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OPERATION MYOSOTIS TERRA

„Höhlen“, knurrte Walküre Unruh, „ich hasse Höhlen.“

Sie hatte das Ende der steinernen Treppe erreicht und trat ins Licht, das die Flamme in Skulduggery Pleasants Hand verbreitete.

„Das ist keine Höhle“, sagte er, „zumindest keine natürliche. Das Ding hier wurde aus dem Fels herausgehauen. Da waren Menschen am Werk. Ich denke, wir stehen am Anfang einer Reihe von Stollen, die alle miteinander verbunden sind, und sich über gut und gerne zwanzig Kilometer erstrecken. Ziemlich imponierend, wenn du dir das so überlegst.“

„Und muss ich es mir überlegen?“

„Na ja, nicht wirklich …“

„Gut. Hier unten ist es nämlich eisig. Viel zu kalt, um sich was zu überlegen.“

Sie schnippte mit den Fingern, erzeugte damit selbst eine Flamme und begann den Stollen zu erkunden. „Dann sind wir hier also auf einem Rettungseinsatz?“

Seufzend folgte er ihr. „Ja.“

„Was war das denn? Was sollte dieser Seufzer? Worüber beklagst du dich?“

Er ging jetzt neben ihr her. „Weißt du noch, wen wir hier retten sollen?“

„Klar“, beteuerte sie. „Warte. Nein. Das heißt, doch, sicher weiß ich es noch. Es liegt mir auf der Zunge, aber ich krieg’s nicht … Ich kann mich einfach nicht …“

„Wir sind hier, um Myosotis Terra zu befreien.“

Sie schüttelte den Kopf. „Kann nicht sein. So hieß sie nicht. Ich würde den Namen wiedererkennen, wenn ich ihn höre, aber das war er nicht. Diesen Namen hab ich noch nie gehört.“

„Das stimmt jetzt nicht ganz. Sie ist nämlich eine Freundin von dir.“

„Quatsch. Das wüsste ich schließlich, wenn ich eine Freundin namens Myodingsda hätte.“

„Myosotis Terra. Und du würdest es nicht wissen. Oder präziser ausgedrückt: Du würdest dich nicht erinnern.“

„Ich kann dir nicht folgen.“

„Das bin ich gewohnt.“

Im Dämmerlicht um sie herum waren jetzt Felswände auszumachen, ein Zeichen, dass der Stollen sich verengte. Sie hielten auf einen Spalt zu und Skulduggery zwängte sich als Erster durch.

„Es gibt eine Zauberin namens Myosotis“, erklärte er. „Sie kommt aus Deutschland. Du hast sie vor ein paar Monaten kennengelernt und ihr habt euch auf Anhieb gut verstanden. Ihr könnt einem ziemlich auf die Nerven gehen, wenn ihr zusammen seid, aber auch das bin ich gewohnt. Myosotis ist unter anderem Spionin. Und dass sie in ihrem Job so gut ist, liegt daran, dass man sie komplett vergisst, sobald sie außer Sichtweite ist. Das menschliche Gehirn ist nicht in der Lage, auch nur irgendeine Information bezüglich Myosotis zu speichern. Während der letzten Stunden habe ich dir das im Übrigen schon elf Mal erklärt. Deine Reaktion war immer dieselbe.“

„Bullshit.“

„Du sagst es.“

„Ist das dein Ernst?“

„Mein voller Ernst.“

Sie traten am anderen Ende aus dem schmalen Durchgang und standen in einem weiteren Stollen. An den Wänden steckten Fackeln in rostigen Halterungen und sie folgten der flackernden Lichtspur durch die Dunkelheit.

„Auf mich hat das Phänomen keine Auswirkung, weil ich ein sagenhaftes Gedächtnis habe – und kein Gehirn im üblichen Sinn“, fuhr Skulduggery fort. „Und ich bin sicher, sie würde liebend gern auf diese besondere Eigenschaft verzichten, wenn sie könnte.“

„Wer würde darauf verzichten?“

„Myosotis.“

Walküre runzelte die Stirn. „Wer?“

„Merkst du was?“, fragte Skulduggery. „Du vergisst sie schon wieder.“

„Unglaublich. Wen vergesse ich?“

„Die Spionin, das Mädel, das sie gefangen genommen haben.“

„Genau“, sagte Walküre, „die Rettungsaktion. Jetzt weiß ich’s wieder. Wer hat sie gefangen genommen?“

