Vignette

NEUN

Walküre stellte sich vor Ryan, und Skulduggery rückte seine Krawatte zurecht.

„Ausgezeichnet“, meinte er, „ihr seid mitten in unsere Falle getappt.“

Foe blickte sich mit hochgezogener Augenbraue in dem leeren Einkaufszentrum um. „Das ist also eine Falle, ja? Und wir sind jetzt an dem Punkt, an dem die ganzen Sensenträger erscheinen? Das ist die Stelle, an der wir uns ergeben, weil wir zahlenmäßig total unterlegen sind und ihr uns in unsere Zellen karrt?“

„Im Großen und Ganzen, ja.“

Foes Grinsen wurde breiter. „Ist die Falle schon zugeschnappt?“

„Ich werde dies nicht mit einer Antwort würdigen“, erwiderte Skulduggery.

Samuel stand hinter Obloquy. Er schwitzte erbärmlich. Ryan sah an seiner Miene, wie angespannt er war. Er schien Schmerzen zu haben.

„Eurem Schoßhündchen scheint es nicht so gut zu gehen“, bemerkte Walküre.

Foe warf einen Blick zurück und zuckte dann mit den Schultern. „Bei Sonnenuntergang will ein Vampir nichts anderes mehr, als sich die Haut herunterzureißen und alles Lebendige in Sichtweite umzubringen. Im Moment verschont uns davon nur der letzte Tropfen Serum, den er eingenommen hat. Dein Freund hat etwas Ähnliches eingenommen, nicht wahr? Wie hieß er gleich wieder? Caelan?“

Walküre straffte die Schultern, ihr Ton wurde eisig. „Er war nicht mein Freund.“

„Ihr habt euch nicht im Guten getrennt, hab ich recht? Aber du brauchst nicht auf meine Frage zu antworten. Ich habe gehört, dass es so war. Ungut war es allerdings eher für ihn als für dich, stimmt’s?“

„Wir reden hier nicht über Vampire“, murmelte Ryan.

Foe lächelte und Mercy lachte. „Hab ich’s nicht gesagt? Er hat sich in sie verknallt.“

„Und wenn schon?“, fauchte Walküre. „Er ist ein netter Kerl. Gut möglich, dass wir es miteinander versuchen, nachdem wir euch alle rundgemacht haben. Bist du eifersüchtig, weil zwei Menschen sich mögen und niemand dich je mögen wird – es sei denn, er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank?“

Mercy blickte sie finster an. „Mich haben schon viele gemocht.“

„Klar doch, ich hab davon gehört.“

Mercys finsterer Blick wurde noch finsterer. „Nicht so.“

„Du brauchst dich vor mir nicht zu rechtfertigen.“

„Sagt das Mädchen, das mit einem Vampir ging.“

„Sagt die Verrückte, die mit jedem ging.“

„Detektiv Pleasant“, unterbrach Foe die Unterhaltung, gerade als sie interessant zu werden begann, „du bist verdächtig still geworden. Einem Streit aus dem Weg zu gehen, sieht dir gar nicht ähnlich.“

„Macht einfach weiter“, erwiderte Skulduggery mit gesenktem Kopf. „Kümmert euch nicht um mich …“

Foe runzelte die Stirn. „Was machst du da?“

Skulduggery wartete einen Moment, blickte dann auf und zeigte ihnen sein Handy. „Ich hab nur eine SMS losgeschickt. Bald sollte Verstärkung hier sein.“

Obloquy ließ die Schultern hängen. „Ich hab’s dir gesagt, wir hätten sie einfach angreifen sollen“, knurrte er. „Aber nein, du musst ja quatschen und geistreiche Bemerkungen austauschen.“

„Halt die Klappe, Obloquy“, raunzte Foe. „Gut, Detektiv. Du willst gleich zum Geschäft kommen? Meinetwegen. Bringt sie um.“

Walküre schob Ryan ein Stück zurück, als Obloquy auf sie zukam und Mercy auf Skulduggery zusteuerte.

„Klar doch, ich übernehme den Kraftprotz, kein Problem“, meinte sie.

Foe blieb, wo er war, den Blick auf Ryan gerichtet. Hinter ihm schwitzte Samuel.

Mercy öffnete den Mund, und Skulduggery wich einem Energiestrahl aus, der eine Furche in die Wand hinter ihm zog. Er sprang hinter einen Pfeiler, doch der Strahl wurde stärker, drang mitten durch den Pfeiler hindurch und riss Skulduggery den Hut vom Kopf.

Obloquy legte die Handflächen an die Schläfen und drückte, als wollte er seinen eigenen Kopf zerquetschen. Walküre schwankte. Sie sank auf ein Knie und hob die Hände, wie um sich zu schützen. Ryan wollte ihr helfen, doch jetzt kam Foe auf ihn zu.

„Es muss nicht wehtun“, sagte Foe.

