9. KAPITEL

Ginny wollte schreien, aber fast im gleichen Moment schlug Carney ihr auf den Mund und packte sie an den Armen, um ihren Körper gegen die Wand zu schleudern. Ihr Kopf wurde herumgerissen, als sie gegen den Spiegel prallte. Sie versuchte, sich einzureden, dass das nicht wirklich geschah, aber das Geräusch von splitterndem Glas ließ sie die Realität erkennen. Sie konnte einen kurzen Blick auf Carneys Gesicht werfen, aber dann wurde sie abgelenkt, da er ihre Brüste packte und dann begann, an ihrem T-Shirt und ihren Shorts zu zerren.

„Nein!“ schrie sie und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. „Verschwinde von hier! Lass mich in Ruhe!“

„Ich geh nirgendwohin, du Miststück. Und du auch nich“, knurrte Carney und presste sich brutal gegen ihren Körper.

Die Wut wurde mächtiger als ihre Angst, und Ginny schlug zurück, kratzte ihm mit allen Fingernägeln über das Gesicht und stieß ihre Daumen in seine Augenhöhlen.

Er schrie vor Schmerz auf und begann zu fluchen, während er nach ihren Händen griff, um die Kontrolle wiederzuerlangen. Er hatte sich jedoch in seiner Gegnerin getäuscht.

Die trat und biss, schrie und schlug um sich, um ihm an jeder empfindlichen Stelle seines Körpers Schmerzen zuzufügen.

„Stopp! Stopp!“ brüllte Carney, der noch immer nicht die Oberhand zurückerlangt hatte.

Dann endlich gelang es ihm, eine Hand zu fassen zu bekommen. Er griff nach dem Stromkabel ihres Föhns, um sie damit zu fesseln. Nachdem er es um ihr linkes Handgelenk gewickelt hatte und nach ihrer anderen Hand greifen wollte, versetzte Ginny ihm einen Treffer mitten auf die Nase. Blut spritzte umher, als Carney vor Wut und Schmerz aufschrie.

Reflexartig hielt er sich beide Hände vors Gesicht, was Ginny dazu nutzte, um ihm einen kraftvollen Stoß zu geben. Er taumelte nach hinten in die Duschkabine und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Ginny stürmte aus dem Badezimmer und schrie nach Sully, während Carney dicht hinter ihr war.

Sie hatte gerade mit der Hand den Türknauf umschlossen, als er sie einholte und diesmal an den Haaren packte, sie nach hinten riss und zu Boden schleuderte. Im nächsten Moment lag er auf ihr und bot Ginny kaum noch eine Chance, ihm zu entkommen. Da er zu schwer und zu stark für sie war, überlegte sie voller Panik, wie sie fliehen konnte. Er schlug sie erneut mit der flachen Hand, woraufhin ihr Körper erschlaffte, da sie vortäuschte, durch den Schlag das Bewusstsein verloren zu haben.

Carney brauchte ein paar Sekunden, ehe er bemerkte, dass sie sich nicht mehr bewegte. Und selbst dann konnte er sich einen letzten Hieb in ihre Magengegend nicht verkneifen, bevor er ihre Beine auseinander drückte und sich hinhockte.

Blut tropfte von seinem Kinn, und ein Auge begann bereits anzuschwellen. Das Miststück hatte ihm die Nase gebrochen. Jetzt war er richtig sauer. Das schrie nach mehr als bloßer Rache dafür, dass man ihm sein Gesicht in den Dreck gedrückt hatte. Wenn er mit diesem Weib fertig war, würde nicht mehr viel übrig sein, was dieser Bastard auf dem Parkplatz noch beerdigen konnte.

Er griff nach dem Halsausschnitt ihres T-Shirts und zerriss es mit einem kraftvollen Ruck. Zum Vorschein kam ihre zarte cremefarbene Haut und ein pinkfarbener Spitzen-BH, den er rasch öffnete. Erst als er seine Hand in ihre Shorts schob, reagierte Ginny. Mit ihren Armen rudernd versetzte sie ihm erst einen Handkantenschlag in den Schritt und schlug ihm dann ein weiteres Mal auf die Nase. Von den stechenden Schmerzen wie gelähmt sackte Carney zur Seite weg und hielt sich mit beiden Händen den Schritt. Dabei konnte Ginny ein Bein befreien.

