3. KAPITEL
Ginny hatte verschlafen. Das Gewitter, das in der Nacht über St. Louis hinweggezogen war, hatte einen kurzen Stromausfall bewirkt, und seitdem blinkte der Radiowecker, anstatt sie am Morgen zu wecken. Sie fuhr sich mit der Bürste durchs Haar, blieb einmal hängen, schrie vor Schmerz auf und fluchte dann.
„Mist“, murmelte sie. Solange sie zurückdenken konnte, ließ das Geräusch des Donners sie in einen lethargischen Zustand fallen, dem meist ein langer, traumloser Schlaf folgte.
Sie nahm ihren Regenmantel und den Schirm, dann stürmte sie aus dem Schlafzimmer. Wenn nicht allzu viel auf den Straßen los war, würde sie noch einigermaßen rechtzeitig im Büro ankommen. Sie wollte gerade gehen, als es an der Tür klopfte. Erschrocken machte sie einen Satz nach hinten, dann ging sie wieder zur Tür und sah durch den Spion.
„Mist, Mist, Mist“, flüsterte sie, als sie den Hausverwalter ihres Apartmentblocks erkannte. Seit Monaten versuchte er, sich an sie heranzumachen, ohne die Tatsache einsehen zu wollen, dass sie kein Interesse hatte. Sie riss die Tür auf und hoffte, dass er ihre Ungeduld bemerkte.
„Ja?“
Er zog sie mit seinen Blicken aus, ehe er ihr ins Gesicht sah.
„Guten Morgen, Virginia.“
„Stanley … ich bin furchtbar in Eile, wie Sie sicher sehen können.“
„Ja, so geht es uns allen“, erwiderte er und hielt ihr dann einen großen Umschlag hin, den er hinter seinem Rücken versteckt hatte. „Das hier habe ich heute Morgen hinter dem Papierkorb an den Briefkästen gefunden. Ich weiß nicht, wie es dort hingelangt ist, aber da es als ‚Eilig‘ gekennzeichnet ist, hielt ich es für meine Pflicht, es Ihnen sofort zu bringen.“
„Danke“, sagte Ginny, nahm den Umschlag entgegen und schlug ihm die Tür vor der Nase zu, während sie die Absenderangabe las.
Fast augenblicklich besserte sich ihre Laune. Sacred Heart Convent. Er musste von Georgia kommen. Von Schwester Mary, berichtigte sie sich. Es war für sie immer noch unvorstellbar, dass Georgia Dudley Nonne geworden war. Die Georgia Dudley, die auf einer Silvesterparty ihren Pullover ausgezogen und auf dem Tisch ihres Chefs getanzt hatte. Daraufhin musste sie grinsen. Vielleicht war genau das der Grund, warum sie diesen Schritt getan hatte. Vielleicht wusste sie, dass sie nie wieder in der Anwaltskanzlei Dudson, Dudson and Gregory arbeiten würde. Und bei einem zukünftigen Arbeitgeber den Grund für ihre Entlassung erwähnen zu müssen, hätte ihr bei der Stellensuche kaum geholfen.
Ginny seufzte. Sie wusste, warum Georgia diesen Entschluss gefasst hatte. Sie hatte es ihr an dem Tag angesehen, an dem sie allen von ihrem Traum und der nachfolgenden Vision erzählt hatte. Der Wandel hatte sich tief in ihrem Inneren abgespielt, aber er ließ sie regelrecht erstrahlen. Mit einem halbherzigen Blick auf ihre Uhr warf Ginny ihre Sachen auf das Sofa. Sie war so oder so zu spät dran, ein paar Minuten würden da auch nichts mehr ändern.
Sie setzte sich hin und riss in freudiger Erwartung den Umschlag auf und holte einen Stapel Papiere heraus, nahm sich aber zunächst den Brief vor.
Liebe Ginny,
ich weiß nicht, wie ich anders anfangen soll, aber ich glaube, wir sind in Gefahr.
Ginny runzelte die Stirn. Sie überflog die Zeilen, und als sie am Ende angekommen war, verkrampfte sich ihr Magen. In aller Eile warf sie einen Blick auf die Kopien und die Namen der Verstorbenen. Sie kamen ihr alle bekannt vor, aber …?