Ryan drehte sich um, rannte die still stehende Rolltreppe hinauf, schwenkte oben herum und rannte die nächste hinauf. Schon auf halbem Weg bedauerte er diese Entscheidung ernsthaft. Seine Beine beklagten sich bereits lautstark und seine Lunge brannte. Er hatte es noch nie geschafft, über eine längere Strecke zu laufen – nicht einmal in der Schule, an die er sich erinnerte, die er in Wirklichkeit jedoch nie besucht hatte.

Er blickte nach unten, sah Skulduggery mit der Hand wedeln und Mercy nach hinten fliegen. Walküre lag inzwischen auf beiden Knien. Obloquy hatte sich direkt vor ihr aufgebaut. Als aus dem Ring an ihrem Finger pulsierende Schattenströme flossen, wich Obloquy entsetzt zurück. Sein Angriff auf ihr Gehirn musste fehlgeschlagen sein, denn Walküre schlang sofort die Arme um seine Beine. Sie stemmte ihre Schulter in seinen Bauch und warf sich nach vorn, während sie ihn gleichzeitig hochhob. Obloquy brüllte, als er der Länge nach hinschlug. Walküre war auf ihm, und noch bevor Ryan das oberste Stockwerk erreicht hatte und die beiden aus den Augen verlor, sah er, wie sie Obloquy den ersten Kopfstoß verpasste.

Leicht schwankend rannte Ryan weiter. Er hatte keine Ahnung, wohin er lief oder was er tun würde, wenn er dort ankam. Das Einkaufszentrum bei Nacht flößte ihm Angst ein. Die wenigen Lichter, die brannten, warfen schwarze Schatten. Alles Mögliche konnte sich in diesen Schatten verstecken.

Zum Beispiel Foe. Als er vor ihm aus den Schatten heraustrat, schrie Ryan, änderte seinen Kurs, lief in eine Topfpflanze, stolperte darüber und lag lang ausgestreckt auf dem Boden.

„Ich würde dich ja bitten, die Maschine zu aktivieren“, begann Foe, „aber für lange Diskussionen ist keine Zeit mehr. Deshalb werde ich jetzt grob. Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Es geht nicht gegen dich persönlich. Ich werde dich nicht umbringen. Ich schneide dir nur ein bisschen die Hand ab. Möglich, dass du an Blutverlust oder einem Trauma oder Schock stirbst – wir wollen uns da nichts vormachen –, aber du stirbst nicht, weil ich dir die Hand abschneide. Wenn du es von dieser Seite betrachtest, hast du von mir oder meinem langen Messer nichts zu befürchten.“

Foe zog eine Machete aus seiner Jacke.

Ryan kroch auf Händen und Knien davon. Er keuchte. Zum Aufstehen fehlte ihm die Kraft.

„Ich weiß, dass einige Leute behaupten, sie würden das Jagdfieber genießen.“ Foe trat auf Ryans Knöchel. „Aber zu der Sorte gehöre ich nicht. Ich will nur eines: die Welt vernichten.“

Ryan brach zusammen und rollte sich auf den Rücken. „Warum?“, japste er. „Warum wollen Sie … wollen Sie alle umbringen?“

Foe blickte auf ihn hinunter und zuckte mit den Schultern. „Weil heute Mittwoch ist?“

Die Machete sauste herunter und Ryan schrie und Skulduggery lief von hinten in Foe hinein. Beide stolperten weg. Ryan setzte sich auf, schaute auf seine Hand und vergewisserte sich, dass sie noch dran war. Als ihm bewusst wurde, dass er immer noch schrie, hörte er auf damit und blickte sich um. Skulduggery versetzte Foe einen Tritt gegen ein Knie, packte seinen Kopf, als er sich krümmte, und donnerte ihn gegen eine schmale Säule. Foe wankte und holte aus, doch Skulduggery trat in den Schwinger, packte seinen Arm und begann, Foe mit den Ellbogen zu bearbeiten. Es war eine alles in allem ausgesprochen gewalttätige Aktion. Ryans Mutter hätte sie, wenn es sie gegeben hätte, nicht gutgeheißen.

„Skulduggery?“, rief Walküre von unten.

„Ryan“, murmelte Skulduggery, als Foe ihn in der Taille packte und gegen die Wand schleuderte, „könntest du mal nachsehen, was sie jetzt schon wieder will?“

Ryan stand auf, lief zum Geländer und schaute nach unten. Mercy und Obloquy lagen da und rührten sich nicht, doch Walküre wich vor Samuel zurück. Der schlurfte zusammengekrümmt, als hätte er Bauchschmerzen, auf sie zu.

Ryan blickte hinter sich. Foe hatte Skulduggery von hinten den Arm um den Hals gelegt und zerrte an ihm, als wollte er ihm den Kopf abreißen. Skulduggery wand sich, und als Antwort darauf nahm Foe ihn in den Schwitzkasten. Skulduggery hob die Hand und grub die behandschuhten Finger in Foes Augen. Foe riss den Kopf zurück und ließ los, und Skulduggery versetzte ihm einen Stoß, brachte ihn mit einem gemeinen Tritt gegen den Knöchel zu Fall und warf sich auf ihn.

