7. KAPITEL

Phillip Karnoffs Finger flogen buchstäblich über die Tastatur seines Computers, während seine Augen den Monitor fixierten. Seit Stunden wurde er von Schlaflosigkeit geplagt und verbrachte die Zeit in einem Chatroom im Internet. Inzwischen waren nur noch er und ein anderer Webjunkie übrig, ein User mit dem Alias CyberRat. Phillip ertappte sich dabei, dass er einem Fremden Ängste anvertraute, die er niemals laut hätte aussprechen können.

Babydoc: „Der Druck wird mir allmählich zu viel. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann.“

CyberRat: „Tu, was du tun musst, Mann. Das ist dein Leben. Lass dir nicht von den anderen alles vorschreiben!“

Babydoc: „Ja, aber du verstehst das nicht. Ich kann nie bei einer Stelle bleiben. Sobald ich einen neuen Job habe, fängt irgendwas in mir an, mich immer weiterzudrängen, bis ich es vermassele.“

CyberRat: „Klingt nicht gut, Mann. Du solltest mal zum Arzt gehen. Vielleicht eine Therapie? Ich bin jahrelang in Therapie gewesen.“

Tränen liefen über Phillips Wangen. Zum Arzt gehen? Das war ein Volltreffer. Sein Vater war Arzt, und gebracht hatte ihm das überhaupt nichts.

Babydoc: „Jedem das Seine, aber das ist nicht meine Sache. Der Druck wird mir allmählich zu viel. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann.“

CyberRat: „Komm schon, Mann. Du musst darüber reden, sonst frisst dich das schlechte Karma bei lebendigem Leib auf.“

Phillip zögerte. Jedes weitere Wort konnte gefährlich sein, aber der Drang, sich alles von der Seele zu reden, war übermächtig. Und was konnte es schaden? Er kannte diesen Menschen nicht – er würde ihn nie kennen lernen. Die Anonymität schützte ihn, und vielleicht hatte CyberRat ja Recht. Vielleicht musste er wirklich über all die Dinge reden, die auf ihm lasteten.

Babydoc: „Ich glaube, ich verliere den Verstand.“

CyberRat: „Warum?“

Babydoc: „Ich höre Stimmen.“

CyberRat: „Das klingt ernst, Mann. Hast du dich mal untersuchen lassen? Oder Medikamente genommen?“

Babydoc: „Nein.“

CyberRat: „Weiß sonst jemand davon?“

Babydoc: „Nein.“

CyberRat: „Hör zu, Mann. Ich kenne dich ja nicht persönlich, aber wenn du mein Freund wärst, würde ich dir raten, dass du dir einen Psychiater suchst. Du willst doch bestimmt nicht ausrasten, oder?“

Phillip schüttelte so heftig den Kopf, dass er einen Moment lang nicht denken konnte. Sein Blick ruhte auf der Tastatur, er konnte seine Finger über den Tasten schweben sehen, aber er war nicht imstande, sie zu bewegen. Oh Gott, was war los mit ihm?

Logg dich aus, Phillip. Sofort, du mieser kleiner Bastard.

CyberRat: „Hey, Mann. Bist du noch da?“

Phillip schüttelte wieder den Kopf, als wolle er die Stimme des anderen loswerden. Dann schluchzte er. Welcher andere? Außer ihm war niemand hier.

CyberRat: „Hey, Mann. Sprich mit mir.“

Phillip schauderte, dann sackte er vornüber. Als er sich wieder aufrichtete, ließ das überhebliche Lächeln keinen Zweifel mehr zu.

Babydoc: „Babydoc kann jetzt nicht mehr mit dir reden. Er ist weg, und du kotzt mich an. Hau ab. Ich habe hier das Sagen.“

Er schaltete den Computer aus, stand auf und riss sich die Kleider vom Leib, während er durch das Zimmer ging.

Phillip ist ein Schwächling. Ich bin es satt, mich um seinen Mist zu kümmern und dieses bescheuerte Zeugs zu tragen.

