
DAS UNRÜHMLICHE ENDE DER SCHWARZEN ANNIS
Die schwarze Annis lebte nicht gern in einem Graben, doch die Zeiten ändern sich und das England ihrer Kindheit gab es längst nicht mehr. Sie kniff die Augen zusammen – linkes Auge blau, rechtes Auge grün – und versuchte sich zu erinnern, wie sie als Kind gewesen war. Es war schon so lange her, dass sie es ganz vergessen hatte.
Hatte sie gelacht und gespielt wie andere Kinder? Hatte sie gekichert und gescherzt? War sie durch die Wiesen und Felder von Leicester gerannt und hatte sich die Sonne auf die Haut scheinen lassen? Höchst unwahrscheinlich. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr fiel ihr wieder ein. An Freunde konnte sie sich trotzdem nicht erinnern, auch nicht ans Kichern oder Scherzen. Es hatte aber anscheinend eine Menge Geschrei gegeben. Oh ja, jede Menge Geschrei.
Annis ging zum Eingang der Höhle. Bei jedem Schritt knirschten Knochen und menschliche Überreste unter ihren Füßen. Es war fast schon Morgen. Sie hasste Morgen. Sie hasste den Morgen, die Mittagszeit, den frühen Nachmittag, den späten Nachmittag und die hellen Abende. Sie hasste eine Menge Sachen.
Woran hatte sie gerade gedacht? Ach ja, an ihre Kindheit. Diese Phase ihres Lebens hatte nun wirklich länger gedauert als gewünscht. Ihre Eltern fürchteten sich vor ihr. Ihr Vater hatte sie für eine Ausgeburt des Teufels gehalten, was sie jedoch immer als Kompliment empfunden hatte. Wann immer sie wütend wurde, wuchsen ihre Fingernägel, wurden lang und spitz, ihre Zähne wurden scharfkantig und ihre Haut färbte sich blau. Warum oder zu welchem Zweck sich ihre Haut blau färbte, hatte sie nie wirklich verstanden, doch ihre Eltern nutzten die Verfärbung als Frühwarnsystem. Annis’ Wutausbrüche waren kein schöner Anblick.
Alles in allem hatte es wahrscheinlich niemanden überrascht, als sie anfing, Menschen zu essen. Die Freunde ihrer Eltern hatten wahrscheinlich genickt, als sie es hörten, vielleicht mit den Schultern gezuckt und so was gesagt wie: „Tja, dass sie Menschen isst, überrascht mich jetzt kein bisschen. Hat schon immer danach ausgesehen. Stimmt doch, oder?“ Die schwarze Annis machte sich nichts daraus. Bis sie zwanzig war, hatte sie sämtliche Bewohner ihres Dorfes verspeist, einschließlich Eltern und allem.
Das war jetzt … wie lange her? Zweihundert Jahre vielleicht. Inzwischen hatte sie graue Strähnen in ihrem schwarzen verfilzten Haar, ihr Gesicht war voller Falten und sie trug ihr Alter wie einen hässlichen Schal. So sah ihr Leben jetzt aus: Sie wohnte in einer Höhle, vor deren Eingang ein Graben verlief, und tagsüber hielten sie Traktoren wach, die das über ihr liegende Feld pflügten.
Eine Ratte huschte vom Graben draußen herein und Annis schnappte sie. Die Ratte war mager und räudig und wand sich in ihrem Griff, aber Annis hatte seit einer Woche nichts gegessen, und so biss sie zu. Die Ratte quietschte und das warme Blut lief ihr die Kehle hinunter.
Sie kaute sie durch bis auf den Schwanz, der immer zu zäh war, und ließ die Reste einfach fallen. Sie hustete einen Haarball hoch, spuckte ihn aus und ging dann weiter zum Feuer in der Mitte der Höhle.
Sie hörte Scrannel zurückkommen, hörte das Scheppern seiner Rüstung und ließ zu, dass ein Hoffnungsschimmer sich in ihre gewöhnlich recht verdrießliche Stimmung stahl. Er beeilte sich. Vielleicht bedeutete dies, dass er Erfolg gehabt hatte. Vielleicht mühte er sich mit jemandem ab. Sie hörte, wie er ausrutschte und mit einem Platsch in den Graben stürzte. Es war ihr gleichgültig, wen er mitgebracht hatte – ein Kind, einen Erwachsenen, einen alten Menschen. Es war ihr wirklich ganz egal. Sie bedauerte jetzt, die Ratte gegessen zu haben – sie hätte sich noch ein wenig länger gedulden sollen. Sie hörte, wie Scrannel vor Schmerzen scharf die Luft einzog. Entweder hatte die Mahlzeit ihm eine reingehauen oder er hatte sich wieder einmal in den Dornen verfangen. Die schwarze Annis leckte sich die Lippen und stellte sich ein pummeliges Kind von vielleicht zehn Jahren vor. Sie war am Verhungern!