„Die Bewohner der Stollen. Früher war das hier mal eine Art Gefängnis, vor vielen Hundert Jahren. Jetzt ist es eine Zuflucht für Zauberer, die das Leben auf der Erde nicht aushalten. Die Leute hier unten sind … beschädigt. Einige sind ziemlich gefährlich.“

„Und weshalb ist …“

„Myosotis.“

„Und weshalb ist Myosotis hergekommen?“

„Das Berliner Sanktuarium hat sie geschickt, weil einer ihrer Mitarbeiter verschwunden ist. Sie soll den Fall untersuchen. Der Mann wurde zuletzt in dieser Gegend hier gesehen. Der logische Schluss wäre also, dass er den Eingang zu den Stollen entdeckt hat. Und hier drin verschwunden ist.“

Walküre nickte. „Und wir sind hier, um ihn zu retten.“

„Nein, wir sind hier, um Myosotis zu retten, die Agentin, die zu seiner Rettung losgeschickt wurde. Wenn wir ihn dabei auch noch retten können, gibt das einen Extrapunkt. Aber sie hat oberste Priorität.“

„Wer ist ‚sie‘?“

„Meine Güte“, murmelte Skulduggery, „langsam wird das richtig ätzend.“

Er hielt inne, stocksteif, und sie blieb ebenfalls stehen und spreizte die Finger. Sie spürte einen Luftzug, dann hörte sie hinter sich ein Flüstern.

Sie wirbelten herum, doch von überallher kamen plötzlich dunkle Gestalten und Skulduggery ging in einem Gewirr aus Armen und Beinen zu Boden. Jemand versetzte Walküre einen Schlag, sie stolperte und konnte den Stiefel nicht abwehren, der sie mit voller Wucht traf. Sie fiel hintenüber und rollte sich auf dem harten Boden ab. Hände packten sie unsanft und zerrten sie wieder auf die Beine. Skulduggery war von einer ganzen Horde Gestalten umgeben, die nach ihm traten und schlugen. Walküre wurden die Arme verdreht und sie schrie auf, denn es fühlte sich an, als würden sie gleich brechen.

Die Typen um Skulduggery hörten plötzlich auf, ihn zu prügeln. Sie machten ein paar Schritte zurück und durch die entstandenen Lücken sah Walküre ihn unbeweglich auf dem Boden liegen. Jetzt wandten sich alle ihr zu.

Sie sahen dreckig aus. Schmuddelig. Unrasiert. Die Kleider verschlissen und zerlumpt. Sie waren spindeldürr, alle miteinander. Hervorstehende Wangenknochen, eingefallene Augen. Pupillen, die im Schein der Fackeln glitzerten.

„Wir sind nicht hier, weil wir uns mit euch anlegen wollen“, beteuerte Walküre.

Einer der Typen betrachtete sie einen Augenblick lang schweigend, bevor er den Mund öffnete. „Egal“, sagte er. „Ihr kommt hier runter, dringt in unser Zuhause ein und erwartet, dass wir einfach dastehen und zugucken? Glaubt ihr etwa, wir können nicht kämpfen? Glaubt ihr, wir sind Feiglinge?“

„Nein, nein“, beteuerte sie rasch, „das glauben wir ganz bestimmt nicht. Aber wir sind nicht eure Feinde …“

„Wir sind nicht schwach!“, brüllte der Anführer und die anderen stimmten ein. „Auch wenn wir Moos und Pilze essen und aus Pfützen trinken. Wir überleben.“

Ringsherum Gemurmel und immer wieder die Worte: „Wir überleben.“

„Wir mögen neue Leute“, sagte er und alles lachte. „Und das ist dein Pech.“

„Dein Pech“, wiederholte der Kerl, der sie festhielt.

„Du bist schön groß“, fuhr der Anführer fort. „Wir mögen es, wenn jemand groß ist. Deine Sachen könnten uns passen. Einigen von uns. Sie sind verzaubert, stimmt’s? Mit einem Schutzzauber belegt. Sie werden lange halten. Sie werden ewig halten. Aber du. Groß. Stark. Hübsch. Du wirst nicht so lange halten.“

Skulduggery stöhnte und jemand versetzte ihm einen Tritt.

