14. KAPITEL

Nach dem Mittagessen hatte Sully endlich das Jahrbuch angesprochen. Zu seiner Erleichterung war Dan darüber nicht verärgert. Während er es durchsah, schrieb er sich immer wieder Namen auf und notierte, was Ginny zu ihnen zu sagen hatte.

„Das ist gut. Sehr gut“, sagte Dan nach einer Weile und warf Sully einen beiläufigen Blick zu. „Ich bin froh, dass du damit zu mir gekommen bist.“

Sully seufzte. Damit hatte er gerechnet, und er wusste, dass es nicht die letzte Bemerkung bleiben würde.

Ginny beschloss, das Thema zu wechseln.

„Wird es schwierig sein, die Lehrer zu finden? Ich weiß, dass Mr. Fontaine nach dem Brand in den Ruhestand gegangen ist. Meine Mutter hat mir das oft erzählt.“

„Sie werden zu finden sein“, sagte Sully. „Es ist nicht so einfach, sich vor dem Finanzamt zu verstecken.“

„Aber was ist, wenn er sich an nichts erinnern kann? Er muss jetzt über achtzig sein, vielleicht sogar noch älter. Das ist zwanzig Jahre her, und ich fand schon damals, dass er sehr alt war.“

„Ich weiß nicht“, sagte Dan. „Wir müssen einfach einen Schritt nach dem anderen machen.“ Dann fügte er an: „Aber Sie haben uns sehr geholfen. Wir haben jetzt ganz andere Möglichkeiten, der Sache auf den Grund zu gehen. Wir hatten zwar versucht, eine Liste der Lehrer zu bekommen, aber bei dem Feuer ist alles vernichtet worden.“

„Georgia ist diejenige, die uns eigentlich geholfen hat“, warf Sully ein. „Sie hat das alles zusammengestellt.“ Plötzlich wurde seine Stimme leiser. „Es ist nur eine Schande, dass es ihr Leben nicht gerettet hat.“

Ginny legte ihren Kopf an Sullys Schulter und nahm seine Hand.

„Wenn du sie fragen könntest, Sully, würde sie sagen, dass ihr Leben schon längst gerettet war.“

Ginnys Worte beruhigten ihn ein wenig, und er legte seinen Arm um sie und drückte sie kurz an sich.

Dan stand abrupt auf.

„Ich muss telefonieren. Bin gleich zurück.“

Er ging aus dem Zimmer und ließ Sullivan und Ginny allein.

„Er wird über Nacht bleiben“, sagte Sully.

Ginny zuckte mit den Schultern. „Zwei Schlafzimmer stehen doch leer.“

Sully gab ihr einen flüchtigen Kuss. „Es macht dir nichts aus, wenn er weiß, dass wir zusammen sind?“

„Nein“, erwiderte sie, sah ihn dann jedoch nachdenklich an. „Aber kannst du nicht deswegen Schwierigkeiten bekommen? Es gibt doch bestimmt irgendwelche Vorschriften.“

„Kein Problem“, sagte er. „Außerdem ist das nicht mein Fall, sondern Dans. Ich bin hier, weil ich darum gebeten habe, nicht, weil ich den Auftrag dazu bekommen habe. Darum ist es meine Sache, was ich tue und lasse. Ich habe in erster Linie an dich gedacht.“

„Ich bin achtundzwanzig, fast neunundzwanzig. Ich bin in jeder Hinsicht eine moderne Frau, ich brauche keine Erlaubnis, mit wem ich schlafe … oder in wen ich mich verliebe.“

Sully war sprachlos. Zum ersten Mal hatte sie von Liebe gesprochen, aber er konnte nicht darauf reagieren, da Dan zurückgekehrt war.

„Das hätte ich fast vergessen“, sagte er und warf etwas auf Sullys Schoß.

„Das ist das Band?“

Dan nickte.

Ginny packte Sullys Arm. „Ich will es hören.“ Als er zögerte, fuhr sie fort: „Bitte. Ihr seid beide hier. Ich kann mir unmöglich etwas antun. Außerdem hat Dan gesagt, dass das Labor nichts Verwertbares gefunden hat, weißt du noch?“

„Ja, ich weiß“, murmelte Sully und spielte mit der Kassette. „Aber damit du es weißt: Mir gefällt das überhaupt nicht.“

„Dein Missfallen ist registriert“, sagte Ginny. „Haben Sie einen Rekorder mitgebracht?“

Dan gab den ebenfalls Sully, der die Kassette einlegte. Sein Finger schwebte über der Play-Taste.