Doch als Scrannel am Höhleneingang erschien, war er allein. Die Enttäuschung legte sich wie ein Stein in Annis’ Magen.
„Hallöchen“, grüßte Scrannel. Von seiner Rüstung tropfte das Wasser aus dem Graben. „Ich bin wieder da.“ Natürlich trug er keine richtige Rüstung. Er hatte sie aus einem Sortiment Blechdosen und rostigen Eisenteilen selbst gebastelt. Zusammengehalten wurde sie von Schrauben und Muttern, von Bolzen und ausgefransten Schnurstücken. Sie schepperte beim Gehen. Sie schepperte, auch wenn er nicht ging. Sie schepperte einfach immer.
„Wo ist mein Abendessen?“, fragte die schwarze Annis, auch wenn die Antwort sie gar nicht interessierte. Das Einzige, was eine Rolle spielte, war die Tatsache, dass sie nichts zu essen hatte. Schon wieder nicht.
„Die Straßen sind leer.“ Scrannel zuckte entschuldigend mit den Schultern, was ein ziemliches Getöse auslöste. „Alles schläft.“
„Natürlich schläft alles!“, fauchte Annis. „Es ist Nacht. Du hättest dich in ein Haus schleichen und dir jemanden greifen sollen.“
„Ich hab’s versucht“, versicherte Scrannel, die Augen ganz groß vor lauter Treuherzigkeit. „Aber immer wenn ich in die Nähe einer Tür oder eines Fensters kam, gingen die Lichter an und ich musste mich aus dem Staub machen. Keine Ahnung, woher sie wussten, dass ich da bin. Es ist mir sechs oder sieben Mal passiert.“
Annis verschränkte die Arme. Ihr Kleid aus Sackleinen war vollkommen formlos. „Kannst du dir vorstellen“, fragte sie leise und mit kaum verhaltenem Zorn in der Stimme, „dass sie vielleicht deine bescheuerte Rüstung scheppern hören, die du ja unbedingt tragen musst?“
Scrannel runzelte verwirrt die Stirn. „Du meinst, das hören sie? Ich halte das für höchst unwahrscheinlich, Annis. Ich glaube eher, sie haben alle einen siebten Sinn. Ja, das glaube ich.“
Sie widerstand der Versuchung, ihm sämtliche seiner verdammten Gliedmaßen einzeln auszureißen. Scrannel war, aus Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung, ein Haustier. Seine Mutter war ein Troll, für die sein Vater nichts weiter war als ein verschwommenes Etwas in einer durchzechten, stürmischen Nacht. Somit war Scrannel ein Mischling, ein Bastard, eine Kuriosität. Er hatte milchig weiße Augen, die zu weit auseinanderstanden. Er hatte so gut wie keine Nase, dafür war sein Mund groß genug, um einen ordentlichen Stein verschlucken zu können. Er hatte winzige Zähne und hohe Wangenknochen und lediglich die leiseste Andeutung eines Kinns, auf dem er sich einen Bart wachsen lassen wollte. Diesen Bart versuchte er jetzt schon seit drei Jahren heranzuzüchten. Sein Kinn wirkte leicht flaumig, weiter war er bisher noch nicht gekommen.
Scrannel war ein Idiot, dem das Leben in einem Graben tatsächlich Spaß machte. Und nur weil er abscheulich schmeckte, hatte Annis ihn noch nicht verspeist. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihm ein Stück Bein herausgerissen und ein paar Minuten darauf herumgekaut, bevor sie es ausspuckte. Den Rest der Nacht hatte sie damit zugebracht, sich in einen Fluss zu übergeben. Scrannel war in der Nähe geblieben und hatte sich schließlich erboten, ihr das Haar aus dem Gesicht zu halten, während sie spuckte.
Das war jetzt zwölf Jahre her und er war immer noch da. „Ich weiß was Neues“, berichtete er. Es sollte beiläufig klingen. „Ich glaube, jemand ist mir gefolgt.“
Sie starrte ihn an. „Was?“
„Ich bin mir nicht sicher“, fügte er rasch hinzu. „Aber da war diese Frau, sie hatte blondes Haar und trug einen langen Mantel. Ich hab sie noch nie gesehen und sie kam mir irgendwie, also, fehl am Platz vor.“
„Und weshalb glaubst du, dass sie dir gefolgt ist?“
„Weil sie mir nachgerannt ist, als ich weggelaufen bin.“
Annis spürte, wie ihre Haut anfing, sich blau zu färben.
