sir.“

„Und wie schätzen Sie die Lage ein?“

Sully seufzte und dachte an die Frau, die sich in seinen Armen ausgeweint hatte. „Sie hat Angst, aber sie ist zäh, wenn man ihre Situation bedenkt.“

„Ist ihr Aufenthaltsort sicher?“

„Darüber könnte man diskutieren, aber ich lasse es Sie wissen, wenn wir weiterfahren. Ich nehme nicht an, dass Sie irgendwelche Erkenntnisse gewonnen haben.“

„Nein. Und jetzt schlafen Sie endlich.“

„Ja, Sir, das hatte ich auch vor.“

„Ach … Sully?“

Sullys Gesicht verriet seine Überraschung. Der Boss sprach seine Agenten normalerweise nicht mit dem Vornamen an.

„Ja, Sir?“

„Gut gemacht.“

„Ich würde mich gern für Ihr Lob bedanken, aber um ehrlich zu sein, haben wir das Schwester Mary Teresa zu verdanken. Sie hat den Zusammenhang erkannt. Ich bedauere nur, dass ich sie nicht auch retten konnte.“

„Das ist Schicksal. Jetzt schlafen Sie erst mal, und melden Sie sich, sobald es etwas Neues gibt.“

Sully legte das Telefon auf den Nachttisch und ging zum Fenster, um einen letzten Blick auf den Parkplatz zu werfen. Das Licht der einzigen Lampe an der Hütte, in der sich der Empfang befand, spiegelte sich in den Pfützen, während das Summen von Ginnys Klimaanlage das einzige Geräusch in der Nacht war.

Beruhigt schaltete er auch seine Klimaanlage ein, als ihm auf einmal klar wurde, dass er Ginny so nicht hören konnte, wenn sie nach ihm rief.

Stattdessen öffnete er das Fenster neben seinem Bett und legte seine Waffe neben sein Telefon. So erschöpft und müde er aber auch war, es dauerte noch lange, bevor er endlich einschlief.