1. KAPITEL

Heute, Seattle, Washington

„Mama, Mama, Hunger. Will einen Keks!“

Die siebenundzwanzig Jahre alte Emily Jackson sah von ihrem Computer auf und blickte zur Uhr. Sie verdrehte erschrocken die Augen, dann stand sie auf, um sich um ihren zweijährigen Sohn zu kümmern. Kein Wunder, dass er Hunger hatte. Es war bereits halb eins. Sich um ein Kind zu kümmern und gleichzeitig von zu Hause aus weiter als Buchhalterin zu arbeiten, war nicht so einfach, wie sie es sich anfangs vorgestellt hatte, auch wenn der Computer für den Kontakt zu ihren Kunden ein Geschenk des Himmels gewesen war.

„Eine Minute, mein Schatz“, rief sie, gab ihm einen Keks, küsste ihn flüchtig auf die Stirn und eilte zum Kühlschrank. Es war noch genug Essen von der letzten Mahlzeit übrig, und er befand sich in einer Phase, in der er praktisch alles aß. Sie würde nur ein paar Minuten benötigen, um etwas in der Mikrowelle aufzuwärmen.

Drei zugedeckte Schüsseln und sein Fläschchen standen bereits auf der Arbeitsplatte, und gerade wollte sie nach der vierten Schüssel greifen, als das Telefon klingelte.

„Das fehlt gerade noch“, murmelte sie und nahm den Hörer ab. „Jackson … ja, hier spricht Emily. Wer ist da?“

Nach einer kurzen Pause am anderen Ende der Leitung hörte sie auf einmal fernen Donner, gefolgt von einem Glockenspiel wie an der Eingangstür zu einem Geschäft. Als sie das Geräusch wahrnahm, schaltete sich ihr Verstand ab. Sie wandte ihr Gesicht der Wand zu, den Hörer immer noch ans Ohr gepresst. Die kalte Luft aus dem Kühlschrank strich über ihre Beine, aber sie spürte es nicht. Ihr Geist war schon längst woanders.

Im nächsten Moment legte sie den Hörer auf die Arbeitsplatte, nahm eine Packung Kekse und eine Flasche Milch für ihr Kind, hob den Jungen auf den Arm und brachte ihn wortlos zu Bett. Sie gab ihm die Kekse und die Milch, dann drehte sie sich um und ging weg.

Der Junge war mit dem zufrieden, was seine Mutter ihm gegeben hatte. Und während er sich über die Kekse hermachte, stieg Emily in ihren Wagen und rangierte ihn aus der Einfahrt zum Haus. Eine Nachbarin winkte ihr von der anderen Straßenseite zu, doch Emily schien sie nicht zu sehen. Die Nachbarin dachte sich nichts dabei, bis ihr auffiel, dass Emily die Haustür hatte offen stehen lassen.

„Oh je“, rief sie und ging zum Haus, um ihrer nachbarschaftlichen Pflicht nachzukommen. Als sie die Veranda erreicht hatte, übermannte sie ein plötzliches Gefühl der Neugierde. Anstatt die Tür zuzuziehen, dachte sie daran, einen Blick ins Haus zu werfen. Was würde ein harmloser kurzer Blick schon ausmachen?

Ein wenig schuldbewusst schaute sie über die Schulter, dann trat sie ein und schloss die Tür hinter sich. Einen Moment lang stand sie einfach nur da, bewunderte die Farbgebung und die ausladenden Polstermöbel im Wohnzimmer rechts von ihr. Sie machte ein paar Schritte, als sie ein Geräusch aus der Richtung des Schlafzimmers hörte. Wie dumm von ihr! Nur weil Emily weggefahren war, musste das Haus nicht zwangsläufig verlassen sein. Ihr Mann Joe war Fluglotse, und vermutlich hatte er seinen freien Tag.

„Joe? Joe! Ich bin’s, Helen. Emily hat die Tür offen stehen lassen, und ich bin nur schnell rübergekommen, um sie zuzumachen.“

Niemand antwortete, aber sie konnte hören, dass jemand im Haus war.

