
ACHT
Ryan wich zurück. „Du bist verrückt.“
„Bin ich. Aber ich habe auch recht. Deacon hat die ganze Sache geplant – jedenfalls soweit es ihm möglich war. Er hat den Schlüssel versteckt, hat seinen eigenen Tod vorgetäuscht, ist dann zu Crasis gegangen und hat den alten Gefallen von ihm eingefordert. Er bat Crasis, ihn unverdächtig aussehen zu lassen – jemanden aus ihm zu machen, bei dem Foe nie auf die Idee käme, dass er etwas mit der Sache zu tun haben könnte.“
„Bist du sicher, Skulduggery?“, fragte Walküre leise.
„Crasis hat Ryan während der ganzen Zeit, als wir bei ihm waren, nur zwei Mal angeschaut. Er wollte es uns sagen, aber ich gehe davon aus, dass er Stillschweigen gelobt hat. Sobald er sein neues Äußeres hatte, bearbeitete Deacon sein eigenes Gehirn. Er durfte das Risiko nicht eingehen, dass Obloquy seine Gedanken las. Er musste vollständig verschwinden. Also unterdrückte er seine Persönlichkeit und ersetzte sie durch Ryan – einen braven Jungen. Einen anständigen Menschen.“
„Du irrst dich“, wehrte Ryan sich. „Ich weiß nicht, wovon du redest, aber du irrst dich.“
„Ich wünschte, es wäre so“, seufzte Skulduggery, „doch ich irre mich höchst selten. Deacon hatte vor, sich zu verstecken, bis Foe seine Spur verlor. Ryan, weißt du noch, was du heute Morgen getan hast?“
„Ich bin aufgestanden. Dann hab ich mit meiner Mum gefrühstückt.“
„Und auch in diesem Fall muss ich dir leider wieder sagen, dass die Erinnerung trügt. Die Person, die du für deine Mutter hältst, gibt es nicht.“
Ryan spürte einen unbestimmten Schmerz, irgendwo in der Brust. „Nein. Sie ist meine Mum. Sie ist meine Mum und ich liebe sie.“
„Das weiß ich“, erwiderte Skulduggery. „Deacon ist sehr gründlich. Aber hundertprozentig kann ein Sensitiver eine Persönlichkeit nicht unterdrücken, besonders wenn er an sich selbst arbeitet. Risse zeigen sich da schon viel früher. Deshalb warst du heute in der Bibliothek. Irgendwo in deinem Unterbewusstsein hast du gewusst, dass es wichtig ist. Du wusstest ganz genau, wo der Schlüssel zu finden war.“
Ryan merkte, dass er weinte, und wischte sich schnell die Tränen vom Gesicht.
„Als wir die Straßenkarte angeschaut haben, wusstest du, dass wir die Maschine entschärfen wollen. Dein Unterbewusstsein wollte das aber nicht. Deshalb hat es versucht, uns daran zu hindern, dass wir hierherkommen.“
„Du irrst dich“, wiederholte Ryan.
„Ich habe recht. Du weißt, dass ich recht habe.“
„Nein. Hast du nicht. Ich weiß doch, wer ich bin.“
„Deshalb weinst du ja.“
„Nein. Halt den Mund. Hör auf. Ich weiß, wer ich bin. Ich bin ich. Was du sagst, ist total bescheuert. Es ist lächerlich. Ich wüsste es doch, wenn ich nicht ich wäre. Ich wüsste es.“
„Nein, du wüsstest es nicht. Und es tut mir sehr leid.“
Seit drei Stunden hatten sie nicht mehr mit ihm gesprochen. Sie saßen drüben am Tisch. Gelegentlich hörte er sie leise miteinander reden. Sie ließen ihn in Ruhe.
Von draußen hörte er die Ankündigung, dass das Einkaufszentrum bald schließen würde. Er stellte sich vor, wie all die Freunde und Familien zu den Ausgängen eilten, sich unterhielten und lachten, wie Mütter ihre Kinder hinter sich herzerrten und die Kinder quengelten und schrien …
Ryan musste an die Zeit denken, als er selbst ein Kind war. Er musste an seine Mum denken. Und an seinen Dad. Er musste daran denken, wie sehr er seine Mum liebte und wie sehr er seinen Dad vermisste. Er wollte nicht mehr weglaufen. Er wollte nach Hause. Doch je länger er über das Zuhause nachdachte, desto unwirklicher wurde es.
Es war schon dunkel in dem Raum, als Walküre zu ihm herüberkam. Sie setzte sich neben ihn auf den Boden und lehnte den Rücken an die Wand.
„Hey, Ryan“, begann sie leise.
„So heiße ich nicht“, erwiderte er. Seine Stimme zitterte wie immer, wenn er erregt war. Zumindest hatte er das so in Erinnerung.
„Ich werde dich Ryan nennen, bis ich dich nicht mehr Ryan nennen kann. Deacon ist mir gleichgültig. Wir sind uns nie begegnet. Ich kenne ihn nicht. Aber ich kenne dich, Ryan. Und ich mag dich.“
Er nickte. Sagte nichts dazu.
