18. KAPITEL

Der FBI-Helikopter landete kurz nach zehn Uhr morgens am Rand von Bainbridge in Connecticut, nachdem es in Washington D.C. einen Zwischenstopp gegeben hatte. Der Zeitplan war ein wenig geändert worden, als man erfuhr, was sich in Karnoffs Haus zugetragen hatte. Nachdem Dan die Meldung bekommen hatte, Karnoff habe sich etwa um neun Uhr auf den Weg ins Krankenhaus gemacht – vermutlich um seine Frau abzuholen –, war somit niemand zu Hause, dem er den Durchsuchungsbefehl hätte zustellen können.

Nach der Anspannung, dem Mann gegenüberzutreten, der so viele Leben vernichtet hatte, war diese Entwicklung für Ginny enttäuschend. Jetzt saßen sie in einem Van auf der anderen Straßenseite von Karnoffs Haus und warteten darauf, dass er endlich zurückkehrte. Ginny musste an die Frau denken, die er aus dem Krankenhaus holte. Sie hatte ihren Sohn verloren, und in Kürze würde sie auch ihren Mann verlieren.

Sully und Dan saßen auf den Vordersitzen des Vans und unterhielten sich über die bevorstehende Durchsuchung, während die Chee-Brüder schweigend hinter Ginny sitzend darauf warteten, dass etwas geschah.

Noch vor zwei Monaten war sie völlig sorglos durchs Leben gegangen.

Dass sie jetzt im Begriff war, mit einem Mörder konfrontiert zu werden, war fast mehr, als sie ertragen konnte. Sie wollte, dass es endlich vorüber war. Sie wollte nicht länger in dieser Anspannung leben.

Als sie seufzte, drehte sich Sully nach ihr um.

„Alles in Ordnung? Du musst ihm nicht gegenübertreten, wenn du es nicht willst.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Okay, aber du musst es wissen“, sagte er.

„Ich weiß.“

Er zwinkerte ihr zu. Sie lächelte ihn an, dann ging ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf.

„Sully?“

„Ja, Schatz?“

„Dass sich sein Sohn umgebracht hat, finde ich eigentlich sehr tragisch.“

„Ich würde das eher als Ironie des Schicksals bezeichnen. Karnoff hat sechs Frauen dazu gebracht, Selbstmord zu begehen. Und dann macht sein Sohn das Gleiche. Ich hoffe, dass er für den Rest seines Lebens nicht darüber hinwegkommt.“

„Ich meinte eigentlich mehr, welche Last die Mutter mit sich herumtragen muss.“

Einen Moment lang herrschte völlige Stille, dann nickte Sully und sah wieder auf die Straße.

Franklin Chee beugte sich vor. „Das ist der Lauf der Welt“, sagte er. „Die Mutter hat immer die schwerste Last zu tragen. Vom Tag der Zeugung ihrer Kinder bis zu dem Tag, an dem man sie beerdigt, ist die Liebe für ihre Kinder ihre größte Freude und ihr ärgster Kummer.“

„Das ist traurig“, sagte Ginny.

„Ja, aber Sie müssen sich dem Leben stellen, um es zu genießen.“

Ginny saß da und nahm die Weisheit seiner Worte in sich auf.

„Danke, Franklin.“

Er berührte sie leicht an der Schulter als Geste des Verstehens.

„Nichts zu danken.“

Wieder machte sich Stille breit, bis Franklin fragte: „Möchte jemand hören, wie Webster John Wayne imitiert?“

Dan lachte laut los, während Sully breit grinste.

Ginny genoss die Kameradschaft der Gruppe und wusste, dass sie ihr sehr fehlen würde, wenn das alles einmal vorüber war.

Lucy Karnoff zupfte abwesend am Stoff ihres Kleides. Es war Emiles Lieblingskleid, und seine Hoffnung war, dass sie in ihre Rolle als pflichtbewusste Ehefrau zurückfiel, wenn sie es bei der Heimkehr trug. Doch Lucys Verstand hatte sich zu sehr zurückgezogen, als dass ein lilafarbenes Kleid daran etwas hätte ändern können.

