
ZWEI
Am nächsten Tag sah ich keinen der anderen, doch am übernächsten begann die Schule wieder und wir hockten erneut alle zusammen. Alle außer Chrissy. Ich begegnete ihr ein paarmal auf dem Flur, sprach sie jedoch nicht an. In dem ganzen Trubel zu Beginn eines neuen Schuljahrs war das, was in Bubba Moons Haus passiert war, rasch vergessen. Pete kam am nächsten Tag jedoch nicht in die Schule und am übernächsten auch nicht. Als er auch am dritten Tag nicht erschien, wartete Chrissy Brennan an meinem Schließfach auf mich.
„Hast du was von Pete gehört?“, fragte sie, ohne zuerst Hallo zu sagen. Sie hatte das dichte braune Haar, das immer so gesund glänzte, zurückgebunden. Auch wenn ich damals noch ein Kind war, wusste ich doch schon genug, um zu ahnen, dass sie wahrscheinlich nicht so hübsch war, wie ich dachte. Mein Bruder hatte einmal über ein Mädchen gesprochen, das er mochte, das schönste Mädchen, das ihm je begegnet war. Irgendwann traf ich sie und sie war okay, aber nichts Besonderes. Sie hatte ein nettes Lächeln, doch ihre Augen standen zu dicht beieinander. Mein Bruder allerdings sah das nicht. Seine Verliebtheit machte ihn blind, und ich nehme an, bei mir war es genauso.
Was ich sah, wenn ich Chrissy Brennan anschaute, waren schöne blaue Augen, ein bezauberndes Lächeln und ein Gesicht, das ich stundenlang betrachten konnte. Sie war schlank und sportlich, trug ausgefranste Jeans und T-Shirts, und obwohl ihre Freundinnen uns für ausgemachte Trottel hielten, hing sie immer noch mit uns ab, wenn ihr danach war. Ich wusste, sie mochte Das Model und der Schnüffler und Knight Rider, und ich fand sie wunderschön, war mir aber immer bewusst, dass ich meiner Wahrnehmung wahrscheinlich nicht trauen konnte.
Erst Jahre später, als ich mir alte Fotos anschaute, erkannte ich, dass Chrissy Brennan tatsächlich so schön war, wie ich immer geglaubt hatte, und bei dieser Erkenntnis musste ich ein wenig lächeln.
„Er war ein paar Tage nicht in der Schule“, erwiderte ich, aber das wusste sie natürlich bereits. Deshalb hatte sie ja nach ihm gefragt.
„Ich will nach der Schule mal bei ihm zu Hause vorbeischauen, sehen, ob er okay ist. Willst du mitkommen?“
Wahrscheinlich wollte sie nur nicht allein hingehen, dennoch war da dieses kleine Hoffnungsflämmchen, das in mir aufflackerte. Vielleicht, möglicherweise wollte sie ja doch eine Weile mit mir zusammen sein, ohne dass die anderen uns in die Quere kamen.
„Klar“, antwortete ich. „Gleich nach der letzten Stunde?“
„Ja. Oder hattest du was vor?“
Ich schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander, damit ich keine weiteren Fragen stellte. Wenn ich aufgeregt war, hatte ich die Angewohnheit, nach unbedeutenden Details zu fragen und mich dadurch todsicher zu verraten. Wir verabredeten uns noch am Schultor, bevor Chrissy mit ihren Büchern unter dem Arm davonmarschierte. Ich ging in meine Doppelstunde Geschichte und saß die Zeit ab, bis es läutete. Dann schnappte ich meine Tasche, lief zum Tor und wartete dort auf Chrissy. Sie kam und wir gingen zusammen weg, und das vor den Augen sämtlicher Schüler im Bus. Das war für mich ein guter Moment.
„Was weißt du über Bubba Moon?“, fragte sie und brach damit das Schweigen.
