
IM SCHATTEN STEHEN
Die flackernden Lampen des verwüsteten Supermarkts warfen aus dem Dunkel lange Schatten. Stephanie bahnte sich in dem Durcheinander einen Weg, eine Hand fest um das goldene Zepter gelegt. Ganze Regalreihen waren wie Dominosteine umgefallen und lagen jetzt mitten unter Konservendosen und Ketchupflaschen aufeinander. Der Geruch eines kleinen Essig-Ozeans stieg ihr in die Nase. Sie schaute nach rechts und sah gerade noch Nadelstreifen aufblitzen. Dann war sie wieder allein in den Ruinen dieses Labyrinths. Das einzige Geräusch kam vom leisen Summen der Tiefkühltruhen.
Sie schob sich durch Dunkelheit und trat wieder ans Licht. Ein paar vorsichtige und leise Schritte, und schon verschluckte die Dunkelheit sie erneut in ihrem kalten Hunger. Vor ihr schwebte ein Mann einen Meter über dem Boden, als liege er auf einem unsichtbaren Bett. Er hatte die Hände auf dem Bauch gefaltet und die Augen geschlossen.
Stephanie hob das Zepter.
Ein Gedanke genügte, und ein schwarzer Blitz würde ihn pulverisieren. Ein einfacher Befehl, den sie noch vor nicht einmal einem Jahr ohne zu zögern erteilt hätte. Davos Rhadaman stellte eine Bedrohung dar. Er war eine Gefahr für sie und andere. Er hatte sich in den Beschleuniger gestellt und die Verstärkung seiner Kräfte hatte ihn gewalttätig werden lassen. Labil. Er war jetzt der Feind. Der Feind hatte den Tod verdient.
Und dennoch … zögerte sie.
Sie gehörte nicht zu denen, die an sich zweifelten. Sie neigte nicht zur Selbstkritik. Den Großteil ihrer Existenz hatte Stephanie lediglich als Hülle verbracht. Sie war das Spiegelbild, die Vertretung, die Kopie. Während Walküre Unruh da draußen in der Welt die Heldin spielte, ging Stephanie in die Schule, saß am Abendbrottisch und führte deren alltägliches Leben weiter. Man sah sie als gefühlloses Objekt. Sie war ein Es gewesen.
Jetzt, da sie eine Sie war, war alles undurchsichtiger. Nicht mehr so klar. Jetzt, da sie eine Person war, da sie wirklich lebte, merkte sie, dass sie keinem anderen Lebewesen die Gelegenheit dazu nehmen wollte – nicht wenn sie es irgendwie verhindern konnte. Was aber, wie sie offen zugab, höchst lästig war.
Mit rabenschwarzer Miene verließ sie ihre Deckung und näherte sich Rhadaman langsam. Sie zog ein Paar Handschellen aus ihrer Tasche, wobei sie aufpasste, dass die Kette nicht klimperte. Das Zepter hielt sie auf ihn gerichtet – sie wollte zwar niemanden umbringen, wenn es andere Möglichkeiten gab, aber blöd war sie auch nicht – und achtete darauf, wohin sie trat. Der Boden war übersät mit Artikeln aus dem Supermarktsortiment und Trümmerteilen. Die Hälfte der Strecke hatte sie so bereits zurückgelegt und Rhadaman hatte die Augen immer noch nicht geöffnet.
Je näher sie kam, desto lauter dröhnte ihr Puls in ihrem Kopf. Sie war überzeugt, dass sie gleich auch ihren Herzschlag hören würde. Und wenn nicht ihren Herzschlag, dann bestimmt ihren lächerlich lauten Atem. Wann hatte sie nur angefangen, so laut zu atmen? Atmete sie schon immer so laut? Darauf müsste sie doch schon mal jemand hingewiesen haben.
Als Stephanie noch drei Schritte entfernt war, hielt sie inne und schaute sich nach den Nadelstreifen um. Nichts zu sehen. Warum hatte sie nicht gewartet? Warum musste sie das allein durchziehen? Hatte sie wirklich so viel zu beweisen? Wahrscheinlich schon, wenn sie es sich jetzt so überlegte. Würde die Gefangennahme Rhadamans im Alleingang sie denn zu einer gleichberechtigten Partnerin machen? Würde dies in Zukunft ihre Existenz rechtfertigen?