„Wir sind fast zu Hause“, sagte Emile.

„… unter dem Bett“, murmelte sie.

„Jetzt nicht mehr“, erwiderte er leise. „Jetzt nicht mehr.“

Einen Moment kehrte die alte Lucy zurück, als sie sich ihm zuwandte.

„Nicht mehr?“

Er lächelte sie an. „Nein. Nicht mehr.“

„Nicht mehr … nicht mehr … nicht mehr.“

Emile seufzte. Er hatte eine Hürde überwunden und stand sofort vor der nächsten.

„Wir sind da, Sir“, sagte der Taxifahrer und fuhr vor das Haus. Dann stieg er aus, um dem alten Mann und dessen Frau die Tür aufzuhalten. Als Emile ihm einen Zwanziger gab, steckte er ihn lächelnd ein. „Vielen Dank, Sir. Und Ihrer Frau wünsche ich gute Besserung.“

„Ja, danke“, sagte Emile und nahm Lucy an der Hand. „Komm mit, meine Liebe, lass uns ins Haus gehen. Hier draußen ist es zu heiß.“

„Zu heiß … zu heiß … zu heiß.“

Er hatte soeben den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als er hörte, dass sich mehrere Fahrzeuge näherten. Aus Angst, die Journalisten könnten sich auf ihn stürzen, schob er Lucy rasch vor sich her ins Haus, um sie vor den Kameras zu schützen. Als er sich aber umwandte und die Tür schließen wollte, sah er, dass es sich nicht um eine Reportermeute handelte.

„Emile Peter Karnoff?“

Er runzelte die Stirn. Es war ungewöhnlich, dass ein Mann, den er noch nie gesehen hatte, ihn mit seinem vollen Namen ansprach.

„Ja?“

„Ich bin Agent Dan Howard vom FBI. Ich habe einen Durchsuchungsbefehl für Ihr Haus.“

Ehe Emile etwas erwidern konnte, hielt er das amtliche Schreiben in der Hand und wurde von den Agenten zur Seite gedrängt.

„Gentlemen! Ich muss dagegen protestieren, dass Sie in einer so tragischen Zeit mein Haus durchsuchen wollen. Warum wollen Sie das überhaupt machen? Mein Sohn hat Selbstmord begangen, das steht völlig außer Frage. Oder meinen Sie etwa, dass es nicht so gewesen sein könnte?“

Dan achtete nicht auf ihn. „Agent Chee, du und dein Bruder fangt oben an. Ihr wisst ja, was wir suchen.“ Er wandte sich den anderen Agenten zu, die das Haus ebenfalls beobachtet hatten, und schickte sie in den anderen Flügel des Hauses.

Mitten in der hereingebrochenen Unruhe setzte etwas in Lucys Verstand ein. Sie hatten Besuch, also musste sie sich um den Besuch kümmern. Ihre schwache zittrige Stimme durchdrang das Chaos und ließ alle Anwesenden einen Moment lang innehalten.

„Emile! Liebster! Du hast mir nicht gesagt, dass du Besuch mitbringen würdest.“ Sie deutete in Richtung der Bibliothek, als würde sie den Verkehr auf einer Straßenkreuzung regeln. „Gehen Sie doch bitte alle in das Arbeitszimmer meines Mannes. Ich werde Ihnen in wenigen Minuten Erfrischungen bringen. Und mein Früchtebrot wird Ihnen bestimmt schmecken. Emile ist ganz verrückt danach.“

Sully konnte Ginny nicht ansehen. Er wusste, was sie dachte, nachdem sie bereits kundgetan hatte, wie sehr ihr diese bedauernswerte Frau Leid tat. Offenbar hatte sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen.

„Sir, sorgen Sie bitte dafür, dass Ihre Frau uns nicht im Weg ist“, sagte Sully.