Die Erinnerung kehrte zurück, als sie noch einmal Georgias Anmerkungen durchlas. Die Klasse der Begabten! Sie waren alle in der Klasse der Begabten gewesen!
„Nein“, murmelte sie. „Das kann nicht sein.“
Aber es war genau diese Gruppe. Und fünf davon waren tot! Emily, Josephine, Lynn, Frances … und Allison. Die liebe Allison. Das ergab keinen Sinn.
Sie las den Brief ein weiteres Mal und blieb bei zwei Sätzen hängen.
Geh nicht ans Telefon, es sei denn, Du weißt mit völliger Sicherheit, wer anruft. Ich habe von allem auch eine Kopie an Sullivan Dean geschickt.
Sie wusste nicht, wer Sullivan Dean war, aber sie würde es erfahren, sobald sie Georgia erreicht hatte. Sicher hatte sie voreilige Schlüsse gezogen. Dennoch dachte Ginny über das nach, was sie in den Zeitungsausschnitten gelesen hatte, als sie im Schreibtisch nach ihrem Adressbuch suchte. Es gab nichts daran zu leugnen, dass fünf ihrer Freundinnen aus der Schulzeit innerhalb kürzester Zeit ums Leben gekommen waren.
„Verdammt, wo ist das … ah, da ist es ja“, murmelte sie, als sie das Adressbuch in der hintersten Ecke der Schublade entdeckte.
Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer des Sacred Heart ein, schloss die Augen und atmete tief durch.
„Sacred Heart Convent“, meldete sich eine Frauenstimme.
„Ja … hallo, mein Name ist Virginia Shapiro, ich bin eine gute Freundin von Georgia … ich meine, von Schwester Mary Teresa. Ich müsste sie sehr dringend sprechen. Ich hoffe, das ist möglich.“
Nach einer kurzen Pause sagte die Frau: „Einen Moment, ich verbinde Sie mit der Mutter Oberin.“
Ginny sah auf die Uhr und klopfte dann ungeduldig auf die Tischplatte, als sie in der Warteschleife mit einem donnernden Halleluja-Chorgesang konfrontiert wurde. Alles würde gut werden. Sobald sie Georgias Stimme hörte, würde alles wieder in Ordnung sein. Sie wusste es einfach.
„Hallo? Mutter Oberin hier. Wer ist da bitte?“
Ginny warf einen Blick auf den Brief in ihrer Hand.
„Virginia Shapiro. Ich muss mit Schwester Mary Teresa sprechen. Es ist dringend.“
„Gehören Sie zur Familie?“
„Nein, aber wir sind sehr alte und sehr gute Freundinnen. Bitte, ich möchte sie nicht lange aufhalten …“
„Es tut mir Leid, meine Liebe“, sagte die Nonne. „Es ist nicht so, dass ich Ihren Anruf nicht weiterleiten möchte, aber ich kann es nicht.“
Ginnys Magen verkrampfte sich. „Warum nicht?“ „Weil Schwester Mary nicht mehr bei uns ist.“
Ginny atmete erleichtert aus. „Oh … Sie meinen, sie wurde versetzt? Das wusste ich nicht. Könnten Sie mir denn sagen, wo ich sie jetzt finden kann? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar.“
„Es tut mir Leid, meine Liebe, aber ich fürchte, ich habe mich nicht sehr deutlich geäußert. Schwester Mary wurde nicht versetzt, sie ist gestorben.“
Vor Entsetzen darüber stockte Ginny der Atem.
„Ich verstehe nicht. Sie kann nicht tot sein. Sie hat mir doch gerade erst einen Brief geschickt.“
„Es ist leider die Wahrheit.“
Ginnys Blick fiel auf den Schriftzug „Eilt“ auf dem Umschlag. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu schreien. Hätte es irgendetwas ausgemacht, wenn der Brief früher bei ihr angekommen wäre? Wie lange hatte er wohl schon hinter dem Papierkorb gelegen?
„Bitte, sagen Sie mir, wie … wie ist sie gestorben?“
„Nun, der Tod trat durch Ertrinken ein.“
Ginny sprang auf. „Das ist unmöglich. Georgia konnte nicht schwimmen. Sie hatte Angst vor Wasser. Sie wäre niemals so nahe herangegangen, dass sie hätte ertrinken können!“
Die Mutter Oberin dachte zurück an das Gespräch mit dem FBI-Agenten, der zuvor angerufen und behauptet hatte, jemand habe Schwester Mary umgebracht. Konnte das wirklich sein?
