15. KAPITEL

Ginny stöhnte im Schlaf und wälzte sich hin und her. Sully war augenblicklich wach und sah mit rasendem Herz zu, wie sie sich von ihm wegdrehte. Er lag reglos da, bis er sicher sein konnte, dass mit ihr alles in Ordnung war. Dann stieg er vorsichtig aus dem Bett, zog eine Jogginghose an und ging aus dem Zimmer.

Die rostbraunen Fliesen im Flur waren unter seinen Fußsohlen angenehm kühl. Dans schwaches, aber gleichmäßiges Schnarchen bahnte sich seinen Weg durch das Haus, während Sully zur Vordertür ging. Unruhe hatte von ihm Besitz ergriffen. Es war ihm so gut wie unmöglich, Schlaf zu finden. Obwohl er mit Ginny geschlafen und sie ihm einen Höhepunkt beschert hatte, der ihm alle Kraft raubte, konnte er sich nicht entspannen. Er kannte den Grund.

Er wurde das Bild nicht los, wie sie auf das Band reagiert hatte. Immer wieder musste er an Georgia und die anderen fünf Frauen denken. Genau das war mit ihnen auch geschehen. Und sie hatten außerdem eine schreckliche Nachricht erhalten, die ihr Schicksal besiegelte.

Sully wollte weinen, so tragisch fand er diesen Fall. Was hatte der Mann ihnen angetan, dass sie nicht darüber reden sollten? Und warum wurde er jetzt aktiv? Warum hatte er so viele Jahre gewartet? Fürchtete er, die unterdrückten Erinnerungen könnten zu Tage kommen? War es das? Hatte er ihnen vielleicht die Unschuld geraubt, als sie noch klein waren?

Ihm lief ein Schauder über den Rücken. Es gab noch etwas, das Sully in den Sinn gekommen war, das er aber noch nicht ausgesprochen hatte. Was, wenn Fontaine selbst der Lehrer dieser Klasse gewesen war? Es war denkbar. Sonst wäre der Mann wohl auf einem der Fotos im Jahrbuch zu sehen gewesen.

Er machte den Kühlschrank auf und holte eine Dose Cola heraus. Eigentlich wäre ihm ein kühles Bier lieber gewesen, aber dafür war es nicht der richtige Zeitpunkt. Im Moment bestand die vorrangige Aufgabe darin, Ginny vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Nachdem er die Alarmanlage ausgeschaltet hatte, öffnete er die Tür und trat hinaus auf den Patio. Eine Weile stand er da und spielte mit dem Gedanken, nackt in den Pool zu steigen. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, an seine Zeit mit seinem Bruder Joe, den er schon seit Monaten nicht mehr angerufen hatte. Der Fall selbst machte ihm bewusst, wie kurz das Leben sein konnte. Er beschloss, sich sofort zu melden, wenn das hier vorüber war. Und er würde Mom anrufen, auch wenn sie längst nicht mehr wusste, wer er eigentlich war. Sully war nur froh, dass sein Vater das nicht hatte miterleben müssen. Er starrte auf den Swimmingpool und setzte sich in einen Liegestuhl, als er ein Knirschen auf dem Kies hörte.

Franklin Chee hatte neben dem Haus Stellung bezogen, offenbar hatte er die Nachtschicht.

„Eine Cola?“ fragte Sully. „Wir haben genug.“

Franklin schüttelte den Kopf. „Koffein.“

Sully hob die Dose und sprach einen Toast: „Auf ruhige Nächte und gelöste Fälle.“

„Eine gute Wortwahl“, meinte Franklin.

Sully nahm noch einen Schluck, dann stellte er die Dose neben den Liegestuhl und beugte sich vor.

