
DREI
Mit achtzehn zog ich zu Hause aus, froh, der Stadt den Rücken kehren zu können, froh, die ganzen schlimmen Erinnerungen hinter mir lassen zu können. Bis zu dem Zeitpunkt hatte mein selektives Gedächtnis natürlich längst alles durchgearbeitet und die eher obskuren Elemente der Ereignisse verworfen. Die Version der Wahrheit, die mir dann noch blieb, war für einen vernunftorientierten Menschen wie mich sehr viel leichter zu akzeptieren.
In dieser neuen Version, elegant in ihrer Einfachheit und sorgfältig zensiert, um Unschuldige zu schützen, waren meine Freunde und ich als Kinder in dieses gruselige alte Haus eingebrochen und hatten uns gegenseitig so erschreckt, dass wir uns fast ins Hemd machten. Ein paar Tage später besuchte ich mit einem hübschen Mädchen meinen kranken Kumpel. Der Ausflug endete damit, dass wir von ein paar wütenden Nachbarn über Zäune gejagt wurden, nachdem wir ihre Blumen zertrampelt hatten. In dieser überarbeiteten Version der Ereignisse kamen weder die flackernde Gestalt noch die subtilen Drohungen vor und kein einziges Wort über Bubba Moon, was mir ganz recht war.
Ich studierte an der New York University und arbeitete hart. Wahrscheinlich weil ich wusste, was es bedeuten würde, das Studium hinzuschmeißen oder die Prüfungen nicht zu bestehen. Nämlich die unvermeidliche Rückkehr in meine Heimatstadt. Und ich hatte gewiss nicht die Absicht, in nächster Zeit dorthin zurückzugehen.
Während meines zweiten Jahres in New York traf ich in der Bibliothek ein Mädchen. Auf ihrem Tisch stapelten sich Mitschriften von Vorlesungen und dicke Wälzer. Hinter einem Fachbuch sah ich allerdings das grelle Cover eines Taschenbuchs von Gordon Edgley hervorlugen. Ich setzte mich ihr gegenüber und drohte ihr, sie als die Heuchlerin zu entlarven, die sie war, wenn sie nicht mit mir Kaffee trinken ging. Noch nie zuvor war ich so dreist gewesen, doch sie hatte etwas an sich, und die Art, wie sie sich voll und ganz auf diesen Horrorroman konzentrierte, machte sie für einen Bücherwurm wie mich unwiderstehlich.
Sie schenkte mir ein Lächeln, das ihren spitzbübischen Charakter nur erahnen ließ, und fünf Jahre später waren wir verheiratet. Zwei Jahre danach kam unser erstes Kind. Drei Jahre danach unser zweites. Ich bekam einen guten Job in einer Bank und Felicity blieb zu Hause und kümmerte sich um die Kinder. Eine gute Weile lang war das Leben einfach nur schön.
Dann kam die Hypothekenkrise, und die Bank, für die ich arbeitete, musste schließen. Ich verlor in ein und demselben Monat meinen Job und den größten Teil unserer Ersparnisse. Wir hatten kräftig in bombensichere Aktien investiert, die aber auf wackligen Füßen standen, und als die Bankenwelt bebte, krachte alles in sich zusammen. Wir überlebten, hielten die Köpfe gerade eben noch über Wasser, konnten unser Haus allerdings nur mit größter Mühe halten.
Felicity und ich begannen zu streiten. Anfangs nur ein wenig, ein böses Wort oder ein Anblaffen und dieses eisige Schweigen. Im Beisein der Kinder redeten wir normal miteinander oder glaubten es zumindest. Ich fürchte allerdings, Kinder bekommen viel mehr mit, als uns lieb ist.