„Leider ist es wahr; sie ertrank im Fluss“, sagte sie schließlich.
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Ginny mit bebender Stimme. „War jemand bei ihr? Sie muss ins Wasser gestoßen worden sein!“
„Oh mein Gott! Sie wissen gar nicht, was Sie da reden! Pater Joseph hat es selbst gesehen. Er hat ihr zugerufen, sie solle zurückgehen, aber sie schien gar nicht zu wissen, dass er in Sichtweite war.“
Ginny spürte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte.
„Was hat er gesehen?“
„Nun … dass sie gesprungen ist. Direkt in den Fluss, der Hochwasser führte. Niemand konnte sie noch retten. Jetzt können wir nur noch dafür beten, dass ihre Seele nicht verloren ist.“
„Wie meinen Sie das?“
„Sie hat sich das Leben genommen, meine Liebe. Selbsttötung wird von der Kirche nicht gutgeheißen. Ich fürchte, ihre Seele ist für Gott verloren.“
Es war zehn nach elf, als Ginny wieder in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, und das auch nur, weil das Telefon klingelte. Sie stand mit verheulten Augen auf und ging zum Telefon. Ihre Hand lag auf dem Hörer, als ihr der Satz aus Georgias Brief in Erinnerung kam.
Geh nicht ans Telefon, es sei denn, du weißt mit völliger Sicherheit, wer anruft.
Voller Panik riss sie den Telefonstecker aus der Dose und begann zu zittern. Das war Wahnsinn! Was hatte Georgia bloß gemeint? Es gab zu viele ungeklärte Fragen. Sie musste mit jemandem reden, aber mit wem?
Harry Redford kam ihr als Erster in den Sinn. Er war nicht nur ihr Boss, sondern auch der Mann, der unter dem größten Druck stets so gelassen blieb, wie sie es bei niemandem sonst beobachtet hatte. Sie stolperte ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis sie sich einigermaßen unter Kontrolle hatte. Einige Minuten später verließ sie die Wohnung. Ja, am besten wandte sie sich an Harry, er würde schon wissen, was zu tun war.
Harry Redford sah Ginny Shapiro ins Gesicht und hielt die sarkastische Bemerkung zurück, die ihm auf der Zunge lag. Er stand auf, drückte sie sanft in einen Sessel und schloss die Tür zu seinem Büro.
„Was?“
Ginny sah ihn an und suchte Zuflucht in der Vertrautheit seines zerfurchten Gesichts, dann reichte sie ihm den Umschlag, den Georgia ihr geschickt hatte.
„Was soll das alles bedeuten?“ brummte er, als er die Papiere auf seinem Schreibtisch ausbreitete.
„Ich weiß es nicht“, sagte Ginny und begann erneut zu weinen. „Harry, ich habe entsetzliche Angst.“
Harry las zuerst den Brief, dann überflog er die kopierten Zeitungsausschnitte. Schließlich sah er auf, den Brief von Schwester Mary Teresa noch immer in der Hand.
„Und was sagt deine Freundin dazu, diese … Schwester Mary Teresa?“
Wieder kamen Ginny die Tränen.
Harry stöhnte leise auf und reichte ihr eine Box Kosmetiktücher.
„Hier, nimm schon“, murmelte er. „Schnäuz dir die Nase und dann erzähl mir, was los ist. Du hast doch mit ihr gesprochen, oder?“
„Sie ist tot.“
Harry beugte sich ungläubig vor. „Seit wann?“
„Den genauen Zeitpunkt habe ich nicht erfahren, aber es ist geschehen, kurz nachdem sie mir das geschickt hat.“ Ginny atmete bebend ein. „Harry … ich habe Angst.“
„Das kann ich gut verstehen.“ Er runzelte die Stirn, dann fuhr er sich durch sein dichtes angegrautes Haar. „Erzähl mir von diesen Frauen. Was genau war das für eine Verbindung zwischen euch?“
„Wir waren alle in derselben Privatschule nördlich von New York. Dort bin ich ja aufgewachsen.“
„Gut, ihr wart also in derselben Klasse.“
„Nicht nur das, wir waren auch noch in einer speziellen Klasse.“
„Was für eine Klasse war das?“
Ginny wischte ihre Augen trocken. „Als wir sechs Jahre alt waren, erhielten wir speziellen Unterricht. Für besonders Begabte, wie es damals hieß. Wir waren sieben Schülerinnen.“ Sie deutete auf die Liste der Namen in Georgias Brief. „Abgesehen von mir sind sie alle tot, und sie sind innerhalb der letzten Monate gestorben.“
Harry wurde bleich. „Verdammt“, murmelte er. Er sah wieder auf den Brief. „Wer ist Sullivan Dean?“
„Ich weiß nicht. Das wollte ich Georgia … Schwester Mary fragen, aber ich …“
Sie schüttelte den Kopf, da sie nicht weitersprechen konnte.