„Ich möchte es mir als Erster anhören“, sagte er dann.

„Von mir aus“, meinte Ginny. „Ich werde hier sitzen bleiben und darauf warten, dass ich mein Leben wieder selbst in die Hand nehmen darf.“

Sully ignorierte ihren Sarkasmus und begab sich in den Flur, ohne daran zu denken, dass die gewölbte Decke den Schall weiterleiten würde. Er sah noch einmal zu Ginny, fand, dass sie sich in sicherer Entfernung befand, und betätigte dann die Taste.

Zuerst hörte er fernen Donner, dann das Läuten einer Türglocke, erst tiefe, dann höhere Töne, als würde die Tonleiter gespielt. Die Tonfolge wurde drei Mal wiederholt, dann war die Aufnahme durchgelaufen.

„Ergibt keinen Sinn, oder?“ sagte er zu Dan, der neben ihm stand. „Ein wenig Donner und dann eine Türklingel, auf die wohl keiner reagiert.“

„Ich weiß, und ich finde das sehr frustrierend“, meinte Dan. „Ich denke, sie sollte es sich anhören. Vielleicht bedeutet es etwas, vielleicht auch nicht. Ich wüsste jedenfalls nicht, wie es ihr schaden könnte.“

„Einverstanden, aber ich …“, begann Sully und verstummte, als er einen Blick zu Ginny warf. Etwas stimmte nicht an der Art, wie sie dort saß.

„Ginny?“

Sie hatte die Augen geschlossen, ihr Kopf war ein wenig nach vorne gebeugt, und ihre ganze Körperhaltung machte den Eindruck, als warte sie auf etwas.

„Verdammt!“ murmelte Sully, drückte Dan den Rekorder in die Hand und stürmte durch das Zimmer. Er kniete vor Ginny nieder und sah ihr ins Gesicht. „Dan! Komm her! Schnell!“

Sully fasste sie an den Armen. Wann war das geschehen? Was hatten sie gemacht?

„Ginny!“ Er schüttelte sie vorsichtig, woraufhin sie gegen seinen Oberkörper sank.

„Was ist los?“ fragte Dan.

„Das frage ich dich!“ rief Sully und riss sie hoch. „Ginny! Ginny! Wach auf, Ginny!“

Ginnys Kopf wackelte hin und her wie bei einer beschädigten Puppe. Sully schüttelte sie wieder.

„Ginny! Ginny! Wach auf!“

Zu seiner großen Erleichterung begannen ihre Augenlider zu flattern, aber als sie endlich die Augen aufmachte, war ihr Blick völlig leer.

„Großer Gott!“ flüsterte er. Noch nie in seinem Leben hatte er solche Angst empfunden. „Virginia!“ brüllte er sie an. „Sieh mich an! Mach die Augen auf! Egal, was geschehen ist, es ist jetzt vorüber! Hörst du mich?“

Sie blinzelte kurz, dann sah Sully an ihren Augen, dass sie wieder bei Bewusstsein war.

„Sully?“

„Oh nein“, murmelte er und drückte sie fest an sich. Seine Hände zitterten, sein Herz raste wie wild in seiner Brust. Sie hatten sich auf etwas eingelassen, was sie nicht verstanden, und dabei hätten sie sie fast verloren. „Es tut mir Leid, es tut mir so Leid. Ich schwöre dir, dass wir davon nichts gewusst haben!“

„Gewusst? Was gewusst?“ fragte Ginny. „Wann kann ich das Band hören?“

„Ich glaube, das ist gerade geschehen“, sagte Dan.

Ginny begann sich zu fürchten. „Was ist passiert? Was habe ich getan?“

„Die Akustik“, sagte Sully und betrachtete die fast kuppelartige Decke. „Mist, ich habe nicht an die Akustik gedacht. Ginny muss alles mitgehört haben.“

„Das schon“, meinte Dan. „Aber was haben wir gehört?“

„Was habe ich gemacht?“ wollte Ginny wissen und wurde lauter. „Bekomme ich jetzt endlich eine Antwort, oder muss ich erst losschreien?“

„Du warst einfach weg“, sagte Sully. „Für uns waren das ganz belanglose Geräusche. Donnern und eine Türklingel.“

Ginny hatte das Gefühl, dass diese Worte eine Erinnerung weckten, aber die war zu tief vergraben, um sie zu fassen zu bekommen.