Sie war es nicht gewohnt, dass ihr so viele widersprüchliche Gedanken durch den Kopf gingen.
Noch drei Schritte und sie streckte die Hand aus, die Handschellen bereit zum Zuschnappen.
Rhadaman schlug die Augen auf.
Er starrte sie an. Sie starrte ihn an.
„Ist das ein Traum?“, fragte sie. Einen Versuch war es wert, doch eine Energiewelle warf sie nach hinten.
Sie stürzte und ein Teil ihres nebelverhangenen Bewusstseins sagte ihr, dass ihre Hände leer waren. Als sie nicht mehr über den Boden schlitterte, schaute sie auf und sah Rhadaman mit dem Zepter vor sich stehen.
„Ich hab das schon in verschiedenen Büchern gesehen“, sagte er. Er war Amerikaner. „Es ist das Original, nicht wahr? Damit haben die Urväter tatsächlich die Gesichtslosen getötet und sie aus dieser Wirklichkeit vertrieben. Der echte Göttermörder.“ Er zielte damit auf Stephanie, als sie aufstand, und runzelte dann die Stirn. „Er funktioniert nicht.“
„Muss kaputt sein“, meinte sie. „Kann ich das Zepter wiederhaben?“
Sie streckte die Hand danach aus. Rhadaman betrachtete sie noch einen Augenblick länger. Seine Augen weiteten sich. „Du bist sie.“
„Nein.“
Er ließ das Zepter fallen und seine Hände begannen zu glühen. „Du bist sie!“
„Bin ich nicht!“, widersprach sie rasch, bevor er angreifen konnte. „Du glaubst, ich sei Darquise, aber das stimmt nicht! Ich bin ihr Spiegelbild! Ich bin total normal.“
„Du hast meine Freunde getötet!“
„Stehen bleiben!“ Sie wies mit dem Finger auf ihn. „Bleib sofort stehen! Wenn ich Darquise wäre, könnte ich dich auf der Stelle umbringen, richtig? Ich bräuchte keine Handschellen, um dich zu fesseln. Hör mir zu. Walküre Unruh hatte ein Spiegelbild. Das bin ich. Walküre Unruh hat sich davongemacht, wurde böse und verwandelte sich in Darquise, aber ich bin immer noch da. Ich bin also nicht Darquise und deine Freunde habe ich auch nicht umgebracht.“
Rhadamans Unterlippe zitterte. „Du bist kein Spiegelbild.“
„Doch. Zumindest war ich eines. Ich habe mich weiterentwickelt. Ich heiße Stephanie. Wie geht es dir?“
„Das ist doch ein Trick.“
„Nein. Ein Trick wäre um einiges cleverer als das hier.“
„Ich sollte … ich sollte dich umbringen.“
„Warum denn? Ich arbeite mit dem Sanktuarium zusammen. Der Krieg ist vorbei, richtig? Daran erinnerst du dich doch, oder? Wir sitzen wieder alle im selben Boot, auch wenn ihr sozusagen verloren habt und wir das Sagen haben. Wenn ich dir also befehle, du sollst dich ergeben, ergibst du dich. Einverstanden?“
„Niemand erteilt mir mehr Befehle.“
„Davos, du willst doch nichts tun, was du hinterher bereust. Der Beschleuniger hat deine magischen Kräfte verstärkt, aber er hat dich labil gemacht. Du kannst nicht klar denken.“
„Ich kann sehr wohl klar denken. Wenn ich dich töte, macht das zwar meine Freunde nicht wieder lebendig, aber es verschafft mir todsicher ein gutes Gefühl.“
„Also, das“, befand Skulduggery Pleasant und hielt Rhadaman den Lauf seines Revolvers an die Schläfe, „ist eine besorgniserregend ungesunde Sicht der Dinge.“
Rhadaman riss die Augen auf und erstarrte. Skulduggery stand da in seiner ganzen nadelgestreiften Pracht, den Hut in verwegener Schräglage. Sein Schädel spiegelte das Licht.