Er ging zum Schrank und sah sich an, welche Kleidung dort hing. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte: eine enge schwarze Hose, die seinen Körper genau so betonte, wie er es mochte. Er zog den Reißverschluss hoch und fuhr mit den Händen bis in den Schritt über den Stoff, dann wandte er sich wieder dem Schrank zu und holte ein schwarzes T-Shirt hervor, das seinen flachen Bauch betonte. Er stolzierte vor den Spiegel an der Badezimmertür und strich sich mit den Fingern durch die Haare, bis die wüst durcheinander standen. Dann grinste er.

„Tony, Junge, du bist ein wahnsinnig gut aussehender Kerl.“

„Phillip? Bist du auf?“

Lucys weinerliche Frage, verbunden mit dem Klopfen an seiner Tür, ließ ihn herumwirbeln. Mit wenigen Schritten hatte er die Tür erreicht.

„Ich bin auf“, sagte er knapp und sah Phillips Mutter an, die in seinen Augen der Grund für Phillips Unfähigkeit war.

Lucy Karnoff betrachtete erstaunt die Kleidung ihres Sohnes.

„Phillip, so kannst du nicht aus dem Haus gehen. Du musst heute Vormittag deinen Vater zum Flughafen bringen. Er hat morgen einen wichtigen Termin in Irland und keine Zeit zu vergeuden.“

„Er kann ein Taxi nehmen. Ich habe zu tun.“

Lucy packte ihren Sohn am Arm, damit er nicht ging, ehe sie nicht ausgesprochen hatte.

„Egal, was du zu tun hast, es kann bestimmt warten“, sagte sie. „Schließlich wartet ja keine Stechuhr auf dich, nicht wahr?“

Er ballte die Hände und zwang sich, sie nicht zu schlagen.

„Du weißt überhaupt nicht, was ich zu tun habe. Also lass mich in Ruhe, Alte.“

Lucy schnappte nach Luft, als Phillip sie zur Seite schob. In den letzten Monaten hatte er wiederholt dieses Verhalten an den Tag gelegt, aber jetzt war er zum ersten Mal handgreiflich geworden.

„Phillip, was fällt dir ein?“ schrie sie ihn an. „Nach allem, was wir für dich getan haben, könntest du wenigstens …“

„Phillip existiert nicht mehr, du Miststück. Und dir wird es nicht anders ergehen, wenn du mich nicht verdammt noch mal in Ruhe lässt.“

Der Hass, der ihrem Sohn im Gesicht geschrieben stand, war beängstigend, aber immer noch harmlos im Vergleich zu seinem Blick. Ihr war, als würde sie einen Fremden ansehen. Und wie meinte er das bloß, Phillip existiere nicht mehr? Als sie sich wieder gefasst hatte, war er schon weggefahren. Sie wollte zu Emile eilen und sich ihm anvertrauen, aber das konnte sie jetzt nicht. Nicht, wenn er zu einer so wichtigen Reise antrat.

Sie ging nach unten, und als sie in der Küche angekommen war, hatte sie sich eingeredet, dass es den Zwischenfall nie gegeben hatte.

Erst viele Stunden später, als Emile bereits abgereist war und niemand sonst mehr im Haus war, begann Lucy über die Ereignisse vom Morgen nachzudenken. Ihr war klar, dass mit Phillip etwas nicht stimmte. Er verhielt sich, als würden zwei völlig unterschiedliche Menschen in ihm existieren.

Der Gedanke besaß etwas zutiefst Erschreckendes. Was, wenn Phillip krank war, wirklich krank? Was, wenn er geistig so instabil war, dass er etwas anstellte, das die Medien aufhorchen ließ?

Lucy rang verzweifelt ihre Hände, als sie hin- und herzulaufen begann. Das durfte nicht geschehen! Nicht jetzt! Nicht, wenn jeder ihrer Schritte von den Medien dokumentiert wurde. Sie musste etwas unternehmen, aber was?

Wenn sich Emiles Arbeit doch bloß auch auf andere als nur körperliche Erkrankungen erstrecken würde. In der Anfangszeit, als sie seine Assistentin und Sekretärin gewesen war, hatte er mehrere Theorien in dieser Richtung entwickelt. Sie hielt inne und überlegte, wo Emile wohl die Aufzeichnungen aus jener Zeit aufbewahren mochte. Vielleicht konnte sie …

Innerhalb von Sekunden gewann ihr Verstand wieder die Oberhand. Es ging hier um ihren Sohn, nicht um ein Versuchskaninchen, mit dem man ein Experiment durchführen konnte.