Im Februar des darauffolgenden Jahres rief dann mein Bruder an und teilte mir mit, dass unser Vater verstorben sei. Während ich mit ihm sprach, seiner Stimme lauschte, die voller Trauer war, überkam mich dieses seltsame Gefühl von Taubheit. Und nachdem ich aufgelegt hatte, saß ich in meinem Arbeitszimmer, umgeben von Rechnungen, Zahlungsaufforderungen und Mahnungen, und weinte.
Wir packten unsere Sachen und fuhren nach Hause. Den größten Teil der Strecke saß ich am Steuer. Ich dachte natürlich viel an meinen Vater, aber auch an meine Kindheit, meine alten Freunde. Ich dachte an Tyler und Benny und das Mädchen, die Hübsche. Wie hieß sie gleich wieder? Chrissy, richtig. Chrissy Brennan. Was war ich in sie verknallt damals. Es kam alles zurück, als seien die Kilometer Backsteine in einer Mauer, die mich von meinen Erinnerungen trennte. Und jeder zurückgelegte Meter bedeutete einen Backstein weniger.
Ich dachte auch an Pete Green, meinen ältesten Freund aus Kindertagen. Ich hatte den Kontakt zu ihm verloren. Wie das gekommen war, wusste ich gar nicht mehr so recht.
Die Stadt war gewachsen seit meinem letzten Besuch. Das eine oder andere war noch unverändert, doch ansonsten sah es aus, als hätte man eine riesige neue Stadt darübergestülpt. Das alte Kino existierte nicht mehr, aber um die nächste Ecke war ein gigantisches Shoppingcenter mit einem eigenen Multiplex-Kino. Chapters Modernes Antiquariat, ein Laden, der für mich früher eine Art Kirche gewesen war, war jetzt ein Sonnenstudio. Ein Schild im Fenster verkündete, dass es gleichzeitig als Nagelstudio fungierte. Mein elfjähriges Ich wäre entsetzt gewesen. Als ich das meinen Kindern auf der Rückbank sagte, stöhnte mein Sohn. Meine Tochter ignorierte mich.
Wir hielten vor meinem Elternhaus. Mom machte sofort eine Menge Getue um uns. Sie wusste nichts von den Problemen, die Felicity und ich hatten, aber ich glaube, sie hat etwas geahnt. Mein Bruder war auch da. Er erzählte, dass Mom versucht hätte, sich permanent mit irgendetwas zu beschäftigen, als sei sie entschlossen, so hart zu arbeiten, dass die Trauer erst gar keine Chance hatte, sich niederzulassen. Wir ließen sie gewähren. Jeder hat seine eigene Art zu trauern.
Obwohl ich müde war von der langen Fahrt, ging ich mit meinem Bruder an diesem Abend noch in eine Kneipe, wo wir lange miteinander redeten. Er erzählte mir aus seinem Leben und ich lieferte ihm eine Kurzversion von meinem. Ich hatte ihn seit über sieben Jahren nicht gesehen. Er hatte zugenommen und weiter Haare verloren. Jetzt sah er richtig erwachsen aus. Als ich ihm das sagte, lachte er bedauernd und holte uns noch etwas zu trinken.
Als er gegangen war, lächelte mich eine hübsche junge Frau am Nebentisch an. Sie konnte nicht viel älter sein als siebzehn, aber ich erwiderte das Lächeln dennoch, mehr aus Höflichkeit als sonst etwas. Eine Frau kam an meinen Tisch. Sie war ein paar Jahre älter als ich, hübsch, aber gestresst. Ihr Haar war schon mit grauen Strähnen durchsetzt und sie war etwas zu mager, um gesund zu sein.
„Das mit deinem Vater tut mir leid“, sagte sie.
Ich schaute sie an und suchte nach einem Namen zu dem Gesicht, doch er wollte mir nicht einfallen. Zumindest im ersten Augenblick nicht. Jemand an der Bar lachte, sie drehte den Kopf und ich sah sie aus einem anderen Winkel. Die Erkenntnis traf mich wie eine Abrissbirne.