„Das mit dem Telefon verstehe ich auch nicht“, sagte Harry. „Aber ich weiß, was du machen kannst.“
„Und was?“ fragte Ginny.
„Setz dich an deinen Schreibtisch und erledige ein paar Telefonate. Geh diesen Geschichten nach, unterhalte dich mit den Familien. Versuch, etwas über diese Anrufe herauszubekommen. Schwester Mary ist gestorben, bevor sie alles darlegen konnte, was sie wusste, aber sie hat dir einen Hinweis darauf gegeben, wo du anfangen kannst. Dafür bist du ausgebildet worden, also nichts wie ran an die Recherche.“
Ginny stand auf. Harry hatte Recht. Sie hatte unter Schock gestanden. Es musste eine Antwort geben, sie hatte sie bloß noch nicht gefunden.
„Lass es mich wissen, wenn du etwas erfährst“, sagte er.
Ginny nickte.
„Ach ja, noch etwas …“
Sie blieb stehen.
„Vielleicht solltest du im Moment wirklich besser nicht ans Telefon gehen. Nur um sicherzugehen, okay?“
Ginny schluckte nervös. „Einverstanden, ich lasse alle auf den Anrufbeantworter sprechen.“
„Nein, jemand anderes soll deine Anrufe annehmen. Offiziell hast du eine Reportage zu erledigen und bist nicht zu erreichen.“
Es war fast fünf Uhr nachmittags, als Ginny das letzte Telefonat beendete. Sie hatte über zwei Stunden gebraucht, um jemanden in Oklahoma zu finden, der die Meldung über Allison Turner in der Oklahoma Dispatch bestätigen konnte. Sie musste vier Mal anrufen, ehe der Reporter zurückrief. Dieser musste dann erst einmal seine Notizen durchsehen, ehe er sie an Allisons Freund vermitteln konnte, der alles mit angesehen hatte. Ginny rieb sich erschöpft die Augen.
Ihr Blick wanderte über ihre eigenen Notizen und über die Dinge, die Georgia ihr geschickt hatte. Alles war so bizarr. Angefangen beim ersten Opfer, dessen Ehemann nach Hause kam und den Sohn bei der Nachbarin vorfand, bis hin zu Allison, die mit ausgebreiteten Armen in einen Tankwagen gerast war, musste sie zugeben, dass Georgias Warnung in Bezug auf die Anrufe etwas für sich hatte. Nur bei Georgia war der Verlauf ein anderer gewesen. Der Priester des Klosters, ein gewisser Pater Joseph, hatte erklärt, sie sei aus dem Beichtstuhl gekommen und an ihm vorbeigegangen, als wäre sie in Trance und er unsichtbar gewesen. Im Beichtstuhl gab es kein Telefon. Im gesamten Kloster gab es kein Telefon, vom Hauptbüro einmal abgesehen. Dennoch wusste Ginny, dass Georgia das Gleiche wie den anderen widerfahren war.
Sie stützte den Kopf in ihre Hände und atmete erschöpft durch. War es wirklich erst heute Morgen gewesen, dass ihre Welt auf den Kopf gestellt worden war? Ihre Augen brannten, ihr Kopf war von einem hämmernden Schmerz erfüllt. Sie hatte an diesem einen Tag mehr geweint als seit Jahren, und das Einzige, was sie davon hatte, waren rasende Kopfschmerzen. Vielleicht passierte ihr nichts, solange sie nicht ans Telefon ging. Aber so konnte sie nicht leben. Sie musste herausfinden, was vor sich ging und wer dahinter steckte.