„Wenn es donnert, werde ich immer …“

„Müde“, vollendete Sully ihren Satz. „Stimmt, das hast du mir erzählt.“ Er sah zu Dan. „Bei einem Gewitter fällt sie nahezu in eine …“

„Trance“, fiel sie ihm ins Wort. Zum ersten Mal begann sie sich zu fragen, ob diese unerklärliche Lethargie gar nicht von Natur aus bei ihr auftrat.

„Spiel es noch einmal ab“, forderte Ginny.

„Auf keinen Fall“, erwiderte Sully.

„Du hast mich gerade aus der Trance geholt, du kannst das wiederholen. Außerdem könnte es ja sein, dass das nur ein Zufall war. Hast du gesehen, was mit mir passiert ist? Hast du mich beobachtet?“

Keiner von beiden konnte das bejahen.

„Das habe ich mir gedacht. Ihr wisst gar nicht, ob es wirklich das Band war. Spiel es noch einmal vor. Jetzt sofort, damit es keinen Irrtum geben kann.“

„Hol die Männer dazu“, sagte Sully. „Ich möchte, dass sie alle dabei sind. Vielleicht fällt einem von ihnen etwas auf, was uns entgeht.“

„Gute Idee“, sagte Dan und ging zur Tür.

Sully war noch immer dagegen, aber diese Seite an Ginny hatte er noch nicht kennen gelernt. Sie hatte die Angelegenheit in die Hand genommen, und sie war entschlossen, es auf ihre Weise zu machen.

Er legte die Stirn in Falten und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.

„Damit du es weißt …“

„Ich weiß. Dein Protest ist vermerkt.“

Bevor er noch etwas sagen konnte, war Dan mit den Männern zurückgekehrt. Offenbar hatte er ihnen auf dem Rückweg die Situation erklärt, da keiner der drei einen überraschten Eindruck machte.

„Also gut“, sagte Sully. „Ich möchte, dass ihr alle sehr genau auf Ginnys Verhalten achtet. Irgendetwas auf diesem Band lässt sie wegtreten. Wenn das vorüber ist, möchte ich von jedem eine kurze Beurteilung. Bevor ich sie zu einem unserer Spezialisten fliege, was ich noch nicht entschieden habe …“

Ginny legte eine Hand auf seinen Arm. „Sully, spiel das Band vor.“

Er hätte die Kassette am liebsten aus dem Rekorder gerissen und verbrannt, aber das hätte nichts gelöst. Irgendwo wartete jemand darauf, dass ihre Wachsamkeit einen Moment lang nachließ, und genau dann würde Ginny das nächste Opfer werden.

Er sah sie noch einmal an, erkannte in ihrem Blick ihre Entschlossenheit, dann nickte er. Nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, drückte er die Play-Taste und drehte die Lautstärke auf.

Als Ginny den Donner hörte, riss sie die Augen auf und versteifte sich.

Sully hielt den Atem an, während aus dem Lautsprecher das Glockenspiel ertönte. Ihr Blick wurde leer, ihr Kopf begann leicht zu wanken.

Sully unterdrückte ein erschrockenes Stöhnen. Als das Läuten zum zweiten und zum dritten Mal zu hören war, zeigte Ginny keine weiteren Reaktionen. Es sah so aus, als warte sie auf etwas. Aber auf was?

Sully stoppte das Band und sah die Männer an. Sie waren so verblüfft wie er selbst. Er stellte den Rekorder zur Seite und wollte Ginny packen, als Franklin Chee ihn plötzlich zurückhielt.

Lass mich etwas versuchen, bedeutete er ihm tonlos und hockte sich vor Ginny hin, um sie zu betrachten.

„Ginny … können Sie mich hören?“

Atemlose Stille beherrschte den Raum.

Als sie nickte, traf das Sully wie ein Schlag in die Magengrube.

„Es wird Zeit, dass Sie wieder aufwachen. Ich werde von zehn an rückwärts zählen, und wenn ich ‚Jetzt‘ sage, dann machen Sie die Augen auf, und alles ist in Ordnung. Sind Sie bereit?“

Sie seufzte, dann nickte sie.