„Und?“, fragte Skulduggery, als er Boxhiebe auf Foe herunterregnen ließ.

„Ich weiß nicht recht“, meinte Ryan. „Samuel sieht aus, als müsste er sich gleich übergeben.“

Erstaunlicherweise hörten Skulduggery und Foe auf zu kämpfen und schauten ihn an.

Foe schnappte nach Luft. „Er hat sich gekrümmt?“

„Ja.“

Foe blickte Skulduggery an und die beiden standen auf.

„Von jetzt an müsst ihr allein zurechtkommen“, sagte Foe und rannte davon.

Ryan runzelte die Stirn und schaute wieder zu Samuel hinunter. Er hörte sein schmerzliches Stöhnen – aus dem plötzlich ein Knurren wurde. Samuel richtete sich auf, krallte die Finger in sein Hemd und riss es auf. Nein, nicht nur das Hemd. Auch die Haut. Samuel riss sich die Kleider und das Fleisch vom Leib, von dem kalkweißen Leib darunter. Seine Hände – und selbst von hier oben konnte Ryan die Klauenfinger daran erkennen – rissen Samuels Gesicht weg und warfen es beiseite. Zum Vorschein kam ein glatter Kopf mit großen schwarzen Augen und nadelspitzen Zähnen.

Walküre drehte sich um und rannte los und der Vampir hechtete hinter ihr her. Aus dem Augenwinkel sah Ryan verschwommen eine Bewegung, dann schwang sich plötzlich Skulduggery über das Geländer und ließ sich auf die unterste Ebene hinunterfallen.

Ryan stürzte zur Rolltreppe und lief nach unten, um Walküre beizustehen. Er hörte sie schreien und wäre fast gestolpert, fast Kopf voraus hinuntergekullert. Er hörte Glas splittern und sah Skulduggery in einer Schaufensterscheibe verschwinden. Ryan hatte das Erdgeschoss fast erreicht, als er sie sah. Walküre schleuderte Feuerbälle und schlug mit Schatten nach dem Vampir, der wie ein wildes Tier auf sie zustürzte. Er warf sich in der Luft herum und wich so einer von Walküres Schattenpeitschen aus. Er landete auf ihr, riss sie zu Boden und fuhr mit seinen Krallen über ihren Körper. Sie keuchte, und er ratschte noch einmal darüber und noch einmal und versuchte, durch ihre Schutzkleidung zu dringen, versuchte Löcher in die Haut zu stechen und Fleisch herauszureißen, versuchte, an ihr Blut zu kommen.

„He!“, brüllte Ryan und lief ins Blickfeld des Monsters. „He, du! Komm her zu mir! Los, komm schon!“

Der Vampir hob mit einem Ruck den Kopf und fauchte.

„Ich hab das, was du willst!“, rief Ryan und hob die Hand mit dem Abdruck. Falls der Mensch Samuel noch irgendwo da drin steckte, erinnerte er sich vielleicht, warum das alles überhaupt angefangen hatte. Vielleicht erinnerte er sich, dass Ryan die eigentliche Zielperson war. Vielleicht sah der Vampir aber auch nur leichte Beute in ihm und …

Der Vampir sprang von Walküre herunter. Ryan heulte entsetzt auf und begann wieder zu laufen. Als er sich umschaute, sah er gerade noch die Klauen und Zähne und spürte den Luftzug, als der Vampir sich abstieß und über ihn hinwegschoss.

Ryan stolperte über seine eigenen Füße und stürzte. Da hockte er nun auf dem Boden und schaute auf. Der Vampir hing in der Luft und schaute zu ihm herunter. Er zappelte und fauchte und schlug mit seinen Krallenhänden nach ihm.

Skulduggery kam herüber. Er hatte die Arme angewinkelt, seine Handflächen zeigten nach oben. Er bog leicht die Finger zurück und hielt die Kreatur so in der Luft. Sein Anzug war zerrissen und seine Krawatte hing schief. Walküre kam mit seinem Hut in der Hand herübergehumpelt. Sie zeigte ihm das gute Stück und er stöhnte. Im oberen Teil klaffte ein großes Brandloch.

Der Vampir fauchte sie alle an.

Skulduggery hob den Arm und der Vampir erhob sich weiter in die Luft. Immer höher ging es hinauf, durch alle Stockwerke. Walküre ergriff Ryans Arm und führte ihn zu einer Bank. Als der Vampir nicht mehr höher aufsteigen konnte, ließ Skulduggery die Hände rasch sinken und der Vampir stürzte ab.

„Das bringt ihn nicht um“, erklärte Walküre Ryan, „aber er bricht sich so viele Knochen, dass er uns erst mal in Ruhe lässt.“

Der Vampir schlug mit einem ordentlichen Rums auf dem Boden auf und blieb liegen.

Skulduggery untersuchte seinen lädierten Hut und legte ihn dann beiseite. „Ryan“, begann er, „ich weiß, dass du eine Menge durchgemacht hast, aber wir haben noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Wir müssen eine Bombe entschärfen. Danach darfst du dich dann ausruhen. Versprochen.“