„Joe? Ich bin’s, Helen. Bist du angezogen?“

Ein grelles Kreischen ließ sie zusammenzucken. In dem Moment fiel ihr der Junge ein. Sie war davon ausgegangen, dass Emily ihn im Wagen mitgenommen hatte, weil sie ohne ihn so gut wie nie das Haus verließ. Sie ging weiter durch den Flur, darauf gefasst, dass Joe jeden Augenblick auftauchen konnte, um sie zur Rede zu stellen, was sie in seinem Haus suchte. Doch je weiter sie ging, desto sicherer war sie, dass er nicht da war.

Als sie das Kinderzimmer betrat, stockte ihr einen Moment lang der Atem. Der Junge saß auf seinem Bett, in einer Hand die Keksschachtel, in der anderen seine Flasche Milch.

„Keks?“ fragte er, als er Helen sah.

„Oh, mein Gott“, murmelte sie und hob ihn hoch. Sie war sicher, dass es nicht so sein konnte, wie es auf den ersten Blick aussah. Emily Jackson war nicht die Frau, die aus dem Haus ging und ihr Kind unbeaufsichtigt zurückließ.

Mit dem Jungen auf dem Arm eilte sie von Zimmer zu Zimmer, bis sie die Küche erreichte und erkannte, dass etwas nicht stimmen konnte. Essen stand herum, der Hörer lag neben dem Telefon, die Kühlschranktür war weit offen. Sie wollte ein wenig Ordnung schaffen, als eine innere Stimme ihr riet, nichts zu verändern. Stattdessen packte sie ein paar Windeln und nahm den Jungen mit.

Als Helen in ihr Haus zurückgekehrt war und Joe an seinem Arbeitsplatz anrufen wollte, befand sich Emily Jackson bereits auf einem Kollisionskurs mit ihrem Schicksal.

Emily fuhr quer durch Seattle, ohne sich um den Verkehr zu kümmern. Sie fuhr bei Rot über Kreuzungen und interessierte sich weder für andere Autofahrer noch für Fußgänger. Als sie die Narrows Bridge erreicht hatte, wurde sie von einer Kolonne aus Streifenwagen verfolgt, die es mit der von O. J. Simpsons Flucht hätte aufnehmen können. Die Polizei wusste es noch nicht, aber Emily hatte ihr Ziel erreicht. Am anderen Ende der Brücke erwartete sie ein Kordon aus Polizeiwagen, außerdem waren Straßensperren aufgebaut worden.

Doch die andere Seite der Brücke war für Emily ohne Bedeutung. Auf halber Strecke hielt sie plötzlich ihren Wagen an, stellte den Motor ab und stieg aus. Bevor der erste Streifenwagen hinter ihr zum Stehen gekommen war, hatte sie bereits das Geländer der Brücke erreicht. Als die Polizisten losrannten und hinter ihr herriefen, kletterte sie über das Geländer.

Die Beamten schrien ihr zu, sie solle nicht springen, sie machten ihr Versprechungen, die sie niemals hätten halten können, doch Emily hörte nur ein lautes Tosen. Sie breitete die Arme aus, als wäre sie ein Vogel, der sich zum Abflug bereitmachte, hob den Kopf zum Himmel und sprang.

Sie wirbelte um ihre eigene Achse, nur der Wind rauschte in ihren Ohren, als sie ausführte, was man ihr aufgetragen hatte.

Drei Tage lang war Seattle von diesem Zwischenfall erschüttert, bis diese Nachricht von einer anderen, gleichermaßen tragischen Geschichte abgelöst wurde. Emily hinterließ ihren Mann, der um sie trauerte und sich den Kopf über die Gründe für ihren Selbstmord zerbrach, und einen kleinen Jungen, der nach seiner Mutter rief, die niemals zurückkommen würde.

Eine Woche später, Amarillo, Texas

Josephine Henley, von den Gästen in Haley’s Bar nur kurz Jo-Jo genannt, servierte gerade einige Drinks, als Barkeeper Raleigh ihr quer durch das Lokal zurief: „Hey, Jo-Jo, ein Anruf für dich.“

Sie winkte ihm zu, um anzudeuten, dass sie ihn gehört hatte, dann kassierte sie das Trinkgeld ein, das ein paar betrunkene Trucker ihr gegeben hatten, die sie um einen Kuss anbettelten.