„Erzähl mir etwas über Ginny.“

„Wie meinst du das?“

„Erzähl mir, wie diese … diese hypnotische Suggestion funktioniert. Kann man das rückgängig machen?“

„Sicher. Ich könnte etwas in der Art selbst versuchen, aber das hier ist ein ziemlich ungewöhnlicher Fall. Wir wissen nicht, was genau er gemacht hat oder wie tief er eingegriffen hat. Ich meine damit, wie tief in ihrem Verstand die Suggestion verwurzelt ist. Es könnte sein, dass ich mehr Schaden anrichte, als ich ihr helfen kann.“

„Und wie behebt man das?“

Franklin zuckte mit den Schultern, als wäre die Antwort selbstverständlich. „Du musst nur den Mann finden und ihn dazu bringen, dass er es rückgängig macht.“

„Himmel“, murmelte Sully. „Das meinst du doch nicht ernst, oder? Wir suchen einen Mann, der sechs Frauen in den Tod geschickt hat, und du erwartest von ihm, dass er das einfach so korrigiert? Es muss einen anderen Weg geben.“

„Wahrscheinlich schon“, sagte Franklin. „Aber ich bin dafür nicht qualifiziert. Du musst da nach Antworten suchen, wo du sie finden kannst.“

Sully grinste. „Ist das irgendeine mystische Formulierung, damit du nicht sagen musst, dass du keine Ahnung hast?“

„Stimmt genau.“

Sully musste auflachen. Sein Lachen wurde in die Wüste getragen, aber auch ins Haus, wo es sich einen Weg durch Ginnys Schlaf bahnte. Sie drehte sich um und merkte, dass sie allein im Bett war.

Sie fühlte sich unbehaglich ohne Sully und war bereits auf halbem Weg aus dem Schlafzimmer, als ihr einfiel, dass Dan im Haus war. Rasch zog sie ihr Nachthemd und ihren Morgenmantel über und trat dann hinaus in den Flur. Sie folgte seiner Stimme bis zum Patio. Als sie sah, dass er nicht allein war, blieb sie im Schatten stehen und hörte dabei zufällig ihren Namen.

Sie unterhielten sich über den Fall und darüber, was am Nachmittag geschehen war. Warum auch nicht? Sie verdienten sich damit ihren Lebensunterhalt, dennoch fühlte sie sich ein klein wenig betrogen. Sie versuchte, sich klarzumachen, dass sie nicht hinter ihrem Rücken über sie herzogen. Vielmehr war sie ja der Grund, weshalb sie überhaupt hier waren. Sie mussten über sie reden. Da sie sich fragte, ob sie ihr etwas verheimlichten, ging sie vorsichtig zur Tür, um zu lauschen.

„Dan reist am Morgen ab, richtig?“ fragte Franklin.

Sully nickte. „Er hat die Liste mit den Namen der Lehrer noch ins Büro gefaxt, bevor er ins Bett gegangen ist.“

Franklin sagte nichts, als Sully seine Dose austrank, aber er spürte, dass dem Mann etwas auf der Seele lastete.

„Woran denkst du?“ fragte Sully nach einer Weile.

„Es heißt, man könne einen Menschen unter Hypnose nicht zu etwas zwingen, was er im wachen Zustand nicht machen würde.“

Sully versteifte sich. „Was soll das heißen? Dass diese Frauen sterben wollten? Das ist Blödsinn, weil Georgia Dudley nicht so war.“

„Ich habe nur das gesagt, was ich gelernt habe. Ich denke, dass schon eine übermächtige Gewalt notwendig ist, um den Überlebenswillen eines Menschen auszuschalten.“

Das Wort übermächtig hallte in Sullys Kopf nach. Wo hatte er es in letzter Zeit schon einmal gehört? Verdammt, ja! Ginny hatte so das Gefühl beschrieben, das sie mit dem Mann verband, der ihr Lehrer gewesen war. Übermächtig. Vom Gefühl einer übermächtigen Präsenz hatte sie gesprochen.

„Sie ist in großer Gefahr, oder?“ wollte Sully wissen.

„Ja.“

„Irgendwelche Vorschläge?“

„Lass sie nicht aus den Augen.“

Sully hatte die Worte noch im Ohr, als Franklin längst wieder um die Hausecke verschwunden war und weiter Wache schob.