„Ich will nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst“, sagte Skulduggery. „Du bist mächtig, aber nicht so mächtig, dass dir eine Kugel im Kopf nichts anhaben könnte. Du bist verhaftet.“
„Lebendig kriegst du mich nie.“
„Ich glaube, du solltest dir wirklich besser überlegen, was du von dir gibst, bevor du es aussprichst. Du klingst, als seist du nicht ganz zurechnungsfähig. Stephanie, du hast anscheinend deine Handschellen fallen lassen. Würde es dir etwas ausmachen, sie aufzuheben und –“
Rhadaman bewegte sich schneller, als Stephanie es erwartete. Sogar schneller, als Skulduggery es erwartete. Von einem Augenblick zum nächsten schlitterte Skulduggerys Revolver über den Boden. Er selbst wich Rhadamans zupackenden Händen aus.
„Ihr könnt mich nicht aufhalten!“, kreischte Rhadaman.
Skulduggerys Krawatte saß schief. Mit einer zackigen Bewegung rückte er sie zurecht. Er war verärgert. „Wir wollten dich ohne Gewaltanwendung in Gewahrsam nehmen, Davos. Mach uns das nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.“
„Ihr habt doch keine Ahnung, was es bedeutet, Macht in dieser Größenordnung zu besitzen.“ In Rhadamans Augen blitzte Wut auf. „Und ihr wollt, dass ich darauf verzichte? Wieder so werde, wie ich vorher war?“
„Du wirst nicht ewig auf diesem Level der Macht bleiben“, erklärte Skulduggery. „Und das weißt du auch. Es lässt schon nach, merkst du es nicht? In vierzehn Tagen wird es mehr Tiefen als Höhen geben und bis zum Ende des Monats ist alles so, wie es immer war. Dagegen lässt sich nichts machen, Davos. Also tu dir einen Gefallen. Gib auf, bevor du größeren Schaden anrichtest. Wir werden dir die Hilfe zukommen lassen, die du brauchst, und wenn alles vorbei ist, nimmst du dein altes Leben wieder auf. Alternativ kannst du jetzt weitermachen, bis du jemanden verletzt. In diesem Fall verbringst du deine Zukunft in einer Gefängniszelle.“
„Ihr habt Angst vor meinen Kräften.“
„Die solltest du auch haben.“
„Weshalb sollte ich Angst haben? Das ist das Größte, was mir je passiert ist.“
„Das?“, fragte Skulduggery. „Im Ernst? Schau dich doch um, Davos. Wir stehen mitten in einem Supermarkt. Das Größte, was dir je passiert ist, und dir fällt nichts anderes ein, als einen Supermarkt zu verwüsten? Bist du wirklich so beschränkt?“
„Das war ich nicht.“
„Nein? Wer war es dann?“
„Meine Freunde.“
Stephanie konnte es sich nicht verkneifen – sie musste sich umschauen.
„Und wo sind deine Freunde jetzt?“, fragte Skulduggery.
Rhadaman zuckte mit den Schultern. „Irgendwo in der Nähe. Sie entfernen sich nicht allzu weit. Nach den vielen Schlachten gab es jede Menge von ihnen. Ich habe eine Gruppe entdeckt und mich ihrer angenommen. Sehr gesprächig sind sie allerdings nicht.“
Stephanie nahm einen schwachen Duft wahr. „Hohle?“
„Ich hab ihnen Namen gegeben“, erzählte Rhadaman. „Ich hab ihnen Namen gegeben und Kleider angezogen. Ich habe sie nach meinen Freunden benannt, nach denen, die Darquise umgebracht hat. Ich glaube, es gefällt ihnen, dass sie jetzt Namen haben. Nicht dass sie es zeigen würden.“
„Hohlen gefällt gar nichts“, erwiderte Stephanie. „Sie denken nicht. Sie fühlen nicht.“
„Spiegelbilder sollten eigentlich auch nichts fühlen“, konterte Rhadaman. „Aber du behauptest, du hättest Gefühle. Also weshalb bist du anders als sie?“
„Weil ich ein richtiger Mensch bin.“
„Oder dich nur dafür hältst.“
„Wenn du dich ergibst“, sagte Skulduggery, „verspreche ich dir, dass wir deine Freunde in Gewahrsam nehmen und sie gut behandeln werden. Sobald die Wirkung des Beschleunigers nachlässt, bekommst du sie wieder. Sind wir im Geschäft?“
„Weißt du, was sie wirklich gern machen?“, fragte Rhadaman, als hätte er Skulduggery gar nicht gehört. „Sie schlagen gerne Leute zu Brei. Sie schauen gern zu, wenn das Blut spritzt. Sie lieben es, wenn Knochen in ihren Fäusten brechen. Das gefällt meinen Freunden. Das macht sie glücklich.“
„Das willst du doch nicht ernsthaft tun“, entgegnete Skulduggery.