„Zehn. Neun. Acht. Sieben. Sie fühlen sich leichter, wachsamer. Sie hören meine Stimme noch besser als zuvor. Sechs. Fünf. Vier. Es ist fast schon Morgen, Sie wollen aufstehen. Wenn Sie die Augen aufmachen, fühlen Sie sich glücklich und ausgeruht. Sie haben keine Angst. Drei. Zwei. Eins. Jetzt.“

Ginny sah auf, entdeckte den Mann, der vor ihr hockte, und grinste ihn an.

„Wollen Sie mir einen Heiratsantrag machen?“

Franklin Chee lächelte, als er aufstand.

„Ich glaube, Agent Dean würde mir den Kopf abreißen, wenn ich nur daran denken würde“, antwortete er und drehte sich dann zu den Männern um.

„Wie hast du das gemacht?“ wollte Sully wissen.

„Irgendwann in ihrem Leben ist sie posthypnotischer Suggestion ausgesetzt worden, die man niemals rückgängig gemacht hat.“

„Aber niemand hat auf dem Band ein Wort gesagt“, wandte Dan ein.

Franklin ließ sich nicht beirren.

„Worte sind dafür auch nicht nötig, es reicht auch eine Folge von Geräuschen. Egal, auf was sie trainiert worden ist – sobald sie es hört, verliert sie ihren Willen. Danach wartet sie auf Anweisungen. Es ist eine ganz normale Methode. Professionelle Hypnotiseure führen so etwas schon mal auf einer Party vor.“

„Woher hast du das gewusst?“ fragte Sully.

„Ich habe ein Buch darüber gelesen“, erwiderte Franklin beiläufig.

„Ich schätze, ich muss mir deine Akte mal sehr gründlich vornehmen“, meinte Dan. „Wer weiß, was du noch alles kannst.“

„Leute …“

Sie hörten auf zu reden und sahen Ginny an.

„Ich will nicht stören, aber ich würde gerne wissen, ob ich es schon wieder gemacht habe.“

„Ja“, sagte Sully.

„Und was genau habe ich gemacht?“

Franklin ergriff das Wort: „Sie haben die Augen zugemacht, so wie man es Ihnen beigebracht hat, und auf die Stimme gewartet.“

„Welche Stimme?“

„Die Stimme desjenigen, der Ihnen das angetan hat.“

Ginny verspürte auf einmal Übelkeit, da sie sich fragte, was er noch alles mit dem Unterbewusstsein von sieben kleinen Mädchen angestellt hatte.

„Also gut, Leute“, sagte Dan. „Vielen Dank für eure Hilfe.“ Er klopfte Chee auf die Schulter, während er ihn zur Tür begleitete. „Vor allem danke ich dir, Franklin. Du steckst voller Überraschungen.“

Franklin nickte und warf seinem Bruder einen viel sagenden Blick zu, dann meinte er grinsend: „Ich weiß nicht, ob es jemanden interessiert, aber Webster kann verdammt gut John Wayne imitieren.“

Die Bemerkung ließ alle auflachen, Ginny eingeschlossen. Das hatte Franklin auch beabsichtigt, der ihr einen letzten Blick zuwarf, als er aus dem Haus ging.

Dan fuhr sich durchs Haar und holte dann sein Handy aus der Tasche.

„Was hast du vor?“ fragte Sully.

„Ich will Edward Fontaine finden. Hoffentlich weiß er, wer diesen so genannten Begabtenunterricht erteilte.“

Orlando, Florida

Edward Fontaine ließ sich Zeit mit den Stufen, die von seinem kleinen Cottage zur Straße führten. Ein kleiner Junge kam auf seinem Dreirad um die Ecke gefahren, dicht gefolgt von seiner joggenden Mutter.

„Hallo, Martin, wie geht es dir denn an einem so schönen Morgen?“ rief Edward ihm zu.

Der Junge strahlte und erwiderte: „Guck mal, wie schnell ich fahren kann!“

Edward sah ihm zu und versuchte, sich zu erinnern, ob er jemals so jung oder so beweglich gewesen war.

„Guten Morgen, Mr. Fontaine“, sagte die junge Mutter und winkte ihm zu.

„Ihnen auch einen guten Morgen, Patricia. Martin ist heute ja in Spitzenform.“

Sie nickte und joggte weiter, bis er sie hinter einem Palmenhain an der nächsten Ecke aus den Augen verlor.