„Chrissy Brennan“, entfuhr es mir atemlos.
Sie lächelte, setzte sich mir gegenüber und stellte ihr Glas ordentlich auf einen Untersetzer. Ich erinnerte mich an das Lächeln. Früher war es wunderschön. Auch jetzt waren noch Spuren davon zu sehen, doch es brachte die ganzen Falten um ihren Mund deutlich zum Vorschein. Sie wirkte alt. Sie war in meinem Alter, aber sie wirkte alt. „Ich hätte nicht gedacht, dass du mich wiedererkennst“, meinte sie und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, genau wie früher.
„Du siehst gut aus.“
Wieder lächelte sie. „Wie lang bleibst du hier?“
„Die Beerdigung ist morgen. Wir bleiben noch ein paar Tage, damit meine Mom was zu tun hat. Schön, dich zu sehen. Auf dem Weg hierher hab ich an dich gedacht.“
„Ich auch an dich“, sagte sie in einer Art, die mir irgendwie zusetzte.
Mein Bruder schaute herüber, wies über seine Schulter auf ein paar Freunde und ich nickte, worauf er Chrissy und mich allein ließ.
„Was hast du so gemacht?“, fragte ich. „Wie ist es dir ergangen?“
„Es ging mir schon besser“, antwortete sie. Dann lachte sie. „Tut mir leid. Ich wollte nicht gleich zu Anfang unserer Unterhaltung schon eine solche Spaßbremse sein. Ich hab dich bereits vor einer halben Stunde gesehen, ich saß da drüben und hab mit mir gerungen, ob ich rüberkommen und dich ansprechen soll oder nicht. Jetzt bin ich hier und schon saust die Stimmung in den Keller.“
Sie wurde rot und ich beugte mich vor. „He, mir ist es doch auch schon mal besser gegangen. In meiner Ehe zum Beispiel. Vor ein paar Monaten habe ich meinen Job verloren. Und noch vor dem Sommer werden wir wahrscheinlich auch unser Haus verlieren.“ Das hatte ich nicht einmal meinem Bruder erzählt. „Vom Tod meines Vaters ganz zu schweigen, okay? Mach dir also keinen Gedanken wegen der Stimmung. Die ist ohnehin ziemlich im Keller.“
Ich hatte das alles gesagt, damit sie sich besser fühlen konnte, doch ihr war nicht einmal ein mitfühlendes Lächeln zu entlocken.
„Ich habe geheiratet“, erzählte sie. „Ich habe einen Sohn, Scott. Er wird im Mai vierzehn. Ich bin nicht mehr mit meinem Mann zusammen. Er ist kein besonders netter Mensch. Ich habe zwei Jobs und keiner bringt genug ein, um den anderen aufgeben zu können. Und ich habe Angst.“
Ich nickte. „Ja, diese Zeiten können einem Angst machen.“
Sie blickte mich an und runzelte die Stirn. „Nein. Ich habe Angst vor ihm.“
Jetzt war es an mir, die Stirn zu runzeln. „Vor deinem Mann?“
Nun beugte auch sie sich vor. „Vor Pete“, flüsterte sie.
„Pete Green?“
„Wer sonst? Was ist los mit dir?“
„Tut mir leid, Chrissy, aber ich bin mir nicht ganz sicher, wovon du sprichst.“
Sie starrte mich an.
Sie starrte mich so lange an, dass ich fürchtete, sie hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank.
„Tu das nicht“, sagte sie schließlich. „Untersteh dich. Du warst als Einziger noch dabei. Du bist der Einzige, der weiß, was passiert ist.“
„Was wann passiert ist? Ich weiß wirklich nicht …“
„Bubba Moon“, unterbrach sie mich in einem scharfen Ton. Ich spürte ein Pochen hinter meinen Augen. Eine Migräne kündigte sich an.