Scrannel redete schnell weiter: „Ich kann mich natürlich irren. Könnte einfach Zufall gewesen sein. Vielleicht war sie eine Joggerin oder so.“
„Eine Joggerin?“, knurrte Annis. „In einem langen Mantel? Mitten in der Nacht?“
„Und mit einem Schwert.“
„Was?“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ein Schwert bei sich hatte.“
Annis spürte, wie ihre Fingernägel wuchsen. „Das hört sich jetzt aber nicht mehr nach einer Joggerin an, oder?“
Scrannel dachte angestrengt nach, dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Wenn ich ganz ehrlich bin, hört es sich nicht danach an. Und wenn ich es mir jetzt so recht überlege, hat sie, glaube ich, nicht einmal Joggingschuhe getragen. Was ist das für ein Jogger, der keine Joggingschuhe trägt?“
„Du bist ein Idiot“, fauchte Annis.
Seine Rüstung schepperte, als er nickte.
Am Eingang zur Höhle bewegte sich etwas. Scrannel wuselte davon und eine junge Frau mit zerzaustem blondem Haar trat in die Höhle. Sie trug einen langen Mantel über braunen Lederhosen und einer braunen Ledertunika. In der rechten Hand hielt sie ein Schwert.
„Das ist sie“, ließ Scrannel wenig hilfreich vernehmen.
In der linken Hand hielt die Frau ein dickes, aufgerolltes Seil. Sie ließ es in die menschlichen Überreste zu ihren Füßen fallen.
„Nett hier“, murmelte sie. Sie hatte einen Londoner Akzent. Annis mochte Londoner. Sie schmeckten einfach ausgezeichnet.
Scrannel stieß einen Schlachtruf aus und kam angerannt. Die junge Frau setzte entgegen Annis’ Erwartungen nicht ihr Schwert ein. Stattdessen wich sie zur Seite hin aus und klatschte Scrannel im Vorbeistürmen auf den Rücken. Er rannte gegen die Höhlenwand.
Annis spürte, wie ihre Zähne länger wurden. „Wer bist du?“
„Tanith“, antwortete die junge Frau. „Tanith Low.“
Scrannel griff erneut an, aber sie trat ihn mit dem Stiefelabsatz gegen das Stück Blech, das er sich ums Knie gewickelt hatte. Er knallte mit seinem kaum vorhandenen Kinn auf den Boden.
Tanith ignorierte ihn, als er sich vor Schmerzen herumrollte. „Und es ist nur eine Vermutung, sei also nicht beleidigt, wenn es nicht stimmt, aber du musst die schwarze Annis sein. Ich habe schrecklich viel von dir gehört.“
„Ach ja?“
„Aber sicher doch. Die blaue Haut, die langen Fingernägel, die Höhle mit den ganzen Knochen deiner Opfer. Alles sehr beeindruckend.“
Annis’ Unterkiefer sprang mit einem lauten Plopp aus dem Gelenk und ihr Mund stand offen – unwahrscheinlich weit –, damit ihre länger werdenden, scharfkantigen Zähne Platz hatten.
„Großmutter“, sagte Tanith lächelnd, „was hast du für große Zähne?“
„Du weißt nicht alles über mich“, sagte Annis. „Sonst hättest du es nicht gewagt, einen Fuß in meine Behausung zu setzen.“
Tanith zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, dass du unter Arrest stehst, und ich weiß, dass du dich besser nicht widersetzen solltest.“
Die schwarze Annis lachte.
Scrannel hievte sich mühsam auf die Beine und holte zu einem Fausthieb aus, doch Tanith schlug ihm mit dem Schwertgriff auf den Unterarm. Das Stück Blech, das diesen Bereich des Arms abgedeckt hatte, war jetzt stark verbeult. Sie versetzte ihm einen Tritt, und das rostige Eisen, aus dem sein Brustpanzer bestand, klapperte, als er nach hinten kippte.
Tanith blickte hinüber zu Annis. „Ich weiß genug. Ich weiß, dass Sonnenlicht dich bis in alle Ewigkeit in Stein verwandelt. Ich weiß, dass du im Lauf der Jahre Hunderte von Menschen getötet und gegessen hast.“
„Tausende“, korrigierte Annis sie.