„Ich protestiere nochmals gegen diese unwürdige Behandlung“, brüllte Emile. „Warum sind Sie hier? Was sollen wir getan haben, dass uns die Regierung so behandelt? Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“

Sully drehte sich um und sah dem Mann zum ersten Mal direkt ins Gesicht.

„Ja, wir wissen, wer Sie sind“, sagte er leise. „Sie sind der Mann, der sechs junge Frauen auf dem Gewissen hat.“

Emile wurde blass, hielt sich die Brust und machte fassungslos einige Schritte nach hinten.

Es war ausgerechnet Lucy, die ihn zu einem Stuhl nahe dem Eingang führte.

„Komm, mein Lieber. Du siehst etwas bleich aus. Warum setzt du dich nicht, während ich unseren Gästen Tee bringe?“

Ginny hielt sich noch immer im Hintergrund auf und beobachtete die Szene. Als Karnoff sich von der Gruppe löste und hinsetzte, trat sie ein und schloss leise die Tür hinter sich.

Agenten suchten in jedem Winkel des Hauses, während Dan und Sully in der Eingangshalle standen.

Es war nur eine Frage der Zeit, ehe sie den alten Mann verhafteten, aber zuvor wollten sie die Durchsuchung hinter sich bringen. Auch wenn sich im Haus kein weiterer Beweis finden sollte, waren sie sicher, dass sie mit den Telefonaufzeichnungen und Ginnys Aussage genug in der Hand hatten, um ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen.

Emiles Herz raste wie wild. Er legte die Hand flach auf seine Brust und zwang sich dazu, sich zu entspannen. Er schloss die Augen und wandte eine Entspannungsmethode an, die er sonst bei seinen Patienten zur Anwendung kommen ließ.

„Haben Sie es auf diese Weise gemacht?“

Emile zuckte zusammen, als er die Stimme hörte, und sah auf.

„Entschuldigen Sie, aber haben Sie mich gemeint?“ fragte er, während Lucy hin und her eilte und so tat, als würde sie Tee und Gebäck reichen.

Ginny sah ihm lange in die Augen. Ihr Zorn war stärker als die Angst vor diesem Mann. Sie sprach mit gesenkter Stimme und verhielt sich ruhig, auch wenn unter der Oberfläche die Abscheu vor diesem Mann brodelte.

„Warum haben Sie es getan?“

Er zog ein Taschentuch aus seinem Jackett und wischte sich über das Gesicht.

„Es tut mir Leid, Miss, aber Sie müssen schon etwas präziser werden. Ich weiß nämlich nicht, was Sie meinen.“

Seine Stimme ließ sie schwach werden, doch ihr Hass half ihr, sich zu konzentrieren.

„Wir haben Ihnen nichts getan“, murmelte sie und dachte an einen kleinen Jungen, der ohne seine Mutter aufwachsen musste, und an Georgia, die der Welt noch so viel hätte geben können. „Sie haben mit uns gemacht, was Sie wollten, als wir noch klein waren, aber das hat Ihnen nicht genügt, nicht wahr? Sie mussten die Beweise vernichten. Hatten Sie Angst vor uns? War es das?“

„Miss, ich weiß nicht, wovon Sie reden!“ schrie Emile sie an und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Das ist ein Albtraum!“ rief er. „Ein Albtraum, der kein Ende nehmen will! Oh Gott, lass mich doch endlich aufwachen!“

Sully wirbelte herum und sah, dass Ginny ins Haus gekommen war. Karnoffs Verhalten ließ erkennen, dass sie ihn zur Rede gestellt hatte. Er eilte zu ihr und fasste sie am Arm, um sie in Sicherheit zu bringen. Aber sie riss sich von ihm los, da sie völlig auf den Mann im Sessel konzentriert war.

„Lass mich“, sagte sie. „Ich muss das machen.“

Lucy war dem Klang der Stimme ihres Mannes gefolgt und ließ sich wie ein Kind auf seinem Schoß nieder.

„Das ist mein Ehemann“, sagte sie, während sie einen Arm um seinen Nacken legte. „Er ist ein sehr wichtiger Mann, müssen Sie wissen.“

Emile versuchte, sich aus ihrer Umarmung zu lösen, doch sie wollte nicht loslassen.