„Komm schon, Jo-Jo, nur einen für unterwegs“, sagte Henry.

„Kommt gar nicht in Frage“, erwiderte sie. „Du bist verheiratet.“

„Ja, aber ich bin auch einsam.“

„Du bist nicht einsam, du bist nur scharf, und ich werde dir den Gefallen nicht tun.“

„Dann gib mir meine fünf Dollar zurück“, sagte er im Scherz.

„Oh nein, die habe ich mir verdient. Außerdem musstest du schon einiges mehr als nur fünf Dollar hinblättern, um mich rumzukriegen.“

„Wie viel denn?“ fragte er. Sein Interesse war sofort wieder geweckt.

„So viel Geld kannst du niemals zusammenbekommen, Mister. Und jetzt gib auf. Da wartet ein Anruf auf mich.“

Sie befreite sich aus seinem Griff und ging zum Telefon.

„Einen Bourbon mit Soda“, gab sie eine neue Bestellung weiter, bevor sie den Hörer nahm.

„Hallo! Hallo?“

Es war zu laut, als dass sie etwas hätte hören können. Sie legte die Hand über die Sprechmuschel und wandte sich den Gästen zu.

„Geht das ein bisschen leiser?“ brüllte sie. „Ich kann ja kein Wort verstehen.“

Sie versuchte es erneut. „Hallo? Ja, ich bin Josephine Henley.“

Während sie wartete, dass weitergesprochen wurde, hörte sie auf einmal ein fernes Donnern. Sie drehte sich um und überlegte, ob sie die Fenster ihres Wagens geschlossen hatte. Dann folgte ein weiteres Geräusch, und im gleichen Augenblick wurde ihr Gesicht völlig ausdruckslos. Sie stand da, sprach kein Wort, hatte die Augen geschlossen und ließ die Schultern hängen.

Raleigh bemerkte das und sah sie erstaunt an. Das war nicht Jo-Jos Art. Er berührte sie an der Schulter.

„Hey, Kleine, stimmt was nicht?“

Sie reagierte nicht auf seine Frage, sondern ließ nur den Hörer los und versuchte, an ihm vorbeizukommen.

„Hier ist der Bourbon mit Soda“, sagte er und reichte ihr ein Tablett mit einem Glas, doch sie schob ihn so heftig aus dem Weg, dass das Tablett auf den Boden fiel.

„Hey, war das mein Drink?“ rief jemand.

„Halt die Klappe“, gab Raleigh zurück und fasste Jo-Jo am Arm. „Was ist los mit dir? Hast du mich nicht gehört?“

Dann sah er ihr ins Gesicht, und der Blick in ihren Augen ließ fast sein Herz stillstehen.

Wie in Trance bewegte Jo-Jo sich auf den Ausgang zu, als Raleigh in Panik geriet und einem der Männer zurief, sie aufzuhalten. Seine Worte gingen im allgemeinen Trubel unter.

„Hey, Jo-Jo, was ist denn los? Komm zurück!“ rief er und lief um die Theke herum. Noch bevor die Gäste verstanden hatten, dass etwas nicht stimmte, war er schon hinter ihr her aus dem Lokal gestürmt. Gut ein halbes Dutzend Männer folgte ihm und begann, auf dem vollen Parkplatz nach ihr zu suchen. Ihr Wagen stand noch da, also musste sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht haben.

„Jo-Jo! Jo-Jo! Komm zurück, Schatz. Wenn dir nicht gut ist, dann fährt dich einer von den Jungs nach Hause.“

Es kam keine Antwort, und er konnte sie auch nirgends sehen. Hektisch bahnten sich die Männer einen Weg zwischen den geparkten Fahrzeugen und riefen immer wieder ihren Namen.

Raleigh wollte ihr Verhalten fast schon als irgendeine typisch weibliche Marotte abtun, als jemand seinen Namen rief. Die Angst, die in der Stimme mitschwang, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er begann zu rennen, vorbei an einer Reihe geparkter PKWs und einigen schweren Trucks, bis er am Highway angelangt war und Jo-Jo sah.