Es war einfach nur Pech, dass Carney in dem Moment ihren Knöchel zu fassen bekam. Obwohl der Schmerz fast übermächtig war, gelang es ihm, Ginnys Bein so zu umklammern, dass sie sich nicht befreien konnte.

„Hilfe!“ schrie sie, so laut sie konnte, und trat mit dem freien Fuß nach Carney.

Der schaffte es, an den Lautstärkeregler des Radios zu kommen und es noch lauter zu stellen. Tränen liefen ihm über sein Gesicht und vermischten sich mit dem Blut.

„Du Miststück, du elendes Miststück“, schluchzte er und griff hinter sich, um ein Messer hervorzuholen.

Entsetzt sah Ginny zu, wie Carney die Klinge herausspringen ließ. Sie begann daraufhin, so laut zu schreien, wie noch nie in ihrem Leben, übertönte sogar das Radio und war so laut, dass Carneys Kopf noch schlimmer schmerzte. Er hatte Frauen noch nie gemocht, außer wenn es darum ging, eine zu vögeln. Er misstraute ihnen, weil sie nie die Wahrheit sagten, und diese Frau hier hasste er vermutlich am meisten.

„Dir kann keiner helfen kommen, Miststück. Du kannst genauso gut die Klappe halten.“

Der Schuss ließ sie ebenso aufschrecken wie die Plastikteile, die um sie herum durch das Zimmer flogen, als die Kugel das Radio zerfetzte und auf der Stelle verstummen ließ.

Carney und Ginny erstarrten und sahen erst sich an, dann blickten sie in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war.

„Hurensohn“, sagte Sully.

Ginny nahm nur am Rande das Blut wahr, das über Sullys Gesicht lief, dann sah sie die Waffe in seiner Hand, und im nächsten Moment schoss er ein weiteres Mal. Die Kugel drang tief in Carneys Schulter ein und veranlasste ihn, das Messer loszulassen, ehe er selbst mit einem dumpfen Poltern auf den Boden schlug.

Sekundenlang hörte Ginny nichts anderes als Sullys heftigen Atem und das Pochen des pulsierenden Bluts, das durch ihre Adern raste. Dann wankte Sully nach vorn und zog den bewusstlosen Carney zur Seite, um anschließend Ginny aufzuhelfen. In dem Augenblick kamen Männer aus der benachbarten Hütte hereingestürmt und redeten und schrien durcheinander.

Sully schaffte es bis zum Bett, ehe seine Knie nachgaben. Er setzte sich hin und hielt Ginny noch immer so fest an sich gedrückt, dass sie kaum atmen konnte.

„Rufen Sie einen Krankenwagen“, sagte er zu den Männern, „und zwar schnell, sonst werde ich diesen Bastard doch noch umbringen.“

Zwei Männer liefen nach vorne zum Telefon, während die anderen näher kamen, um behilflich zu sein. Es gab keinen Zweifel daran, was geschehen war und was Carney Auger versucht hatte. Ginnys Gesichtsausdruck hatte etwas Beängstigendes, was auch für Sullys Blick galt.

„Können wir irgendwie behilflich sein?“ fragte jemand aus der Gruppe.

Sully fühlte, dass er das Bewusstsein zu verlieren begann, und schüttelte den Kopf so heftig, dass der Schmerz ihm half, die Konzentration zu wahren. Er biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzustöhnen, und deutete auf ein Handtuch, das auf einem Stuhl lag.

„Geben Sie mir das Handtuch“, murmelte er. „Der Dreckskerl hat sie fast ausgezogen.“ Behutsam legte er es um sie, während ihm bewusst wurde, dass er zu spät gekommen war, um sie wirklich zu beschützen.

Ginnys Kopf pochte, und ihr ganzer Körper schmerzte. Dazu kam der Schock, der allmählich einsetzte. Als sie zu zittern begann, legte er das Handtuch ein wenig fester um sie.

„Es ist alles in Ordnung, Baby“, sagte er leise. „Es ist alles in Ordnung. Ich bin bei dir, er kann dir nichts mehr tun.“

Ginny wollte Sully fragen, warum sein Gesicht blutverschmiert war, aber ihre Zähne klapperten so heftig, dass sie kein Wort herausbrachte.

Jemand legte einen nassen Waschlappen auf die Stelle ihres Gesichts, die leicht angeschwollen war. Ginny stöhnte auf.

„Vorsicht“, raunte Sully dem Mann zu.