Edward hob den Kopf und atmete tief ein. Ja, es war wirklich ein guter Morgen. Und für einen Mann in seinem Alter konnte er dankbar sein, ihn noch zu erleben.

Er überquerte die Straße und begab sich auf seinen täglichen Spaziergang weiter zum Strand. Er liebte den Ozean und die wärmende Sonne, die gut für seine Arthritis war.

An diesem Morgen war die Pier fast menschenleer, so wie es ihm am liebsten war. Er ging jeden Tag bis ganz zum äußersten Punkt, und auf dem Rückweg würde er in dem kleinen Café an der Ecke eine Pause einlegen und eine Tasse Kaffee trinken und einen Doughnut essen. Sein Arzt hatte ihm von zu viel Süßigkeiten abgeraten, aber er hörte nicht auf ihn. Er war jetzt dreiundachtzig. Ihm war ein Doughnut zum Frühstück lieber, anstatt hundert Jahre alt zu werden und darauf verzichten zu müssen.

Eine Möwe überquerte wenige Meter vor ihm quer die Pier. Edward hob seinen Stock und rief vergnügt: „Aus dem Weg, du fliegender Bettler, ich komme!“

Aus dem Augenwinkel nahm er jemanden wahr, der am Geländer stand und den Möwen Brot zuwarf, das die im Flug schnappten.

Touristen, sagte er sich. Die wissen nicht, dass sie das besser nicht machen sollten.

Der Wind fuhr ihm durch das schüttere Haar, das ihm noch geblieben war. Nur noch ein paar Meter, dann hatte er das Ende der Pier erreicht. Er hatte schon jetzt den Geschmack des Doughnuts im Mund. Er nahm immer einen, der mit Himbeermarmelade gefüllt war, aber heute würde er eine andere Sorte bestellen.

Als er sein Ziel erreicht hatte, stützte er sich auf seinen Stock und sah hinaus auf den Atlantik. Am Horizont machte er ein Segel aus, während ein Schwarm Möwen kreischend über ihn hinwegzog.

„Entschuldigung, sind Sie Edward Fontaine?“

Er wandte sich um. „Ja … aber ich glaube, ich kenne Sie nicht.“

„Doch, Sie kennen mich. Tut mir Leid, aber es geht nicht anders.“

„Was tut Ihnen Leid? Ich …“

Mehr als ein kräftiger Stoß war nicht nötig. Er verlor sofort den Halt und war so überrascht, dass er nicht einmal daran dachte, um Hilfe zu rufen. Als er ins Wasser stürzte, war sein letzter Gedanke, dass er irgendwann in seinem Leben das Schwimmen hätte erlernen sollen.

Emile Karnoff bezahlte den Taxifahrer, nahm seinen Koffer und ging zur Haustür, als die plötzlich geöffnet wurde.

„Emile! Du bist zu Hause! Was für eine wunderbare Überraschung!“

Er stellte seinen Koffer ab und nahm seine Frau in die Arme.

„Es ist gut, wieder zu Hause zu sein“, sagte er und schloss die Augen, während er sie auf die Stirn küsste. Sie trug ein lila Kleid, seine Lieblingsfarbe. Und sie duftete nach Zitrone und Thymian. Er lächelte. Sie hatte sich in ihrem Garten aufgehalten. Solche Augenblicke brachten ihn immer wieder dazu, sich zu fragen, warum er jemals sein Zuhause verließ.

„Komm rein“, sagte Lucy. „Hast du schon gegessen? Phillip wird so begeistert sein. Erst gestern Abend haben wir noch bedauert, dass du nicht zu Hause bist.“

Was sie ihm verschwieg, war der erneute Anfall, den Phillip erlitten hatte. Genauso ging sie über den Zorn hinweg, den der Junge auf seinen Vater hegte, weil der wieder einmal nicht zu Hause gewesen war. Aber das beunruhigte sie nicht so wie früher. Sie hatte ihm jede Nacht die Kassetten vorgespielt und sie war davon überzeugt, dass sie die Situation völlig im Griff hatte.

Emile wollte nicht darauf eingehen, dass Phillip hier war, anstatt irgendwo zu arbeiten. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um dieses Thema anzusprechen.