„Ich vermisse ihn ganz schrecklich, wenn er nicht da ist“, fuhr sie fort, „aber ich weiß, dass seine Arbeit für die Welt von großer Bedeutung ist. Darum ist es meine Pflicht, sein Zuhause sorgenfrei zu halten. Dadurch kann er in einer angenehmen Umgebung arbeiten.“

„Ja, Ma’am“, sagte Sully und fasste Ginny an den Schultern, um sie sanft an sich zu drücken. „Ich sehe, dass Sie gute Arbeit leisten.“

Lucy strahlte und tätschelte Emiles Wange. „Es ist so viel zu tun. So viele Spinnweben müssen weggewischt werden. Nach so vielen Jahren immer noch so viele Spinnweben.“

„Ja, Ma’am, Sie haben ein sehr sauberes Haus“, meinte Sully.

Emile schloss die Augen und kämpfte gegen den Wunsch an, einfach laut zu lachen und ihr in den Wahnsinn zu folgen. Diese höfliche Unterhaltung war schlicht lächerlich, wenn man überlegte, was sich in diesem Moment in seinem Haus abspielte.

„Wissen Sie, ich habe eine Putzfrau“, sagte Lucy. „Aber um die wichtigen Sachen kümmere ich mich selbst. Man könnte ihr niemals die Akten meines Mannes anvertrauen. Das erledige ich. Außer mir darf niemand an die Akten meines Mannes gehen … und er selbst natürlich auch“, fügte sie kichernd an.

„Lucy, diese Leute interessieren sich nicht für den Staub in unserem Haus“, sagte Emile und betete, dass sie endlich den Mund hielt.

„Oh, der Staub ist nicht so wichtig. Die Putzfrau kümmert sich um den Staub. Ich mache die Spinnweben weg.“

Emile sah Sully an und seufzte. Wenn das alles hier wirklich geschah, dann musste er den Grund dafür wissen.

„Ich weiß, dass Sie glauben, einen guten Grund zu haben, um mein Haus auf den Kopf zu stellen. Aber ich verstehe es nicht. Was gibt Ihnen das Recht, hier zu sein?“

„Es steht alles im Durchsuchungsbefehl, Sir. Wir sind hier, weil wir Beweise haben, dass Sie mit jeder der Frauen telefonischen Kontakt hatten, kurz bevor sie starben. Die einzige Ausnahme ist Schwester Mary Teresa vom Sacred Heart Convent. Wir können noch nicht beweisen, wie Sie mit ihr Kontakt aufgenommen haben, aber wir wissen, dass Sie verantwortlich sind.“

Karnoff schüttelte den Kopf. „Es tut mir Leid, doch ich weiß nicht …“

„Spinnweben“, rief Lucy und klatschte in die Hände. „Emile, du musst dieses Kloster besuchen. Diese Fenster sind so wunderschön. Und wenn die Sonne scheint, leuchten all diese Farben. So wie die Blumen in meinem Garten.“

Sully erkannte als Erster die Bedeutung ihrer Worte.

„Sie waren im Kloster, richtig?“ fragte er.

„Oh ja“, erwiderte Lucy. „Es ist noch gar nicht so lange her. Die Fahrt hat nicht lange gedauert. Etwa eineinhalb Stunden mit dem Zug. Ich war zeitig zurück, um für Phillip das Abendessen zu kochen.“ Auf ihrem Gesicht zeichneten sich Falten ab, als sie Sully ansah. „Mein Sohn ist tot, müssen Sie wissen. Er hat den ganzen Boden voll geblutet. Ich wollte seinen Verstand heilen, aber ich habe die falsche Kassette genommen.“ Ihre Hände begannen zu zittern, während ihr Tränen in die Augen schossen. „Ich muss das Blut wegwischen. Wir können nicht essen, wenn ich das Blut nicht wegwische.“

Während sie sprach, sah Sully zu Dan, der sich zu ihnen gestellt hatte. Eine Kassette? Hatte sie ihrem eigenen Sohn etwas angetan? Und auch den Frauen?