An einem benachbarten Schreibtisch schrillte das Telefon, und Ginny zuckte zusammen, als hätte jemand auf sie geschossen.
So kann ich nicht leben. Ich muss weg von hier, wenigstens eine Zeitlang. Und ich muss Harry sagen, was ich herausgefunden habe.
Sie sammelte ihre Notizen, nahm ihre Handtasche und begab sich in das Büro ihres Chefs.
„Das bringt nichts“, sagte sie und ließ sich in den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen.
Redford blickte auf, schob den Aktenstapel zur Seite, der vor ihm lag, und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Erzähl schon“, forderte er sie auf.
„Also gut. Das sind die Dinge, die ich weiß: Wir waren sieben Mädchen in der ersten Klasse für Begabte, die es an der Montgomery Academy gab. Um genau zu sein, war es auch die einzige Klasse dieser Art, weil die Schule noch vor dem Ende des Schuljahrs abbrannte. Von diesen sieben sind in den letzten Monaten sechs ums Leben gekommen. Ich bin die einzige Überlebende. Außerdem stimmt Georgias Theorie, dass jede von ihnen unmittelbar vor ihrem Tod einen Anruf erhielt.“ Sie atmete tief durch und beugte sich vor. „Ich weiß im Grunde so viel wie vorher“, sagte sie. „Und das macht mir Angst, Harry. Und es gefällt mir nicht, Angst zu haben. Ich gehe zur Polizei und teile dort alles mit, was ich weiß, danach verlasse ich eine Weile die Stadt. Ich weiß noch nicht, wohin ich gehen werde, aber ich melde mich in regelmäßigen Abständen bei dir. Ich muss nur eines wissen: Werde ich noch meinen Job haben, wenn ich zurückkomme?“
Harry schnaubte fast ärgerlich. „Verdammt, Ginny, natürlich wirst du deinen Job haben. Und ich hoffe, dass du ihn mit einer exklusiven Story wieder aufnimmst. Versprich mir, dass du dich wenigstens einmal in der Woche bei mir meldest, damit ich weiß, dass es dir gut geht.“
„Das verspreche ich dir“, sagte sie und kämpfte gegen die erneut einsetzenden Tränen an. „Noch was, Harry …“
„Ja?“ fragte er barsch.
„Danke.“
Er ging um seinen Schreibtisch herum und nahm sie in seine Arme.
„Beiß die Zähne zusammen, Kleine, und wenn es dir zu viel wird, dann komm sofort zurück. Du musst da nicht allein durch, das weißt du. Wir finden schon einen Weg.“
„Ich weiß, aber im Augenblick fühle ich mich sicherer, wenn ich für eine Weile untertauche.“
Mit diesen Worten ging sie zur Tür.
„Hey, Kleine“, rief Harry ihr nach.
Ginny drehte sich zu ihm um.
„Du gehst tatsächlich zur Polizei, oder?“
„Ja. Ob mir jemand ein Wort glaubt, ist eine andere Frage.“
„Wenn sie dir Schwierigkeiten machen, dann werde ich ihnen für die nächsten hundert Jahre so viele Steine in den Weg legen, dass es ihnen noch Leid tun wird.“
Ginny grinste und machte sich auf den Weg zum Parkplatz. Als sie im Wagen saß und die Türen verriegelt hatte, sah sie sich misstrauisch um, ehe sie losfuhr.
Sullivan Dean stand am O’Hare Airport von Chicago und verfluchte innerlich das Desaster, zu dem sich sein Flug entwickelt hatte. Die Verspätung ging bereits in die zweite Stunde, als er sich zu einem Telefon begab, um abermals zu versuchen, Virginia Shapiro zu erreichen. In ihrem Apartment hatte sich nur der Anrufbeantworter gemeldet, und in der Redaktion war es ihm nicht anders ergangen. Wenn er Kontakt mit ihr aufnehmen könnte, wäre ihm wesentlich wohler zu Mute.
Er legte auf und kehrte zurück zu seinem Platz. Frustriert lehnte er sich vor, stützte die Ellbogen auf seine Knie und vergrub das Gesicht in den Händen.