Ginny zitterte. Die beiden hatten sehr leise gesprochen, aber sie hatte alles gehört. Gefahr! Es war nicht wirklich etwas Neues für sie. Sie wusste von der Gefahr, seit sie von Georgias Tod erfahren hatte. Aber als sie das Wort jetzt erneut gehört hatte, war es so, als sei es mit neuem Leben erfüllt worden. Sie sah in die Nacht zu dem Mann, der am Pool saß. In so kurzer Zeit war er für sie so wichtig geworden. Das hatte nicht nur etwas damit zu tun, dass er gekommen war, um sie zu retten. Sie hatte gelernt, auf seine Schritte zu achten, seinen Witz zu schätzen. Er machte sie rasend, und er brachte sie zum Lachen. Und in seinen Armen konnte sie sich gehen lassen. Sie liebte ihn so sehr, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Wenn das alles vorüber war und sie hatte überlebt, dann würde sie ihm klarmachen, dass er ohne sie nicht leben konnte.

Dann seufzte sie. Eines war sicher: Wenn sie nicht seine Anweisungen befolgte, standen die Chancen schlecht, es bis dahin zu schaffen.

Niedergeschlagen kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, zog sich aus und legte sich wieder ins Bett.

Einige Zeit später hörte sie, wie die Tür zum Patio verschlossen wurde. Sie nahm das Piepen der Alarmanlage wahr, als die wieder aktiviert wurde. Augenblicke später kam Sully zurück ins Schlafzimmer. Die Matratze bewegte sich, als er sich neben sie legte, einen Arm um ihre Taille legte und sie an sich drückte. Ginny begann lautlos zu weinen.

„Okay, Leute, hier ist der aktuelle Stand“, sagte Dan, als er sich zur Abreise bereitmachte. „Ich fliege direkt nach D.C. und besorge mir frische Kleidung, danach geht es sofort weiter nach Florida. Nach dem, was ich heute Morgen vom Hauptquartier erfahren habe, leben mindestens vier der Lehrer dort im Ruhestand. Ich werde mehr wissen, wenn ich dort bin.“

„Ist Edward Fontaine auch dort?“

„Er war nicht auf der Liste, die ich bekommen habe“, erwiderte Dan. „Aber wir werden ihn bald gefunden haben. Es ist ziemlich einfach, Pensionäre ausfindig zu machen.“

„Und wenn er tot ist?“ fragte Ginny.

„Dann fragen wir einen anderen“, sagte Sully. „Keine Sorge, Dan macht seine Arbeit gut.“

Ginny lehnte sich gegen Sullys Brust und genoss das Gefühl seiner Arme, als er sie an sich drückte.

„Sie halten uns auf dem Laufenden?“ fragte sie.

„Natürlich, Ma’am, darauf können Sie zählen“, sagte Dan und zeigte dann auf Sully. „Und du passt gut auf sie auf, Dean. Jemanden wie sie dürfen wir nicht verlieren. Wer weiß, vielleicht habe ich ja wieder mal Appetit auf Schinken-Käse-Hasen.“

Ginny rollte mit den Augen. „Finden Sie lieber die Verbrecher, anstatt auf meinen Kochkünsten herumzuhacken.“

Dan lachte und winkte den beiden zu, während er in den Helikopter einstieg. Sully zog Ginny zurück zur Veranda und schirmte sie vor dem Sand und den kleinen Steinen ab, die die Rotorblätter aufwirbelten. Als er abgehoben hatte, löste sich Ginny aus seiner Umarmung und drehte sich um.

„Wohin gehst du?“ fragte er.

„Ins Schlafzimmer. Vielleicht möchtest du mitkommen.“

Sully grinste. „Du bist mehr, als sich ein Mann wünschen kann. Du telefonierst nicht. Du raubst mir im Bett die letzte Kraft. Da ist zwar ein kleiner Makel, aber was solls. Im Vergleich zu allem anderen, was ich an dir habe, kann ich leicht darüber hinwegsehen.“

Sie wusste, dass er sie aufziehen wollte, dennoch konnte sie sich die Frage nicht verkneifen: „Was genau meinst du damit?“

„Na ja, ich sags nicht gerne, aber weißt du, dass du schnarchst?“

Sie hatte mit einem Seitenhieb auf ihre Kochkünste gerechnet, aber das traf sie völlig unerwartet.