„Entschuldigung. Hier, vielleicht sollten Sie das besser selbst machen.“

Sully rückte von ihr ab, um das Blut abzuwischen, das an ihrem Mund klebte. Der Anblick ihrer aufgeplatzten Unterlippe und ihrer blutenden Nase genügte fast, um Sully dazu zu bringen, Carney Auger eine weitere Kugel zu verpassen, als der alte Mann von der Rezeption in die Hütte gerannt kam.

„Was zum Teufel ist denn hier passiert?“ schrie Marshall.

„Ihr Sohn hat versucht, uns umzubringen“, erwiderte Sully. „Und ehe Sie irgendetwas zu seiner Verteidigung sagen, sollten Sie wissen, dass ich mich nur mit Mühe zusammenreißen konnte, um ihm die Kugel nicht in den Kopf zu jagen.“

Marshall war einen Moment lang zu schockiert, um etwas sagen zu können.

„Manchmal weiß man etwas über seine Kinder, das man lieber nicht wahrhaben möchte“, gab er schließlich von sich. Er sah zu Sully, dann zu der Frau in dessen Armen. „Ist sie …? Hat er …?“

„Sie ist verletzt, aber er hat es nicht geschafft, sie zu vergewaltigen, wenn Sie das meinen.“

Der alte Mann ließ die Schultern hängen und schien von einem Moment auf den anderen um zehn Jahre gealtert zu sein.

„Es tut mir schrecklich Leid.“ Er sah auf den Körper seines bewusstlosen Sohnes hinab. „Sie hätten uns allen einen Gefallen getan, wenn Sie sich nicht zusammengerissen hätten.“ Dann hob er den Kopf und atmete durch. „Ich fahre zur Hauptstraße, damit Krankenwagen und Polizei nicht die Zufahrt verpassen. Im Dunkeln sieht man das schlecht.“

Den drei Anglern schlossen sich kurz darauf ihre beiden Kameraden an. Gemeinsam standen sie um Sullivan und Ginny herum. Nicht, weil es noch nötig gewesen wäre, sondern weil es das Einzige war, was sie noch tun konnten.

Die Sanitäter nahmen sie mit ins Krankenhaus von Hattiesburg. Das Heulen der Sirenen bohrte sich tief in Sullys Gehirn, und doch war der Schmerz nichts im Vergleich zu der Angst, die sein Herz umklammert hielt. Man hatte ihm noch am Ort des Geschehens einen Kopfverband angelegt, aber die Wunde musste genäht werden. Außerdem wusste Sully aus Erfahrung, dass er eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hatte. Das alles würde wieder heilen, doch das, was er Ginny angetan hatte, war wie eine offene Wunde.

Er hätte es wissen müssen, nachdem er von Augers Vorstrafenregister gehört hatte. Ein solcher Mann ließ sich nicht einfach so in den Dreck stoßen. Sie hätten noch am selben Tag abreisen sollen, auch wenn es gegen Ginnys Willen gewesen wäre. Und er hätte aufmerksamer sein sollen, als er das Jahrbuch aus seinem Wagen hatte holen wollen. Er betrachtete sie, wie sie auf der Trage lag, während der Krankenwagen durch die Nacht raste. Sie hatte für seine Fehler teuer bezahlt.

Als sie das Krankenhaus erreichten, wusste er, dass er sich nicht mehr lange auf den Beinen würde halten können. Allerdings vertraute er den örtlichen Behörden nicht, dass sie für Ginnys Sicherheit sorgen konnten. Die Sanitäter zogen die Trage aus dem Wagen, und er folgte ihnen ins Gebäude.

„Warten Sie einen Moment“, sagte einer der beiden Männer und half ihm in einen Rollstuhl.

Sully machte das so lange mit, bis sie im Krankenhaus waren, doch als sie den Empfang erreichten, stand er auf und griff nach dem nächsten Telefon.

„Tut mir Leid“, sagte eine Krankenschwester. „Aber das ist kein öffentliches Telefon.“

„Kommen Sie schon“, drängte der Sanitäter. „Ihr Kopf muss untersucht werden.“

Sully ignorierte sie beide und holte seine Dienstmarke heraus. „Das ist ein Notfall. Wie bekomme ich hier ein Amt?“

Die Schwester riss die Augen auf. „Wählen Sie die Neun.“

Er deutete auf die Trage, auf der Ginny lag, die gerade fortgebracht wurde.