Sie rannte gerade auf die Überholspur des Highways, die Arme ausgebreitet wie ein Kind, das so tut, als wolle es fliegen.

Raleigh sah die Scheinwerfer eines herannahenden Trucks und begann zu rennen, obwohl er wusste, dass er zu spät kommen würde.

Der Geruch von Gummi erfüllte die Luft, als der Fahrer auf die Bremse trat, um die Frau, die praktisch aus dem Nichts vor ihm auf der Straße aufgetaucht war, nicht zu überfahren. Das Kreischen der blockierenden Reifen übertönte das dumpfe Geräusch, als ihr Körper mit dem Truck zusammenprallte. Wie eine Puppe wurde sie durch die Luft gewirbelt und schlug hart auf dem Mittelstreifen auf.

Die Männer starrten ungläubig auf den Highway.

Raleigh wandte sich um und sagte zu dem Mann, der direkt neben ihm stand: „Los, ruf einen Krankenwagen.“ Dann begann er den herannahenden Wagen zu winken, damit die langsamer wurden und sie die Straße überqueren konnten.

Der Detective der Mordkommission erklärte den Zwischenfall zu einem offensichtlichen Selbstmord und schloss die Akte.

Nur Raleigh teilte diese Ansicht nicht. Er schwor, dass mit Jo-Jo bis zu diesem Anruf alles in Ordnung gewesen war.

Zwei Tage später, Chicago, Illinois

Mit achtundzwanzig Jahren hatte Lynn Goldberg einen Meilenstein in ihrer Karriere als Strafverteidigerin erreicht. Ihr bisheriges Leben lang hatte man ihr gesagt, sie sei zu hübsch, um als Anwältin erfolgreich sein zu können, aber sie hatte alle Besserwisser ignoriert und war einfach ihrem Herzen gefolgt. Und heute hatte sie bewiesen, dass sie nicht einfach nur ein hübsches Gesicht war. Sie hatte ihren ersten Mordfall gewonnen, und es war ein verdammt gutes Gefühl. Noch besser war aber, dass sie davon überzeugt war, einen wirklich Unschuldigen erfolgreich verteidigt zu haben, was in ihrer Branche nicht immer der Fall war.

Sie packte die Fälle, die sie vor dem morgigen Tag noch durchgehen wollte, in ihre Aktentasche und sah auf die Uhr. Sie hatte noch genau sechsunddreißig Minuten Zeit, um die Stadt zu durchqueren und sich mit ihrem Mann Jonathan zum Abendessen zu treffen. Er wusste es noch nicht, aber heute Abend würde sie ihn zum Dinner einladen. Sie konnte es kaum erwarten, sein Gesicht zu sehen, wenn sie ihm von ihrem ersten Sieg erzählte.

Sie sah sich ein letztes Mal in ihrem Büro um, griff nach dem Telefon und rief ein Taxi. Bis sie die fünfzehn Etagen bis zum Ausgang aus dem Bürogebäude zurückgelegt hatte, in dem sich die Anwaltskanzlei befand, in der sie arbeitete, würde das Taxi schon vorgefahren sein. Sie strich ihren Nadelstreifenanzug glatt, legte den Regenmantel über den Arm und griff nach ihrer Aktentasche, als das Telefon klingelte.

„Oh nein, heute nicht mehr“, murmelte sie und ging zur Tür.

Aber das Klingeln hörte nicht auf. Es könnte Jonathan sein, dachte sie. Es wäre ärgerlich, wenn sie den ganzen Weg zurücklegen würde, um dann festzustellen, dass er absagen musste. Sie eilte zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

„Hallo? Ja, Sie sprechen mit Lynn Goldberg.“

Es folgte ein Augenblick der Stille, dann ein fernes Donnern. Ihr schauderte, während sie zum Fenster sah und froh war, dass sie den Regenmantel dabeihatte. Dann hörte sie über den Donner ein weiteres Geräusch, Glocken, die in langsamer Folge angeschlagen wurden. Im gleichen Moment sanken ihre Augenlider herab, und sie ließ ihre Schultern hängen.