Mir kam plötzlich der Verdacht, dass es in unserer gemeinsamen Zeit nur um die Fakten gehen könnte. „Als er noch lebte? Er war Satanist. Er übte schwarze Magie aus und die Mitglieder seines Kultes trafen sich in seinem Haus. Mein Bruder sagt, dass man ihren Singsang hören konnte, wenn man nachts vorbeikam und der Wind aus der richtigen Richtung wehte – und manchmal auch Schreie.“
„Hast du gewusst, dass die Polizei gegen ihn ermittelt hat?“
Das wusste ich nicht. „Weshalb?“
Chrissy schaute mich an. „Mord. Es wurden Kinder vermisst, und sie glaubten, Bubba Moon und sein Kult seien dafür verantwortlich.“
„Ich hab nichts von vermissten Kindern gehört.“
„Nicht hier, nicht bei uns in der Stadt. Nicht mal in unserem Bundesstaat. Aber in den Gegenden, in denen die Mitglieder des Kults lebten, wurde vor jedem seiner Treffen ein Kind als vermisst gemeldet. Angefangen hat es vor vielen Jahren, schon in den Sechzigern. Warum haben sie nach seinem Tod wohl seinen Garten umgegraben, was glaubst du?“
„Den Garten umgegraben? Das ist mir neu.“
„Sie haben’s aber getan. Jeden Meter haben sie umgegraben und nach Leichen gesucht, aber nie welche gefunden.“
„Du liebe Zeit, woher weißt du denn das alles?“
„Von unserer Haushälterin. Sie sagt, dass alle es wissen, aber nicht gern darüber reden.“
„Das ist ja ganz schön gruselig“, erwiderte ich. „So jemand lebt in unserer Stadt … Und jeder von uns hätte verschwinden können.“
„Unsere Haushälterin sagt, Bubba Moon sei ein böser Mensch gewesen. Richtig, von Grund auf böse. Nicht nur schlecht. Verstehst du?“
Ich nickte.
„Hast du es gespürt?“, fragte sie. „Du hast, stimmt’s? Da unten im Keller? Du hast gespürt, wie böse er war, nicht wahr?“
Dieses Gefühl, dieses entsetzliche Gefühl von Boshaftigkeit, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten. „Ich nehme an.“
Chrissys Augen blitzten auf. „Du nimmst es an? Das ist alles? Du nimmst an, dass du was gespürt hast?“
„Nein“, sagte ich rasch, „es war so. Ich meine, ich hab’s gespürt.“
Chrissy nickte, zufrieden mit meiner Antwort. „Ich glaube, er war so böse, dass seine Bosheit auf das Haus übergegangen ist. So war’s, wenn du mich fragst. Deshalb hat es sich dort so angefühlt. Besonders im Keller. Wahrscheinlich ist es im Keller am stärksten, weil er dort starb. Und dieser Kreis, der Kreis, in den Pete sich gelegt hat …“
Sie hatte Angst. Sie hatte tatsächlich Angst, als wir an diesem schönen warmen Nachmittag die Straße entlanggingen. „Du glaubst, dass er deshalb nicht in die Schule gekommen ist?“ Ich war mir nicht sicher, ob ich eine Antwort auf meine Frage hören wollte.
Chrissy wurde rot. Sie schaute mich nicht an. „Ich weiß es nicht. Vielleicht. Wenn Bubba Moons Bosheit auf ein Haus übergehen kann, warum nicht auch auf eine Person?“
„Weil er jahrelang in dem Haus gewohnt hat“, erwiderte ich, als sei es ein wissenschaftliches Prinzip. „Das ist wie mit einem Gestank, der ewig irgendwo rumgehangen ist. Der verliert sich auch nicht einfach, wenn man die vergammelten Sachen aus dem Zimmer schafft. Es dauert eine Weile. Man muss lüften und so. Wenn der Geruch lange genug drin war, bleibt er auch. Pete war nur wenige Minuten in dem Kreis. Und darin gelegen hat er lediglich ein paar Sekunden.“
„Aber ist dir aufgefallen, wie krank er am ersten Tag nach den Ferien aussah? Er war ganz blass und hatte Ringe unter den Augen.“
Das war mir nicht aufgefallen. Aber mir war aufgefallen, dass Chrissy mit mir Richtung Petes Viertel gegangen war, ohne mich ein Mal nach dem Weg zu fragen.