„Der Skelettdetektiv“, stellte der Anführer fest und blickte auf ihn hinunter. „Wir nehmen ihn auseinander. Aus seinen Knochen können wir schöne Waffen schnitzen. Er wird auch nicht lange halten. Nur essen können wir ihn nicht.“ Der Anführer wandte sich wieder Walküre zu. „Aber dich können wir essen.“

Eine Frau hielt Walküres linken Arm fest. Walküre zog sie zu sich her und versetzte ihr einen Kopfstoß. Mit einem Ruck befreite sie auch ihren rechten Arm und griff nach den Schatten. Doch die Luft kräuselte sich und sie taumelte rückwärts. Andere Hände ergriffen sie. Jemand begann ihr ins Gesicht zu schlagen. Sie schloss die Augen, presste die Lippen zusammen und wandte den Kopf zur Seite. Als sie zu Boden gestoßen wurde, bekam sie eines der Beine zu fassen, die nach ihr traten. Sie hielt es fest und ließ nicht mehr los. Ihre Kleider fingen die meisten Tritte und Schläge ab. Als ein bloßer Fuß sie jedoch seitlich am Kinn traf, wich die Kraft aus ihren Armen. Sie sackte in sich zusammen, die Geräusche um sie herum wurden leiser, ihr Blick trübte sich.

„Das reicht erst mal“, hörte sie den Anführer noch sagen. „Wir teilen sie auf. Eine Hälfte bekommen wir, die andere das Ungeheuer.“

Jemand lachte, dann glitt sie abwärts, weg von allem, hinein in die Bewusstlosigkeit.

Sie hatten es geschafft, ein Paar Handschellen so eng zu stellen, dass sie Skulduggerys Handgelenke an das Gestell aus altem Holz und harten Wurzeln fesseln konnten. Da hing er, die Arme über dem Kopf, die Fußknöchel zusammengebunden, im Zentrum des Dorfes, wenn man es so nennen wollte. Um eine große Feuerstelle herum gruppierten sich kleine Hütten aus Mauersteinen und Felsbrocken. Das Gestell, in dem Skulduggery hing, stand auf einer Seite des Feuers. Walküre hing in einem Gestell auf der anderen Seite.

Die Dorfbewohner liefen geschäftig umher und unterhielten sich dabei. Walküre tat so, als sei sie noch bewusstlos, beobachtete sie aber durch ein halb geöffnetes Auge. Ihr Kinn schmerzte und der Kopf dröhnte. Einige Dorfbewohner diskutierten darüber, wer welches Kleidungsstück bekommen sollte. Andere tauschten sich darüber aus, wie sie am besten zuzubereiten sei.

Sie bezweifelte, dass sie viel hätte ausrichten können, auch wenn die Kette, die sie an das Gestell fesselte, ihre Kräfte nicht geschwächt hätte. Alle hier unten besaßen Zauberkräfte irgendeiner Art, entweder die der Totenbeschwörer oder einer anderen magischen Disziplin. Sie hätten sich nicht unbemerkt an jemanden wie Skulduggery heranpirschen können, wenn sie nicht die Luft zu Hilfe genommen hätten. Das bedeutete, dass auch etliche Elementezauberer mit von der Partie sein mussten.

Plötzlich brach Unruhe unter den Dorfbewohnern aus. Man hörte laute Stimmen und Flüche, als ein Mann ihre Reihen durchbrach.

„Sie gehört mir!“, brüllte er. Die Dorfbewohner rückten nach und er wirbelte herum. „Mir ganz allein!“

Die Menge teilte sich und der Anführer kam nach vorn. „Nein, Josef, wir teilen unser Essen, wie immer.“

Josef schüttelte den Kopf. „Du hast hier nichts mehr zu sagen, Owain. Jetzt bin ich der Anführer. Und ich sage, sie gehört mir!“

„Und was ist mit dem Ungeheuer?“, fragte Owain. „Willst du auch das Ungeheuer um seinen Anteil an der Mahlzeit bringen?“

Josef überlegte kurz. „Das Ungeheuer kann mitessen“, lenkte er schließlich ein. „Wenn ich satt bin!“

Owain kniff die Augen zusammen. „Du würdest das Ungeheuer verärgern?“

Josef wurde unsicher. „Ich … ich muss essen. Und das werde ich auch! Ich bin der Anführer!“

Owain hob die Hand und ein Mann trat zu ihm und reichte ihm eine schwere Holzkeule. „Dann lass uns kämpfen. Wir kämpfen um die Anführerschaft. Wie früher.“

„Jawohl“, willigte Josef ein, „wie früher. Wo ist meine Waffe?“

„Bringt Josef seine Waffe“, befahl Owain. Ein anderer Mann kam durch die Menge und gab Josef einen dürren Ast.

„Äh …“, machte Josef.