Im Flur schlug die alte Standuhr zwei Uhr. Lucy sah aus dem Fenster und betete, Phillips Wagen in der Auffahrt zu sehen. Aber das Einzige, was sie sah, war der Gärtner auf dem Nachbargrundstück, der sich an der Hecke zu schaffen machte. Wäre Emile doch bloß hier. Sie hätte ihm etwas sagen sollen, bevor er am Morgen abgereist war. Es gab nichts, was wichtiger sein konnte als die eigene Familie und als ihr eigener Sohn. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und begann zu weinen. Alles war aus den Fugen geraten. So sollte es nicht sein. Sie hatte so hart daran gearbeitet, damit sie ein perfektes Familienleben führen konnten, und nun das! Was um alles in der Welt sollte sie machen?

Carney Auger wachte auf dem Fußboden auf und hatte einen Moment lang Schwierigkeiten, sich zu erinnern, wo er sich befand. Ein lautes Schnarchen irgendwo über ihm machte ihm klar, dass er nicht allein war, ganz gleich, wo er sich auch befinden mochte. Er richtete sich auf und blickte zum Bett, direkt in das Gesicht seines Bruders Dale.

„Teufel auch“, meckerte er. Damit war seine Hoffnung zunichte, dass es sich vielleicht um eine Frau hätte handeln können.

Verärgert darüber verpasste er Dale einen Schlag ins Gesicht und bemühte sich, auf die Beine zu kommen.

Dale Auger erwachte in Panik, die Hände geballt, die Augen rot unterlaufen.

„Jemand hat mich geschlagen!“ brüllte er und weckte damit seinen anderen Bruder Freddie, der am anderen Ende des Zimmers auf der Couch lag.

„Halt die Klappe“, murmelte Freddie und legte sich ein Kissen auf den Kopf.

„Jemand hat mich geschlagen“, wiederholte Dale leiser und warf Carney einen wütenden Blick zu, als der ins Badezimmer ging.

Nachdem Carney die Tür hinter sich geschlossen hatte, kehrte wieder Ruhe ein. Dale sah ein letztes Mal zur Badezimmertür, dann drehte er sich um und schlief sofort wieder ein.

Carney hatte dagegen keine Lust zu schlafen. Er war unruhig, und sein Kopf dröhnte. Er brauchte einen Drink, und er musste bei einer Frau Erfolg haben.

Als er sich unter der Dusche einzuseifen begann, sah er, dass sich kleine Stücke Gras und Blätter auf dem Boden der Wanne sammelten. Das musste ja eine irre Nummer gewesen sein, aber er konnte sich nicht daran erinnern, wo sie eigentlich gewesen waren.

Das heiße Wasser tat gut, und als er sich bückte, um mit dem Rest Motelseife seine Füße zu waschen, kehrte die Erinnerung zurück, dass er nach vorn gefallen war. Langsam richtete er sich auf und versuchte, sich auf die verschwommenen Bilder zu konzentrieren, die ihm durch den Kopf gingen. Während der Wasserdampf ihn umgab, schloss er die Augen und sah ein Gesicht. Das Gesicht einer Frau. Er legte die Stirn in Falten. Wo hatte er sie gesehen? Er atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen. Plötzlich sah er ein anderes Gesicht, diesmal das eines Mannes – eines großen Mannes. Eine Waffe, jemand schrie.

Carney riss die Augen auf. Er erinnerte sich, dass er mit dem Gesicht nach unten gelegen hatte. Er hatte wieder den Geschmack seines eigenen Blutes im Mund, da er sich beim Sturz auf die Zunge gebissen hatte. Aber wo zum Teufel …?

Das Flussufer! Sie hatten die ganze Nacht dort verbracht und sich betrunken und dabei den von den Regenfällen angeschwollenen Fluss beobachtet. Sie hatten Wetten abgeschlossen, wie viel Bier Dale trinken konnte, ehe er kotzen musste. Irgendwer, vielleicht er selbst, vielleicht Freddie, hatte vorgeschlagen, dass sie sich in einer von Daddys Hütten frisch machen sollten, ehe sie zu ihren Frauen zurückkehrten.