„Bubba Moon“, wiederholte ich. „Ah ja, okay. Der Schwarze Mann der Stadt. Wir sind als Kinder in sein Haus eingebrochen. Aber wir waren nicht allein dort. Tyler McCormick und Benny Alverez waren auch dabei. Und Pete.“
Chrissy nickte. „Und ein paar Tage später wollten wir uns erkundigen, wie es Pete geht. Wir sind zu ihm nach Hause gegangen, du und ich. Erinnerst du dich?“
Ich lächelte. „Ich erinnere mich, dass wir vor ein paar fürchterlich wütenden Nachbarn geflüchtet sind. Daran erinnere ich mich.“
„Wütende Nachbarn? Was redest du denn da? Das waren keine wütenden Nachbarn. Das waren seine Anhänger.“
„Wessen Anhänger? Petes? Pete war damals elf Jahre alt.“
„Bubba Moons Anhänger“, erwiderte Chrissy so heftig, dass ich mich argwöhnisch zurücklehnte. „Sie standen vor seinem Haus. Weißt du noch? Später hast du mir gesagt, es hätte dich an einen Film erinnert. Mit Donald Sutherland und Jeff Goldblum.“
„Invasion der Körperfresser“, antwortete ich automatisch. Etwas löste sich in meinem Kopf. Weitere Backsteine fielen aus der Mauer, genug, um ein altes Gefühl durchsickern zu lassen. Angst.
Ich rutschte auf meinem Stuhl herum. „Das ist lange her, Chrissy. Offensichtlich habe ich andere Erinnerungen daran als du.“
„Du bist gegangen“, sagte sie in einem Ton, als beschuldigte sie mich des Verrats. „Scheint so, als hättest du es verdrängt. Du wolltest nicht mehr daran denken. Aber ich bin geblieben. Ich erinnere mich an alles ganz genau so, wie es passiert ist. Du erinnerst dich an die Leute, die uns ins Green-Fields-Einkaufszentrum gefolgt sind? Ich sehe sie praktisch täglich. Sie haben sich nicht verändert. Sie sind, seitdem wir sie damals gesehen haben, keinen Tag älter geworden. Und inzwischen sind es noch mehr. Über ein Dutzend, glaube ich, und sie wohnen alle in derselben Straße wie Pete.“
„Ich erinnere mich nicht an ihre Gesichter, Chrissy. Ich könnte also nicht sagen, ob sie älter geworden sind oder nicht. Aber bevor wir die Sache vertiefen, möchte ich, dass du dir einen Augenblick Zeit nimmst und über die Dinge nachdenkst, die du da sagst.“
Sie kaute auf ihrer Lippe herum und nickte. Dann senkte sie den Blick und ich atmete durch. Ich hatte die Hände zu Fäusten geballt, wusste aber nicht, weshalb. Ich leerte mein Bierglas und wollte schon unsere Unterhaltung beenden, indem ich aufstand, da hob sie den Blick. Sie wirkte gefasster.
„Ich weiß, dass es verrückt klingt“, sagte sie. „Und ich entschuldige mich dafür. Ich entschuldige mich auch für diese ganze … Wut. Ich nehme an … ich nehme an, ich war wütend auf dich, weil du die Stadt verlassen hast, und wütend wegen der Art, wie unsere Freundschaft geendet hat, aber weder das eine noch das andere ist deine Schuld.“
Ich erinnerte mich nicht, wie unsere Freundschaft geendet hatte. Da ich die Unterhaltung aber nicht fortführen wollte, hakte ich nicht nach.