„Ich habe auf dem Flug ein paar Erdnüsse gegessen und eine Limonade getrunken“, sagte er. „Nichts wäre mir jetzt lieber als eine Tasse Tee und etwas von deinem selbst gebackenen Früchtebrot. Sag bitte, dass wir davon etwas im Haus haben.“

Ein Windstoß fuhr durch Lucys silberne Locken, während sie erfreut in die Hände klatschte.

„Natürlich haben wir das“, sagte sie. „Und auch noch deine Lieblingssorte mit Cranberries.“

Emile nahm seinen Koffer und legte einen Arm um Lucys Schultern.

„Weißt du eigentlich, dass du meine Wonder Woman bist?“

Lucy strahlte. Sie wusste es. Und die Tatsache, dass er es anerkannte, war ihre ganz besondere Belohnung.

Phillip stand an der obersten Stufe der Treppe und hörte seine Eltern reden, als sie ins Haus kamen. Es war jedes Mal das Gleiche, er befand sich immer am Rand ihres Universums und wartete darauf, wahrgenommen zu werden.

Na, du Feigling … willst du nicht nach unten gehen und deinem Daddy um den Hals fallen?

„Sei still“, flüsterte Phillip.

Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, als in seinem Kopf ein lautes Lachen erschallte. Während seine Eltern ins Arbeitszimmer gingen, ballte er die Hände und wirbelte herum. Nichts hatte sich geändert. Wieso hatte er gedacht, diesmal könnte es anders sein?

Wenn du willst, dass sich was ändert, dann weißt du, was zu tun ist.

„Ich höre dich nicht“, sagte Phillip in einem weinerlichen Tonfall, so wie ein Kind.

Doch, du hörst mich, Baby Boy, du hörst mich gut. Und eines Tages wirst du mir gehorchen.

Er schlug die Tür hinter sich zu und ging zur Kommode, stützte sich auf und betrachtete sein Spiegelbild.

„Gehorchen? Ich soll dir gehorchen?“ zischte Phillip. „Findest du nicht, dass mir schon genügend Leute sagen, was ich zu tun und zu lassen habe? Meinst du, ich bin so dumm, dass ich mich noch irgendjemandem ausliefere? Wenn ja, dann täuschst du dich gewaltig. Ich bin das allmählich leid. Hast du verstanden? Ich werde diesen Unsinn nicht länger mitmachen. Lass mich endlich in Ruhe, oder ich setze auf der Stelle allem ein Ende.“

Vor Wut zitternd stand er vor dem Spiegel und wartete auf eine weitere Bemerkung, doch seltsamerweise blieb die Stimme stumm.

Ein schwaches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Seine Augen begannen zu leuchten. Er richtete sich auf, drückte trotzig die Schultern durch. Zum ersten Mal seit Jahren hatte er das Gefühl, die Kontrolle über sich zu haben.

Als er sein Zimmer verließ, um seinen Vater zu begrüßen, gingen ihm so viele Gedanken durch den Kopf, dass ihm nicht bewusst wurde, dass er die Stimme mit der Drohung hatte verstummen lassen, sich das Leben zu nehmen.

Unten sonnte sich Emile in der Liebe und Fürsorge von Lucy. Von kleinen, unbedeutenden Details abgesehen, die sich von selbst regeln würden, war sein Leben einfach perfekt.

„Darling“, sagte Emile. „Setz dich zu mir und erzähle, was du den lieben langen Tag gemacht hast, als ich nicht da war.“

Lucy ließ sich im Sessel nieder, schlug die Beine in Höhe der Knöchel übereinander und legte die Hände so in den Schoß, wie sie es als kleines Mädchen gelernt hatte.

„Das ist im Vergleich zu deiner Arbeit völlig unbedeutend. Erzähl mir von deiner Reise. Waren die Konsultationen erfolgreich?“

Emile strahlte. Wieder hatte er die Gelegenheit, mit dem Menschen über seine Arbeit zu sprechen, der ihn am meisten liebte.