Er starrte an die Wand, ohne den Schimmel zwischen den Kacheln wahrzunehmen. Durch das Badezimmerfenster hörte er eine Autohupe, und im gleichen Moment konnte er sich wieder erinnern.

Dieses Miststück! Dieses Weib hatte wie am Spieß geschrien, und dann war dieser Kerl aus dem Nichts aufgetaucht. Er hatte erklären wollen, dass er nur Spaß machte, aber niemand hörte auf ihn. Dieser halb nackte Hurensohn hatte sein Gesicht in den Dreck gedrückt und ihm gedroht, er würde ihm die Eier abschießen, wenn er sich auch nur einen Millimeter rührte.

Carney ließ den Waschlappen fallen und drehte den Wasserhahn zu. Wütend griff er nach einem Handtuch und trocknete sich ab, dann stürmte er aus dem Badezimmer und ließ die Tür laut hinter sich zufliegen.

Als Dale daraufhin aus dem Bett sprang und seine Fäuste kampfbereit hochhielt, grinste Carney höhnisch.

„Du stinkst, kleiner Bruder. Geh dich waschen, ich muss was erledigen.“

Freddie drehte sich um und blickte Carney verärgert an.

„Falls du’s noch weißt, du bist pleite. Und von mir siehst du keinen Cent, wenn du dir was durch die Nase reinziehen oder hinter die Binde kippen willst.“

„Ich will kein Dope“, fauchte Carney. „Ich will Rache.“

„Letztes Mal bist du deswegen im Knast gelandet. Willst du’s wirklich noch mal versuchen?“

Carney antwortete ohne zu zögern: „Niemand drückt mein Gesicht in den Dreck und lebt danach lange genug, um das anderen zu erzählen.“

Dale wurde bleich. „Ich will nichts mit ’nem Mord am Hut haben.“

„Hab ich dich vielleicht gefragt, kleiner Bruder“, zischte Carney ihn an. „Zieh dir was anderes an. Du auch, Freddie. Ich will heute Daddy besuchen.“

„Lass mich auch aus dem Spiel“, sagte Freddie.

Carney wandte sich zu seinem Bruder um und grinste ihn breit an. „Kommt nich in Frage. Du fährst mich hin. Ich darf nich fahren, weißte noch? Man hat mich schon besoffen beim Autofahren geschnappt.“

„Werd ich nicht machen“, erwiderte Freddie. „Du bist bis oben hin zu mit Dope. Gibs endlich auf. Und lass vor allem uns mit deinem Kram in Ruhe!“

Carney grinste noch breiter. „Möchte wissen, was Wanda sagt, wenn sie hört, dass ihr süßer kleiner Freddie die Kassiererin vom Supermarkt vögelt.“

Freddies Gesicht lief rot an. „Als du geboren wurdest, hätte Daddy dich in einen Sack stecken und in den Tallahatchie schmeißen sollen. So wie er’s mit meinen Hundebabys gemacht hat.“

Carney kniff wütend die Augen zusammen. „Vielleicht. Hat er aber nich. Machst du jetzt, was ich dir sage? Oder willst du das Motel für den Monat im Voraus bezahlen? Wenn ich erst mal anfange, lässt die gute Wanda dich nie wieder ins Haus.“

Freddie ging ins Badezimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Dale wurde bleich und packte sich seine Kleidung.

„Dich hätte man ersäufen sollen“, sagte Carney. „Ich geh jetzt rüber und hol mir ’nen Kaffee. Gib mir Geld.“

Dale kippte den Inhalt seiner Geldbörse auf das Bett zwischen ihnen und zuckte zusammen, als er sah, wie Carney sich die Scheine heraussuchte und den Rest beiseite wischte.

„Das ist mein Benzingeld, Carney. Ich brauch das. Ich muss nächste Woche zur Arbeit fahren.“

„Pinkel doch einfach in den Tank“, erwiderte Carney und verließ das Zimmer.

