Vignette

VIER

Der Friedhof lag auf dem südlichsten Hügel von Bredon. Als Kinder sind wir an schönen Sommertagen hinaufgeradelt und haben Picknick mit Erdnussbutter-und-Marmelade-Broten und Limonade gemacht. Damals konnte man von dort oben praktisch die ganze Stadt sehen. Jetzt nicht mehr. Jetzt hatte sich die Stadt zu weit ausgedehnt und die Gebäude waren zu hoch. Ganze Viertel waren dem Blick verborgen und weggesperrt wie uralte Geheimnisse.

Benny Alverez nahm an der Beerdigung teil. Als alles vorbei war, kam er zu mir und wir schüttelten uns die Hände.

„Ich hab deinen Dad immer gemocht“, sagte Benny. „Er erzählte diese blöden Witze und tat dann überrascht, wenn wir über ihn lachten anstatt mit ihm.“

„Das war nicht gespielt.“ Ich täuschte eine leichtere Art von Trauer vor. „Du siehst gut aus. Die besten Jahre müssen dir wohl zusagen.“

Er wurde blass. „Sind wir das jetzt? In den besten Jahren? Ich dachte, ab fünfzig sei man in den besten Jahren. Hab das mal irgendwo gelesen. In einem Wissenschaftsmagazin.“

Ich nickte. „Ja, genau, das hab ich auch gelesen. Die besten Jahre sind immer das Jahrzehnt vor dem, das du gerade durchlebst.“

„Stimmt“, erwiderte er grinsend. „Ja, es geht mir gut. Ich bin mit einer zehn Jahre jüngeren Frau verheiratet. Letztes Jahr kam unser erstes Kind.“

„Du alter Windhund.“

Er zuckte mit den Schultern. „So ist es nun mal.“ Er wies mit dem Kinn auf meine Kinder. „Sind das deine?“

„Ja.“ Mein Blick blieb für einen Moment an meiner Frau hängen. Sie wirkte müde. Selbst Chrissy Brennan hatte nicht so müde ausgesehen. „Wart’s ab, bis dein lebhaftes Baby ein temperamentvoller Teenager wird“, sagte ich. „Das lässt dir ein paar graue Haare auf der Brust wachsen.“

Benny lächelte. „Ich freu mich drauf. Und wie ist das Leben in der großen Stadt so?“

Ich wich seinem Blick aus, tat, als suchte ich jemanden in der Menge. „Chaotisch. Ungewiss. Alles Begriffe, die du nicht hören willst, wenn du eine Familie hast.“ Ich schaute ihn wieder an. „Die Stadt hier hat sich mächtig verändert.“

„Nicht wahr?“

„Ein paar Straßen habe ich kaum wiedererkannt. Das Palladion gibt’s nicht mehr.“

„Dafür haben wir jetzt einen Koloss mit zwanzig Leinwänden. Der, ehrlich gesagt, um Längen besser ist, als das Palladion je war. Erinnerst du dich noch an die vergammelten Sitze und die lausige Tonanlage? Die meisten Filme, die wir dort gesehen haben, begannen als Stummfilme, bis der Vorführer die Buhrufe gehört hat.“

Ich lachte. „Das hatte ich schon vergessen. Die rosarote Brille, nehm ich an.“

Bennys Lächeln erlosch. „Ja. Nostalgie verklärt. Bist du länger in der Stadt?“

„Weiß nicht. Nach heute entscheiden wir von Tag zu Tag. Kommt ganz darauf an, was Mom braucht.“

„Sag ihr, dass ich mich nach ihr erkundigt habe. Ich wollte ihr mein Beileid aussprechen, aber ihr wollte ums Verrecken nicht einfallen, wer ich bin. Als sie mich das letzte Mal gesehen hat, war ich, wie alt, zwölf?“

„Elf oder zwölf, ja. Du und Tyler, als ihr auf der Straße vor unserem Haus auf den Hinterrädern gefahren seid und angegeben habt. Hast du jemals wieder was von ihm gehört?“

Benny schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Was meinst du damit?“