Rhadaman lächelte, spitzte die Lippen und stieß einen kurzen, kreischenden Pfiff aus.
Skulduggery lief auf ihn zu. Mit einer Drehung aus dem Handgelenk ließ er das Zepter in Stephanies Hände segeln. Rhadaman packte ihn, schleuderte ihn von sich und sprang ihm dann nach. Bevor Walküre Skulduggery zu Hilfe eilen konnte, kamen die Hohlen schon durch einen Berg aus Müslischachteln gestolpert. Angekleidete Hohle, die in schlecht sitzenden Anzügen lächerlich aussahen, und albern in weit schwingenden, geblümten Kleidern.
Schwarzes Licht schoss aus dem Kristall im Zepter und pulverisierte drei von ihnen vollkommen geräuschlos. Immer wieder zuckten Blitze, doch der Zug der Hohlen nahm kein Ende. Sie waren inzwischen auch hinter ihr, rückten immer näher. Das war ihr Trick. Sie waren langsam und unbeholfen und dumm, doch gerade wenn man sie unterschätzte, waren sie am gefährlichsten.
Stephanie lief nach rechts, schoss sich einen Weg frei und duckte sich unter den schweren Händen weg, die nach ihr griffen. Sie führte die Hohlen einen schmalen Gang mit großen, schweren Gefriertruhen auf beiden Seiten hinunter, drehte sich zu ihnen um und wich weiter zurück, als sie schwankend wieder ihre Verfolgung aufnahmen. Eine Überzahl bedeutet nichts, wenn der Feind nur einzeln angreifen kann. Das hatte Skulduggery ihr beigebracht. Alles hing von der richtigen Wahl des Schauplatzes ab.
Der schwarze Kristall spuckte knisternde Energie aus. Die Urväter hatten mit ihm die Gesichtslosen getötet, sie vor Jahrtausenden aus dieser Wirklichkeit vertrieben. Wenn er mächtig genug war, verrückte Götter zu töten, deren Aussehen allein schon genügte, um Leute in den Wahnsinn zu treiben, hatten künstliche Wesen mit einer Haut aus ledrigem Papier und nicht einer Gehirnzelle im Kopf kaum eine Chance. Sie zerfielen zu Staub, der auf den Boden rieselte und auf dem ihre gedankenlosen Brüder herumtrampelten. Sie blieben nicht stehen. Natürlich blieben sie nicht stehen. Sie kannten keine Angst. Sie hatten kein Selbstgefühl. Sie waren armselige, lebendigen Wesen nachempfundene Kreaturen, ganz ähnlich der Sorte, zu der Stephanie selbst einmal gehört hatte. Vor langer Zeit.
Doch Walküre Unruh gab es nicht mehr, jetzt gab es nur noch Stephanie Edgley.
Von einer anderen Ecke im Supermarkt, dort, wo Skulduggery gegen Rhadaman kämpfte, hörte sie es krachen. Sorgen machte sie sich keine. Skulduggery konnte sehr gut selbst auf sich aufpassen.
In die Schatten neben ihr kam Bewegung und eine Faust traf ihren Arm. Ihre Hand öffnete sich und das Zepter schlitterte unter ein umgestürztes Regal. Sie wich fluchend zurück. Ihre einzige andere Waffe war der geschnitzte Stock auf ihrem Rücken, der jedoch nur begrenzt einsatztauglich war und bei Wesen ohne Nervensystem nichts ausrichten konnte. Sie rannte an einem Regal mit Mikrowellen und Mixern vorbei, an Töpfen und Pfannen. Sie griff nach einer Schöpfkelle aus Edelstahl, die sich, was nicht überraschte, relativ nutzlos anfühlte. Sie ließ sie auch sofort wieder fallen, als sie die letzte verbliebende Schachtel mit Küchenmessern sah. Sie zerrte die Schachtel vom Regal und warf sie dem nächsten Hohlen an den Kopf. Die Messer fielen heraus und verteilten sich auf dem Boden.