„Ja, das waren sie“, sagte er. „Die Frau hat bis zu meiner Abreise jeden Tag Fortschritte gemacht. Ich habe einen der jungen Ärzte so geschult, dass ihr Heilungsprozess vorangetrieben werden kann.“ Dann wechselte er das Thema, wenn auch nur ein wenig. „Oh, Lucy, meine Liebe, du müsstest Irland sehen. Es ist der wundervollste Ort. Malerische Dörfer, das viele Grün, die Hügel, die Täler, die dazwischen verborgen liegen. Und die Luft! Oh, ich sage dir, so muss die Welt vor hundert oder vielleicht sogar zweihundert Jahren gewesen sein. So rein und klar. Und die Menschen. Sie sind unglaublich, so nett und freundlich. Die Leute gehen dort spazieren oder fahren mit dem Rad und müssen keine Angst haben, dass sie überfallen werden. Du würdest es dort lieben.“

Lucy nickte pflichtbewusst, obwohl sie ihm viel lieber widersprochen hätte. Sie wollte nicht in Irland spazieren gehen oder mit dem Rad fahren. Sie hatte genug vom Landleben mitbekommen, als sie auf der Farm ihres Vaters in Kansas aufgewachsen war. Sie hatte viele Jahre lang von einem besseren Leben geträumt, und jetzt, da sich dieser Traum erfüllt hatte, würde sie das um keinen Preis aufgeben. Nicht einmal für Emile.

Sie seufzte, lächelte und nickte, während er von Dublin schwärmte. Sie war nicht auf den Kopf gefallen, auch wenn sie nicht sicher war, ob er manchmal so über sie dachte. Er schuf die Grundlagen und machte Anspielungen, aber sie würde nicht in ein fremdes Land ziehen, auch wenn es noch so reizvoll war. Als sie sah, dass Phillip das Zimmer betrat, war sie froh, dass damit auch das Thema gewechselt würde.

„Vater! Willkommen zu Hause!“

Emile legte die Stirn in Falten. Er mochte es nicht, wenn man ihn unterbrach. Phillip musste gesehen haben, dass er redete.

„Phillip! Du siehst gut aus.“

„Ich bin ja auch nicht krank gewesen“, gab er mit Nachdruck zurück und küsste seinen Vater auf die Wange.

Der schnippische Tonfall seines Sohns überraschte ihn, da der Junge sonst recht zurückhaltend war.

Lucy begann nervös zu kichern. Lieber Gott, mach, dass Phillip nicht wieder einen von diesen schlechten Tagen hat.

„Phillip hat eine Überraschung“, sagte sie und lächelte ihren Sohn an. „Sag es ihm, mein Junge. Sag deinem Vater, was du vorhast.“

Phillip zögerte. Er hätte es lieber für sich behalten, wenigstens für eine Weile. Aber seine Mutter musste sich so wie immer einmischen. Er wünschte, er hätte ihr nichts davon gesagt, aber dann verwarf er den Gedanken. Wenn sie ihm nicht den Rücken stärkte, wäre er ganz auf sich allein gestellt.

Emile blickte seinem Sohn prüfend ins Gesicht.

„Ja, Phillip. Sag mir, was du mit deinem Leben machen willst.“

Der herablassende Tonfall in der Stimme seines Vaters gab ihm den entscheidenden Anstoß.

„Ich werde meinen Abschluss in Englisch nutzen und ein Buch schreiben.“

Es wäre untertrieben gewesen, Emiles Reaktion als überrascht zu bezeichnen. Es war eine freudige Überraschung, und als er seinen Sohn ansah, wurde ihm klar, dass Phillip für diese Arbeit tatsächlich wie geschaffen sein könnte.

„Aber … das ist wunderbar“, sagte er, stand auf und schüttelte die Hand seines Sohns. „Da ich den kreativen Geist gut genug kenne, um mit dir mitzufühlen, werde ich dich nicht fragen, worüber du schreibst. Ich bin sicher, dass du es uns sagen wirst, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.“

Phillip wollte losheulen. All die Jahre hatte er darum gekämpft, seinem Vater zu gefallen und etwas zu machen, das eine solche Reaktion hervorgerufen hätte.

„Ja, da hast du Recht. Das Buch befindet sich noch in einer frühen Rohfassung, aber es macht Fortschritte.“

Emile lächelte und machte dann etwas, was Phillip seit über fünfundzwanzig Jahren nicht mehr erlebt hatte: Er nahm seinen Sohn in die Arme und klopfte ihm auf die Schulter.

Du hast es geschafft. Jetzt musst du bloß noch wirklich ein Buch schreiben, sonst fällst du bei deinem alten Herrn wieder in Ungnade.

Phillips Lächeln war zu einem Lachen geworden, das so laut war, dass es die Stimme in seinem Kopf fast übertönte.