Pete wohnte in einer ruhigen Straße und wie alle anderen Häuser hatte auch seines ein Stück Rasen davor. Um den Garten hinter dem Haus lief ein Holzzaun. Wir kamen an einem Mann vorbei, der auf den Bus wartete, und überquerten die Straße. Auf der anderen Straßenseite lehnte eine Frau Zeitung lesend an einem Laternenpfahl. Es standen noch ein paar andere Leute herum, und alle bemühten sich nach Kräften, nicht neugierig zu erscheinen. Chrissy schaute mich an und runzelte leicht die Stirn.
Wir gingen den Weg zur Haustür hinauf und ich klopfte.
„Sie beobachten uns“, flüsterte Chrissy.
Ich blickte stur geradeaus. Einen ganzen Haufen fremder Leute auf der Straße zu sehen, die alle mich und Chrissy anstarrten, wäre zu viel gewesen. Damit hätte ich nicht umgehen können. Das wäre wie eine Szene aus Invasion der Körperfresser gewesen. Ich hatte den Film ein Jahr zuvor zufällig im Fernsehen gesehen und anschließend Albträume gehabt. Ein Schauer überlief mich. Mein Mund war ganz trocken. Niemand kam an die Tür, um zu öffnen.
Ich zupfte Chrissy am Ärmel und sie folgte mir ums Haus herum. Vor dem Wohnzimmerfenster blieben wir stehen. Petes Eltern saßen auf der Couch und schliefen. Der Fernseher lief und sämtliche Lichter brannten, obwohl es noch Stunden bis zum Sonnenuntergang waren. Schweigend gingen wir weiter zur Rückseite des Hauses, wo Petes Fenster lag. Wir schauten hinein.
Pete saß mitten im Zimmer auf dem Boden, die gespreizten Beine ausgestreckt, die Schultern hochgezogen. Er hatte den Kopf gesenkt. Die Augen geschlossen. Etwas war über ihm. Etwas Flirrendes, wie Hitze, die vom Asphalt aufsteigt. Allein vom Hinschauen tat mir der Kopf weh. Alle paar Sekunden wurde das Flirren fast zu etwas Festem, zur Gestalt eines Mannes, der sich herunterbeugte und mit den Händen Petes Kopf umfasste.
Chrissy gab ein Geräusch von sich, etwas zwischen einem Keuchen und einem Wimmern, und als die Gestalt des Mannes das nächste Mal für kurze Zeit sichtbar wurde, schaute er uns direkt an.
Wir schrien beide auf, wichen vom Fenster zurück und flohen. Wir hatten gerade den Gartenweg zur Straße erreicht, als die Haustür aufging und Petes Mom herauskam.
„Hallo“, begrüßte sie uns strahlend.
Wir hielten mitten im Flüchten inne und blieben betreten stehen.
„Pete ist in seinem Zimmer“, sagte seine Mutter und trat beiseite. „Kommt rein. Ich sage ihm, dass ihr da seid.“
Ich wusste, wir hätten abhauen sollen. Jede Faser meines Körpers sagte mir, hau ab, verschwinde. Doch stattdessen senkten wir den Kopf, alle beide, und betraten gehorsam das Haus. Die Tür fiel hinter uns ins Schloss.
„Pete!“, rief seine Mom. „Deine Freunde sind da!“ Sie lächelte uns zu. „Nett von euch, dass ihr vorbeikommt. Er hat sich nicht wohlgefühlt in den letzten Tagen.“
Dann drehte sie sich um, ging zur Couch und setzte sich wieder neben ihren Mann. Im nächsten Augenblick sank ihr Kinn auf die Brust und sie war wieder eingeschlafen.
„Hallo“, grüßte Pete, als er auf dem Weg in die Küche an uns vorbeikam.