Stephanie hob rasch die beiden größten auf, holte aus und schlitzte dem Hohlen den Hals damit auf. Grünes Gas strömte heraus wie die Luft aus einem kaputten Reifen. Schon beim Weiterlaufen spürte sie das Brennen des Gases in ihrem Hals.
Zwei Hohle waren vor ihr, einer mit Hemd und Krawatte, aber ohne Hose, der andere in einem seidenen Morgenmantel. Sie ließ sich auf die Knie fallen, schlitterte zwischen ihnen hindurch und schlitzte ihnen dabei die Waden auf. Die beiden fielen gerade erst langsam in sich zusammen, da war sie auch schon wieder auf den Beinen und stach mit dem Filetiermesser in die Brust eines Hohlen im Pyjama. Hustend drehte sie sich von dem rasch ausströmenden Gas weg, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Etwas Verschwommenes bewegte sich, sie stach zu und schob es weg. Sie sah immer weniger, ihre Lunge brannte und ihr Magen rebellierte. Sie schmeckte Galle. Dann rutschte sie auf etwas aus. Fiel hin. Verlor eines der Messer.
Eine Hand packte Stephanie an den Haaren und zog sie nach hinten. Sie schrie und versuchte, mit dem zweiten Messer zuzustechen, doch es verfing sich in ihrer Jacke und dann war es ebenfalls verschwunden. Sie hob die Hände, spürte raue Haut, grub die Fingernägel hinein, versuchte sie einzureißen. Die Hand ließ ihr Haar los, dafür traf sie ein wuchtiger Schlag im Gesicht. Die verschwommene Welt blitzte vor ihren Augen auf und drehte sich. Stephanie wurde erneut geschlagen. Sie versuchte sich mit den Armen zu schützen und die gewaltigen Hiebe abzufangen. Mit jedem neuen Schlag wurde ihr Kopf durchgeschüttelt.
Hätte sie magische Kräfte besessen, hätte sie den Hohlen inzwischen längst in Brand gesteckt oder ihn mit ihren Schatten auseinandergerissen. Aber sie besaß keine magischen Kräfte. Für sie gab es keinen solchen Luxus, der sie raushauen konnte, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Sie war nicht Walküre Unruh. Sie brauchte keine magischen Kräfte.
Stephanie drehte sich auf den Rücken und zog die Knie an. Der Hohle ragte über ihr auf, nur ein schwarzer Schatten durch ihre verschwommenen Augen. Seine Faust krachte mit der Wucht einer Abrissbirne in ihren Bauch und hätte ihr den Atem genommen, wenn sie ihre gepanzerten Sachen nicht getragen hätte. Sie stemmte die Füße gegen seine Beine und stieß sich ab. Sie rutschte nach hinten und war nun außerhalb seiner Reichweite. Nach einer Rolle rückwärts landete sie in der Hocke. Der Hohle schwankte leicht. Auf der Suche nach einer Waffe griff Stephanie in den Verkaufsständer neben sich. Ihre Finger schlossen sich um einen Staubmopp. Der Hohle kam auf sie zu, sie stand auf und schwang den Mopp wie einen Baseballschläger.
Wo waren bloß die Mopps mit hölzernem Griff geblieben? Mopps mit hölzernem Griff hätten etwas mehr Gewicht gehabt – das Plastikteil in ihrer Hand federte lediglich locker vom Kopf des Hohlen zu ihr zurück.
Sie drehte es um und rammte dem Hohlen das hintere Ende in den Mund. Sie drückte fester, bis er ins Wanken geriet, ließ das Teil dann los, wandte sich um und rannte denselben Weg, den sie gekommen war, wieder zurück. Inzwischen sah sie wieder klarer und hatte nicht mehr das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Ein Hohler wandte sich ihr zu, sie wich ihm aus, stolperte, fiel und sah das Zepter. Sie warf sich nach vorn, griff unter das umgestürzte Regal und schloss die Finger um das Zepter. Sein Gewicht war beruhigend. Der Hohle wollte sie packen. Sie pulverisierte ihn.
Sie erhob sich, brachte den nächsten Hohlen zum Platzen und den hinter ihm auch. Drei weitere torkelten in ihr Blickfeld und sie erledigte sie mit derselben Leichtigkeit. Dann war alles still. Die einzigen Geräusche kamen von Skulduggery.
Stephanie lief zu ihm und sah gerade noch, wie Rhadaman ihm einen Arm ausriss.