Am Telefon blinkte eine kleine Lampe, die ein weiteres eingehendes Gespräch signalisierte. Aber sie nahm es nicht wahr, und selbst wenn, wäre sie nicht in der Lage gewesen, irgendeine Entscheidung zu treffen. Stattdessen legte sie den Hörer auf, verließ ihr Büro in Richtung der Aufzüge.

Ihr Anwaltskollege Gregory Mitchell blickte auf, als sie an seinem Schreibtisch vorbeiging.

„Hey, Lynn, ich wusste gar nicht, dass du noch immer hier bist. Meinen Glückwunsch zum gewonnenen Fall.“

Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Verwirrt sah er sie aus der Kanzlei gehen, bis er erkannte, dass sie ihre Aktentasche und den Regenmantel an der Tür zu ihrem Büro hatte liegen lassen. Er wusste, dass sie noch einmal fünfzehn Etagen nach oben fahren musste, wenn ihr unten auffiel, dass sie beides vergessen hatte. Also lief er ihr in dem Glauben nach, sie am Aufzug zu erwischen. Sie würde über ihre Vergesslichkeit lachen, ihre Sachen holen, dann würde sie sich nach unten und er sich zurück an seinen Schreibtisch begeben.

Als er am Aufzug ankam, sah er zu seinem Erstaunen, dass seine Kollegin offensichtlich in einen Aufzug gestiegen war, der nach oben fuhr. Die oberste Etage im Gebäude stand zur Zeit leer und wurde renoviert.

„Verdammt, Lynn, wo hast du heute deinen Kopf?“ murmelte er und wartete, dass sich jeden Moment die Aufzugtüren öffneten und sie ihn verlegen angrinsen würde. Aber die von oben kommende Kabine war leer.

Kurz entschlossen betrat er den Aufzug und fuhr in die sechzehnte Etage. Immer wieder sagte er sich, dass es eine logische Erklärung geben musste. Aber als er im obersten Stockwerk angekommen war, hörte er nur den Wind, der sich in den Plastikplanen fing, die in Kürze durch neue Fenster ersetzt werden sollten.

„Lynn? Lynn? Wo bist du? Ich bin’s, Greg!“

Vom anderen Ende des Flurs war ein lautes Rascheln zu hören. Er machte sich in diese Richtung auf und rechnete damit, dass sie jeden Augenblick von irgendwoher auftauchte, auf der Suche nach dem Weg zurück zum Aufzug.

Doch das große Eckbüro, das er betrat, war leer. Frustriert wandte er sich ab, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er näherte sich der vorübergehend mit Plastik verkleideten Ecke, da wurde ihm klar, dass sich jemand auf dem Gerüst an der Außenseite des Gebäudes befand.

„Das kann doch nicht sein“, murmelte er und stürmte durch das Zimmer, weil ihm ein ungutes Gefühl sagte, dass da draußen sonst niemand sein konnte.

Er riss die Plastikplane zur Seite und erstarrte. Lynn stand auf einem Stahlträger sechzehn Stockwerke über der Erde. Der Wind, der um die Hausecke wehte, zerrte an ihrem Jackett und blähte es auf.

„Mein Gott, Lynn! Was soll denn das? Komm sofort rein, bevor dir was passiert!“

Wieder schien sie ihn nicht zu hören. Zu seinem Entsetzen breitete sie stattdessen die Arme aus, als würde sie ein unsichtbares Orchester dirigieren wollen. Greg geriet in Panik. Die Situation war völlig außer Kontrolle geraten. Er wollte nach seinem Handy greifen, als ihm einfiel, dass es auf seinem Schreibtisch lag. Da er nicht tatenlos zusehen konnte, begann er, aus dem Fenster auf das Gerüst zu klettern, während er so ruhig wie möglich auf sie einredete, obwohl er vor Entsetzen am liebsten geschrien hätte.

„Lynn, sieh mich an! Sieh nicht nach unten, hörst du? Du nimmst jetzt meine Hand und dann kommst du mit mir nach drinnen. Du wirst nicht …“

Mitten im Satz blickte sie auf einmal zum Himmel und machte einen Schritt nach vorne, fort vom Gerüst. Greg sah noch, dass sie lächelnd und mit ausgebreiteten Armen in die Tiefe sprang. Er sah nicht, wie sie auf dem Fußweg aufschlug, weil er auf dem Gerüst kniete und sich übergab.