Chrissy und ich schauten uns an und folgten ihm. Er stand mit dem Rücken zu uns vor dem Kühlschrank.
„Ihr seid hergekommen, weil ihr wissen wollt, wie’s mir geht, was?“, fragte er.
„Du warst nicht in der Schule“, erwiderte Chrissy. Ihre Stimme klang seltsam belegt.
„Nö, war ich nicht.“ Er wartete noch einen Augenblick, bevor er den Kühlschrank öffnete. „Mir war nicht gut. Jetzt geht’s aber schon wieder besser. Will einer von euch was trinken?“
„Nein, vielen Dank“, sagte Chrissy. „Nein danke“, sagte ich.
„Ich schon“, sagte Pete, holte ein Saftpäckchen aus dem Kühlschrank, schloss die Tür und drehte sich um. „Haben sie euch viele Hausaufgaben aufgebrummt?“
Chrissy antwortete nicht. Wahrscheinlich war sie der Ansicht, ich sei jetzt dran.
„Es geht“, antwortete ich. „Was hattest du?“
„Mir war nicht gut.“
„Grippe?“
„Einfach nicht gut.“
„Pete“, begann Chrissy, „hat es etwas mit dem zu tun, was in Bubba Moons Haus passiert ist?“
Pete schaute sie an, schaute uns beide an und blickte dann hinunter auf sein Saftpäckchen. Seine rechte Hand zitterte. Er erinnerte mich an meinen Großvater, der Parkinson gehabt hatte und dessen Hände deshalb ständig gezittert hatten. Irgendwann wurde es so schlimm, dass er nicht einmal mehr seine Pillen einnehmen konnte, weil sie ihm einfach aus der Hand fielen und über den Boden kullerten.
Dann hörte das Zittern bei Pete auf, er öffnete das Saftpäckchen mühelos und trank langsam einen großen Schluck. Als er fertig war, wischte er sich den Mund am Ärmel ab, rülpste und grinste wie ein kleiner Junge. „Sorry, Chrissy, was hast du gesagt?“
„Nichts“, antwortete ich, bevor Chrissy ihre Frage wiederholen konnte. „Wir wollten nur sehen, ob du okay bist. Und du bist okay, es geht dir gut und das freut uns. Wir müssen jetzt gehen.“
Pete machte ein enttäuschtes Gesicht, sah fast schon komisch aus. „Schon? Aber ihr seid doch gerade erst gekommen!“
„Wir müssen gehen“, wiederholte ich.
„Ja“, bestätigte Chrissy. „Meine Mom wartet draußen im Auto.“
Pete runzelte die Stirn. „Aber ihr seid doch zu Fuß gekommen.“
Chrissy wich zurück, doch ich war wie erstarrt. „Woher weißt du das?“, wollte ich wissen und er schaute mich an. Als unsere Blicke sich trafen, sah ich wieder dieses Flimmern direkt über seinem Kopf und das flackernde Bild des Mannes hinter ihm.
Meine Gedanken wurden langsamer und etwas Schweres legte sich wie eine dicke Decke auf meinen Verstand. Es glättete die scharfen Kanten, dämpfte die scharfen Stimmen und verdunkelte und verlangsamte alles zu einem lethargischen Dahinkriechen. Mir fielen die Augen zu. Mich verließen die Kräfte. Meine Energie floss durch meinen Körper in die Füße und verteilte sich über dem Boden. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich auszuruhen, wie nach zu viel Essen an Thanksgiving. Ich gähnte, es war ein gewaltiges Gähnen und mein Kopf neigte sich nach vorn, ganz langsam, sachte … Chrissy riss mich am Arm, zerrte mich unter dieser Decke hervor und Kraft und Angst durchströmten mich. Bevor ich wusste, was ich tat, folgte ich ihr aus dem Haus und den Gartenweg hinunter. Die Leute auf der Straße drehten die Köpfe in unsere Richtung.
Ich stieß Chrissy an und wir rannten los.