„Ich schnarche nicht.“

„Oh doch, das tust du. Aber das macht nichts. Man kann fast nichts davon hören, bis du anfängst zu schnauben. Daran gewöhne ich mich schon.“

„Gewöhnen? Es gibt nichts, woran du dich gewöhnen müsstest. Ich wüsste davon, wenn ich schnarchen würde.“

Sully blieb völlig ernst: „Und wie? Du schläfst, wenn das geschieht.“

Ihre Wangen begannen zu brennen, und sie wusste, dass sie rot anlief. Innerlich verdammte sie den Mann.

„Ich schnarche nicht“, entgegnete sie trotzig. „Und wenn doch, dann würde ein echter Gentleman nicht darüber sprechen.“

Sully grinste, als er sie hochhob und auf das Bett legte.

Ehe sie sichs versah, hatte er ihr das T-Shirt und den BH ausgezogen und streichelte ihren Busen.

„Sei mal ehrlich, Baby“, sagte er. „Wäre es dir jetzt lieber, wenn ich ein echter Gentleman wäre?“

Er gab ihr keine Gelegenheit, etwas zu erwidern.

Lucy nahm einige Hemden aus der Schublade der Kommode und legte sie in den Koffer. Sie strich den Stoff glatt, obwohl sie noch so ordentlich zusammengelegt waren, wie sie sie aus der Reinigung zurückbekommen hatte.

„Ich wünschte, du müsstest nicht erneut aufbrechen“, sagte sie. „Du bist erst ein paar Tage wieder zu Hause.“

„Ich weiß, mein Schatz. Aber das ist meine Arbeit.“

Sie brachte ein fröhliches Lächeln zu Stande, als sie sich zu ihm umdrehte. „Natürlich. Und ich freue mich auch für dich. Ich war einfach nur egoistisch. Vergibst du mir?“

„Da gibt es gar nichts zu vergeben“, antwortete er, während er sich im Zimmer umsah, um sicher zu sein, dass er nichts vergessen hatte.

„Hast du deine Flugtickets?“ fragte Lucy.

„In der Aktentasche.“

„Hast du heute Morgen Geld am Automaten abgeholt, als du aus dem Haus warst?“

„Nein, das habe ich vergessen.“

„Warte hier, ich gehe unten an die Notreserve in meinem Schreibtisch.“

„Das ist nicht nötig“, sagte Emile. „Am Flughafen gibt es auch noch einen Geldautomaten.“

„Es macht mir nichts aus“, erwiderte sie. „In der Zeit könntest du dich doch von Phillip verabschieden.“

„Gute Idee“, sagte er und folgte ihr in den Flur, um nach links zum Zimmer seines Sohnes zu gehen.

Irritiert über die Art und Lautstärke der Musik klopfte er zweimal, dann rief er: „Phillip! Ich bin es, dein Vater. Hast du einen Moment Zeit?“

Die Tür wurde geöffnet, und einen Augenblick lang glaubte Emile, einen Fremden vor sich zu haben.

„Ja, was willst du?“

Emile starrte ihn an. „Die Musik. Sie ist so laut.“

„Ich mag sie so.“

Emile hob seine Stimme ein wenig an, um sich selbst reden zu hören: „Ist alles in Ordnung, Phillip?“

Auf dessen Gesicht zeichnete sich ein schräges Grinsen ab. „Klar, Dad, alles locker.“

Emile wollte von ihm eine Entschuldigung für den sarkastischen Tonfall verlangen, aber sein Instinkt sagte ihm, dass er besser den Mund hielt.

„Ich fahre jetzt zum Flughafen. Ich wollte mich nur verabschieden.“

Bellendes Gelächter war die erste Reaktion, dann sagte Phillip: „Sonst nichts? Dann machs gut. Adios. Sayonara. Hasta la vista, Baby.“

Emile spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Was war mit diesem Jungen los? Er wollte nach dem Arm seines Sohnes greifen, aber Phillip wirbelte herum und tanzte quer durch sein Zimmer zur Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte.