Emile bemerkte am Gesichtsausdruck der Umstehenden, dass etwas Entscheidendes geschehen war, doch er war so sehr darauf konzentriert, Lucy nicht in einen weiteren ihrer Anfälle abgleiten zu lassen, dass er keine Fragen stellte.

„Der Boden ist sauber, meine Liebe. Es ist heute Morgen alles gereinigt worden. Alles ist wieder in Ordnung. Alles ist wieder so, wie du es am liebsten hast.“

Sie tätschelte Emiles Bein, während ihr Lächeln völlig deplatziert wirkte, da ihr immer noch Tränen über die Wangen liefen.

„Alles ist sauber“, sagte sie. „Dann muss ich jetzt den Tee holen.“

„Warten Sie“, sagte Dan. „Mrs. Karnoff, darf ich Sie etwas fragen?“

„Aber sicher. Ich glaube bloß nicht, dass ich etwas Wichtiges zu sagen habe. Mein Mann ist der Star in dieser Familie. Ist es nicht so, mein Lieber?“

Dan blieb hartnäckig. „Mrs. Karnoff, wissen Sie, wer Emily Jackson ist?“

Lucy nickte. „Spinnweben.“

Sully stöhnte leise auf. Sie war es!

Ginny begann zu weinen und drehte sich um, damit sie ihr Gesicht an Sullys Brust anlehnen konnte.

„Und Josephine Henley?“ fragte Dan.

„Spinnweben.“

„Lynn Goldberg? Frances Wardy? Allison Turner?“

„Hören Sie auf damit“, brauste Emile auf. „Meine Frau wird kein weiteres Wort sagen, wenn Sie mir nicht endlich erklären, was hier los ist!“

Lucy sah ihn verwundert an. „Es ist nicht höflich, unsere Gäste anzuschreien. Sie fragen doch nur nach den Spinnweben. Ich habe mich um sie gekümmert. Du bist ein wichtiger Mann. Du kannst dir keine Spinnweben erlauben. Ich habe doch auch versucht, Phillip wieder hinzubekommen. Aber ich glaube, ich habe die falsche Kassette genommen.“

Emile sah Dan ratlos an. „Ich bitte Sie, Sir. Eine Erklärung ist das Mindeste.“

„In den letzten Monaten wurden von einem Handy, das auf Ihren Namen registriert ist, sechs …“, er sah Ginny an und korrigierte die Zahl, „… nein, sieben Frauen in verschiedenen Teilen der Vereinigten Staaten angerufen. Unmittelbar nach diesem Anruf haben sich sechs dieser Frauen völlig untypisch verhalten und dadurch ihren Tod herbeigeführt.“

„Es ist aus und vorbei. Stell dich deiner größten Angst, öffne deine Arme und gehe zu Gott“, säuselte Lucy und klatschte in die Hände. „Und weg sind die Spinnweben.“

„Oh mein Gott!“ flüsterte Ginny. „Georgias größte Angst war Wasser. Sie konnte nicht schwimmen. Der Priester hat gesagt, dass sie vor dem Sprung die Arme ausgebreitet und lächelnd zum Himmel geblickt hat.“

Ginny sah zu der alten Frau, unfähig, den unschuldigen Gesichtsausdruck und die grauenhaften Taten miteinander in Verbindung zu bringen.

Emile begann zu verstehen, dass seine Frau etwas Schreckliches verbrochen haben musste, auch wenn er noch immer nicht wusste, um was es sich handelte.

„Dr. Karnoff, erkennen Sie mich wieder?“ fragte Ginny.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Sollte ich?“

„Mein Name ist Virginia Shapiro.“

Ein Schatten huschte über Lucys Gesicht. „Diese Spinnwebe konnte ich nicht finden.“

„Und das haben wir Georgia zu verdanken“, murmelte Sully.