„Das sind die Fakten, wie sie mir bekannt sind“, fuhr Chrissy fort. „Bitte hab Geduld mit mir. Vielleicht kommen bei einigen wieder Erinnerungen hoch. Bei vielen sicher nicht. Bitte bleib sitzen, bis ich fertig bin.“
Ich zögerte, doch in ihrem Gesicht war immer noch genug von dem schönen Mädchen, das ich einmal gekannt hatte, dass ich ihr diese eine Bitte nicht abschlagen konnte. „Okay. Sag, was du zu sagen hast.“
„Danke. Bubba Moon war ein Serienmörder. Nur weil ihn die Polizei oder die Zeitungen nie so genannt haben, ist dieser schlichte Sachverhalt nicht weniger wahr. Er war ein Serienmörder und er hatte seine Anhänger. Soweit ich weiß, nannten sie sich ‚Das Volk‘. Sie betrieben schwarze Magie. Vielleicht waren es Satanisten oder Teufelsanbeter.“
„Satanisten“, wiederholte ich und hob eine Augenbraue.
„Es ist nichts Ungewöhnliches. Oder zumindest war es das nicht. Leute wie Bubba Moon und Charles Manson ziehen Menschen an, die am Rand der Gesellschaft leben – Satanisten, Faschisten, verurteilte Verbrecher.“
„Okay“, sagte ich. „Weiter.“
„Moons Anhänger haben sich einmal im Monat getroffen, hier in der Stadt, in seinem Haus. Sie brachten abwechselnd ein Opfer mit.“
„Was für ein Opfer?“
Chrissy schaute mir in die Augen und antwortete in demselben ruhigen Ton wie vorher: „Kinder. Vierzehnjährige Kinder. Mädchen und Jungs, das Geschlecht spielte keine Rolle, sie mussten nur vierzehn Jahre alt sein. Warum, weiß ich nicht. Nach dem, was ich herausgefunden habe, hat man sie in den Keller gebracht und rituell ermordet, während das Moon-Volk um sie herumtanzte und sang.“
„Aha. Und welche Beweise hast du dafür?“
„Es gibt keine Beweise. Nur Gerüchte.“
„Genau.“
„Kann ich weitermachen?“
Ich seufzte. „Sicher.“
„Bubba Moon war auch ein Medium. Er war kein Handleser oder Wahrsager, aber er konnte die Zukunft vorhersagen. Ich habe mit Polizeibeamten gesprochen, die schwören, dass er bei Verhören Dinge über sie wusste, die er gar nicht hätte wissen können.“
„Und die Beamten haben das dir gegenüber zugegeben?“
„Einige, ja. Obwohl sie es natürlich nie öffentlich zugegeben hätten.“
„Oh, natürlich nicht.“
„Sie verhörten ihn jahrelang immer mal wieder, und immer in Zusammenhang mit unterschiedlichen Morden. Sie konnten ihm nichts nachweisen, bis einer aus dem ‚Volk‘ einen Fehler machte und verhaftet wurde. Er erzählte der Polizei alles. Er erzählte ihr noch mehr als alles. Er erzählte ihr Sachen, die so bizarr und krank waren, dass sie eigentlich erfunden sein mussten. Aber zwischen all den Verrücktheiten wusste er genügend Details über ungeklärte Mordfälle, sodass sie ihn ernst nehmen mussten.“
„Reichte es denn, um Moon festzunehmen?“
Chrissy nippte an ihrem Drink und ließ sich Zeit mit der Antwort. „Man weiß es nicht. Ihr Kronzeuge, der eingewilligt hatte, unter Eid auszusagen und Moon als denjenigen zu benennen, der die ganzen Morde verübt hatte, starb in derselben Nacht in seiner Zelle, in der sie Moons Haus durchsuchten. Er erhängte sich mit einem Leintuch.“
„Wie ungünstig“, warf ich ein, doch Chrissy ignorierte mich.
„Folgendes solltest du eigentlich wissen“, fuhr sie fort. „Die Polizisten kommen mit ihrem Durchsuchungsbefehl an, niemand öffnet und sie brechen die Tür auf. Sie finden Bubba Moons Leiche im Keller. Sie liegt in einem auf den Boden gezeichneten Kreis, umgeben von okkulten Symbolen.“
Der Kreis. Jetzt erinnerte ich mich wieder.