„Halt doch einmal dein Maul“, murmelte Dale, als er sicher sein konnte, dass Carney ihn nicht mehr hören konnte.

„Warten Sie“, sagte Ginny und blieb an einem Baum stehen. „Mich sticht etwas am Knöchel.“

„Lassen Sie mich mal sehen“, meinte Sully und hockte sich neben sie. „Stellen Sie den Fuß auf mein Knie.“

„Dann wird Ihre Hose schmutzig.“

Er sah zu ihr auf. „Dann wird sie eben gewaschen.“

Ginny befolgte seine Anweisung und stützte sich auf seiner Schulter ab, während er ihren Schuh auf sein Knie stellte. Sie waren jetzt seit einer Stunde unterwegs und hatten darüber gesprochen, was sie über die sechs anderen Mädchen aus der Begabtenklasse noch in Erinnerung hatte. Viel ergab sich nicht, da sie zu jung gewesen waren und die Zeit so lange zurücklag.

Sie stand da und knabberte an ihrer Unterlippe, während sie versuchte, Sullivan Deans breite Schultern nicht zur Kenntnis zu nehmen, auf die sie herabsah, während er einen Finger in ihren Strumpf gleiten ließ.

„Hier ist es“, sagte er und erhob sich. „Ein spitzes Stück Gras hatte sich in Ihren Strumpf verirrt. Geht es jetzt wieder?“

Ginny bemerkte, dass sie ihn anstarrte und dass ihr Unterbewusstsein mehr von ihm erwartete als bloße Worte. Schließlich wurde ihr klar, dass er sie etwas gefragt hatte.

„Entschuldigung, was haben Sie gesagt?“

„Ihr Fuß … ist es jetzt besser?“

„Oh ja, danke“, antwortete Ginny und sah fort. „Der Fluss muss ganz in der Nähe sein.“

Sully versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber allmählich wurde er aus dieser Frau nicht mehr schlau. Im einen Moment war sie freundlich und umgänglich, und im nächsten Augenblick wirkte sie nervös und distanziert. Er war es leid, unentwegt Rücksicht zu nehmen.

„Virginia?“

Sie sah ihn an. „Mir wäre es lieber, wenn Sie nicht …“, begann sie mit Nachdruck.

„Ich weiß inzwischen alles, was Sie nicht mögen“, sagte er ohne Umschweife. „Was mir nicht in den Kopf will, ist die Frage, was ich falsch mache. Wenn ich Sie beleidigt oder Ihre Gefühle verletzt habe, dann möchte ich mich dafür entschuldigen.“

Ginny sah ihn verblüfft an. „Das haben Sie keineswegs getan. Wie kommen Sie überhaupt auf diese Idee?“

„Weil Sie sich so verhalten. Wenn es nicht daran liegt, was ist es dann? Wir werden das hier zusammen durchmachen müssen, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Aber es wäre mir wesentlich lieber, wenn Sie mir sagen würden, wann ich Sie in Ruhe lassen soll, anstatt sich in Ihr Schneckenhaus zurückzuziehen und einfach das Thema zu wechseln.“

Ginny seufzte. Er machte sie nervös, aber warum, das wusste sie nicht. Wie sollte sie es ihm also erklären?

„Es hat nichts mit Ihnen zu tun“, sagte sie. „Das schwöre ich.“ Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn hinter sich her. „Lassen Sie uns weitergehen, dann kann ich besser denken.“

„Geht mir auch so“, meinte er.

„Na bitte, jetzt haben wir schon eine Gemeinsamkeit“, sagte Ginny.

„Die hatten wir schon vorher“, gab er zurück.

Sie blieb stehen. „Was?“

„Georgia. Oder haben Sie das vergessen? Sie ist der Grund, weshalb ich hier bin.“

Tränen schossen ihr in die Augen. „Ich vergesse nie etwas“, sagte sie knapp und ging weiter, ohne sich umzusehen, ob er ihr überhaupt folgte.

Aber er folgte ihr.