„Phillip, wir müssen uns unterhalten! Du musst …“

In dem Moment fasste Lucy ihn am Arm und zog ihn zurück in den Flur. Während sie die Tür schloss, kicherte sie so nervös, wie Emile es bei ihr noch nie erlebt hatte.

„Emile, hier ist ein wenig Bargeld … nicht ganz zweihundert Dollar. Beeil dich, sonst verpasst du noch deine Maschine.“

„Mit Phillip stimmt etwas nicht.“

„Oh nein, Schatz, da musst du dich irren. Hier, steck das Geld in die Brieftasche, damit du es nicht verlierst.“

„Aber ich sage dir, der Junge ist …“

„Es ist alles in Ordnung“, fiel Lucy ihm ins Wort. „Er ist nur müde. Er hat die ganze Nacht an seinem Buch gearbeitet, und jetzt lässt er einfach ein wenig Dampf ab.“

„Nein, da steckt mehr dahinter“, beharrte er und nahm sie am Arm. „Du hörst mir nicht zu. Er kam mir wie ein Fremder vor.“

„Wenn du deinen eigenen Sohn nicht mehr erkennst, ist das ein klares Zeichen, dass du öfter zu Hause bleiben solltest.“

Sie gab ihm rasch einen Kuss, damit er über ihre Kritik schneller hinwegging, dann nahm sie ihn an der Hand und zerrte ihn hinter sich her durch den Flur.

„Nun komm schon, das Taxi wird jeden Moment hier sein.“

Emile folgte ihr widerwillig. Als er ins Taxi einstieg, hatte er das ungute Gefühl, dass er seine Frau mit einem Monster allein zurückließ.

„Hey, Mister, was soll das? Das ist mein Revier, und wenn es hier irgendwas Brauchbares gibt, dann gehört es mir.“

Phillip blinzelte. Ein hoch gewachsener Obdachloser stand in seiner Nähe und tippte ihn mit einem Stock an. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er über einen Abfallcontainer gebeugt stand. Er riss seine Hände aus dem Müll und sah, dass sie völlig verdreckt waren. Aber als er genauer hinschaute, erkannte er, dass er nicht nur Dreck an den Händen hatte, sondern auch getrocknetes Blut. Er begann zu zittern.

Sie war nur Dreck. Sie ist jetzt da, wo sie hingehört.

Phillip zuckte zusammen und stöhnte auf.

„Oh mein Gott, mein Gott, was hast du gemacht?“

Ist das wichtig? Ist überhaupt noch irgendetwas wichtig?

Er hatte Angst nachzusehen, aber er musste es wissen. Er schob einige Müllbeutel zur Seite, doch zu seiner Erleichterung war nichts als Abfall in dem Container.

Nicht da, du Idiot. Keine Sorge. Niemand wird sie finden.

Mit einem Mal musste er sich übergeben.

Der Obdachlose hielt sich die Nase zu.

„Verdammt, Mister. Jetzt sehen Sie sich nur an, was Sie mit meiner Straße gemacht haben. Ich werde nicht da nach leeren Dosen suchen, wo Sie gerade hingekotzt haben. Ich mach mich aus dem Staub.“

Phillip schnappte nach Luft, als er sich endlich wieder aufrichtete. Nach einem panischen letzten Blick stolperte er einige Schritte nach hinten, wirbelte herum und begann zu rennen. Dabei wurde ihm klar, dass er nicht wusste, wo er sich befand. Er musste nach Hause, er musste sich waschen, und er musste vergessen, was geschehen war.

Er durchsuchte seine Hosentaschen und atmete erleichtert auf, als er den Schlüsselbund fand. Sein Wagen. Wo hatte er seinen Wagen abgestellt? Er ging langsam weiter.

Das ist die falsche Richtung, Idiot. Kannst du denn gar nichts richtig machen.

Seine Angst und Frustration führte ihn drei Blocks weit, bis er erkannte, dass alles in Ordnung sein würde. Er hatte seinen Wagen gefunden! Ohne nachzudenken, lief er auf die Straße. Ein lautes Hupen ließ ihn einen großen Satz zur Seite machen, und er entging nur knapp einer Katastrophe.