„Sie stecken ihn in einen Leichensack, bringen ihn weg und durchsuchen das Haus. Sie finden eine Menge alter Blutspuren, doch Tests geben keinen Aufschluss. Sie graben den Garten um, suchen nach Leichen und finden keine. Im Grunde finden sie keinerlei Beweise. Bubba Moon wird in irgendeinem beschissenen Grab beerdigt, sein Haus wird mit Brettern vernagelt und nie verkauft und das war’s dann.“
„Okay.“
„Bis achtzehn Jahre später ein paar dumme Kinder in dieses alte Haus einbrechen und einer davon vor den anderen angeben will, in diesen Kreis springt und sich dort hinlegt, wo Bubba Moon gelegen hat, als sie ihn fanden.“
Ich brauchte noch etwas zu trinken. Mein Mund war ausgetrocknet. „Pete“, sagte ich.
„Genau. Pete. Zwei Tage ging es ihm noch gut, dann kam er nicht mehr in die Schule. Am Donnerstagnachmittag haben du und ich ihn besucht. Wir wollten wissen, wie es ihm geht. Wir gingen zu Fuß.“
„Leute beobachteten uns“, fuhr ich leise fort.
Chrissy nickte. „Wir klopften an seine Tür und gingen dann um das Haus herum. Wir sahen Pete auf dem Boden sitzen und jemand stand über ihn gebeugt. Wir konnten die Gestalt aber nicht richtig erkennen, weil sie ständig flackerte …“
„Wie flirrende Hitze“, ergänzte ich.
„Ja. Genau so. Wir wollten abhauen, doch Petes Mom bat uns ins Haus. Weißt du noch, wie sie sich sofort wieder auf die Couch setzte?“
„Und einschlief“, sagte ich. „Dann kam Pete aus seinem Zimmer. Er bewegte sich zwischendurch ganz seltsam. Er holte sich etwas zu trinken oder so …“
Chrissy half mir auf die Sprünge. „Ein Saftpäckchen.“
„Ein Saftpäckchen, genau. Es sah aus, als wollte er es öffnen, doch es dauerte eine Weile, bis die Botschaft seine Hände erreichte. Dann … dann ist irgendwas mit mir passiert.“
„Er hat dich angeschaut und du bist urplötzlich eingeschlafen. Er hat mit dir dasselbe gemacht wie mit seinen Eltern.“
„Aber du hast mich gerettet. Wir sind abgehauen. Sie haben uns verfolgt. Bis ins Einkaufszentrum. Der Wachmann …“
„Sie hätten ihn umgebracht“, unterbrach mich Chrissy. „Garantiert. Wenn wir auch nur versucht hätten, ihn zu alarmieren, hätten sie ihn auf der Stelle umgebracht. Sie hätten jeden umgebracht, dem wir was gesagt hätten. Unsere Eltern. Lehrer. Polizisten. Jeden.“
„Mein Gott. Jetzt erinnere ich mich.“
„Pete wurde aus der Schule genommen. Danach haben wir ihn kaum noch gesehen. Wenn ich ihm zufällig auf der Straße begegnet bin, habe ich mich immer versteckt, bis er weg war. Sein Volk war die ganze Zeit um ihn herum. Eigentlich hätte es komisch aussehen müssen, wie alle diese Erwachsenen einem Kind nachlaufen und sämtliche seiner Befehle ausführen, aber es war nicht komisch. Es war kein bisschen komisch.“
Chrissy nahm noch einen Schluck. „Wir redeten nicht mehr miteinander. Du und ich. Um ehrlich zu sein, hatten wir zu große Angst, um miteinander zu reden. Wir hatten zu große Angst, um Freunde zu bleiben. Es war meine Schuld genauso wie deine, aber ich habe dich so lange wie möglich dafür verantwortlich gemacht. Dann gingst du weg, weit weg nach New York City. Und ich habe Toby kennengelernt und empfand, was ich für Liebe hielt. Ich bekam einen fantastischen Jungen und merkte dann, dass Toby als Mensch nicht viel taugte. Ich hab ihn rausgeschmissen, einen zweiten Job angenommen und Scott allein aufgezogen.“
„War sicher nicht einfach.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das machen viele. Aber ich habe mein Bestes getan, um mein Leben zu leben, die Vergangenheit hinter mir zu lassen.“
„Wo sie auch hingehört“, sagte ich.