„Nachdem er von zu Hause weggelaufen war. Kam er irgendwann zurück?“

„Mann, Tyler ist nicht von zu Hause weggelaufen. Es hat ihn erwischt.“

Ich runzelte die Stirn. „Was?“

„Er verschwand eines Nachmittags auf dem Heimweg von der Schule. Ich kann’s nicht glauben, dass du dich nicht mehr daran erinnerst.“

„Ich erinnere mich, dass er von zu Hause weggelaufen ist.“

„Wieso sagst du das immerzu? Dass er abgehauen sei, hieß es nur während der ersten Tage, in denen er verschwunden war. Dann haben sie sein Rad gefunden und seine Schultasche und Hinweise auf einen Kampf. In der Schule hat man monatelang über nichts anderes geredet.“

„Und was ist mit ihm passiert?“

„Er wurde höchstwahrscheinlich ermordet. Seine Leiche liegt vermutlich immer noch in irgendeinem provisorischen Grab irgendwo im Wald. Du erinnerst dich allen Ernstes nicht mehr daran?“

„Langsam … so langsam kommt es wieder …“

„Es war der dreißigste April. Ich weiß es noch ganz genau.“ Benny steckte die Hände in die Taschen, drehte sich leicht zur Seite und blickte über die Stadt. „Der arme Tyler. Er war erst vierzehn.“

„Ich kann’s nicht glauben, dass mir das entgangen ist“, sagte Chrissy später am Telefon. „Wahrscheinlich … wahrscheinlich, weil ich noch nicht wusste, was abging, als es passierte. Und als ich vor ein paar Jahren anfing, der Sache nachzugehen, geschah das eher oberflächlich. Gerade tief genug, um mich davon zu überzeugen, dass die Morde immer noch stattfinden. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass Tylers Verschwinden etwas mit Bubba Moon zu tun gehabt haben könnte.“

„Mach dir nichts draus“, tröstete ich sie. Ich sprach leise, da ich im Garten hinter meinem Elternhaus stand. „Ich hab mich nur noch an die ersten Tage erinnert, als alle erzählten, er sei wegen seinem Dad von zu Hause abgehauen. Ich habe mir eingeredet, dass es so war, obwohl ich doch mitbekommen hatte, dass die Polizei von Mord ausging. Was ist bloß los mit mir?“

„Du wolltest alles hinter dir lassen und ich kann dir das nicht verdenken“, meinte Chrissy. „Aber glaubst du mir? Wenn Moon sich Tyler gegriffen hat, einen von Petes besten Freunden, wird er sich jetzt ohne jeden Skrupel auch die Kinder von Petes anderen Freunden greifen.“

„Aber warum Tyler? Warum nur er? Wir sind alle vierzehn geworden in diesem Jahr. Wenn Moon jeden Monat ein Kind umbringt, warum hat er uns dann nicht alle vier geschnappt?“

„Das wäre viel zu auffällig gewesen. Die Polizei hätte jeden befragt, mit dem wir geredet hatten, und das hätte sie schnurstracks zu Pete Greens Haus geführt.“

„Deshalb hat Moon sich nur einen von uns geholt“, erwiderte ich dumpf. „Hat ihn sich einfach gegriffen, als würde er eine Spielfigur vom Brett nehmen.“

„Ich glaube, genau das ist es. Seine Leute, die mich anlächeln, auf ihre Uhr zeigen … es ist ein Spiel. Er will mich einschüchtern. Man muss ihm Einhalt gebieten.“

„Wie denn? Falls Pete besessen ist … Was machen wir dann? Einen Exorzisten holen? Eine Gebetsrunde abhalten? Ich weiß nicht mal, was der erste Schritt wäre. Das Beste, was wir meiner Ansicht nach tun können, ist, zur Polizei zu gehen, aber das willst du ja nicht. Sie würden Scott zumindest in Schutzgewahrsam nehmen oder so.“

„Bist du dir da sicher? Bist du dir absolut, hundertprozentig sicher? Denn wenn wir zur Polizei gehen und die uns nicht glaubt oder nichts unternehmen kann, lässt Bubba Moon uns büßen. Ich weiß das und du weißt es auch. Er lässt uns dafür büßen, dass wir ihm sein Spiel vermasselt haben. Und das bedeutet, dass Scott oder sonst jemand oder …“