Owain versetzte Josef mit der Keule einen Schlag gegen den Kopf und Josef fiel um wie ein Sack.

„Kocht ihn zuerst“, befahl Owain. „Sie sparen wir uns für später auf.“

Die Menge protestierte.

„Aber Josef ist klapperdürr!“, rief eine Frau. „Er reicht nicht für alle!“

Owain seufzte. „Okay. Ihr kocht jetzt erst mal Josef“, bestimmte er und wies dann mit dem Kinn auf Walküre, „und dem Ungeheuer geben wir später ein Bein von ihr. Heute Abend kann es sich satt essen.“

Die Menge jubelte.

Während der nächsten paar Stunden zerlegten sie Josef und rösteten ihn auf kleiner Flamme. Walküre gab sich Mühe, nicht so genau hinzusehen. Da bemerkte sie eine dunkle Gestalt, die zwischen den steinernen Hütten hindurchschlich. Zielstrebig kam sie auf Walküre zu. Sie schloss die Augen, atmete nur noch ganz flach …

„Hallo.“ Jemand trat ihr gegen das Bein. „Ich weiß, dass du wach bist. Du kannst aufhören, dich bewusstlos zu stellen.“

Sie überlegte einen Moment, dann öffnete sie die Augen und schaute auf den Sprecher hinunter. Er war wie alle anderen dürr und schmuddelig, hatte langes, verfilztes Haar und einen schütteren Bart. Sie schätzte ihn auf Anfang zwanzig.

„Wie heißt du?“, wollte er wissen.

Er sah wild aus, zerzaust, aber ansonsten harmlos. „Walküre“, antwortete sie. „Und wer bist du?“

„Ich bin Baffel. Wie geht’s dir?“

„Wenn ich ehrlich sein soll, nicht besonders.“

Er nickte, umfasste das Gestell mit beiden Händen und zog sich hinauf, bis er auf Augenhöhe mit ihr war. Er stank nach Schweiß und roch aus dem Mund.

„Ich mag keine Leute essen“, informierte er Walküre.

„Dann solltest du es vielleicht nicht tun.“

„Ich kann schlecht Nein sagen. Es wäre Verschwendung, oder? Wir geben uns so viel Mühe, bringen dich um und bereiten dich zu und servieren dich – du würdest doch auch wollen, dass man dich dann isst, oder? Was hätte das Ganze sonst für einen Sinn?“

„Ich will nicht sterben, Baffel. Es ist nicht fair. Ich habe keinem von euch etwas getan.“

„Das Leben ist nicht fair.“

„Du könntest mir helfen.“

„Könnte ich das?“

„Klar. Du hast doch gerade gesagt, dass du mich nicht essen willst, stimmt’s? Dann könntest du mir doch auch helfen.“

„Ich … ich nehme an.“

„Du müsstest allerdings superraffiniert vorgehen.“

Er nickte. „Oh ja. Denn wenn die anderen dahinterkämen, wären sie stinksauer.“

„Dann hilfst du mir also?“

„Sind wir Freunde, wenn ich es tue?“

„Sicher.“

„Dann ja.“ Er lächelte. „Ich helfe dir.“ Damit warf er den Kopf in den Nacken und begann lauthals zu singen.

„Pssst!“, zischte sie. „Hör auf.“

Er hatte die Augen geschlossen und sang nur noch lauter. Es war Be my Baby von den Ronettes. Als Walküre noch ein kleines Mädchen war, hatte ihre Mum ihr das Lied ständig vorgesungen. Sie stemmte sich gegen die Fesseln. „He! Halt die Klappe!“

Baffel hörte auf zu singen.

Sie blickte ihn finster an. „Was zum Teufel soll das?“

„Ich … ich helfe dir.“

„Und wie soll mir das Geschrei helfen?“

„Du wirst dich danach besser fühlen. Vielleicht vergisst du sogar, dass wir dich aufessen.“

„Aber du willst mich doch nicht aufessen! Du willst mich befreien!“

Er blickte sie entsetzt an. „Nein, will ich nicht! Warum sollte ich das wollen?“

„Weil wir Freunde sind, Baffel.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was Freunde sind. Freunde schreien sich nicht an. Freunde singen sich etwas vor, damit sie das Schlimme, das ihnen bevorsteht, vergessen.“

„Baffel!“, rief jemand aus einer Hütte. „Singst du unserem Abendessen wieder was vor?“

„Nein!“, rief er zurück.