Ein dünnes Lächeln. „Wenn wir das Glück nur gehabt hätten. Vor ein paar Jahren begann ich zu recherchieren. Aus reiner Neugier.“
„Was hast du recherchiert?“
„Vermisstenfälle. Vierzehnjährige, die als vermisst gemeldet wurden. Ich dachte, falls es immer noch passiert, wäre es leicht festzustellen. Schließlich wohnen Moons Anhänger jetzt alle in derselben Stadt. Die Opfer wären nicht über halb Amerika verstreut wie vorher.“
„Und … hast du etwas herausgefunden? Haben sie es immer noch getan?“
Chrissy griff nach ihrem Glas, führte es jedoch nicht an die Lippen. Sie lächelte nur, ein Lächeln, das alles andere als gelassen war. „Sie haben nie aufgehört. Jeden Monat verschwindet ein Vierzehnjähriger. Es werden ständig Leute als vermisst gemeldet, keine Frage, das weiß jeder. Aber diese Kinder gehen in der Statistik unter. Sie werden als vermisste Teenager geführt anstatt als vermisste Vierzehnjährige. Niemand hat bis jetzt die Verbindung hergestellt. Und sie kommen von hier. Aber die Stadt ist nicht mehr so klein wie früher. Und die umliegenden Städte auch nicht. Moons Anhänger suchen sich ihre Opfer in der Nähe.“
„Okay … Okay, falls das stimmt …“
„Ich habe alle Zahlen, ich kann sie dir zeigen …“
„Ich will sie nicht sehen“, wehrte ich etwas schärfer ab als beabsichtigt. „Entschuldige. Ich wollte sagen, ich muss sie nicht sehen. Ich glaube dir, dass sich eine Art … Trend ablesen lässt. Aber angenommen, du hast recht … Dann verstehe ich immer noch nicht, was das mit Pete Green zu tun hat.“
„Du verstehst es sehr wohl“, widersprach Chrissy.
„Nein, tu ich nicht.“
„Du hast den flirrenden Mann gesehen. Das war keine Halluzination. Wir haben es beide gesehen.“
„Ja. Ich geb’s zu. Ich hab’s gesehen. Es war da. Aber was war es?“
Die Haarsträhne hatte sich wieder gelöst. Chrissy strich sie mit der linken Hand hinters Ohr. Um ihren Ringfinger war ein schmales Band hellerer Haut. „Du weißt, was es war. Ich hab dir doch gesagt, dass Moon ein Medium war.“
„Ich glaube nicht an solche Sachen.“
„Du glaubst nicht an die Schwindler und Betrüger und Beutelschneider, die trauernde Witwen um ihr Erspartes bringen … Aber davon reden wir hier nicht. Bubba Moon war ein Medium. Er starb in dem Kreis, während er schwarze Magie betrieb. Pete legte sich in denselben Kreis, und als wir ihn später besuchten, haben wir zum ersten Mal eine Gestalt gesehen, die bei ihm war.“
„Du glaubst … du glaubst, diese Gestalt war Bubba Moon?“
„Ja.“
„Und … was glaubst du, hat Moon mit Pete gemacht?“
„Ihn kontrolliert. So hat es doch ausgesehen, oder?“
Ich nickte. „Und du glaubst, er kontrolliert ihn immer noch, bis zum heutigen Tag?“
„Mehr als das. Ich glaube, Pete ist von Bubba Moon besessen.“
„Das ist doch verrückt.“