„Wir machen uns jetzt auf die Suche nach der Maschine“, fuhr sie fort. „Wir haben ein paar Stunden Zeit, bevor die Putzkolonnen anrücken. Skulduggery meint, es sei kein Problem, die Bombe zu entschärfen. Möchtest du uns immer noch helfen?“
Ryan versuchte, ihr hübsches Gesicht im Dämmerlicht zu erkennen. „Was würdet ihr tun, wenn ich nicht dazu bereit wäre? Würdet ihr mir die Hand abhacken und die Maschine damit selbst entschärfen? Woher wisst ihr, ob ihr mir trauen könnt? Ich bin schließlich Deacon.“
„Du bist immer noch du.“
„Es gibt kein Ich.“
Ihre Hand fand seine. Unwillkürlich schlug Ryans Herz schneller. „Wir haben alle eine Seite, die wir nicht mögen. Skulduggery hat eine. Ich habe eine. Jetzt hast du auch eine. Aber du brauchst dich nicht von ihr beherrschen zu lassen. Du kannst deine eigenen Entscheidungen treffen, Ryan. Deacon will die Maschine verkaufen – er will möglichst viel Geld herausschlagen und die Schweinerei dann jemand anderem überlassen. Du willst sie entschärfen, damit kein Mensch sie jemals benutzen kann. Du kannst dich entscheiden, uns zu helfen. Du kannst dich entscheiden, mir zu helfen.“
„Und mir“, meldete sich Skulduggery vom Tisch her.
„Halt die Klappe“, sagte Walküre, ohne sich umzudrehen.
„Genau“, erwiderte Skulduggery.
Ein winziges Lächeln schlich sich auf Ryans Gesicht. „Wenn ich dir helfe, würde sich Deacon tierisch ärgern, nicht wahr?“
„Und ob.“
Ryan gefiel die Vorstellung. Ihm fiel nur diese eine Möglichkeit ein, sich an dem Mann zu rächen, der ihm eine Familie und ein Leben genommen hatte, die von Anfang an nicht echt waren. Aber Ryans Kränkung war echt. Sein Schmerz war echt. Und zumindest für die nächsten Stunden war Ryan entschlossen, selbst echt zu sein.
„Unter einer Bedingung“, sagte er.
Er sah an Walküres Silhouette, dass sie den Kopf zur Seite neigte. „Okay“, meinte sie vorsichtig.
„Wenn ich es tue, wenn ich die Bombe entschärfe, darf ich dich dann küssen?“
Er spürte ihr leises Lächeln. „Das muss ich mir noch überlegen.“ Sie stand auf und zog ihn auf die Füße.
Skulduggery ging voraus zu den Ladengeschäften. Die Läden selbst waren dunkel und abgesperrt, doch die Promenade war immer noch erleuchtet. Es war seltsam, allein an einem für Menschenmassen konzipierten Ort zu sein. Es war nicht stimmig. Es war nicht richtig. Es war urplötzlich unwahrscheinlich einsam.
Sie gingen die still stehende Rolltreppe hinunter. Niemand redete. Sie erreichten das Erdgeschoss und Ryan ging kreuz und quer herum, die flache Hand vor sich ausgestreckt. Skulduggery war überzeugt, dass er etwas spüren würde, sobald sie in die Nähe der Maschine kamen. Vielleicht ein Kribbeln. Ein Prickeln. Ryan hatte gefragt, ob es wehtun würde. Skulduggery konnte nichts versprechen.
Walküre ging hinter ihm. Er tat ihr leid. Er wusste es. Natürlich tat er ihr leid. Wem würde er nicht leidtun? Er war ein bemitleidenswerter Mensch, der nicht mal ein Mensch war. Er wusste ja nicht einmal, wie er in Wirklichkeit aussah. Er wusste, dass er keine fünfzehn war. Er wusste, dass er älter war. Er fragte sich, welche Haarfarbe er hatte. Er fragte sich, wie sein Gesicht aussah. Wie seine Stimme klang. Er fragte sich, welche Gedanken er hatte. Sicher wusste er nur eines: dass er kein besonders netter Mensch war. Nicht wirklich. Nicht in seinem Innersten. Ein netter Mensch würde so etwas nicht machen.
Ryans Hand prickelte. Kleine Nadelstiche. „Ich glaube, wir sind nicht mehr weit weg.“ Seine Stimme klang seltsam an diesem Ort.
„Sie ist unter uns“, vermutete Skulduggery, „ins Fundament eingemauert. Es muss hier irgendwo ein Aktivierungsfeld geben. Geh immer dem Prickeln nach.“
Ryan tat es und führte sie zu einer bestimmten Stelle an der Wand. Skulduggery klopfte mit dem Knöchel daran. Für Ryan klang es ganz normal, doch Skulduggery hörte offenbar mehr als er. Skulduggery zu sein war bestimmt genial – immer zu wissen, was Sache war, immer zu wissen, was getan werden musste. Selbst in dem falschen Leben, das Deacon ihm gegeben hatte, hatte Ryan diese Art von Sicherheit nie gekannt.