Georgia, Toms kleine Schwester, war tot. Er konnte nur erahnen, wie tief die Trauer der Familie war. Sein eigenes Gewissen ließ ihm aber auch keine Ruhe, da er Georgia seit Jahren versprochen hatte, sie endlich einmal zu besuchen. Das hatte er nie geschafft, bis zum heutigen Tag … Ihm war das Atmen schwergefallen, als er ihr Zimmer betrat und sah, welch schlichtes und einfaches Leben sie gewählt hatte, obwohl ihr klar gewesen war, was sie sich damit alles vorenthielt. Nachdem er ihre Habseligkeiten durchgesehen hatte, musste er anerkennen, dass sie für eine Anfängerin gründliche Arbeit geleistet hatte. Von dem Jahrbuch der Schule abgesehen, das erst nach ihrem Tod eingetroffen war, fand er nichts Neues.
Um die Trauer zu verarbeiten, hatte er die Kapelle aufgesucht und zu dem Gott gebetet, dem Georgia ihr Leben verschrieben hatte. Er war entschlossen, herauszufinden, wer hinter diesen Todesfällen steckte, und gleichzeitig Ginny Shapiros Leben zu retten. Das Jahrbuch in seinem Matchbeutel sicher verstaut, hatte er sich auf den Weg nach St. Louis, Missouri, gemacht.
Detective Anthony Pagillia litt unter Kopfschmerzen und Sodbrennen, als er sah, dass eine Frau auf seinen Schreibtisch zukam. Sie stellte sich ihm vor, und in dem Moment wusste er wieder, woher er sie kannte. Sie hatte im vergangenen Jahr für die Daily über die Bruhns-Entführung berichtet.
„Miss Shapiro, was kann ich für Sie tun?“ fragte Pagillia.
Sie legte ihm einen großen braunen Umschlag auf den Tisch. „Zuerst einmal dürfen Sie ruhig Ginny zu mir sagen“, erwiderte sie. „Und dann bestätigen Sie mir, dass ich nicht den Verstand verliere.“
Er lächelte sie an. „Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, Frauen niemals etwas zu sagen, was sie dazu veranlassen könnte, auf mich einzuschlagen.“ Er leerte den Umschlag auf seinem Schreibtisch aus. „Und was haben wir hier?“
„Ich glaube, jemand wünscht meinen Tod.“
Er riss die Augen auf, sein Lächeln erstarrte. „Meinen Sie das ernst?“
„Lesen Sie das. Wenn Sie durch sind, beantworte ich Ihnen jede Frage, wenn ich dazu in der Lage bin.“
Minuten später lehnte sich Pagillia nach hinten. „Sie haben meine volle Aufmerksamkeit. Erzählen Sie.“
„Nachdem Sie das gelesen haben, wissen Sie so viel wie ich“, meinte Ginny und nahm Platz.
„Und was sagt Ihre Freundin, die Nonne, dazu?“
Ginny biss sich auf die Unterlippe und kämpfte erfolgreich gegen die Tränen an. „Sie ist tot. Sie beging angeblich Selbstmord, als sie sich in den Fluss gestürzt hat.“ Ginny beugte sich vor. „Georgia Dudley – oder Schwester Mary Teresa, wie sie zuletzt hieß – hätte sich niemals das Leben genommen.“
„Und die Mädchen aus dieser Klasse sind alle tot?“ fragte Pagillia.
„Mich ausgenommen, ja. Und alle innerhalb von zwei Monaten. Ich habe ein wenig recherchiert, bevor ich hergekommen bin. Außer der Klasse gibt es noch einen gemeinsamen Nenner.“
„Und der wäre?“
„Jede der Frauen erhielt einen Anruf, bevor sie in den Tod gegangen sind. Ich weiß das, weil man entweder einen nicht aufgelegten Hörer gefunden oder mit angesehen hat, wie sie kurz vor ihrem Ende mit jemandem telefoniert haben. Bis auf Georgia, und bei ihr liegt der Fall so, dass ich es nur nicht beweisen kann.“
„Ich verstehe das nicht. Warum sollen sechs Frauen in verschiedenen Teilen des Landes nach einem Anruf Selbstmord begehen?“
„Das weiß ich nicht“, sagte Ginny. „Das ist der Punkt, an dem Sie ins Spiel kommen. Werden Sie mir helfen?“
„Natürlich“, sagte Pagillia. „Ich frage mich allerdings, ob man bei den anderen Revieren etwas von diesem Zusammenhang weiß.“
„Ich glaube nicht“, meinte Ginny. „Die Vorfälle waren so weit über das Land verstreut, außerdem ging man in jedem Fall von einem Unfall oder einem Selbstmord aus. Es gibt keinen Grund, etwas anderes zu vermuten.“
„Dann werde ich damit anfangen“, sagte Pagillia.