„Ich weiß. Und ich habe den größten Teil meines Lebens damit gelebt, hatte bisher aber zu viel Angst, um darüber zu reden, mich jemandem anzuvertrauen oder etwas zu unternehmen … Doch jetzt bist du wieder da und ich bin nicht mehr allein.“
In ihren Augen stand so viel Hoffnung, dass es mich fast umbrachte. „Chrissy“, begann ich gedehnt, „was glaubst du, passiert jetzt? Wenn das alles stimmt und Moon wirklich so mächtig ist und es so viele sind … was können wir zwei dagegen machen?“
Sie lächelte, ein liebes, vertrauensvolles Lächeln. „Wir können sie aufhalten.“
„Nein, können wir nicht“, widersprach ich. „Die Leute sind gefährlich. Es sind Mörder. Was könnten wir beide gegen eine Bande von Mördern ausrichten?“
Das Lächeln erlosch. „Ich … uns würde etwas einfallen. Ein Plan.“
„Was denn für ein Plan? Musstest du dir jemals etwas in dieser Richtung einfallen lassen? Wüsstest du überhaupt, wo du anfangen solltest? Ich wüsste es nicht. Ich sag dir jetzt, wie unser Plan aussieht, Chrissy. Wir gehen zur Polizei. Sie werden uns nicht glauben, aber wir sagen ihnen trotzdem alles, was wir wissen. Es ist unsere Pflicht, das zu tun, aber weiter reicht sie nicht.“
Sie schüttelte den Kopf. „Die Polizei kann sie nicht aufhalten.“
„Das wissen wir nicht.“
„Sie werden die Polizisten umbringen.“
„Als wir noch Kinder waren, hättest du sicher recht gehabt“, gab ich zu. „Damals gab es lediglich eine Handvoll Kleinstadtpolizisten. Aber das ist keine Kleinstadt mehr. Die Polizisten sind besser ausgebildet und besser ausgerüstet. Wir sagen ihnen, dass das Moon-Volk eine Massenerschießung plant. Sie bekommen Verstärkung von einer Spezialeinheit, Hubschrauber …“
„Das funktioniert so nicht.“
„Wir müssen es versuchen.“
„Wenn wir es versuchen und es nicht klappt, wird alles nur noch schlimmer.“
„Was meinst du mit noch schlimmer?“
Chrissy leerte ihr Glas. „Das Volk kennt mich. Wenn wir uns auf der Straße begegnen, schauen sie mich an. Sie lächeln. Ein paar haben schon auf ihre Uhr getippt.“
„Ich verstehe nicht.“
Tränen traten ihr in die Augen. „Scott wird nächsten Monat vierzehn. Sie holen meinen Sohn. Ich weiß es.“
Da ich dazu nichts zu sagen wusste, fuhr sie fort: „Ich wollte umziehen. Vor ein paar Wochen hatte ich alles so weit vorbereitet. Ich wollte meine Jobs kündigen, Scott aus der Schule nehmen und einfach abhauen. Ich hatte ein paar Anrufe hinter mir und es war mir gelungen, zu einem Vorstellungsgespräch nach Utah eingeladen zu werden. Ausgerechnet Utah. Und dann bekomme ich eine Postkarte. Eine große, bunte ‚Willkommen in Utah‘-Postkarte. Auf die Rückseite hatte jemand geschrieben: ‚Ich kann’s kaum erwarten, bis ihr da seid!‘ Sie wussten es. Er wusste es. Moon wusste, dass ich abhauen wollte. Mit der Karte hat er mir gesagt, dass ich hingehen kann, wo ich will. Scott ist nirgendwo sicher.“
„Chrissy, ich …“
„Bitte.“ Jetzt flossen die Tränen. „Ich darf meinen Sohn nicht verlieren. Bitte hilf mir.“