„Mach doch die Augen auf!“ brüllte der Fahrer des Wagens, als er neben Phillip war.

Phillip atmete tief durch und sah diesmal erst nach links und rechts, ehe er die Straßenseite wechselte. Nachdem er in seinen Wagen eingestiegen war und alle Türen verriegelt hatte, sah er sich um. Der Boden war übersät mit leeren Whiskyflaschen und aufgerissenen Kondomverpackungen.

„Wenigstens gehe ich nicht an Aids zugrunde“, murmelte er und startete den Motor.

Als er zu Hause angekommen war, hatte er seine Panik weitestgehend unter Kontrolle. So konnte es nicht weitergehen, er musste etwas unternehmen.

Er fuhr vor dem Haus vor und bemerkte, dass der Wagen seiner Mutter nicht da war. Gut. Das würde ihm Zeit geben, um sich zu waschen und eine Ausrede zu erfinden, warum er überhaupt weggefahren war. Vielleicht könnte er behaupten, er habe für sein Buch recherchiert. Ja! Das war es, das würde funktionieren. Er stieg aus und eilte ins Haus. Auf dem Weg nahm er die Zeitung mit, die vor der Tür lag. Ein Blick auf das Datum verriet ihm, dass er nur eine Nacht lang nicht zu Hause gewesen war. Das war nicht so schlimm. Er war kein Kind mehr, sondern ein Mann. Er musste sich nicht an- oder abmelden.

Als er in sein Zimmer gehen wollte, erstarrte er auf der Türschwelle. Das ganze Zimmer war verwüstet worden. Seine Kleidung lag zerrissen auf dem Boden, der Computer war ein einziger Trümmerhaufen.

„Nein … nicht das Buch“, stöhnte er und sank auf die Knie.

Du machst überhaupt nichts ohne mich. Ich habe hier das Sagen.

„Du Bastard, du elender Bastard“, schrie Phillip und schlug sich auf den Kopf. „Ich habe dir gesagt, dass du mich in Ruhe lassen sollst!“

Lucy atmete erleichtert auf, als sie in die Auffahrt einbog. Phillip war zu Hause. Sie ließ die Papiertüten mit den Einkäufen auf dem Rücksitz stehen und stürmte ins Haus. Noch bevor sie die Treppe erreicht hatte, konnte sie seine Schreie hören, die durch das ganze Haus schallten. Als sie einen Fuß auf die erste Stufe setzte, war ein Teil von ihr froh, dass das Hausmädchen seinen freien Tag hatte und das nicht mit anhören musste. Oben angekommen, eilte sie durch den Flur und hörte, wie Glas zerschmissen wurde, gefolgt von einem urtümlichen Schrei, der sie mitten in der Bewegung innehalten ließ.

Sie presste eine Hand auf ihre Brust und widerstand dem Wunsch, sich umzudrehen und wegzulaufen. Es ging um ihren Sohn. Er brauchte sie. Doch der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihr fast das Herz stillstehen.

„Nein! Oh nein, Phillip! Was hast du getan?“

Er drehte sich zu ihr um, seine Brust hob und senkte sich, während er hastig atmete. Seine Kleidung hing ihm in Fetzen vom Leib.

„Ich muss ihn aufhalten, bevor es zu spät ist.“

Er stieß sie aus dem Weg und rannte in den Flur.

„Aufhalten?“ rief sie ihm nach. „Wen musst du aufhalten?“ Sie folgte ihm, konnte ihn aber nicht einholen. Er war bereits im Erdgeschoss angekommen und stürmte ins Esszimmer.

„Phillip! Bleib sofort stehen und sprich mit mir!“

Er reagierte nicht. Entsetzt rannte sie nach unten und wäre beinahe hingefallen, wenn sie sich nicht am Geländer festgehalten hätte. Als sie das Esszimmer erreicht hatte, sah sie, dass er den Inhalt einer Schublade des Sideboards auf dem Boden verstreut hatte.