Der Zwischenfall wurde in den Zeitungen nur am Rande erwähnt. Menschen, die in den Tod springen, waren in Chicago keine Besonderheit.

Am nächsten Abend, in der Nähe von Denver, Colorado

Wie schon so oft in den letzten fünf Jahren war Frances Waverly davon überzeugt, dass es ein Fehler gewesen war, Charlie zu heiraten. Ganz egal, was sie tat, sie konnte es ihm nie recht machen. Den ganzen Tag über brüllte und meckerte er nur, und sobald der Abend anbrach, wollte er sofort mit ihr schlafen. Er konnte nicht verstehen, dass sie sich nicht von ihm anfassen lassen wollte, und unterstellte ihr, sie habe eine Affäre.

„Eine Affäre!“ fuhr Frankie ihn an. „Im Moment würde ich mich nicht mal mit Donald Trump und seinen Millionen einlassen, ganz abgesehen davon, dass er an jemandem wie mir sowieso nicht interessiert wäre. Dein ewiges Genörgel hat mich vorzeitig altern lassen, und mir reicht es! Hast du mich verstanden? Mir reicht es!“

Charlie packte sie am Arm. Er hörte das nicht zum ersten Mal, er kannte die immer gleiche Leier, und er wollte jetzt mit ihr ins Bett gehen.

„Ach, sei doch endlich ruhig, Frankie. Du hast überhaupt keinen Grund, dich zu beklagen. Du hast ein schönes Haus, der Wagen ist noch so gut wie neu. Du hast alles, was du brauchst. Alles, was ich von dir will, sind deine ehelichen Pflichten. Du bist meine Frau, ich habe ein Recht darauf, mit dir zu schlafen.“

Frankie lachte schrill auf. „Mit mir schlafen! Das ist doch das Einzige, worum es dir geht. Du liebst mich doch gar nicht, du bist nur auf meinen Körper scharf.“

„Das ist nicht wahr!“ brüllte Charlie sie an. „Ich habe dir …“

In dem Moment klingelte das Telefon. Frankie nahm den Hörer ab. Sie war bereit, mit jedem zu reden, selbst wenn es irgendein Telefonverkäufer war, solange sie kein weiteres Wort von Charlie Waverly hören musste.

„Waverly“, sagte sie knapp. Als Charlie versuchte, ihr den Hörer zu entreißen, schlug sie ihm auf die Hand und wandte sich ab. „Ja, hier ist Frances Waverly.“

„Verdammt, Frankie, leg den Hörer auf. Wir sind hier mitten im Gespräch. Wer immer das ist, du rufst zurück.“

Aber Frankie reagierte nicht, sondern sank gegen die Wand und erstarrte förmlich. Einen Moment lang glaubte er, sie würde ohnmächtig. Dann schloss sie die Augen und ließ die Schultern sinken.

„Was ist?“ herrschte er sie an, während er befürchtete, dass über ein Familienmitglied irgendeine Katastrophe hereingebrochen war. „Wer ist das? Ist das Mom? Ist Dad in Ordnung?“

Frankie erwiderte nichts, woraufhin er noch panischer wurde. Er sah sie an und bemerkte, dass eine Träne über ihre Wange lief. Mit einem Mal tat es ihm furchtbar Leid, dass er sie angeschrien hatte.

„Hör zu, Schatz, ganz egal, was passiert ist, wir stehen das schon durch“, sagte er. „Ich bin für dich da.“

Er legte eine Hand an ihren Hinterkopf und drückte sanft ihren Nacken. Aber diesmal lächelte sie ihn nicht verzeihend an, sondern legte den Hörer auf den Tisch und ging an ihm vorbei, als sei er unsichtbar. Als sie die Wagenschlüssel nahm und die Haustür öffnete, geriet er ernsthaft in Panik.

„Frankie, warte! Wohin gehst du? Warte, ich komme mit!“

Sie verließ die Veranda und ging hinaus in die Nacht. Er griff nach dem Telefon.

„Hallo? Hallo? Wer ist da? Was zum Teufel haben Sie meiner Frau gesagt?“

Es war nur ein Freizeichen zu hören. Er legte den Hörer auf und folgte Frankie nach draußen, doch sie war bereits in den Wagen gestiegen und losgefahren.