Skulduggery schrie, als seine Knochen klappernd auf den Boden fielen. Ein Energiestoß hob ihn von den Füßen und Rhadaman kam näher, bereit, den tödlichen Stoß abzufeuern.
„Keine Bewegung!“, brüllte Stephanie. Das Zepter zielte genau auf seine Brust.
Er schaute sie an und lachte. „Das Ding funktioniert nicht. Schon vergessen?“
Sie zielte auf die Tür hinter ihm und pulverisierte sie. „Es funktioniert nur bei seinem Besitzer, Blödmann. Und wenn du nicht willst, dass man deine Überreste in ein Kehrblech fegt, legst du dir jetzt selbst die Handschellen an.“ Mit der freien Hand warf sie ihm die Handfesseln zu. Sie fielen vor ihm auf den Boden, doch er machte keine Anstalten, sie aufzuheben.
„Ich weiß, was du denkst“, sagte sie. „Du denkst: ‚Kann ich das Mädchen töten, bevor sie schießt?‘ Wenn du dir aber klarmachst, dass es sich hierbei um das Zepter der Urväter handelt, den mächtigsten Göttermörder der Welt, und er dich mit einem einzigen Gedanken in Staub verwandeln kann, musst du dich doch fragen …“
Skulduggery ließ den Griff seines Revolvers in Rhadamans Kiefer krachen, Rhadaman drehte sich um hundertachtzig Grad und brach zusammen.
Stephanie starrte ihn an. „Musste das sein?“
Skulduggery stupste Rhadaman mit dem Fuß an und vergewisserte sich, dass er bewusstlos war.
„Ich hatte gerade einen Lauf“, jammerte Stephanie. „Ich hatte ihn und ich hatte einen Lauf. Ich hab mein Ding gemacht. Man unterbricht niemanden, wenn er sein Ding macht.“
„Leg ihm die Handschellen an“, sagte Skulduggery. Er steckte seinen Revolver weg, hob seinen Arm auf und schob ihn von unten in den Jackenärmel.
„Ich war kurz davor, meinen besten Satz loszuwerden, aber du … Okay.“ Stephanie steckte das Zepter in die Tasche auf ihrem Rücken, ging zu Rhadaman und fesselte ihn, als Skulduggerys Arm sich ins Gelenk einklickte.
„Autsch“, murmelte er, dann schaute er sie an. „Sorry, du wolltest was sagen?“
„Ich war so cool.“
„Das bezweifle ich.“
„Ich war echt cool und ich wollte aus einem echt coolen Film zitieren und du hast mir die Schau gestohlen.“
„Oh. Tut mir leid.“
„Nein, tut es dir nicht. Du erträgst es nur nicht, wenn andere Leute coole Sachen sagen, während du mit Schreien beschäftigt bist. So ist es doch, oder?“
„Er hat mir den Arm ausgerissen.“
„Dir reißt man doch ständig die Arme aus. Es passiert selten, dass ich etwas Cooles anbringen kann, und wenn, ist gewöhnlich niemand da, der mir zuhört.“
„Ich entschuldige mich. Bitte fahre fort.“
„Jetzt sag ich es nicht mehr.“
„Warum nicht? Es ist dir doch offensichtlich sehr wichtig.“
„Nein. Es hat sich erledigt. Er ist bereits gefesselt. Außerdem ist er bewusstlos.“
„Vielleicht fühlst du dich hinterher besser.“
„Ich würde mir bescheuert vorkommen. Ich kann doch zu einem bewusstlosen Mann keine coolen Sachen sagen.“
„Hier geht es nicht um ihn. Es geht um dich.“
„Nein. Vergiss es. Du würdest mich nur auslachen.“
„Ich verspreche dir, dass ich das nicht tun werde.“
„Ich hab gesagt, vergiss es.“
Er zuckte mit den Schultern. „Na gut, wenn du es nicht zu Ende bringen willst, musst du nicht. Aber du könntest dich hinterher besser fühlen.“
„Nein.“
„Na gut.“
Er stand da und schaute sie an. Sie blickte finster zurück, öffnete den Mund, um die Unterhaltung fortzusetzen, doch er drehte sich abrupt um und ging davon, als sei ihm gerade aufgefallen, dass sie aussah und redete und klang wie Walküre Unruh, aber nicht Walküre Unruh war.
Und es nie sein würde.