„Warum hat er mich nicht besser gemacht?“, fragte er, während Skulduggery weiter die Wand abklopfte.
Walküre schaute ihn an. „Wie meinst du das?“
Ryan lachte kurz und unvermittelt auf. „Schau mich doch an. Warum hat er mich nicht cooler gemacht oder cleverer oder besser aussehend? Er hat eine vollkommen neue Person erschaffen, richtig? Warum hat er dann einen Haufen Müll wie mich gemacht?“
„Du bist … du bist kein Haufen Müll, Ryan.“
„Bin ich wohl. Ich bin fett und hässlich und nutzlos.“
„Skulduggery“, bat Walküre, „sag es ihm.“
Skulduggery hörte auf mit der Klopferei und schaute Ryan an. „Deacon hat jemanden erschaffen, der in der Menge untergeht, jemanden so Unspektakuläres, dass keiner Notiz von ihm nimmt.“
Walküre schüttelte den Kopf. „Du solltest etwas sagen, damit er sich besser fühlt.“
„Ich bin dabei. Er hat dich unspektakulär gemacht, Ryan. Er hat dich normal gemacht. So normal er konnte. Und hat damit eigenhändig bewiesen, wie spektakulär normale Menschen sein können. Als wir in Deacons Apartment waren, hättest du weglaufen und es Walküre und mir überlassen können, gegen die Bande zu kämpfen. Aber du bist zurückgekommen. Du bist zurückgekommen, um uns zu helfen. Du hast fürchterlichen Leuten die Stirn geboten, Leuten, die die Welt vernichten wollen, die dich in der Mitte durchbrechen und in Stücke reißen könnten und dennoch gut schlafen würden. Und du hast dies getan, obwohl du keinerlei Ausbildung dafür hast und auch nicht über magische Kräfte verfügst. Du hast es getan, weil du ein guter Mensch bist und echten Mut besitzt. Du besitzt die Art Mut, die Deacon Maybury nie hatte. Er hat den normalsten Jungen aus dir gemacht, den er sich vorstellen konnte, und hat dich, ohne es zu wollen, so viel besser gemacht, als er es jemals sein könnte.“
„Oh“, sagte Walküre. „Also … okay, so gut habe ich es mir gar nicht vorgestellt. Wie fühlst du dich jetzt, Ryan?“
Ryan schaute sie an. „Ziemlich außergewöhnlich“, antwortete er und sie lachte.
Skulduggery presste seine Daumen auf die Wand und ein großes Stück glitt zur Seite. Anstelle der vielen Drähte, die Ryan erwartet hatte, war mitten in etwas, das aussah wie ein komplizierter Irrgarten aus Metall, die Form des Schlüssels eingeschnitten.
„Oh, gut“, kommentierte Skulduggery.
Walküre ging näher heran. „Lässt sie sich relativ einfach entschärfen?“
„Ganz und gar nicht.“
„Meinst du, du schaffst es?“
Skulduggery tippte sich ans Kinn. „Nur mit unverschämt viel Glück.“
„Dann sollten wir vielleicht besser auf einen Experten warten.“
„Gütiger Himmel, nein.“ Skulduggery wandte sich ihr mit einem Ruck zu. „Dann macht es ja überhaupt keinen Spaß mehr.“
„Aber … aber wenn du etwas falsch machst, sterben wir vielleicht alle.“
„Die Möglichkeit besteht, doch wahrscheinlich mache ich nichts falsch.“
Walküres Blick ging kurz zu Ryan, dann zurück zu Skulduggery. „Wahrscheinlich nicht?“
„Die Chancen stehen gut für mich.“
„Wirklich?“
„Fast fünfzig zu fünfzig.“
„Skulduggery, ich bin dafür, dass wir auf einen Experten warten.“
„Aber das kann zwanzig Minuten oder noch länger dauern, Walküre.“
„Und? Es tickt ja keine Uhr oder so. Wir haben alle Zeit der Welt.“
„Und ‚Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute‘. Ryan, ich brauche dich jetzt. Du musst deine Hand auf die Spange legen. Ich sage dir dann Schritt für Schritt, was du weiter tun musst.“
„Skulduggery“, begann Walküre bestimmt, „wir lassen das sein und warten auf einen professionellen Bombenentschärfer.“
„Was weiß er, das ich nicht weiß?“
„Über das Entschärfen von Bomben? Eine Menge.“
Skulduggery wedelte geringschätzig mit der Hand. „Bomben sind etwas ganz Einfaches. Sie sind so gebaut, dass sie losgehen. Um diese hier auszubremsen, müssen wir lediglich verhindern, dass sie losgeht. Was könnte es Einfacheres geben?“
Walküre schloss die Finger um Ryans Handgelenk und zog ihn zur Seite. „Wir warten auf einen Experten.“
„Ich denke, wir sollten es ihn versuchen lassen“, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Sie wirbelten herum und sahen Foe und seine Bande auf sich zukommen. Foe grinste. „Vielleicht erspart uns das die Mühe, die Welt selbst vernichten zu müssen.“