„Ich würd’s dir auch nicht raten!“

„Ich tu’s ja gar nicht!“

Er wartete, doch es kam keine weitere Reaktion mehr. Mit einem unterdrückten Kichern wandte er sich wieder an Walküre. „Hab ich dir geholfen?“

„Klar.“ Sie gab es auf. „Das hast du super gemacht. Aber weißt du, wie du mir noch helfen könntest? Wir suchen jemanden. Ein Mädchen. Eine Frau. Sie heißt …“ Walküre runzelte die Stirn. „Okay, ich hab ihren Namen vergessen, aber sie hat … sie hat … sie hat Haare, nehme ich an, auch wenn ich nicht mehr weiß, welche Farbe sie haben, aber … ich denke mal, dass sie Haare hat. Sie könnte allerdings auch eine Glatze haben. Oder sie könnte ein Er sein. Weißt du, ob so jemand in den letzten paar Tagen zu euch hier heruntergekommen ist?“

Baffel schüttelte den Kopf. „Zu uns ist schon ewig niemand mehr gekommen. Der Mann war der Letzte.“

„Welcher Mann? Hat er mit Akzent gesprochen? Hatte er einen deutschen Akzent?“

„Weiß nicht, was das ist. Aber er hat komisch geredet.“

„Was ist mit ihm passiert?“

„Das Ungeheuer hat ihn gefressen.“

„Oh. Wo ist das Ungeheuer jetzt?“

„Da draußen irgendwo“, antwortete Baffel und zeigte in die Dunkelheit. „Es wartet. Und beobachtet. Wir füttern es mit dem, was wir haben. Manchmal bestimmt Owain, dass wir ihm unsere Freunde und Verwandten geben müssen.“ Er klang traurig. „Das Ungeheuer hat meine Schwester gefressen.“

„Das tut mir leid.“

„Sie haben mir ein Stück von ihrem Bein gegeben, um mich aufzumuntern.“

„Äh … das war nett von ihnen.“

Ein Geräusch erklang, ähnlich einem Grollen, leise und drohend.

Walküre hob fragend eine Augenbraue. „Ist das das Ungeheuer?“

„Ja“, hauchte er. „Normalerweise kommt es nicht so nah ans Dorf. Nur wenn es großen Hunger hat.“ Er wirkte besorgt. „Womöglich bekommen wir jetzt doch nichts von dir ab.“

Wieder rief jemand aus einer der Hütten: „Baffel!“

„Was gibt’s?“, brüllte er zurück.

„Du sollst nicht mit dem Essen reden!“

„Tu ich doch gar nicht!“

„Baffel!“

„Sorry“, flüsterte Baffel, sprang mit einem mürrischen Seufzer von dem Gestell und trottete davon.

„Wird aber auch Zeit“, knurrte jemand aus der Dunkelheit. „Ich dachte schon, er geht gar nicht mehr.“

Eine junge Frau trat aus dem Schatten, sie war um die zwanzig und hübsch. Das lange blonde Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern, die Augen hinter der Brille waren grün. Sie war kleiner als Walküre, aber genauso durchtrainiert, und trug graue Jeans und einen silbergrauen Mantel.

„Myosotis“, begrüßte Walküre sie, als die Erinnerung zurückkam. „Der Mantel ist super.“

„Fantastisch, nicht wahr? Ich hab ihn vor ein paar Wochen in einem kleinen Laden in Langenfeld entdeckt. Er ist jetzt natürlich ein bisschen schmutzig, aber das lässt sich wohl nicht vermeiden, wenn man an einem Ort wie diesem nach einem Idioten sucht.“

„Ah“, unterbrach sie Walküre. „Dein Kollege. Ich bin ziemlich sicher, dass er tot ist.“

Myosotis runzelte die Stirn. „Ich renne hier kilometerweit durch dunkle Stollen und suche ihn, und er hat nicht mal den Anstand, am Leben zu bleiben, bis ich ihn finde? Das ist jetzt wirklich ärgerlich.“

„Habt ihr euch gut gekannt?“

„Nicht sonderlich. Aber sag, was macht ihr hier?“

Walküre zögerte. „Wir sind gekommen, um dich zu retten.“

„Ach ja?“

„Ja.“

Myosotis nickte. „Und – kommt ihr gut voran?“

„Wenn du mich so direkt fragst: Es könnte besser laufen.“

„Verstehe. Aber die gute Absicht zählt. So sagt man doch, oder?“

„Genau.“

„Dann danke ich euch, dass ihr gekommen seid, um mich zu retten.“

„Gerne. Jederzeit wieder. Kannst du jetzt meine Fesseln lösen?“, bat Walküre.