„Frances! Verdammt, ich habe doch gesagt, dass du warten sollst!“ brüllte er, aber sie war schon zu weit entfernt. Er zog die Schlüssel aus der Hosentasche, stieg in seinen Truck und fuhr ihr nach.

Über einen Kilometer klebte er regelrecht an ihrer Stoßstange und versuchte, mit Hupe und Lichthupe zu verstehen zu geben, dass sie anhalten sollte. Sie verhielt sich so, als wäre er gar nicht hinter ihr. Ein weiterer Kilometer verstrich, und er fühlte, wie Angst von ihm Besitz ergriff. Sie musste etwas wirklich Schlimmes erfahren haben, wenn sie so reagierte. Als er sah, dass sie sich einem Bahnübergang näherten, fühlte er sich ein wenig beruhigter. Die Signallichter blinkten bereits und die Schranken waren unten und verhinderten jede Weiterfahrt. Endlich würde er mit ihr reden können.

Er atmete auf und hatte ein gutes Gefühl, dass sich bald alles klären würde. Doch als sie sich der Schranke näherten, erkannte er, dass Frankie im Gegensatz zu ihm offenbar nicht bremste. Schlimmer noch, sie hatte das Tempo erhöht. Im Lichtkegel seiner Scheinwerfer sah er, dass sie die Arme zur Seite ausgestreckt hatte und das Lenkrad nicht mehr festhielt! Was um alles in der Welt wollte sie damit beweisen?

„Halt an, Frances, halt an!“ murmelte er unentwegt, aber es war vergebens.

Fassungslos sah er mit an, wie sie mit ihrem Wagen die Schranke durchbrach und ungebremst in den Zug raste. Der Wagen explodierte, einzelne Teile wirbelten durch die Luft. Charlie trat mit aller Kraft auf die Bremse und began zu schreien, als ein Teil der Stoßstange gegen seinen Truck geschleudert wurde.

Ihre Überreste wurden drei Tage später zu Grabe getragen. Niemand in der Familie konnte sich vorstellen, was es mit dem Anruf auf sich gehabt haben könnte, doch Charlie war davon überzeugt, dass das Telefonat der Grund für ihren Tod war. Es musste so sein. Sonst würde er akzeptieren müssen, dass sein Verhalten sie in den Selbstmord getrieben hatte. Aber mit dieser Schuld hätte er nicht leben können.

Eine Woche später, Oklahoma City, Oklahoma

Marsha Butler nahm auf dem Beifahrersitz im Wagen ihrer besten Freundin Platz und lächelte ihr freundlich zu.

„Weißt du, Allison, das ist wirklich lieb von dir, dass du mich abholst. Mein Wagen ist die ganze Woche über in der Werkstatt gewesen, aber zum Glück ist er jetzt endlich fertig.“

Allison Turner grinste breit. „Kein Problem. Außerdem muss ich sowieso zur Bank, um meinen Gehaltsscheck einzulösen. Ich möchte nämlich nicht, dass die Schecks platzen, mit denen ich gerade meine Rechnungen bezahlt habe.“

Marsha erwiderte das Grinsen. „Kommt mir irgendwie bekannt vor.“

Allison hielt kurz an und bog dann nach rechts in den Air Depot Drive.

„Zu welcher Werkstatt müssen wir gleich noch mal?“ fragte sie.

„Hughley’s, gleich an der Ecke Reno und Air Depot.“

„Ah, ja, die kenne ich. Haben sie den Fehler gefunden, oder knöpfen sie dir jetzt einfach so ein Vermögen ab?“

Marsha seufzte. „Wer weiß das schon? Du weißt doch, wie man in solchen Läden Frauen behandelt. Das ist einer von diesen Augenblicken, in denen ich mir wünsche, ich wäre immer noch verheiratet.“ Dann schüttelte sie amüsiert den Kopf. „Aber nicht so sehr, dass ich deswegen Terry wiederhaben wollte. So ein Mistkerl.“

Sie lachten beide laut los. Einige Minuten später zeigte Marsha aus dem Fenster.