Jemand rief etwas und ich schaute mich um. Sie verfolgten uns. All diese Leute kamen hinter uns her. Sie waren größer und kräftiger und schneller, es waren schließlich alles Erwachsene, und bei einem normalen Wettrennen würden sie uns schlagen. Also nahm ich Chrissys Hand, zog sie wieder von der Straße und durch den Vorgarten einer netten alten Dame, deren Blumen wir zertrampelten. Wir rannten um ihr Haus herum, sprangen und hangelten uns über den Zaun und rannten zur Straße hinter dem Haus. Wir hörten ein lautes Krachen, und als wir uns umschauten, sahen wir, wie der Holzzaun explodierte und ein Mann durch die dabei entstandene Lücke lief.
Chrissy immer noch fest an der Hand, nahm ich eine Abkürzung durch die Gasse, die zum Parkplatz hinter dem Green-Fields-Einkaufszentrum führte. Wir hüpften dort auf die niedrige Mauer, sprangen auf der anderen Seite zum fast leeren Parkplatz hinunter und rannten weiter. Zu dieser Tageszeit parkten die meisten Leute vor dem Einkaufszentrum auf deren anderen Seite. Wir mussten unter Menschen. Im Beisein vieler Leute würden sie uns nichts tun. Hoffte ich.
Chrissy schaute zurück und schrie. Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Ich wusste, dass sie hinter uns waren. Ich wusste, dass sie aufholten. Ich wusste auch, dass wir nur noch ein paar Augenblicke bräuchten, um in Sicherheit zu sein.
Wir liefen zum Hintereingang des Einkaufszentrums. Die Türen glitten viel zu langsam auf. Ich quetschte mich durch die Lücke, zerrte Chrissy hinter mir her, rannte die Treppe hinauf und dann durchbrachen wir die unsichtbare Barrikade und befanden uns in einer Blase, in der Sicherheit herrschte. Plötzlich waren wir mitten zwischen Läden und Ständen, unter Musikberieselung und umgeben von Menschen – Mütter mit Kindern, Jugendliche, Väter und Geschäftsleute, Verkäuferinnen, Leute, die Flugblätter verteilten, und Leute, die Geld für irgendwelche Hilfsorganisationen sammelten. Und wir rannten nicht mehr, sondern mischten uns zügig unter alle und alles. Erst jetzt drehte ich mich um, erst jetzt schaute ich zu unseren Verfolgern zurück. Sie standen am Rand der in meiner Vorstellung existierenden Blase und blickten mich und Chrissy an. Sie wurden um ihre Beute gebracht. Langsam zogen sie sich zurück, bis wir sie in der Menge aus den Augen verloren.
Ich rang immer noch nach Atem, doch Chrissy war fitter als ich und blickte sich bereits nach Hilfe um. Sie entdeckte einen Mann vom Sicherheitsdienst des Einkaufszentrums und drückte meinen Arm. Wir gingen schnell hinüber. Er stand am Rand des Restaurantbereichs, die Daumen in den Gürtel gehakt. Er wirkte gelangweilt und unscheinbar, aber er war ein Sicherheitsmann des Einkaufszentrums mit einem Walkie-Talkie, und auch ein Sicherheitsmann des Einkaufszentrums mit einem Walkie-Talkie schaffte es, in maximal zwei Minuten richtige Polizisten hierherzuholen.
Direkt bevor wir den Wald aus Menschen verließen, praktisch zwei Schritte bevor wir in den freien Raum vor dem Sicherheitsmann traten, hielt Chrissy mich fest.
Der Sicherheitsmann sagte etwas in sein Walkie-Talkie. Lauschte auf die Antwort und lachte in sich hinein. Ein Gedanke, der in keinerlei Zusammenhang mit der Gefahr stand, in der wir uns befanden, schwebte in mein Bewusstsein wie ein Luftballon, der sich von seiner Schnur gelöst hat. Ich fragte mich, ob Sicherheitskräfte in Einkaufszentren oder überhaupt jeder, der ein Walkie-Talkie benutzte, sich einem speziellen Training unterziehen musste, um verstehen zu können, was ein anderer über ein solches Walkie-Talkie sagte. Jedes Mal wenn ich an so jemandem vorbeiging und das Ding meldete sich gurgelnd, hörte ich lediglich ein verwirrendes Durcheinander aus abgehackten Tönen und Geknister.