„Wozu hat man Freunde?“, erwiderte Myosotis. Sie kletterte an dem Gestell hinauf, zog einen Dietrich aus ihrem Ärmel und machte sich an den Handfesseln zu schaffen. Einen Augenblick später hielt sie schon wieder inne.

Walküre hob eine Augenbraue. „Was ist?“

„Nichts“, antwortete Myosotis. „Nur … Ich bin es einfach nicht gewohnt, eine Freundin zu haben. Es ist einigermaßen seltsam, verstehst du?“

„Ja. Könntest du dich mit den Fesseln vielleicht ein bisschen beeilen?“

„Halt die Klappe. Ich meine es ernst und bin in diesem Punkt sehr empfindlich.“

„Kannst du nicht empfindlich sein und dich trotzdem beeilen?“

„Die Leute vergessen mich, sobald ich weg bin. Das Problem dabei ist, dass sich keiner wirklich Gedanken macht, wenn du nicht zurückkommst.“

Walküre beobachtete sie dabei, wie sie mit dem Dietrich im Schloss herumstocherte. „Klingt einsam.“

„Ist es manchmal auch“, gab Myosotis zu. „Aber ich habe mich für dieses Leben entschieden. Für Geheimnisse und Intrigen und Anonymität. Man muss Opfer bringen, wenn man eine gute Spionin sein will.“

„Du könntest aufhören und eine ganz gewöhnliche Agentin werden, oder?“

Myosotis verzog die schmalen Lippen zu einem Lächeln. „Mein Sanktuarium schätzt mein Können zu sehr, als dass man das erlauben würde. Aber ich brauche dir nicht leidzutun. Ich selbst tue mir nie leid.“ Die Handfesseln sprangen auf. „Wer sagt’s denn. Meine Retterin ist frei.“

Sie sprangen von dem Gestell und Myosotis gab Walküre ein Armband. „Leg das um. Es ist eines von meinen. Solange du es trägst, vergisst du mich nicht.“

„Ich fühle mich geehrt.“

„Das solltest du auch.“

„Obwohl es ein ziemlich billiges Armband ist.“

„Ich kaufe sie im Dutzend.“

„Ich fühle mich trotzdem geehrt.“

„Das solltest du auch trotzdem.“

Walküres Lächeln erlosch, als ein leises Grollen ertönte. Es kam aus nächster Nähe. Entschieden zu nah. „Das Ungeheuer“, flüsterte sie. „Es ist direkt hinter mir.“

Myosotis nickte.

Walküre drehte sich langsam um, bereit, mit den Fingern zu schnippen und einen Feuerball zu werfen, bereit, die Dunkelheit zu packen und Schattenspeere zu schleudern. Stattdessen runzelte sie nur die Stirn.

Das Ungeheuer war etwas über einen halben Meter groß, hatte dünne Ärmchen und winzige Hände, dafür aber große Füße. Sein ganzer Körper war mit Fell bedeckt, mit Ausnahme des Gesichts, in dem über einer kurzen Schnauze zwei große Augen blinzelten. Die kleinen Ohren zuckten.

„Oh“, entfuhr es Walküre, „ist es das?“

„Das ist es“, bestätigte Myosotis.

„Wächst es? Verwandelt es sich plötzlich in einen Riesen, der uns in einem Haps verschlingt?“

„Nö. Es bleibt so klein.“

„Kann es rasiermesserscharfe Klauen ausfahren oder wachsen ihm gleich gewaltige Reißzähne oder …?“

„Nö.“

„Ist es … ich meine, hat es extrem üble Laune?“

„Eigentlich ist es ziemlich gutmütig.“

„Dann verstehe ich nicht, warum es so schrecklich ist.“

„Wer sagt denn, dass es schrecklich ist?“

„Was soll die Frage? Alle haben panische Angst vor ihm. Vom ersten Augenblick an haben sie ständig davon geredet, dass das Ungeheuer gefüttert werden muss, wie es gefüttert werden muss und so weiter.“

„Das Ungeheuer muss auch gefüttert werden“, bestätigte Myosotis. „Sonst würde es ja verhungern. Aber sie haben keine Angst vor ihm. Sie lieben es. Schau es doch an – ist es nicht süß?“

Walküre musste zugeben, dass es ziemlich niedlich war. Es wackelte beim Gehen.