„Was? Chrissy, was?“

„Wie … wie alt ist dein Sohn?“

Ich betrachtete das Telefon, als sei es etwas ganz und gar Ungewöhnliches, ein fremder Gegenstand, der nicht in meine Hand gehörte. Mit steifen Beinen ging ich ins Haus zurück. Ich hatte meinen Sohn den ganzen Abend noch nicht gesehen. Er war in meinem alten Zimmer gewesen. Da war er auch jetzt noch. Saß dort bestimmt und schaute sich irgendeine Fernsehsendung auf seinem Laptop an oder so. Kein Gedanke daran, einmal aufzutauchen, um Luft zu schnappen oder Hallo zu sagen. Und ganz gewiss fühlte er sich nicht genötigt, Konversation zu machen. Dieses Verhalten war mir nicht neu. Es hatte letztes Jahr angefangen. Es hatte angefangen, als er dreizehn wurde.

Ich klopfte an die Tür meines ehemaligen Zimmers und öffnete. Meine Tochter ging über den Flur. „Wo ist er?“, fragte ich.

Sie wusste, wen ich meinte, zuckte nur mit den Schultern und ging weiter.

Steifbeinig und mit trockenem Mund betrat ich das Wohnzimmer, wo Felicity bei meiner Mutter und meiner Tante saß. „Hat jemand Sammy gesehen?“, fragte ich.

Ringsherum Kopfschütteln. Ich nickte. Meine Schlüssel hatte ich in der Tasche. Ich ging zur Haustür hinaus, schloss sie leise hinter mir und rannte dann zu meinem Wagen. Ich stieg rasch ein, steckte den Zündschlüssel ins Schloss. Der Motor sprang an, ich legte den Gang ein und die Türen auf der Beifahrerseite gingen auf, alle beide gleichzeitig. Ein schlanker, dunkelhäutiger Mann in einem eleganten Anzug glitt auf den Beifahrersitz. Hinten stieg ein junges, schwarz gekleidetes Mädchen ein.

„Ich an Ihrer Stelle würde das nicht tun“, sagte der Mann.

„Wo ist mein Sohn?“, schrie ich und wollte ihn packen. Meine Hände wurden ohne die geringste Mühe abgewehrt. Der Mann griff herüber und donnerte meinen Kopf gegen das Lenkrad.

„Wir wissen es nicht“, antwortete er, „aber wir werden es sicher bald herausfinden. Was macht Ihre Nase? Tut mir leid, aber wir können nicht zulassen, dass Sie zu Pete Greens Haus fahren und sich umbringen lassen.“

„Wo ist mein Sohn?“, wiederholte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.

„Er könnte an einem von drei Orten sein“, antwortete der Mann, „oder an einem vierten, den wir noch nicht kennen. Wir haben ihn nicht entführt, wenn Sie das glauben.“

„Genau das glaubt er aber“, meldete sich das Mädchen vom Rücksitz.

„Das dachte ich mir“, sagte der Mann. „Aber das haben wir nicht. Ihn entführt, meine ich.“

Ich betrachtete den Mann auf dem Beifahrersitz. Er war sehr gepflegt. Glatt rasiert. Er trug Handschuhe und in seinem Schoß lag ein Hut. Wie ein Satanist kam er mir nicht gerade vor. Ich drehte mich zu dem Mädchen um. Sie hatte ich schon einmal gesehen. Sie lächelte und ich erkannte sie wieder. Sie war am Abend zuvor in der Bar gewesen – hatte am Nebentisch gesessen, als Chrissy herüberkam.

„Ihr gehört zu den Moon-Anhängern“, sagte ich.

„Falsch“, erwiderte sie.

„Ihr habt mir nachspioniert.“

„Nur ein wenig.“ Wieder lächelte sie. „Und wir haben Ihr Telefon eine Weile abgehört.“

Sie sprachen beide mit Akzent. Mit irischem Akzent, obwohl seiner nicht ganz so ausgeprägt war wie ihrer. Vielleicht war er oft auf Reisen.

„Was wollen Sie?“, fragte ich.

„Wir wollen Ihnen helfen“, antwortete der Mann. „Wir sind Ihre Exorzisten.“

„Ich heiße Walküre“, stellte das Mädchen sich vor.

„Und mich können Sie Mr Pleasant nennen“, sagte der Mann.