„In diesem Fall stehst du gleich doppelt unter Arrest.“
„Du hättest nicht allein herkommen sollen.“
Scrannel lief in die dunkle Ecke der Höhle, wo er seine Sachen aufbewahrte, und schnappte sich den hölzernen Speer, an dem er wochenlang herumgeschnitzt hatte. Er lief wieder zurück zu Tanith, und als er so nah bei ihr war, dass er sie unmöglich verfehlen konnte, warf er den Speer und verfehlte sie. Der Speer segelte direkt an ihr vorbei die Höhle hinaus. Sie brauchte sich nicht einmal zu ducken.
Tanith sprang hoch und wirbelte herum. Ein Bein kam aus dem Nichts und traf Scrannels Kiefer. Er drehte sich um seine eigene Achse und schepperte, kippte um und schepperte, stürzte zu Boden und schepperte, und dann lag er reglos da und schepperte nicht mehr.
Annis beugte die Knie, bereit zum Angriff. „Irgendwelche letzten Wünsche?“
Tanith zuckte mit den Schultern. „Umfallen und schlafen?“
Dem ersten Schlag der Fingernägel konnte sie ausweichen, aber nur knapp. Annis ließ nicht locker und zwang den Eindringling zum Rückzug. In Taniths Augen stand Panik, als sie Annis mit dem Schwert abwehrte, doch diese arbeitete beidhändig, was zehn langen Messern gleichkam, die durch die Luft schnitten.
Ein Stiefel traf Annis’ Knie. Sie wankte nach hinten und fauchte. Tanith drängte nach vorn, riss das Schwert hoch und führte den Hieb dann niedrig aus. Aber Annis hatte die Finte vorhergesehen. Die Nägel ihrer linken Hand zwangen die Klinge nach unten, während ihre rechte Hand auf Taniths hübsches Gesicht zielte, um es zu zerkratzen.
Im letzten Moment hob Tanith einen Ellbogen, traf damit Annis’ Arm, sodass die Hand ihr Ziel verfehlte. Das Manöver bedeutete allerdings, dass sie nur noch eine Hand an ihrem Schwert hatte. Annis machte eine rasche Bewegung mit der linken Hand und entriss Tanith das Schwert. Es fiel zwischen sie, und Annis stieg darüber hinweg, dabei schossen ihre Hände nach vorn.
Tanith wankte nach hinten, wobei sie verzweifelt versuchte, weiteren Hieben auszuweichen. Annis’ Krallen schrammten wiederholt über die Höhlenwand, aber sie lächelte jetzt und freute sich schon auf die bevorstehende Mahlzeit.
Tanith war jedoch immer noch ständig in Bewegung, immer gerade so weit entfernt, dass die Fingernägel sie verfehlten und stattdessen über die Wand kratzten. Annis verlor langsam die Geduld, doch Tanith durchbrach ihre Deckung, boxte sie mitten auf die Nase und war sofort wieder außer Reichweite.
An ihren Händen sah Annis, dass sie die höchste Blaustufe erreicht hatte. Sie spürte, wie die Wut sich aufbaute, und stieß einen Schrei aus. Ihr Angriff steigerte sich zu einem ekstatischen Wirbel von Krallen, die nichts als Höhlenwand trafen. Sie stürzte sich auf Tanith, die zur Wand sprang und seitlich daran entlanglief. Annis brüllte ihre Wut hinaus und versuchte, sie zu fassen zu kriegen. Doch jetzt hing Tanith kopfunter an der Decke, direkt über ihr, und als Annis herumwirbelte, sprang Tanith ab, schlug einen Salto und landete neben ihrem Schwert, das sie rasch aufhob.
Sie nahmen den Kampf wieder auf – Schwert gegen Fingernägel – und jetzt entdeckte Annis etwas Neues in Taniths Augen. Die Panik war weg, die Verzweiflung verschwunden. Und Annis wurde plötzlich klar, dass es sie nie gegeben hatte. Instinktiv wusste sie, dass dies alles so geplant war. Aber warum? Was hatte Tanith mit dem simplen Verteidigen und Ausweichen von Angriffen zu gewinnen?
Tanith duckte sich unter einem weiteren Hieb weg und ließ sich auf den Boden fallen. Sie streckte mit Schwung den Fuß aus und traf Annis’ Wade. Annis stürzte und versuchte wieder aufzustehen, doch Tanith ließ den Stiefelabsatz in ihren Kiefer krachen.