„Ich glaube, sie haben es ‚Ungeheuer‘ getauft, weil sie das für witzig hielten“, fuhr Myosotis fort. „Es ist ihr Maskottchen.“

„Und wie genau wird es uns fressen?“

„Ich kann mir vorstellen, dass es zunächst einfach hier sitzen bleibt. Dann werden die Leute, die sich dort hinten gerade anschleichen, uns die Kehle durchschneiden, uns in Stücke hacken und uns im Lauf der nächsten Woche oder so in sehr kleinen Häppchen an das süße Biest verfüttern.“

Walküre drehte sich um und ein Dutzend Dorfbewohner erstarrte mitten in der Bewegung. Baffel war am dichtesten herangekommen. Es schien ihm peinlich zu sein, dass er ertappt worden war. „Aha“, sagte sie, „hier kämpfen wir also.“

Sie drückte mit beiden Händen gegen die Luft. Baffel flog rückwärts und brüllte, als er in seine Gefährten krachte. Walküre packte die Schatten, dirigierte sie dicht am Boden entlang und hob einen großen Kerl von den Füßen, bevor er nach ihr greifen konnte. Flammen loderten in ihren Händen und sie warf sie mitten in die Menge. Die Angreifer liefen auseinander. Sie rammte einer Frau den Ellbogen ins Gesicht und trat einem Mann gegen das Knie. Aber sie waren überall, kamen von allen Seiten. Magische Kräfte konnten sie allerdings nicht einsetzen, dafür war es zu eng und sie hätten sich sonst womöglich selbst geschadet. Dieses Problem hatte Walküre nicht.

Sie sah Myosotis, die es mit drei Dorfbewohnern gleichzeitig aufnahm. Doch dann kamen immer mehr angerannt und beteiligten sich an dem Kampf, und sie verlor die Freundin wieder aus den Augen.

Walküre wusste, dass es zu viele waren. Sie wusste, dass es nicht gut ausgehen konnte.

Ein blauer Lichtstrahl blitzte neben ihrem Gesicht auf und sie wich rasch zur Seite hin aus. Er traf den Mann hinter ihr, der augenblicklich zu Boden ging. Dorfbewohner stolperten aus dem Weg, als einer von ihnen, ein zerlumpter Kerl mit zauseliger Mähne, hektisch mit den Armen wedelte, so als könnte er die Energie, die aus seinen Fingerspitzen floss, nicht bändigen. Walküre ließ sich auf den Boden fallen und der blaue Strahl schoss über sie hinweg und fällte ein halbes Dutzend Dorfbewohner auf einen Streich. Alles schrie durcheinander, dass der Zauselkopf aufhören solle, doch der blickte nur panisch in die Runde, als hätte er vergessen, wie er seine Kräfte abstellen konnte.

Dann war Myosotis hinter ihm, packte seine Arme und dirigierte die Strahlen über Walküres Kopf hinweg in die Menge. Um sie herum sackten die Angreifer zusammen. Sie waren bewusstlos, noch bevor sie auf dem Boden aufschlugen.

Doch dann wurden die Strahlen schwächer und erloschen schließlich ganz, und der Zauselkopf ließ erschöpft die Schultern sinken.

„Herzlichen Dank dafür“, sagte Myosotis und boxte ihn. Er vollführte eine halbe Drehung und brach zusammen.

Walküre rappelte sich auf, bevor die noch kampffähigen Dorfbewohner sie packen konnten. Sie rannte zwischen den Hütten hindurch auf Skulduggery zu, Myosotis dicht auf den Fersen. Ein Mann lief in sie hinein und sie stürzte, rollte sich ab, landete einen Ellbogenstoß in seinem Gesicht und war wieder auf den Beinen.

Skulduggery hob den Kopf. „Oh, hallo. Wie ich sehe, hast du Myosotis gefunden.“

„Danke, dass ihr mich gerettet habt“, rief Myosotis, während sie einer primitiven Axt auswich.

„Kein Problem“, erwiderte Skulduggery vergnügt. „Dann ist das jetzt der aufregende Teil der Schlacht. Ich liebe diesen Teil.“

„Gut möglich, dass du noch ein bisschen da oben hängen bleiben musst“, rief Walküre und hob mithilfe der Luft drei Dorfbewohner von den Füßen.

Eine Faust wurde ausgefahren und landete krachend in ihrer Wange. Sie taumelte gegen Skulduggerys Beine.

„Wie lange?“, wollte er wissen.