„Reden Sie mit mir, Ginny. Erzählen Sie mir, was Ihnen durch den Kopf geht. Warum sind Sie mal nett zu mir, und dann wieder eiskalt? Das bringt nichts, sollten Sie wissen. Ich kann Sie nicht beschützen, wenn Sie mir nicht vertrauen.“

Ginny zögerte, dann wandte sie sich ihm zu, das Kinn entschlossen vorgeschoben.

„Ich vertraue Ihnen.“

„Was ist es dann?“

„Ich bin es nicht gewöhnt, mich auf andere zu verlassen. Seit ich erwachsen bin, hatte ich nur mich. Meine Eltern sind tot, und zu meinen wenigen Verwandten habe ich keinen Kontakt.“

„Gibt es niemanden in Ihrem Leben, der Ihnen besonders viel bedeutet? Einen Mann? Geht es darum?“

Als er die Frage ausgesprochen hatte, merkte er, dass er aus Angst vor der Antwort den Atem anhielt.

Ginny schnaubte auf eine Art, die gar nicht ladylike war. „Der letzte Mann in meinem Leben schlief mit der Frau aus dem Apartment gegenüber. Das war vor vier Jahren, und seitdem habe ich mir nicht mehr die Mühe gemacht, nach einem anderen Ausschau zu halten.“

Sully fühlte sich ein wenig schuldig, dass es ihm gefiel, sie nicht in festen Händen zu wissen.

„Das muss hart gewesen sein.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe an dem Tag eine Lektion gelernt, und ich habe nicht die Absicht, den Fehler jemals zu wiederholen.“

Als sie den Satz beendete, wusste sie, was nicht stimmte. Sie wahrte Distanz zu Sullivan Dean, weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte, genau das aber nicht wollte. Sie wollte nicht noch einmal so verletzt werden.

Sully nahm ihre Hand und sie gingen weiter spazieren. Die plötzliche Berührung irritierte sie so sehr, dass sie stolperte. Er fing sie auf, indem er sie am Ellbogen packte. Dann ging er weiter, ohne ein Wort zu sagen.

Minuten später blieb Sully abrupt stehen und drehte sich um. Ginny löste sich aus seinem Griff und erntete dafür einen weiteren scharfen Blick, den sie einfach ignorierte.

„Rein aus Neugier“, sagte er. „Georgia hat mir nie von Ihnen erzählt, doch müssen Sie sich irgendwann einmal sehr nahe gestanden haben.“

„Sie hat Sie mir gegenüber auch nie erwähnt, aber offensichtlich hat sie Ihnen viel bedeutet.“

„Ihr Bruder Tommy war und ist mein bester Freund. Ich lernte sie kennen, als sie nach Connecticut zogen. Da war sie fast sieben, wenn ich mich nicht irre.“

Ginny sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Das war gleich nach dem Brand der Montgomery Academy. Bis dahin hatten wir Tür an Tür gelebt. Nach dem Umzug habe ich sie im Sommer immer besucht, und ein Semester lang teilten wir uns am College ein Zimmer, bis ich mein Hauptfach wechselte.“

„Komisch, dass wir uns nie begegnet sind. Ich habe Georgia oft im College besucht.“

Ginny runzelte die Stirn. „Ich kann mich erinnern, dass sie in einen Typen verknallt war. Er war etwas älter als sie, und sie sagte mal, er würde vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen.“

Er sah fort. „Das dürfte wohl ich gewesen sein. Ich habe in ihr nie meine Freundin gesehen. Ich habe miterlebt, wie sie größer wurde, aber für mich war sie immer nur Tommys kleine Schwester.“

„Das ist ironisch“, meinte Ginny. „Ich war mal in Tommy verknallt. Ich glaube, ich war neun oder zehn. Das hielt so lange an, bis er mir eine Heuschrecke in die Bluse steckte. Danach fand ich Jungs einfach nur doof.“ Sie verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Manchmal finde ich das heute immer noch.“

Sully musste herzhaft lachen. Ginny war völlig überrascht, weil sie ihn so noch nicht erlebt hatte und weil der Ausdruck sein Erscheinungsbild völlig veränderte.

„Sie sollten das öfter machen“, meinte sie.

„Was denn?“

„Lachen. Steht Ihnen gut.“

Verärgert darüber, dass sie zu viel gesagt hatte, wollte sie sich abwenden, da legte Sully seine Hand auf ihre Wange.