„Phillip, Darling, was um alles in der Welt …“

Er hielt ein Messer in der Hand.

Oh Gott, oh Gott! Ich brauche Emile. Es ist alles schief gegangen.

Ihr fiel ein, dass Emile nicht in der Nähe war. Er war nie da, wenn sie ihn brauchte. Sie atmete tief durch und streckte die Hand aus.

„Darling, gib deiner Mutter das Messer. Es ist sehr scharf, und du möchtest dich bestimmt nicht verletzen.“

Phillip lachte laut auf. „Da irrst du dich“, sagte er und hielt die Messerspitze an seinen Hals. „Ich will, dass das alles ein Ende nimmt. Ich will, dass es aufhört.“

Er drückte die Klinge tief genug ins Fleisch, dass ein Tropfen Blut auf den Stahl lief.

„Nein!“ schrie Lucy und sank auf die Knie. „Bitte, Phillip, Darling. Egal, was nicht stimmt, wir können es lösen. Ich flehe dich an! Sag mir, was es ist, und ich sorge dafür, dass es aufhört. Ich schwöre es dir!“

Tränen liefen über sein Gesicht und vermischten sich mit dem Dreck, den er gar nicht erst abgewaschen hatte.

„Das kannst du nicht, Mutter. Aber ich kann es. Seit einiger Zeit bin ich jeden Morgen, wenn ich aufwache, von einer Gewissheit erfüllt, die ich früher nicht gekannt habe.“

Sie schnappte nach Luft. Das Band. Sie hatte ihm Emiles Band vorgespielt.

„Aber es hatte dir doch helfen sollen“, flüsterte sie bestürzt.

„Was? Was redest du da?“ tobte Phillip. „Nein! Sag es mir nicht! Ich will es nicht wissen, ich bin derjenige, der jetzt das Sagen hat.“

Tu es nicht!

Die Panik in der Stimme war nicht zu überhören.

„Jetzt kannst du betteln!“ kreischte Phillip und spielte mit dem Messer.

Lucy zog sich in eine Ecke des Zimmers zurück, da sie sicher war, dass er sie töten würde.

„Ich liebe dich, Sohn. Bitte, hör auf, bevor es zu spät ist“, flehte sie ihn an.

Hör auf sie, du Idiot! Sie liebt dich! Willst du etwa deiner Mutter Kummer machen?

„Nicht wirklich“, sagte Phillip und begann zu kichern. „Aber ich will dir Kummer machen.“

Er stieß sich das Messer in den Hals und durchbohrte die Halsschlagader. Das Blut, das in kurzen Schüben aus der Wunde schoss, spritzte auf das Sideboard, den Tisch, den Boden und sogar in Lucys Gesicht.

Das Lächeln in Phillips Gesicht schwand in dem Maß, in dem das Leben aus seinen Augen wich. Er sank langsam auf die Knie und fiel dann so vornüber zu Boden, dass sich die lange Klinge komplett durch seinen Hals bohrte.

Lucy berührte ihr Gesicht, ihre Augen waren vor Schock weit aufgerissen. Als sie erkannte, dass es sich bei den Tropfen auf ihrer Haut um frisches Blut handelte, begann sie in Panik zu kreischen. Sie war so laut, dass die Nachbarin im Nebenhaus sie hörte und die Polizei benachrichtigte.

Als die Nacht hereinbrach, war Lucy Karnoffs Welt ein Scherbenhaufen. Man hatte sie ins Krankenhaus gebracht und ruhig gestellt, während die Behörden fieberhaft versuchten, ihren Mann ausfindig zu machen.

In Santa Fe sonnte sich Emile unterdessen im Glanz eines weiteren Erfolgs. Ehrengast bei der New Mexico State Medical Convention zu sein, war wie die Erfüllung eines Traums. Sein Terminkalender bot kaum noch Platz, und die heimischen Probleme hatte er längst verdrängt. Er stellte das Wohl vieler über das Wohl weniger, und es gab so viele Menschen, denen er seine Techniken vermitteln musste, damit sie auch weiterhin angewendet würden. Sie waren sein Vermächtnis an die Welt.