Sie trat und schlug um sich und erwischte ihren Gegner mit dem Ellbogen am Kiefergelenk. „Einen Augenblick musst du dich noch gedulden.“

„Mir drängt sich da eine Frage auf“, begann Skulduggery, als eine Frau mit Ohrringen, die aus den Ohren anderer Leute bestanden, Walküre zu Fall brachte. „Habt ihr eigentlich so etwas wie einen Plan oder reagiert ihr aus dem Stegreif auf die jeweils aktuelle Situation?“

„Wir haben einen Plan“, antwortete Myosotis nach einem Kopfstoß, „aber sehr viel geschieht auch aus dem Stegreif.“

„Wie es gerade am besten passt“, murmelte Walküre und stieß die Frau von sich. Dann stand sie auf, drehte sich um, etwas kam auf ihr Gesicht zu und die Welt explodierte mit grellem Licht. Ihr war bewusst, dass sie nach hinten umkippte, doch sie spürte den Aufprall auf dem Boden nicht. Es gelang ihr kaum, ein Auge zu öffnen, doch als sie es schaffte, sah sie Owain mit seiner Keule über sich stehen.

„Ihr glaubt wohl, ihr könnt uns einfach überfallen?“, zischte er. „Meine Leute angreifen?“

„Owain“, mischte Skulduggery sich ein, „wir wollten euch nicht überfallen. Wir sind hergekommen, weil wir eine Freundin suchten.“

„Schnauze!“, brüllte Owain. Er blickte sich um. Er war der einzige von den Dorfbewohnern, der noch auf den Beinen war. „Seht euch an, was ihr getan habt. Wir sind ein friedliches Dorf, aber ihr kommt und macht alles kaputt.“

Walküre hörte die Skepsis aus Skulduggerys Ton. „Nichts für ungut, Owain, aber ihr seid Kannibalen. Mit friedlich hat das, genau genommen, nichts zu tun.“

„Wir nehmen dich auseinander, Skelett“, höhnte Owain. „Und dich“, fuhr er mit einem Blick auf Walküre fort, „gibt’s zum Abendessen.“

Owain hob die Keule mit beiden Händen und zielte auf Walküres Kopf, als eine Stimme von hinten fragte: „He, mich hast du wohl vergessen?“

Er drehte sich um und Myosotis schlug zu. Sie verpasste ihm einen Kinnhaken, seine Knie knickten ein und er kam gewaltig ins Schwanken. Sie erwischte seinen Arm und brach ihm den Ellbogen. Er heulte auf vor Schmerz. Die Keule entglitt ihm, Myosotis erwischte sie im Fallen und versetzte ihm einen Schlag gegen den Kopf. Owain torkelte und gurgelte, fiel und stand nicht wieder auf.

Myosotis half Walküre auf die Beine und durchsuchte dann Owains Taschen. Sie fand den Schlüssel für die Handfesseln und befreite Skulduggery. Er sprang von dem Gestell und sah sich um.

„Ihr habt mir keinen mehr übrig gelassen“, stellte er fest.

Walküre stöhnte vor Schmerz. „Sorry.“

„Du kannst ihn treten, wenn du willst“, bot ihm Myosotis mit Blick auf Owain an.

„Er ist bereits ohnmächtig“, schmollte Skulduggery. „Es macht keinen Spaß, wenn sie schon ohnmächtig sind. Aber wartet – was ist mit dem Ungeheuer? Dieser Kampf steht uns doch noch bevor, oder?“

„Hm“, machte Walküre. „Nein. Und wir nennen es auch nicht mehr das Ungeheuer.“

„Wir haben es Fluffy getauft“, erklärte Myosotis.

Skulduggery legte den Kopf schräg. „Ihr nennt das furchterregende Ungeheuer Fluffy?“

„Im Grunde ist es gar kein Ungeheuer“, informierte Walküre ihn. „Es ist ein niedliches kleines Fellbündel mit großen Augen. Nichts, gegen das man kämpfen müsste.“

Skulduggery blickte sie an. „Und wen darf ich dann hauen?“

Walküre sah zu Myosotis hinüber. Die zuckte mit den Schultern. „Niemanden“, antwortete Walküre.

Skulduggery seufzte. Er hob seinen Hut auf, setzte ihn sich auf den Schädel, ging zu Owain hinüber und verpasste ihm einen Tritt. „Wenigstens etwas“, knurrte er und rückte seine Krawatte zurecht. „Myosotis, betrachte dich als gerettet.“

Myosotis schob ihre Brille ein Stück höher und lächelte gewinnend. „Ihr seid meine Helden.“