„Schwester, Sie bleiben bei dieser Frau und lassen Sie erst dann wieder aus den Augen, wenn ich Ihnen das sage. Außer dem behandelnden Arzt darf niemand in ihre Nähe kommen.“

Sie zögerte einen Moment, dann rief sie eine andere Krankenschwester zu sich, die gerade vorbeikam.

„Übernehmen Sie hier, bis ich zurückkomme“, sagte sie und folgte den Sanitätern, die Ginny in die Notaufnahme brachten.

Sully hatte Mühe, sich an die Telefonnummer zu erinnern, aber dann endlich fiel sie ihm wieder ein. Beim zweiten Klingeln wurde der Anruf entgegengenommen.

„Howard.“

Sully unterdrückte ein Aufstöhnen, als ein stechender Schmerz sich den Weg durch seinen Kopf bahnte. „Dan, ich bin’s, Sully. Wir hatten hier einen Vorfall, der mit der Sache an sich nichts zu tun hat. Aber ich brauche Hilfe.“

Agent Howard wurde hellhörig. Sullivan Dean war nicht der Typ, der Hilfe anforderte, wenn es nicht wirklich nötig war.

„Was ist passiert?“

„Lange Geschichte“, murmelte Sully. „Wir sind im Krankenhaus, ich habe eine Gehirnerschütterung, und unser Schützling wird gerade dem Arzt vorgeführt.“

„Was soll das heißen, Sully? Hattet ihr einen Unfall?“

„Wir wurden von einem Mann angegriffen … hat mit dem Fall aber nichts zu tun.“

„Bist du sicher?“

„Absolut. Allerdings traue ich den örtlichen Behörden nicht über den Weg. Es gibt zu viele Variablen, die ihren Tod bedeuten könnten.“

„Wo bist du?“

„Hattiesburg, Mississippi, aber ich weiß nicht genau, in welchem Krankenhaus.“

„Mach dir darüber keine Sorgen“, meinte Dan. „Ich lasse deinen Anruf zurückverfolgen. Du setzt dich jetzt ganz ruhig hin. In spätestens einer Stunde ist jemand bei dir.“

„Danke“, sagte Sully. „Du hast was bei mir gut.“

„Ach … Sully …“

„Ja?“

„Die Frau … kriegen die Ärzte das hin?“

Sully seufzte. „Körperlich ja.“

Dan Howard ächzte. Was Sully nicht gesagt hatte, machte ihm Sorgen.

„Was ist mit ihr geschehen?“

„Sie wäre bei einer versuchten Vergewaltigung beinahe ums Leben gekommen.“

„Oh nein!“

„Schick mir jemanden her“, sagte Sully. „Ich kann nicht länger reden.“

Howard sprach immer noch, während Sully langsam zu Boden sank.

Emile Karnoff legte die Stirn in Falten, als er den Hörer auflegte. Diese verdammten Anrufbeantworter. Solange er diesen Anruf nicht erledigen konnte, würde er keine Ruhe finden. In knapp einer Viertelstunde würde ihn sein Fahrer abholen und zum Krankenhaus fahren. Diese eine Sitzung noch, dann wäre er hier in Dublin fertig, auch wenn zu Hause noch viel Arbeit auf ihn wartete. Die junge Krebspatientin machte bereits Fortschritte, die Zahl der weißen Blutkörperchen war angestiegen, das Fieber hatte sich gelegt. Einige Ärzte am Dublin Hospital behaupteten zwar, dass die Chemotherapie endlich erste Resultate brachte, aber die meisten anderen waren sprachlos, was die Ergebnisse seiner Behandlung anging. Zwar hatte Emile keinen Dritten zu den Sitzungen zugelassen, dafür hatte er sich bei der Arbeit filmen lassen.

Auf den ersten Blick wirkte es alles so einfach. Er versetzte den Patienten in Trance und erzählte ihm im Grunde nur, er solle gesund werden. So einfach war es natürlich nicht. Tatsächlich war es eine Behandlung, die so komplex war wie der menschliche Verstand an sich.