Emile starrte Ginny an, dann schüttelte er abermals den Kopf. „Nein, es tut mir Leid.“

„Erinnern Sie sich an die Montgomery Academy? 1979?“

„Aber natürlich.“

Seine Antwort irritierte sie alle. Ginny hatte erwartet, dass er es bestreiten würde.

„Wirklich?“

„Aber sicher. Ich habe dort zum ersten Mal meine Theorien in der Praxis getestet“, sagte er und betrachtete Ginny eindringlich. „Ach ja! Sie waren das kleine Mädchen mit den Asthmaanfällen.“

„Nein, da irren Sie sich“, sagte Ginny. „Ich leide nicht mehr unter Asthma, seit ich …“

In dem Moment verstand sie. Er lächelte.

„Diese Freude, Ihnen zuzusehen, wie die Panik aus Ihrem Blick wich, zu wissen, dass Sie gelernt hatten, wie Sie es verhindern konnten, dass sich Ihre Bronchien zusammenzogen … oh, Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich das gefreut hatte.“

Ginny versuchte, die Tatsache zu verarbeiten, dass der Mann, den sie für ein Monster gehalten hatte, sie in Wahrheit von einer Krankheit geheilt hatte. Sully wechselte in dem Moment das Thema.

„Erinnern Sie sich noch an Edward Fontaine?“ fragte er.

„Der Flug nach Florida hat vierhundertfünfundsiebzig Dollar gekostet“, warf Lucy ein.

Dan sah die Frau ungläubig an. Die Frau hatte den Verstand verloren. Sie würden niemals ein Geständnis von ihr bekommen, da sie nicht zurechnungsfähig war. Sie würde den Rest ihres Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbringen, aber in Anbetracht ihres zerbrechlichen Zustands würde sie dort nicht einmal einen Monat überleben. Dann jedoch dachte er an die Menschen, die sie auf dem Gewissen hatte, und fand, dass Mitleid bei ihr nicht angebracht war.

Ohne zu ahnen, was Lucy getan hatte, antwortete Emile auf Sullys Frage: „Natürlich erinnere ich mich an Fontaine. Er war ein bemerkenswerter Mann, der sich völlig den Kindern und ihrer Erziehung verschrieben hatte. Darum war er auch einverstanden gewesen, mich in seiner Schule tätig werden zu lassen. Er kümmerte sich auch darum, von den jeweiligen Eltern eine Einverständniserklärung einzuholen. Ich glaube, die habe ich sogar noch irgendwo in meinen Unterlagen. Ich bin sehr gründlich in solchen Dingen.“ Wieder sah er Ginny an. „Es ist schwer zu glauben, wie viel Zeit seitdem vergangen ist. Sehen Sie sich nur an. Sie sind eine wundervolle und reife junge Frau, und damals waren Sie ein ruhiges und kränkliches Kind. Ich frage mich, was aus den anderen Kindern geworden ist. Wissen Sie etwas über sie?“

„Dr. Karnoff, Sie haben nicht verstanden“, sagte Sully. „Die Namen, die Agent Howard vorgelesen hat, waren die Namen dieser Mädchen … und sie sind alle tot. Und ohne den mutigen Einsatz einer Nonne wäre Ginny heute auch tot.“

Übelkeit ergriff von Emile Besitz. Mit einem Mal begann er den Zusammenhang zwischen den Anschuldigungen und Lucys seltsamen Kommentaren zu erfassen. Er hatte Angst davor zu fragen, aber es musste sein, weil sich mit der Antwort auch alle anderen Fragen nach dem Grund für die Anwesenheit der Agenten in seinem Haus klären würden.

„Was ist passiert?“

„Sie sind angerufen worden, dann wurde ihnen ein Band mit dem Geräusch von Donner und einem Glockenspiel vorgespielt. Ich weiß nicht, was ihnen genau gesagt wurde, aber auf jeden Fall begingen sie unmittelbar darauf Selbstmord.“

„Das habe ich Ihnen doch gesagt“, rief Lucy dazwischen. „Es ist aus und vorbei. Stell dich deiner größten Angst, öffne deine Arme und gehe zu Gott.“

Emile sprang aus dem Sessel und warf Lucy dadurch beinahe zu Boden.