„Vielen Dank“, erwiderte Ginny und stand auf.
„Wo kann ich Sie erreichen?“ wollte der Detective wissen.
„Gar nicht“, sagte sie. „Ich verlasse vorübergehend die Stadt, und ich werde verständlicherweise keine Anrufe annehmen.“
„Und wenn ich mit Ihnen reden muss?“
„Ich rufe Sie an. Mehr kann ich Ihnen nicht versprechen. Ach ja, den Brief und die Ausschnitte können Sie behalten. Ich habe für mich Kopien gemacht.“
Pagillia nickte. „Bleiben Sie in Kontakt mit mir.“
„Darauf können Sie sich verlassen“, sagte Ginny und ging.
Um fünf nach elf am Abend bog Ginny in die Einfahrt zum Hideaway Motel ein, an dessen Neonbeleuchtung etliche Buchstaben ausgefallen waren.
Der Mann am Empfang stand auf, als sie den Raum betrat.
„Ich brauche ein Zimmer“, sagte Ginny.
„Eine Übernachtung?“
Ginny zögerte, dann nickte sie.
„Raucher oder Nichtraucher.“
„Nichtraucher.“
„Einzelzimmer.“
„Ja“, sagte sie knapp.
„Und wie bezahlen Sie?“ fragte der Mann.
Sie legte ihre Kreditkarte auf die Theke und sah sich dann in dem Raum um, während der Mann am Empfang die Daten aufnahm. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, ihr Magen knurrte vor Hunger. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie nicht mal wusste, wo sie eigentlich war.
„Wo bin ich?“
Der Mann blickte auf. „Wie bitte?“
Ginny seufzte. „Ich weiß, dass ich in einem Motel bin. Ich wollte wissen, in welcher Richtung die nächste Stadt gelegen ist.“
„Na, ich würde Hoxie nicht gerade als Stadt bezeichnen, aber der Ort liegt am nächsten. So etwa fünfundzwanzig Kilometer in diese Richtung.“
Er zeigte nach Westen. Sie nickte und dachte daran, dass sie Hoxie bereits durchquert hatte.
„Und welche Stadt liegt im Osten am nächsten?“
Er überlegte einen Moment lang. „Das dürfte Memphis sein.“
Damit hatte Ginny eine vage Vorstellung davon, wo sie sich befand, und nahm sich vor, gleich am nächsten Tag eine Straßenkarte zu kaufen. Kopflos weiterzufahren, würde ihr außer Schwierigkeiten nichts einbringen.
„Danke“, sagte sie und ignorierte den misstrauischen Blick, den er ihr zuwarf. Sie war nicht betrunken, und sie war auch nicht high, und eigentlich war es ihr völlig egal, was er dachte. Sie brauchte nur ein Zimmer für die Nacht.
Er legte ihr einen Ausdruck vor. „Das Zimmer kostet fünfundvierzig Dollar. Unterschreiben Sie hier.“
Ginny unterschrieb und erhielt den Schlüssel.
Minuten später betrat sie ihr Zimmer und verriegelte die Tür. Die Farbgebung in dem eher schäbigen Raum war entsetzlich, aber sie ignorierte sie und ging ins Bad. Als sie kurz darauf wieder herauskam, sank sie auf ihr Bett und schlief ein, noch bevor sie sich für die Nacht hatte umziehen können.
Hoch über St. Louis begann eine 747 mit dem Landeanflug. Sullivan Dean sah aus dem Fenster auf die Stadt. Es war eine klare Nacht, und die Lichter der Stadt strahlten wie Diamanten auf einem schwarzen Samttuch, doch das Einzige, was er wirklich wahrnahm, war die Entfernung zwischen ihm und seinem Ziel.
Ich bin auf dem Weg, Virginia. Sei bitte nicht tot.