Während der experimentellen Phase hatte er herausgefunden, dass verschiedene Klänge unterschiedliche Teile des Gehirns direkt ansprachen. Danach begann er, den Verstand mit Hilfe von Klängen zu manipulieren, indem er eine Reihe von Glocken einsetzte. Er brachte den Patienten dazu, auf diese Töne zu hören, und es gelang ihm der Zugriff auf das Unterbewusstsein und noch tiefer liegende Ebenen. Vorbei an verschütteten Erinnerungen in den Teil des Gehirns, der das Nervensystem kontrollierte, und weiter bis zu den Tiefen, die Warnsignale aussandten, wenn der Körper in Lebensgefahr war. Mit jedem höheren Ton erhielt er Zugriff auf die Regionen, in denen Schmerz registriert und aufgezeichnet wurde, bis hin zu den verworrenen Windungen im Inneren des menschlichen Geistes, die den Körper mit Stress und Anspannung vergifteten.

Vertrauen war das Wichtigste. Er lehrte den Patienten, ihm zu vertrauen. Wenn das geschafft war, ließen sie ihn in ihren Verstand vordringen. Sobald er sich dort befand, initiierte er eine Reihe von Befehlen, durch die dem Körper gesagt wurde, wie und wo er etwas heilen sollte.

Es hörte sich lachhaft an – so wie in einem alten Science-Fiction-Film. Aber es hatte auch einmal eine Zeit gegeben, da hielt man es für absurd, dass es winzige Erreger wie Viren und Bakterien geben sollte, die krank machen oder sogar tödlich sein konnten. Wie sollte etwas Unsichtbares so gefährlich sein? Aber die Zeit hatte den vorausschauenden Menschen Recht gegeben, die die Bakterientheorie für zutreffend gehalten hatten. Und immerhin war es nicht so, dass er auf völlig einsamem Posten stand. Seit Jahren wurde Hypnose eingesetzt, um Süchte, sexuelle Traumata und Ähnliches zu behandeln. Viele Studien waren in Auftrag gegeben worden über religiöse Orden in Asien und deren Mönche, die Schmerz und Blutverlust allein durch Willenskraft kontrollieren konnten.

Er hatte diese Theorie nur auf die nächste Ebene geführt. Den menschlichen Verstand einzusetzen, um den Körper zu heilen, erschien ihm so einfach – so logisch. Es mussten keine Transplantationen vorgenommen werden. Es wurden keine Medikamente verabreicht, um ein Abstoßen des fremden Organs zu verhindern. Männer wie Emile schnitten sich nicht durch Gewebe, sondern benutzten sanfte Worte und behutsam gesprochene Befehle, um sich durch den Unrat zu kämpfen, der den menschlichen Geist verstopfte. Es war ein Schritt hin zu einer perfekten Welt, und er, Emile Karnoff, hatte den mit Auszeichnung geschafft.

Zugegeben, in den ersten Jahren waren ihm einige Fehler unterlaufen, doch damit war zu rechnen gewesen. Jede Forschung geriet einmal in eine Sackgasse, in vielen Fällen auch mehr als einmal. Aber wenigstens hatte er nicht sein ganzes Leben einer Forschung gewidmet, die nirgendwohin führte. Das war ihm schon früh bewusst geworden. Erst als er mit Experimenten an tatsächlich Erkrankten begann, wurden ihm die Möglichkeiten deutlich. Er dachte zurück an diese Zeiten, er erinnerte sich an die Gesichter der Kinder, die ihn so vertrauensvoll in ihren Verstand hatten vordringen lassen. Kinder waren am leichtesten zu behandeln und für seine Methoden am empfänglichsten.

Ein Klopfen an der Tür war das Zeichen, dass der Fahrer auf ihn wartete. Auf dem Weg zum Krankenhaus dachte er über seinen Sohn nach, als der noch ein Kind gewesen war. Es war zu schade, dass die kindliche Unschuld völlig verschwand, wenn sie reifer wurden. Phillip hatte kein Ziel, keine Träume. Er existierte einfach nur – ein Schatten der Liebe, die Emile und Lucy teilten. Er sah aus dem Fenster und sehnte sich nach den ländlichen Gebieten fernab der Stadt.

Emile seufzte. Er hatte sich in Irland verliebt. Das einfache Leben und die Schönheit der Landschaft in Verbindung mit der ehrlichen Freundlichkeit der Menschen hatten es ihm angetan. Auf den Fahrten vom und zum Krankenhaus überlegte er immer wieder, wie er wohl Lucy gegenüber auf die Idee zu sprechen kommen konnte, hier ein zweites Haus zu kaufen. Es musste nichts Extravagantes sein, weil das Leben hier so einfach war. Hier hätte er Ruhe für seine Forschungen, und von hier aus waren Reisen in alle Welt genauso einfach wie von Bainbridge, Connecticut, aus, wo sie jetzt zu Hause waren.