„Sie machen es schon wieder“, sagte er. „Und tun Sie jetzt bloß nicht so, als wüssten Sie nicht, wovon ich rede. Sie sagen etwas Nettes, und dann sind Sie gleich gereizt. Was geht Ihnen durch den Kopf?“

Sie verengte wütend die Augen. „Ich dachte, Sie sind mein Leibwächter, nicht mein Therapeut.“

„Ginny.“

Sie seufzte. „Es hat mit Ihnen nichts zu tun, es liegt an mir.“

„Das sehe ich anders, weil ich nämlich derjenige bin, der Ihre Launen abbekommt.“

Der Sarkasmus in seinen Worten brachte das Fass zum Überlaufen. Mit zitternder Stimme brach es aus ihr hervor: „Du willst wissen, was nicht stimmt? Ich werde es dir sagen! Ich fühle mich zu dir hingezogen, und das will ich eigentlich nicht. Jemand ist hinter mir her und will mich umbringen, und ich habe nichts Besseres zu tun, als einen FBI-Agenten anzuhimmeln, der aus meinem Leben verschwindet, sobald dieser Fall erledigt ist! Das ist das, was nicht mit mir stimmt! Ich versuche, Distanz zu dir zu wahren, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Ich bin sicher, dass das im Grunde nur dieses … dieses … wie heißt das noch, ja, dieses China-Syndrom ist, aber das hilft mir auch nicht.“

„Stockholm“, murmelte er, unfähig, etwas anderes von sich zu geben.

„Wovon redest du da?“ gab sie zurück.

„‚Das China-Syndrom‘ war ein Film. Ich glaube, du meinst das Stockholm-Syndrom, bei dem ein Opfer eine romantische Beziehung zu seinem Geiselnehmer entwickelt.“

„Oh ja, danke vielmals!“ herrschte sie ihn an. „Danke, dass du mich noch verbesserst, wenn ich mich schon zum Narren mache. Das gibt der Sache wenigstens den richtigen Kick.“

Nachdem sie alles gesagt hatte, was ihr möglich war, ohne in Tränen auszubrechen, drehte sich Ginny um und marschierte mit hoch erhobenem Kopf zurück in Richtung Hütte.

Sully stand da und sah ihr nach. Etwas anderes konnte er nicht machen, wenn er nicht gerade bereit war, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, um seiner elenden Existenz ein Ende zu setzen. Aber so weit war er nicht. Noch nicht. Nicht, wenn die schönste Frau, die er seit Jahren gesehen hatte, ihm erklärte, sie fühle sich von ihm angezogen.

Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Verdammt. Sie mochte ihn. Sie mochte ihn wirklich. Natürlich musste er erst einmal einen Weg finden, um ihre Abneigungen zu überwinden, von denen sie einige vorzuweisen hatte. Aber er hatte schon immer eine Schwäche für Herausforderungen, und Virginia Shapiro besaß die Voraussetzungen, um die größte Herausforderung seines Lebens zu werden.

Als er bemerkte, dass sie fast außer Sichtweite war, eilte er ihr nach. Auf dem Weg zurück zur Hütte erschreckte ihn das Geräusch eines zerbrechenden Astes, aber als er ins Unterholz sah, ergriff plötzlich ein Hase die Flucht vor ihm. Erleichtert aufatmend ging er weiter.

Carney atmete langsam aus, als der große Mann sich entfernte. Fast hätte er ihn entdeckt, wäre da nicht dieser Hase losgerannt. Er war zu weit weg gewesen, um ein Wort zu verstehen, aber die Gesten hatten ihm verraten, dass sie sich stritten. Er hatte auch genug gesehen, um seine Meinung zu ändern, an wem er sich rächen wollte. Er würde dem Mann wehtun, sehr sogar. Aber erst, nachdem er ihm die Frau genommen hatte. Ein Mann war erst dann richtig verwundbar, wenn er verliebt war.

„Das wird dir noch Leid tun“, murmelte er und sah Sully nach, bis der nicht mehr zu sehen war. „Heute Nacht wirst du bedauern, dass du jemals gelebt hast.“