„Da vorne ist es“, sagte sie. „Bieg rechts ab.“

„Alles klar“, erwiderte Allison und setzte den Blinker. In dem Moment begann ihr Handy zu klingeln, das neben ihrem Sitz auf der Mittelkonsole lag.

„Kannst du für mich rangehen?“ fragte sie.

Marsha nahm das Telefon an sich.

„Hallo? Nein … ich bin nicht Allison. Sie fährt gerade. Würden Sie bitte einen Moment warten?“

„Danke“, sagte Allison, während sie auf den Hof der Werkstatt fuhr.

„Du kannst mich hier irgendwo aussteigen lassen“, sagte Marsha.

„Ich warte, bis du weißt, ob der Wagen wirklich fertig ist.“

„Ich bin ja angerufen worden, ansonsten wäre ich das Risiko nicht eingegangen.“

„Egal, ich warte sicherheitshalber“, sagte Allison.

„Danke. Du hast was bei mir gut“, erwiderte Marsha und stieg aus.

Sobald ihre Freundin den Wagen verlassen hatte, verriegelte sie die Türen und nahm das Gespräch an.

„Hallo, hier ist Allison, danke, dass Sie gewartet haben … Hallo? Hallo?“

Sie riss die Augen einen Moment lang auf, dann sanken die Augenlider herab und ihr Kopf fiel leicht nach vorne, während sie den Hörer immer noch an ihr Ohr presste.

Marsha bezahlte soeben die Rechnung für ihren Wagen, als sie sah, dass Allison immer noch auf sie wartete. Sie lächelte und musste daran denken, welch enge Freundschaft zwischen ihnen entstanden war. Minuten später saß sie in ihrem eigenen Wagen und fuhr zur Ausfahrt. Als sie auf gleicher Höhe mit Allisons Auto war, hupte sie kurz, aber ihre Freundin reagierte nicht.

Verwundert wollte Marsha aussteigen, da sah sie, dass Allison noch immer telefonierte. Sie zögerte, denn sie vermutete eine private Sache, und wollte weiterfahren. Aber etwas an der Art, wie ihre Freundin hinter dem Lenkrad saß, beunruhigte Marsha. So steif, wie sie ihr vorkam, musste sie schlechte Nachrichten erhalten haben.

Spontan stieg sie aus, ging zu Allisons Wagen und klopfte an das Seitenfenster.

„Allison! Ich bin’s! Ist alles in Ordnung?“ Sie wollte die Tür öffnen, aber die war von innen verriegelt. „Allison! Allison, hörst du mich?“

Sie sagte nichts, sie bewegte sich nicht. Marsha war außer sich vor Sorge, als Allison auf einmal den Kopf hob. Sie legte das Telefon auf den Beifahrersitz, legte einen Gang ein und gab Gas. Marsha konnte gerade noch einen Satz zur Seite machen, um nicht mitgeschleift zu werden. Fassungslos sah sie mit an, wie Allisons Wagen zwei Fahrspuren überquerte und dabei nur knapp zwei Kollisionen entging.

„Allison, pass auf!“ schrie sie verzweifelt, aber ihr Ruf verhallte ungehört. Schockiert musste sie miterleben, wie Allison Turner geradewegs unter einen Tanklastwagen raste. Zahlreiche Fahrer versuchten mit einer Vollbremsung oder einem Ausweichmanöver, nicht in den Unfall verwickelt zu werden, während andere, die ihren Wagen bereits zum Stehen gebracht hatten, fluchtartig davonliefen, da sie wussten, was geschehen würde. Unmittelbar vor dem Zusammenstoß hatte Marsha für einen kurzen Moment freie Sicht auf den Wagen gehabt. Sie hätte schwören können, dass Allison die Arme ausgestreckt hatte, als wolle sie den bevorstehenden Tod in die Arme schließen.

Nur einen Sekundenbruchteil, nachdem sich Allisons Wagen in den Tanklastzug gebohrt hatte, vergingen beide in einem gewaltigen Feuerball, dessen Wucht Marsha nach hinten auf den Boden schleuderte.

Als die ersten Krankenwagen die Unfallstelle erreichten, schrie sie noch immer voller Entsetzen.