Schließlich hatte er kein Büro oder einen Patientenstamm, den er nicht einfach zurücklassen konnte. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens mit der Forschung verbracht, und erst nachdem er den Nobelpreis erhalten hatte, bekam er Anfragen für Konsultationen. Wenn er wollte, konnte er innerhalb kürzester Zeit ein reicher Mann werden. Es würde Jahre dauern, ehe andere Ärzte seine Methoden erlernt hatten, und bis dahin wäre er so alt, dass er sich keine Gedanken mehr darüber machen musste, wie er noch mehr Geld verdienen konnte. Außerdem, ermahnte er sich, habe ich das zum Wohl der Menschheit gemacht.

„Sir, wir haben gleich das Krankenhaus erreicht“, sagte der Fahrer. „Soll ich auf Sie warten?“

Emile sah auf seine Armbanduhr, dann schüttelte er den Kopf: „Nein, danke, McGarrity, Sie können nach Hause fahren. Zurück nehme ich ein Taxi.“

„Es macht mir nichts aus, auf Sie zu warten“, beteuerte der Fahrer.

„Nein, wirklich nicht. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Fahren Sie nach Hause und verbringen Sie den Abend mit Ihrer Familie. Ich wünschte, ich könnte das auch machen.“

„Ja, Sir, danke, Sir.“

Augenblicke später betrat Emile das Krankenhaus und war in Gedanken bereits bei der jungen Frau und der Arbeit, die bald erledigt sein würde. Sie war gerade mal zweiunddreißig Jahre alt. Es bereitete ihm ein gutes Gefühl, dass ihr Gehirn bereits einen anderen Weg eingeschlagen hatte, um den Körper zu heilen. Der Beweis fand sich in ihren Blutwerten und ihrem Aussehen. Die gelbliche Färbung ihrer Haut war fast verschwunden. In sechs Monaten würde sie nach seiner Einschätzung wie neugeboren sein. Durchaus ein Wunder für eine Frau, die die Ärzte bereits aufgegeben hatten.

Als er im vierten Stock angekommen war, ging er fast schwungvoll den Gang hinunter. Er hatte auch allen Grund dazu. Es gab nur einen anderen Menschen auf Erden, der so wie er geheilt hatte. Und den hatte man gekreuzigt. Emile stand dieses Schicksal nicht bevor.

„Ohhhh, Baby, bist du wach?“

Als eine Hand um sein Glied kreiste, schnappte Phillip nach Luft und fiel aus dem Bett.

„Wer zum Teufel bist du denn?“ fragte er, während er ungläubig auf eine magere Blondine blickte, die mit gespreizten Beinen in dem Bett lag, aus dem er gerade gefallen war.

„Komm her, Baby, ich bin geil“, keuchte sie und begann, sich zu streicheln.

„Oh Gott, oh Gott!“ stöhnte er und suchte nach seiner Kleidung. Sie war nirgends zu sehen. Das war aber nicht einmal das Schlimmste an diesem plötzlichen Erwachen. Viel unerfreulicher war, dass er weder wusste, wo er war, noch, wie er dorthin gekommen war.

„Meine Sachen“, sagte er. „Wo sind meine Sachen?“

Die Frau machte eine Grimasse und streckte ihm dann die Zunge raus.

„Komm her und spiel mit Teena, dann sag ich dir auch, wo deine Sachen sind.“

Phillips Schock steigerte sich zu einer Panikattacke. Mit ihr spielen? Er brachte es ja nicht einmal fertig, sie zu berühren. Ihre Arme wiesen zahllose Einstiche auf, und ihre Beine waren mit so vielen kleinen Wunden übersät, dass er kaum hinsehen konnte. Stattdessen lief er durch das Zimmer, zog Schubläden auf und durchsuchte ihren Schrank.

„Komm her, Baby, ich bin heiß, verdammt heiß“, sagte die Frau und schloss die Augen, während sie ihre Finger schneller bewegte.

Phillip wollte sie nicht ansehen, da er fürchtete, er müsse sich übergeben. Er stürmte ins Badezimmer und wünschte sich im gleichen Moment, es nicht gemacht zu haben. Dreck, Dreck, Dreck, wohin er auch blickte.

„Nein, nein, nein“, stöhnte er und lief ins nächste Zimmer.