„Lucy! Was hast du getan?“

„Das habe ich dir gesagt“, erwiderte sie. „Sie waren Spinnweben. Ich habe alle Spinnweben beseitigt. Bei Phillip hat es nicht funktioniert. Ich glaube, ich habe die falsche Kassette genommen.“

Emile erinnerte sich an den Kassettenrekorder, der unter Phillips Bett gestanden hatte. Er starrte sie an, und dabei wurde ihm bewusst, dass er die Frau, die seine Ehefrau war, eigentlich gar nicht kannte.

Mit bebender Stimme stellte er sie zur Rede: „Du hast diese Frauen umgebracht?“

„Sie haben sich selbst umgebracht“, gab sie nüchtern zurück. „Du hast alles vorbereitet, ich habe nur auf den Knopf gedrückt.“

„Aber warum?“

Ihr Ausdruck veränderte sich, und einen Moment lang war es, als würde er mit der alten Lucy reden.

„Weil der Schuldirektor die Einverständniserklärungen der Eltern gefälscht hatte und ich das wusste. Wir haben die Hypothek auf unser Haus aufgenommen, damit du ihm Geld geben konntest und er dich in seine Schule ließ. Wenn es nicht geklappt hätte, dann hätten wir ihm das ganze Geld für nichts gegeben.“ Sie wirkte ärgerlich, so, als hätte er kein Recht, ihr Verhalten in Frage zu stellen. „Die ganzen Jahre sind verstrichen, und es hat nichts mehr bedeutet. Aber dann wurde dir der Preis verliehen, und da bekam ich Angst, dass sich jemand erinnern könnte.“

Emile schaffte es gerade noch bis zur Gästetoilette, dann übergab er sich.

„Emile ist unwohl. Wo sind die Aspirin?“

Dan holte sein Walkie-Talkie aus der Tasche und rief die Agenten zurück, die immer noch das Haus durchsuchten.

„Kommt alle wieder her“, wies er sie an. „Bringt mit, was ihr gefunden habt, auch wenn ich nicht glaube, dass wir davon überhaupt etwas benötigen.“

„Es ist vorüber“, sagte er dann in die Runde.

„Noch nicht ganz“, erwiderte Sully.

„Wo ist meine Frau?“ fragte Emile, als er leichenblass zurückkehrte.

Sully nahm ihn am Arm. „Unsere Leute passen auf sie auf, Sir. Ich glaube, sie wollte ein Aspirin holen.“

„Was wird mit ihr geschehen?“ wollte Emile wissen.

„Wir werden sie festnehmen. Sie wird von einigen Psychologen untersucht werden und danach wahrscheinlich in die Psychiatrie eingewiesen.“

„Mein Gott“, rief Emile entsetzt. „Ich kenne diese Anstalten. Sie wird das nicht überleben. Oh bitte, haben Sie doch Gnade!“

„Sir, was glauben Sie, wie viel Gnade ihr die Familien der Frauen einräumen würden, die sie umgebracht hat?“

Einen Moment lang stand Emile stumm da, dann flehte er: „Oh Gott, ich würde alles dafür geben, um das hier ungeschehen zu machen.“

„Dafür ist es zu spät“, sagte Sully und nahm Ginnys Hand. „Aber es ist nicht zu spät, um das rückgängig zu machen, was Sie ihr angetan haben.“

Ginny hielt den Atem an, da sie fürchtete, dass sich ihre Hoffnung nicht erfüllte. Doch dann seufzte der alte Mann und streckte seine Hand aus.

„Wenn die Schule nicht abgebrannt wäre, hätten wir das schon lange hinter uns. Kommen Sie, es ist Zeit, die Vergangenheit zu begraben.“

Sie zögerte.

„Ich bin bei dir“, sagte Sully.

Schließlich ging sie mit dem alten Mann, und im Geist sah sie sich an der Montgomery Academy, wie sie Hand in Hand mit Georgia den letzten Klassenraum betrat.