Der Gedanke verflog, als ich den Mann bemerkte, der hinter dem Sicherheitsmann stand. Er schaute uns direkt an und lächelte. Links von ihm stand eine Frau, die uns ebenfalls im Blick hatte. Ein weiterer Mann ging vorbei, nickte dem Sicherheitsmann freundlich zu und dieser nickte zurück. Dann lächelte dieser Mann uns an und hob sein T-Shirt hoch. Wir sahen das Messer in seinem Hosenbund und wichen zurück.
Mitten im Green-Fields-Einkaufszentrum gab es einen abgesenkten Bereich mit Sitzgelegenheiten. Dort saßen Chrissy und ich eine Stunde lang eng aneinandergeschmiegt, ohne ein Wort zu sagen. Ein Nachbar von Chrissy kam vorbei, sah uns und witzelte, dass ich wohl Chrissys neuer Freund sein müsse. Trotz allem wurde ich rot. Als Chrissys Nachbar fragte, ob er sie mit nach Hause nehmen könne, schaute Chrissy mich an. Sie hätte zu gern Ja gesagt, wollte mich aber nicht allein lassen. Ich sagte ihr, sie könne ruhig gehen. Ich käme schon klar.
Und ich kam auch klar. Ich verließ das Einkaufszentrum mitten im Exodus der Kundenmassen und ging rasch nach Hause. Von den Leuten, die hinter uns her waren, sah ich niemanden. Niemand folgte mir – zumindest fiel mir nichts auf. Ich kam nach Hause und alles war normal, mein Dad kam von der Arbeit, wir aßen zu Abend und ich schaute mir Airwolf an und dann noch Knight Rider und ließ kein Wort über das Geschehene verlauten.
Die Drohung war deutlich. Ein Wort zu dem Sicherheitsmann und er stirbt. Und die Drohung galt nicht nur Sicherheitsleuten in Einkaufszentren. Irgendwie wusste ich, dass die Drohung jedem galt, an den ich mich Hilfe suchend wenden könnte.
Ich fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Chrissy erzählte mir später, dass es ihr genauso ging.
Ich verbrachte das Wochenende im Haus und verließ mein Zimmer nur, wenn es nicht anders ging. Ich versuchte, Hausaufgaben zu machen. Ich versuchte zu lesen. Ich fürchtete den Montagmorgen. Was, wenn Pete wieder in der Schule war? Was, wenn ich in die Klasse kam und er saß da auf seinem Platz mit dem flackernden Bild des Mannes, der hinter ihm aufragte?
Doch der Montag kam und Petes Platz blieb leer. Er blieb die ganze Woche leer und auch die Woche danach. Dann kam die Nachricht, dass seine Eltern ihn von der Schule genommen hätten. Alle wollten von mir wissen, was passiert war, was mit meinem Freund los sei. Doch ich zuckte nur mit den Schultern und erklärte, dass ich nicht mit ihm gesprochen hätte. Irgendwann hörten die Fragen auf.
Vier Monate später wachte ich eines Nachts auf, weil jemand vor meinem Fenster meinen Namen rief. Ich stand auf und schob die Vorhänge auseinander. Der Neumond am bewölkten Himmel warf kaum Licht in unseren Garten hinter dem Haus, doch ich sah Petes blasses Gesicht. Er lächelte zu mir herauf.
Er rief leise meinen Namen und kicherte. Dann schoben sich Wolken vor den Mond, und als der Mond wieder zu sehen war, war Pete verschwunden.
Ich legte mich wieder ins Bett, doch auch in dieser Nacht schlief ich nicht.