Dort entdeckte er auf dem Boden eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt, und als er beides versuchsweise anzog, musste er zu seinem Entsetzen erkennen, dass sie ihm genau passten. Weitere Teile in diesem Puzzle, das er sich nicht erklären konnte. Als er den Schlüsselbund aus der Jacke zog, die über einem Stuhl hing, erkannte er ihn wieder: Er gehörte ihm.

Von nebenan hörte er die Frau immer heftiger und lauter stöhnen, je näher sie dem Höhepunkt kam. Ein letztes Mal sah er sich in aller Eile um und betete, dass er nichts zurückließ, was ihm gehörte.

Als er die Wohnungstür öffnete, begann die Frau in Ekstase zu schreien.

Er warf die Tür hinter sich zu, lief los und drehte sich kein einziges Mal um.

Lucy Karnoff knallte den Hörer auf und brach dann in Tränen aus. Alles war so vollkommen gewesen, und jetzt zerbrach die ganze Welt um sie herum in tausend Stücke. Sie hatte zwei Tage lang vergeblich versucht, Phillip zu finden, hatte überall angerufen, wo er sich für gewöhnlich aufhielt, hatte sich stundenlang im Taxi durch die Stadt fahren lassen und dabei Orte aufgesucht, die so heruntergekommen waren, dass sie nach ihrer Rückkehr ihre Kleidung verbrannt hatte.

Es war nicht gerecht, es war einfach nicht gerecht, denn während ihrer ganzen Ehe hatte sie versucht, Emile das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten, damit er sich auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Und jetzt, da er die wohlverdiente Anerkennung gefunden hatte, begann alles in sich zusammenzustürzen. Es war ihre Aufgabe, die Dinge wieder zu richten, wie sie es immer gemacht hatte. Aber in den letzten zwei Jahren war ihr aufgefallen, dass die Veränderungen in Phillips Wesen an Intensität zugenommen hatten. Jedes Mal, wenn er eine Wandlung durchmachte, hatte sie dafür gesorgt, dass ihr Mann davon nichts mitbekam. Ein großer Teil ihrer Ersparnisse war für Kautionen und Bußgelder draufgegangen sowie für die Schäden an den Wagen anderer Leute, damit die sich nicht bei der Versicherung meldeten. Einmal hatte sie tausend Dollar hinblättern müssen, um die Verwüstungen zu bezahlen, die Phillip in einem Nachtclub in einer Nachbarstadt angerichtet hatte. Aber er war noch nie zuvor für so lange Zeit spurlos verschwunden.

Sie ließ sich in den Sessel hinter Emiles Schreibtisch fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Sie konnte ihren Sohn nicht finden und fühlte sich hin- und hergerissen zwischen der Schande über das, was er möglicherweise angestellt hatte, und der Angst, sie könnte ihn vielleicht nie wieder sehen. Zu ihrem Entsetzen erkannte sie, dass sie zu Letzterem tendierte, woraufhin sie zu weinen begann. Er war ihr Baby, ihr einziges Kind. Sie durfte nicht etwas so Entsetzliches denken. Sie wollte ihn zurückhaben, ganz gleich, was er getan hatte.

Sie hob den Kopf und wischte sich die Tränen ab. Er war nicht nur ihr Kind, sondern ihrer beider Kind. Es war an der Zeit, dass Emile einen Teil der Ängste und Verantwortlichkeiten übernahm. Sie öffnete die Schublade, um in seinen Papieren nach der Telefonnummer des Hotels in Dublin zu suchen, in dem er abgestiegen war. Sie fand die Nummer und lehnte sich erleichtert zurück. Emile würde wissen, was zu tun war.

Sie nahm den Hörer ab und begann die ersten Ziffern einzutippen, als sie hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Sie stand auf, ihr Herz raste.

„Phillip? Bist du das?“

Sie hörte Schritte, die sich dem Arbeitszimmer näherten, und stand auf, um zur Tür zu gehen. Dann stand er in der Türöffnung. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Seine Haare waren durcheinander, seine Augen rot unterlaufen. Seine Unterlippe zitterte, dann streckte er seine Arme aus.

„Mutter!“

Sie drückte ihn fest an sich und tätschelte seinen Rücken, so wie sie es oft gemacht hatte, wenn sie ihn tröstete, als er noch ein Kind war.

„Ja, mein Liebling, Mutter ist hier. Egal, was geschehen ist, wir bringen das schon wieder in Ordnung.“