Benommen holte Annis aus und schlug in die Richtung, in der Tanith eben noch gestanden hatte, doch ihre Fingernägel zerfetzten lediglich Luft. Als sie spürte, wie sich etwas um ihren Knöchel legte, schaute sie hin.
„Was tust du da?“, fragte sie matt.
Tanith hatte ihr dickes Seil um Annis’ Bein gebunden, und erst jetzt fiel Annis auf, dass das andere Seilende außerhalb der Höhle liegen musste. Tanith zog kurz daran, richtete sich dann auf und trat zurück.
„Es ist Morgen“, verkündete sie. „Siehst du das da draußen? Das ist Sonnenlicht.“
Annis schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. „Und?“
„Und“, fuhr Tanith fort, „da draußen sitzt ein Bauer auf seinem Traktor. Das andere Ende des Seils ist an diesen Traktor gebunden, und er hat die Anweisung, ganz, ganz langsam loszufahren, sobald er einen Ruck am Seil spürt.“
Annis runzelte die Stirn. Das Seil begann sich zu spannen. Einen Augenblick später war es straff, und Annis merkte, wie sie zum Höhleneingang gezogen wurde.
„Du wirst zu Stein“, sagte Tanith, „für alle Ewigkeit. Das willst du nicht, oder doch?“
Annis setzte sich auf, das grüne und das blaue Auge weit aufgerissen, und fuhr mit ihren scharfen Fingernägeln über das Seil.
„Ich fürchte, die sind ein wenig stumpf geworden“, meinte Tanith. „Über mein Schwert zu ratschen, war schlimm genug, aber dann noch die Höhlenwand? Das hat ihnen den Rest gegeben.“
Annis kreischte, als sie langsam in Richtung Höhleneingang gezogen wurde. Wieder und wieder schleifte sie ihre Fingernägel über das Seil.
„Du wirst es nie rechtzeitig durchschneiden“, sagte Tanith. Sie zog ein Paar Handfesseln aus ihrer Manteltasche und warf sie auf den Boden. „Leg dir die an.“
„Niemals!“, brüllte Annis.
„Wie du meinst.“
Annis bearbeitete das Seil mit neuer Kraft und durchtrennte einen Strang. Wie es aussah, blieben danach nur noch ungefähr zweihundert übrig. Sie drehte sich um.
„Scrannel! Scrannel! Wach auf!“ Scrannel rührte sich nicht. Er schnarchte leise.
Annis blickte Tanith finster an. „Das kannst du nicht machen! Das geht einfach nicht!“
„Du isst Menschen“, erwiderte Tanith. „Ich kann sehr wohl, es sei denn, du legst dir diese Handschellen an und lässt zu, dass ich dich ins Gefängnis bringe.“
Das Sonnenlicht war nur noch Zentimeter entfernt.
„Okay!“, kreischte Annis. Tanith kickte die Handschellen zu ihr hinüber und Annis ließ sie um ihre Handgelenke herum zuschnappen. Die Kette dazwischen hing durch. Sofort verließen sie ihre magischen Kräfte. Ihre Haut verlor die blaue Färbung, ihre Zähne und Fingernägel wurden kürzer und ihr Kiefer hängte sich wieder ein.
„Ich hasse dich“, sagte Annis.
Tanith nickte. „Das tun noch eine Menge anderer Leute in Handschellen.“
„Falls ich jemals wieder rauskomme …“
„Kommst du und schnappst mich? Reißt mich in Stücke? Schneidest mir den Kopf ab? Das habe ich alles schon gehört, Annis. Es beeindruckt mich nicht.“
Annis ignorierte sie. „Falls ich jemals wieder rauskomme aus dem Gefängnis, finde ich dich und esse dich auf.“
Tanith lächelte. „Na gut, das habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gehört.“ Sie packte Annis am Arm und zog sie auf die Beine. „Ich habe draußen einen Sack. Den wirst du dir überziehen müssen, bis wir im Lieferwagen sind. Nur, damit dich kein Sonnenstrahl trifft. Das verstehst du hoffentlich.“
Annis wurde wieder munter. „Ist der Sack hübsch?“
„Ausgesprochen elegant, für einen Sack.“
Auf dem Weg nach draußen kamen sie an Scrannel vorbei. Er schnarchte friedlich im Dreck. Annis gab ihm einen liebevollen Tritt, er murmelte etwas und schnarchte weiter.
„Dein Freund?“, fragte Tanith.
„Haustier“, antwortete Annis.
Tanith nickte. „Das sind die Besten alle.“